Giftgasangriff auf Halabdscha

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Koordinaten: 35° 11′ 0″ N, 45° 59′ 0″ O

Halabdscha (Irak)
Halabdscha (Irak)
Halabdscha

Der Giftgasangriff auf Halabdscha war ein Angriff der Irakischen Luftwaffe auf die hauptsächlich von Kurden bewohnte irakische Stadt Halabdscha in der heutigen autonomen Region Kurdistan. Bei dem Angriff, der am 16. März 1988 gegen Ende des Ersten Golfkriegs stattfand, starben zwischen 3200 und 5000 Menschen.

Vorgeschichte

Am 15. März 1988 eroberten kurdische Rebellen der Patriotischen Union Kurdistans zusammen mit regulären Einheiten der iranischen Armee in der Operation Morgenröte 10 (Valfajr 10) die irakische Stadt Halabdscha, die damals 70.000 Einwohner hatte.[1] Halabdscha galt als wichtiges Zentrum des kurdischen Widerstands in den Autonomiebestrebungen gegen die Zentralregierung in Bagdad.[Anm. 1]

Der Angriff und die Opfer

Nach Angaben von Augenzeugen flogen am 16. März gegen 11.00 Uhr Kampfflugzeuge der Irakischen Luftwaffe über die Stadt. Danach sah man Rauchsäulen aufsteigen, erst weiß, dann schwarz und schließlich gelb.[2][Anm. 2] Bei dem Angriff, der nach Augenzeugen 45 Minuten dauerte, fanden zwischen 3200 und 5000 Menschen den Tod, 7000 bis 10.000 erlitten so schwere Verletzungen, dass sie dauerhafte Gesundheitsschäden wie Nervenlähmungen, Hautkrankheiten, Tumorbildungen, Lungenschäden sowie Fehlgeburten erlitten. 75 % der Opfer waren Frauen und Kinder.[2][Anm. 3]

Die Art der eingesetzten Kampfstoffe wurde später mit Senfgas, Sarin, Tabun[Anm. 4] und ein Kampfstoff vermutlich auf Zyanidbasis beschrieben.[2][Anm. 5]

US-amerikanischer Soldat vor den Gräbern der Opfer

Wie die UNMOVIC in ihrem Bericht von 2006 feststellte, hatte das Chemiewaffenprogramm des Irak bis zum Jahre 1991 insgesamt 3859 Tonnen chemischer Kampfstoffe produziert, von denen 3315 Tonnen aufmunitioniert wurden. Damit konnten 130.000 Sprengkörper hergestellt werden; bis 1988 wurden über 101.000 Sprengkörper (Fliegerbomben, Artilleriemunition und Raketensprengköpfe) verschossen.[3][Anm. 6]

Information und Desinformation

Iranische Behörden flogen am 21. März 1988 mit dem Hubschrauber westliche Journalisten nach Halabdscha, um die Weltöffentlichkeit zu informieren.[4][Anm. 7] Direkt nach dem Bekanntwerden beschuldigte der Irak den Iran, für den Giftgasangriff verantwortlich zu sein. Charles E. Redman, Sprecher des Außenministeriums der Vereinigten Staaten machte in der ersten Presseerklärung vom 23. März 1988 den Iran für den Giftgasangriff verantwortlich.[5] Danach wurden von westlichen Analysten sowie den USA beide Kriegsparteien bezichtigt[6][7] oder waren sich Jahre später noch unsicher.[Anm. 8]

Der vergleichbare Giftgasangriff auf Sardasht, eine iranische Stadt, welcher 9 Monate vor dem Angriff auf Halabdscha stattfand, fand erst als Folge der Aufdeckung des Giftgasangriffs auf Halabdscha ein Medienecho. Weitere 40 Angriffe mit Giftgas auf kurdische Orte und Städte[8] wie im Gebiet um Sulaimaniyya (29. Februar 1988) und Marivan (22. März 1988, 31 Tote, 450 Verletzte) fanden geringeres mediales Echo.[4]

Die Verurteilung

Kurz nach dem Angriff scheiterte eine Verurteilung durch den UN-Sicherheitsrat am Veto der USA und den Enthaltungen Großbritanniens, Frankreichs, Australiens und Dänemarks.[9] Erst am 9. September 1988 verurteilte die US-Regierung den Giftgasangriff auf Halabdscha als „abscheuliche und nicht zu rechtfertigende Tat“ des Irak an der kurdischen Bevölkerung.[10] Der Giftgasangriff auf Halabdscha wurde vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag als Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingestuft.[11] Frans van Anraat wurde 2007 zu 17 Jahren Haft verurteilt, weil er tausende Tonnen Chemikalien zur Herstellung von Giftgas in den Irak geliefert hatte. Der ehemalige Verteidigungsminister des Irak, Sultan Hashem Ahmed al-Tai sowie Sabir Abdul-Aziz al-Douri, ehemaliger Leiter des militärischen Nachrichtendienstes des Irak, wurden 2010 zu 15 Jahren Haft, der ehemalige Leiter des militärischen Nachrichtendienstes im Nordirak, Farhan Mutlaq al-Jubouri, zu 10 Jahren Haft verurteilt. Ali Hasan al-Madschid wurde am 17. Januar 2010 als Hauptverantwortlicher des Giftgasangriffs zum Tode verurteilt und hingerichtet.[12]

Anmerkungen

  1. Bereits am 14. Mai 1987 kam es in der irakischen Stadt Halabdscha zu Anti-Regierungs-Demonstrationen. Hasan al-Madschid war damals Kommandeur für die nördlichen Regionen des Irak. → Siehe: hrw.org (PDF; 179 kB).
    Von den iranischen Truppen sollen viele durch ihre Schutzkleidung den irakischen Giftgasangriff überlebt haben. → Siehe: Iraq and Chemical & Biological Warfare (PDF; 91 kB)
    Am 12. Juli 1988 räumten die iranischen Truppen kampflos Halabdscha im Gegenzug, die irakischen Truppen, die iranische Naft-e Shah Region. → Siehe: Dilip Hiro: The Longest War. The Iran-Iraq Military Conflict. Routledge, New York 1991, ISBN 0-415-90407-2, S. 228.
  2. Jeffery Goldberg schreibt im „New Yorker“ vom 25. März 2002 von einem Hubschrauber, der die Chemikalien abwarf. → Siehe: newyorker.com. Ebenso spricht der Congressional Record, Vol. 148, Pt. 14, vom 9. Oktober 2002 von einem Hubschrauber. Das irakische Militär verschoss im Ersten Golfkrieg jedoch Giftgas mittels Fliegerbomben (250 und 500 kg), Artilleriemunition (155 mm Granaten) und Raketensprengköpfe (122 mm Raketenwerfer). → Siehe: Iraq and Chemical & Biological Warfare, presstv.ir, globalsecurity.org, Annex B STATUS OF THE VERIFICATION OF IRAQ'S CHEMICAL WEAPONS PROGRAMME.
    Die 14–20 Flugzeuge wurden als „MiG“ und „Mirage“ beschrieben. Nur die irakische Luftwaffe flog diese Muster in diesen Jahren.
  3. 3200 Namen von Opfern wurden bei einer systematischen Befragung ermittelt. → Siehe: Human Rights Watch: The Anfal Campaign against the Kurds, Yale University Press, 1995.
    4000 Opfer gibt Dilip Hiro an. → Siehe: The Longest War. The Iran-Iraq Military Conflict. Routledge, New York 1991, ISBN 0-415-90407-2, S. 201.
    5000 Opfer werden in der Anfrage an den Bundestag, Drucksache 17/1022 genannt. → Siehe: dipbt.bundestag.de (PDF; 96 kB)
    6800 Opfer werden in der „New York Times“ vom 17. Januar 2003 genannt. → Siehe: nytimes.com
  4. Der Irak stellte die Produktion von Tabun 1986 ein. → Siehe: UNMOVIC Abschlußbericht (PDF; 13,6 MB)
  5. VX wie in der Meldung der BBC wurde nicht eingesetzt. Der Irak stellte zwar VX im Jahre 1988 her, drei 500 kg Bomben und eine 122 mm Rakete wurden nur zu Testzwecken bestückt jedoch nicht eingesetzt. → Siehe: UNMOVIC Abschlußbericht (PDF; 13,6 MB)
    Die Angaben zu Zyanid stammen aus einer Presseerklärung der Defense Intelligence Agency vom 23. März 1988, die darin feststellte, dass der Irak dieses Gas zum damaligen Zeitpunkt nicht gehabt habe, der Iran daran jedoch Interesse gezeigt hätte. Der Vorwurf taucht später immer wieder auf. → Siehe: Stephen C. Pelletiere. → Siehe: cns.miis.edu
  6. Selbst nach dem Zweiten Golfkrieg (1991) deklarierte der Irak noch 56.281 mit Giftgas bestückte / noch nicht gefüllte Sprengkörper. → Siehe: Annex B STATUS OF THE VERIFICATION OF IRAQ'S CHEMICAL WEAPONS PROGRAMME
  7. Die Journalisten filmten und fotografierten. Ein 35-minütiger Film mit Originalaufnahmen liegt der UN vor. Unter den Fotografen war auch Kaveh Golestan, der spätere Pulitzer-Preis-Träger.
  8. a) In einem Artikel der New York Times vom 31. Januar 2003, A War Crime Or an Act of War? schrieb Stephen C. Pelletiere, ehemaliger Analyst des Irakisch-Iranischen Kriegs für die CIA, dass man im Nachhinein nicht eindeutig sagen könne, ob es Iraker gewesen wären, die Giftgas eingesetzt hätten. Er verweist darauf, dass die Kurden auch durch ein Giftgas auf Zyanidbasis umkamen, das zu dieser Zeit der Iran, nicht aber der Irak besaß.
    b) Man vermutet, dass der Iran zwischen 1987 und 1988 Blausäure, Chlorgas und Phosgen in kleinen Chargen produzierte und diese auch sporadisch in dieser Zeit in Artilleriemunition und Bomben einsetzte. → Siehe: Anthony H. Cordesman, CSIS: Proliferation in the “Axis of Evil” (PDF; 489 kB). Dem widerspricht eine Anweisung von Ayatollah Ruhollah Chomeini, der nach iranischem Einsatz von Giftgas befragt, eine Fatwa aussprach: „Der Islam verbietet den Kämpfern die Verschmutzung der Atmosphäre im Heiligen Krieg“. → Siehe: Dilip Hiro: The Longest War. The Iran-Iraq Military Conflict. Routledge, New York 1991, ISBN 0-415-90407-2, S. 201.
Commons: Giftgasangriff auf Halabdscha – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Dilip Hiro: The Longest War. The Iran-Iraq Military Conflict. Routledge, New York 1991, ISBN 0-415-90407-2, S. 201.
  2. a b c bbc.co.uk 1988: Thousands die in Halabja gas attack, abgerufen am 8. Januar 2013
  3. UNMOVIC: Twenty-fifth quarterly report on the activities of the United Nations Monitoring, Verification and Inspection Commission in accordance with paragraph 12 of Security Council resolution 1284 (1999) (PDF; 76 kB)
  4. a b cbw-events.org.uk (PDF; 91 kB) Iraq and Chemical & Biological Warfare, abgerufen am 8. Januar 2013
  5. cns.miis.edu Iranian Use of Chemical Weapons: A Critical Analysis of Past Allegations, abgerufen am 17. Januar 2013
  6. Stephen C. Pelletiere: Iraq and the International Oil System: Why America Went to War in the Gulf, 2001, ISBN 978-027594-562-6 S. 206
  7. Nikki R. Keddie: Modern Iran: Roots and Results of Revolution, Yale University 2006, ISBN 978-030012-105-6 S. 369
  8. dipbt.bundestag.de (PDF; 96 kB) Kleine Anfrage an die Bundesregierung, Drucksache 17/837, abgerufen am 9. Januar 2013
  9. Salih, Azad: Freies Kurdistan. Die Schutzzone der Kurden in Irakisch-Kurdistan. (PDF) FU-Dissertation, Berlin 2004, Kap. 1, S. 47.
  10. nytimes.com U.S. ASSERTS IRAQ USED POISON GAS AGAINST THE KURDS, abgerufen am 8. Januar 2013
  11. haguejusticeportal.net (PDF; 205 kB) Chemical Warfare as Genocide and Crimes Against Humanity, abgerufen am 8. Januar 2013
  12. nytimes.com, 17. Januar 2010 Hussein Aide Again Given a Sentence of Death, abgerufen am 17. Januar 2013