„Sozialstaatsprinzip“ – Versionsunterschied

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== Geschichte ==
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Der Sozialstaatsgedanke geht auf mehrere Entstehungsgründe zurück.<ref>[[Andreas Vosskuhle]], Thomas Wischmeyer: ''Grundwissen – Öffentliches Recht: Das Sozialstaatsprinzip'', in [[Juristische Schulung|JuS]] 2015, S. 693 ff.; grundlegend dazu bei [[Michael Stolleis]]: ''Geschichte des Sozialrechts in Deutschland. Ein Grundriss.'' Lucius und Lucius, Stuttgart 2003, ISBN 3-8282-0243-8 ([http://www.leibniz-publik.de/de/fs1/object/display/bsb00057834_00001.html online]).</ref> Bereits von den Anfängen des [[Christentum]]s an entwickelte sich ein gesellschaftliches Miteinander, das auch [[Karitas|karitative]] Betätigungen umfasste. Werte wie die [[Nächstenliebe]] oder die Gebote der Mitmenschlichkeit waren grundsätzlich Ausfluss der christlichen Tradition, kamen zunehmend aber auch in säkularisierten Zielformulierungen zum Ausdruck. Diese durchdrangen die Aufgabenstellungen, die sich die Gesellschaft stellte. Ein freiheitlicher Staat verstand sich dabei vornehmlich als Wegbereiter sozialer Anliegen; der Zielgesellschaft sollte es möglichst vorbehalten bleiben, einen Sozialstaat selbst zu realisieren.
In der [[Weimarer Reichsverfassung]] fand sich noch keine verfassungsrechtliche Garantie des Sozialstaats, sondern nur die programmatische Zielbestimmung, die Ordnung des Wirtschaftslebens müsse „den Grundsätzen der Gerechtigkeit mit dem Ziele der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle“ entsprechen (Art. 151 I WRV).<ref>Voßkuhle/Wischmeyer: Grundwissen – Öffentliches Recht: Das Sozialstaatsprinzip, JuS 2015, 693</ref>

Einen wichtigen Gesichtspunkt zur Entstehung des Sozialstaats lieferten die [[Arbeiterbewegung in Deutschland#Geschichte und Entwicklung|Arbeiter-]] und [[Deutsche Revolution 1848/1849|Revolutionsbewegungen]] des 19. Jahrhunderts, als es hieß Antworten auf das Stichwort der [[Soziale Frage|Sozialen Frage]] zu finden. Die soziale Relevanz wurde eng mit den eingeforderten Grund- und Freiheitsrechten verknüpft. Vorformuliert waren die sozialen Anliegen der Förderung des [[Gemeinwohl]]s und des Anspruchs auf Arbeit und Bildung bereits in der amerikanischen [[Virginia Declaration of Rights]] und der französischen [[Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte]]. Aufgenommen wurden sie in der [[Paulskirchenverfassung]] von 1849 und in der Präambel der [[Bismarcksche Reichsverfassung|Reichsverfassung von 1871]], wonach das Reich zur „Pflege der Wohlfahrt des Deutschen Volkes“ verpflichtet wird. [[Otto von Bismarck|Bismarck]] führte parallel große Teile der heutigen [[Sozialversicherung]] ein.<ref>Heinrich Scholler: ''Der Staat'', 13 (1974), S. 51 ff.</ref> In der [[Weimarer Reichsverfassung]] fand sich noch keine verfassungsrechtliche Garantie des Sozialstaats, sondern nur die programmatische Zielbestimmung, die Ordnung des Wirtschaftslebens müsse „den Grundsätzen der Gerechtigkeit mit dem Ziele der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle“ entsprechen (Art. 151 I WRV).<ref>Andreas Voßkuhle, Thomas Wischmeyer: ''Grundwissen – Öffentliches Recht: Das Sozialstaatsprinzip'', in JuS 2015, 693.</ref>


Bei der Entstehung des Grundgesetzes wurde das Sozialstaatsprinzip dann auf einen Antrag von [[Hermann von Mangoldt]] aufgenommen, aber im [[Parlamentarischer Rat|Parlamentarischen Rat]] nicht diskutiert. Sein Vorschlag geht vermutlich auf ähnliche Inhalte der Verfassungen der Bundesländer zurück. Da der Vorschlag im Rat nicht diskutiert wurde, ist nicht klar, was dieser als Inhalt verstand. Heute sieht man im Postulat ein [[Staatsziel]].
Bei der Entstehung des Grundgesetzes wurde das Sozialstaatsprinzip dann auf einen Antrag von [[Hermann von Mangoldt]] aufgenommen, aber im [[Parlamentarischer Rat|Parlamentarischen Rat]] nicht diskutiert. Sein Vorschlag geht vermutlich auf ähnliche Inhalte der Verfassungen der Bundesländer zurück. Da der Vorschlag im Rat nicht diskutiert wurde, ist nicht klar, was dieser als Inhalt verstand. Heute sieht man im Postulat ein [[Staatsziel]].

Version vom 23. Januar 2019, 20:15 Uhr

Als Sozialstaatsprinzip (teilweise auch: Sozialstaatsgebot oder Sozialstaatspostulat) wird der verfassungsrechtliche Auftrag in Art. 20 Abs. 1 des Grundgesetzes bezeichnet, nach dem die „Bundesrepublik Deutschland […] ein […] sozialer Bundesstaat“ und ein „sozialer Rechtsstaat“ ist. Gemäß Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG werden die Bundesländer an die Grundsätze des sozialen Rechtsstaates gebunden. Aber auch außerhalb des Art. 20 GG bestehen im Grundgesetz Vorschriften, die normative Grundlagen des Sozialstaatsprinzip bilden, so beispielsweise die Sozialpflichtigkeit des Eigentums nach Art. 14 GG oder der Schutz- und Fürsorgeanspruch der Mutter gegenüber der Gemeinschaft nach Art. 6 Abs. 4 GG. Die Sozialstaatlichkeit ist gegen die Änderung durch den verfassungsändernden Gesetzgeber gesichert.

Die sozialstaatliche Aktivität des Staates bezeugt sich durch den Katalog der Gesetzgebungskompetenzen in Art. 74 GG, die öffentliche Fürsorge ist in Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG verbrieft und nimmt mangels konkret definierter Spezialzuständigkeiten in einer Vielzahl von Fällen die Stellung einer Generalklausel ein. Zum Zwecke der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet, verankert einerseits Art. 72 GG die Unitarisierung und folglich eine soziale Gleichbehandlung der Bürger, andererseits wird die Finanzwirtschaft über das Grundgesetz verpflichtet, das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht zu fördern und unterschiedliche Wirtschaftskräfte auszugleichen.

Dem Prinzip eines formalen liberalen Rechtsstaats folgend wird den Bürgern die rechtlich gesicherte Freiheit gewährleistet. Um die Freiheit real werden zu lassen, bedarf es der Ergänzung durch das Sozialstaatsprinzip. Das Sozialstaatsprinzip verpflichtet deshalb die öffentliche Gewalt, also den Gesetzgeber, die Rechtsprechung und die Verwaltung dazu, nach sozialen Gesichtspunkten zu handeln und die Rechtsordnung dementsprechend zu gestalten.

Das Wirtschaftssystem der Bundesrepublik Deutschland wird daher als Soziale Marktwirtschaft bezeichnet, da der Staat der Wirtschaft einen Ordnungsrahmen vorgibt, der für einen sozialen Ausgleich sorgen soll, während sich die Wirtschaft am Markt orientiert; dabei stellt die Marktorientierung das Gegenteil zur zentralen Planwirtschaft dar, während der soziale Aspekt negative Folgen einer reinen Marktwirtschaft abmildern beziehungsweise ganz verhindern soll. Der Begriff „Soziale Marktwirtschaft“ geht auf den Volkswirtschaftler Alfred Müller-Armack zurück, der unter Ludwig Erhard Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium war.

Inhalt des Sozialstaatsprinzips

Das Sozialstaatsprinzip enthält kein einklagbares Recht und ist deshalb nur ein Postulat. Es legt fest, dass Deutschland ein sozialer Staat ist. Über die Ausgestaltung des Sozialstaats muss von der Politik entschieden werden. Das Grundgesetz enthält auch, anders als die vorhergehende Weimarer Verfassung, keine eindeutigen sozialen Grundrechte.

In der Einleitung zu den obersten Verfassungsgrundsätzen ist darauf hingewiesen worden, dass eine abschließende Definition des Sozialstaatsprinzips nicht möglich ist.[1]

Für das Bundesverfassungsgericht ist das Sozialstaatsprinzip seiner allerersten Entscheidung zufolge auch eine Hilfe bei der Auslegung des Grundgesetzes und anderer Gesetze.

Da die Formel sehr unterschiedlich aufgefasst werden kann, ist der Inhalt umstritten. Allerdings werden zwei Punkte weitgehend akzeptiert:

  • Der Staat kann durch eine aktive und sozial-gerechte Sozialpolitik in die Wirtschaft eingreifen, um die gewünschten Ziele zu erreichen.
  • Der Umfang und die Art des Eingriffes werden von der Politik festgelegt.

Mögliche Elemente des Sozialstaatsprinzips:

Neben dem Sozialstaatsprinzip beinhaltet auch die in Art. 1 GG festgelegte Aufgabe des Staates, die Würde des Menschen zu schützen, oder auch die Aussage von Art. 14 GG, wonach Eigentum verpflichtet, dass Deutschland ein Sozialstaat sein muss.

Verhältnis zum Rechtsstaat

Das Sozialstaatsprinzip steht in einem Spannungsverhältnis zu einem anderen Prinzip des Grundgesetzes, der Rechtsstaatlichkeit. Der Grund liegt darin, dass der Rechtsstaat vor allem der Freiheit des Einzelnen und seiner Rechte dient, während der Sozialstaat in das Leben der Bürger eingreift. In der Anwendung der beiden Prinzipien hat keines der beiden einen Vorrang, sondern es muss zum Ausgleich zwischen ihnen kommen.

Geschichte

Der Sozialstaatsgedanke geht auf mehrere Entstehungsgründe zurück.[2] Bereits von den Anfängen des Christentums an entwickelte sich ein gesellschaftliches Miteinander, das auch karitative Betätigungen umfasste. Werte wie die Nächstenliebe oder die Gebote der Mitmenschlichkeit waren grundsätzlich Ausfluss der christlichen Tradition, kamen zunehmend aber auch in säkularisierten Zielformulierungen zum Ausdruck. Diese durchdrangen die Aufgabenstellungen, die sich die Gesellschaft stellte. Ein freiheitlicher Staat verstand sich dabei vornehmlich als Wegbereiter sozialer Anliegen; der Zielgesellschaft sollte es möglichst vorbehalten bleiben, einen Sozialstaat selbst zu realisieren.

Einen wichtigen Gesichtspunkt zur Entstehung des Sozialstaats lieferten die Arbeiter- und Revolutionsbewegungen des 19. Jahrhunderts, als es hieß Antworten auf das Stichwort der Sozialen Frage zu finden. Die soziale Relevanz wurde eng mit den eingeforderten Grund- und Freiheitsrechten verknüpft. Vorformuliert waren die sozialen Anliegen der Förderung des Gemeinwohls und des Anspruchs auf Arbeit und Bildung bereits in der amerikanischen Virginia Declaration of Rights und der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte. Aufgenommen wurden sie in der Paulskirchenverfassung von 1849 und in der Präambel der Reichsverfassung von 1871, wonach das Reich zur „Pflege der Wohlfahrt des Deutschen Volkes“ verpflichtet wird. Bismarck führte parallel große Teile der heutigen Sozialversicherung ein.[3] In der Weimarer Reichsverfassung fand sich noch keine verfassungsrechtliche Garantie des Sozialstaats, sondern nur die programmatische Zielbestimmung, die Ordnung des Wirtschaftslebens müsse „den Grundsätzen der Gerechtigkeit mit dem Ziele der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle“ entsprechen (Art. 151 I WRV).[4]

Bei der Entstehung des Grundgesetzes wurde das Sozialstaatsprinzip dann auf einen Antrag von Hermann von Mangoldt aufgenommen, aber im Parlamentarischen Rat nicht diskutiert. Sein Vorschlag geht vermutlich auf ähnliche Inhalte der Verfassungen der Bundesländer zurück. Da der Vorschlag im Rat nicht diskutiert wurde, ist nicht klar, was dieser als Inhalt verstand. Heute sieht man im Postulat ein Staatsziel.

In den 1960er Jahren wurde das Sozialstaatsprinzip von einer Gruppe um Wolfgang Abendroth als Aufforderung an den Staat, eine sozialistische Gesellschaft zu schaffen, angesehen.

Kritik

Da das Sozialstaatsprinzip verfassungsmäßig nicht bestimmt ist, unterliegt es zwangsläufig dem Zeitgeist der Gesellschaft. Im Sinne von Adam Smith könnte auch ein Staat mit der Bereitstellung unverzichtbarer öffentlicher Güter wie innerer und äußerer Sicherheit, Bildung sowie Infrastruktur und ohne Dinge wie Sozialhilfe das Staatsziel erfüllen. Mit Hilfe von Staatszielen wird teilweise sogar eine Einschränkung von Grundrechten begründet; auch wenn dies so nicht explizit in der Verfassung steht, kann – so die Kritik – zu diesem Zwecke auch das Sozialstaatsprinzip benutzt werden. Dem vorzubeugen ist das ausdrückliche Zitiergebot des Art. 19 Abs. 1 GG beachtlich.

Eine Kritik aus marxistischer Sicht, die den Sozialstaat als Illusion beschreibt, lieferten 1970 Rudolf Wolfgang Müller und Christel Neusüß im Rahmen der marxistischen Staatsableitungsdebatte.[5]

Sozialstaatsprinzip und Steuerrecht

Nach dem Sozialstaatsprinzip soll das Steuerrecht auf den wirtschaftlich schwachen Steuerpflichtigen Rücksicht nehmen und ein sozialer Ausgleich bei der Besteuerung bewirkt werden. Ausdruck des Sozialstaatsprinzips im Steuerrecht ist etwa der gestaffelte Steuertarif in der Einkommensteuer.

Siehe auch

Literatur

Einzelnachweise

  1. Joachim Spaltek, Staats- und Verfassungsrechts, Allgemeine Staatslehre, Deutsche Verfassungsgeschichte, 12. Auflage, Willich 1997, S. 369.
  2. Andreas Vosskuhle, Thomas Wischmeyer: Grundwissen – Öffentliches Recht: Das Sozialstaatsprinzip, in JuS 2015, S. 693 ff.; grundlegend dazu bei Michael Stolleis: Geschichte des Sozialrechts in Deutschland. Ein Grundriss. Lucius und Lucius, Stuttgart 2003, ISBN 3-8282-0243-8 (online).
  3. Heinrich Scholler: Der Staat, 13 (1974), S. 51 ff.
  4. Andreas Voßkuhle, Thomas Wischmeyer: Grundwissen – Öffentliches Recht: Das Sozialstaatsprinzip, in JuS 2015, 693.
  5. Wolfgang Müller, Christel Neusüß (1970): Die Sozialstaatsillusion und der Widerspruch von Lohnarbeit und Kapital, in: Sozialistische Politik 6/7