Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen
Klassifikation nach ICD-10 | |
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G36.0 | Neuromyelitis optica (Devic-Krankheit) Demyelinisation bei Neuritis nervi optici |
ICD-10 online (WHO-Version 2019) |
Die Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen (abgekürzt NMOSD von engl. Neuromyelitis optica spectrum disorders) sind eine Gruppe seltener autoimmun bedingter entzündlicher Erkrankungen des zentralen Nervensystems. Sie können typischerweise den Sehnerv, das Rückenmark oder den Hirnstamm betreffen. Die klassische Kombination aus einer Entzündung des Sehnervs und des Rückenmarks wurde als Neuromyelitis optica (abgekürzt NMO, auch Devic-Syndrom) bezeichnet. Dieser Begriff ist mittlerweile im Begriff der Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen aufgegangen.[1][2][3]
Ursache
In den meisten Fällen[4] handelt es sich um eine durch Autoantikörper (AK) gegen das im zentralen Nervensystem v. a. in Astrozyten exprimierte Protein Aquaporin-4 (AQP4) verursachte Autoimmunerkrankung.[5][6] Bei einem Teil der AQP4-IgG-negativen Patienten finden sich AK gegen das sogenannte Myelin-Oligodendrozyten-Glykoprotein (MOG-AK).[7] An der Entstehung des Gewebeschadens sind zusätzlich zu den Antikörpern auch autoreaktive Entzündungszellen beteiligt.[8][9]
Typische Krankheitszeichen und Verlauf
- Sehstörungen bis hin zur Erblindung (Amaurosis) eines Auges oder beider Augen innerhalb von Stunden bis Tagen
- Inkomplettes oder komplettes Querschnittsyndrom mit teilweise aufsteigender Symptomatik (z. B. Sensibilitätsstörungen, Schwäche/Lähmung der Extremitäten, Blasen-/Mastdarmstörungen, autonome Störungen, Schmerz, tonische Spasmen u. a.)
- Unstillbare Übelkeit, unstillbares Erbrechen (bisweilen als Bulimie fehldiagnostiziert), unstillbarer Schluckauf bei Entzündungsherden in der Area postrema des Hirnstamms
- Symptomatische Narkolepsie (selten) bei Entzündungsherden im Diencephalon
- vor allem bei Kindern auch symptomatische Hirnläsionen (z. B. Epilepsie)
- Atemlähmung durch Entzündungsherde im Hirnstamm oder hohen zervikalen Rückenmark
Die Erkrankung verläuft meist schubförmig; monophasische Verläufe wurden beschrieben, sind jedoch bei AQP4-IgG-positiven Patienten sehr selten. Die Schwere der Symptome variiert interindividuell (d. h. zwischen den Patienten) und intraindividuell (d. h. von Schub zu Schub) sehr und reicht bei Beteiligung des Rückenmarks von sehr milden Sensibilitätsstörungen bis hin zu kompletten Querschnittssyndromen und bei Beteiligung des Sehnerven von leichtem Verschwommensehen bis hin zu komplettem ein- oder beidseitigem Visusverlust.[4]
Die im Schub vorhandenen Symptome können sich spontan oder infolge einer Schubbehandlung (siehe unten) komplett oder inkomplett zurückbilden. Bilden sich die im Schub vorhandenen Symptome nicht oder nur inkomplett zurück, kann eine Behinderung (eingeschränkte Sehkraft, eingeschränkte Mobilität u. a.) resultieren. Eine chronische Behinderungsprogression zwischen den Schubereignissen, wie sie bei Patienten mit Multipler Sklerose vorkommt, wird bei Patienten mit NMO nur äußerst selten beobachtet.[4] Die Verhinderung des Auftretens von neuen Schüben durch eine immunsuppressive Langzeitbehandlung (siehe unten) und die zeitnahe Behandlung von Schüben ist daher für die Vermeidung und Minimierung bleibender Behinderung von entscheidender Bedeutung.[10]
Diagnosestellung
Eine sichere Abgrenzung von der Multiplen Sklerose ist allein anhand des klinischen Bildes insbesondere zum Beginn der Erkrankung nicht immer möglich. Zur Sicherung der Diagnose werden u. a. die Bestimmung von AQP4-AK und MOG-AK sowie eine Magnetresonanztomographie des Schädels und des Rückenmarks, eine Liquorpunktion und die Bestimmung der evozierten Potentiale empfohlen.[10] 2015 wurden neue internationale Konsensuskriterien veröffentlicht,[11] die die Kriterien von 2006 abgelöst haben. Die neuen Diagnosekriterien erlauben erstmals, die Diagnose auch bei AQP4-IgG-positiven Patienten zu stellen, bei denen (bislang) nur eines der beiden Indexsyndrome (Optikusneuritis und Myelitis) aufgetreten sind oder sich die Erkrankung atypisch manifestierte; für die AQP4-IgG-negative NMO wurden von den Autoren eigenständige Kriterien vorgeschlagen. Die durch die neuen Diagnosekriterien möglich gewordene frühere Diagnosestellung ermöglicht einen früheren Therapiebeginn. Die NMO und ihre inkompletten Formen werden von den Autoren als „‚Neuromyelitis optica-Spektrum‘-Erkrankungen“ zusammengefasst.
Antikörpertestung
Für die Testung auf das Vorliegen von AQP4-AK und MOG-IgG werden sogenannte zellbasierte Assay („cell-based assays“, CBA) empfohlen, die humanes Voll-Längen-Protein (AQP4 bzw. MOG) als Zielantigen verwenden.[11][12] Andere Testmethoden (z. B. ELISA, RIPA) haben sich als entweder zu wenig sensitiv oder unzureichend spezifisch erwiesen.[12] Die Testung erfolgt in der Regel aus Blutserum; eine zusätzliche Untersuchung auch des Liquor cerebrospinalis ist nur in besonderen Fällen erforderlich.[10][13][12] Es ist zu beachten, dass die Konzentration der Antikörper im Serum (sowie auch im Liquor) in Abhängigkeit von Krankheitsaktivität und Therapie erheblichen Schwankungen unterworfen ist und, insbesondere unter immunsuppressiver Therapie, vorübergehend unter die Nachweisgrenze abfallen kann; sie ist dabei im akuten Erkrankungsschub am höchsten.[12] Aus diesem Grund und da der Nachweis von AQP4-IgG bzw. MOG-IgG von therapeutischer und prognostischer Bedeutung ist, sollte in AK-negativen Fällen eine erneute Testung zu einem späteren Zeitpunkt (auch mehrfach) erfolgen.[12][10]
Histologie
Histologisch finden sich bei der AQP4-IgG-positiven NMO in den Entzündungsherden u. a. AK- und Komplementablagerungen, Entzündungszellinfiltrate, ein Astrozytenuntergang und, als sekundäres Phänomen, d. h. als Folge des Astrozytenuntergangs, auch ein Verlust an Neuronen sowie eine Demyelinisierung (Entmarkung) der Nerven.[8][9] Rückenmarksbiopsien können jedoch schwere und bleibende neurologische Defizite nach sich ziehen und sind zur Diagnosesicherung in aller Regel nicht erforderlich; es wird empfohlen, vor jeder differentialdiagnostisch in Erwägung gezogenen Biopsie (z. B. zur Abgrenzung gegenüber Tumoren des Rückenmarks) bei Patienten mit Verdacht auf NMO unbedingt Antikörper gegen AQP4-IgG sowie Antikörper gegen MOG-IgG zu bestimmen.[14][10]
Behandlung
Die Behandlung erfolgt im Schub mit hochdosiertem, in aller Regel intravenös appliziertem Methylprednisolon (IVMP) oder, insbesondere bei fehlendem Ansprechen auf IVMP, welches häufiger als bei der Multiplen Sklerose der Fall ist, mittels Plasmapherese (oder – wozu allerdings weniger Daten vorliegen – mittels Immunadsorption).[15][10] Die Langzeitbehandlung besteht im Gegensatz zur Multiplen Sklerose, die häufig mit Immunmodulatoren behandelt wird, vor allem in einer Immunsuppression, beispielsweise mit Rituximab oder Azathioprin[10] Dabei ist zu beachten, dass einige zur Behandlung der MS zugelassene Medikamente (z. B. Interferon-beta, Natalizumab, evtl. auch Glatirameracetat, Fingolimod und Alemtuzumab) neue NMO-Schübe oft nicht verhindern oder sogar das Auftreten neuer NMO-Schübe befördern können. Eine sichere Unterscheidung zwischen klassischer MS und NMO ist aus diesem Grund für Behandlung und Prognose entscheidend.[10]
Die Erkrankung ist selten (ca. 1–10/100000 Einwohner in westlichen Ländern). Frauen sind deutlich häufiger betroffen als Männer (AQP4-IgG-positive NMO: ca. 9 × häufiger, MOG-IgG-positive NMO: ca. 3 × häufiger). Der Altersgipfel liegt bei ca. 39 Jahren;[4] jedoch kann die Erkrankung prinzipiell in jedem Lebensalter erstmals auftreten.[4][16]
Nosologische Klassifikation
Die AQP4-AK-positive NMO und die MOG-AK-positive NMO gelten heute nicht mehr als Sonderformen der Multiplen Sklerose (MS), sondern als jeweils eigenständige, hinsichtlich Pathogenese, Histopathologie, Prognose und Therapie abgrenzbare Erkrankungen.
Geschichte
Bereits ab der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts finden sich Fallberichte, die sich nachträglich wahrscheinlich den Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen zuordnen lassen. So berichtete 1844 der genueser Arzt Giovanni Battista Pescetto über einen 42 Jahre alten Mann, der gleichzeitig erblindete und sich eine Entzündung des Rückenmarks zuzog, was sich jedoch beides nach exzessiven Aderlässen wieder komplett zurückbildete. Weitere Beschreibungen über Fälle von (teilweiser) Blindheit und Rückenmarkssymptomatik finden sich noch weiteren Ärzten, darunter beim Leibarzt König Ludwig XVIII.[17]
Der heutige Terminus wurde erstmals 1894 im Französischen als neuro-myélite optique aiguë verwendet. Eugène Devic verwendete ihn in einer am französischen Medizinkongress in Lyon vorgestellten Arbeit, ebenso sein Student Fernand Gault im gleichen Jahr als Titel seiner Doktorarbeit. Es lässt sich daher nicht mit Sicherheit sagen, wer von beiden den Begriff letztendlich erfunden hat, aber es finden sich starke Hinweise in Gaults Doktorarbeit, dass es Devic war. Die Erkrankung ist nach seinem Namen auch als Devic-Syndrom bekannt. Beide Autoren verwendeten aber auch andere Namen zur Beschreibung dieser Krankheit.[17][18][19] Erste Erwähnungen in englischer Literatur finden sich erst 1903 im damaligen British Medical Journal als acute optic neuromyelitis und in der deutschen Literatur in einer Übersichtsarbeit von Erwin Stransky. Er sprach zum ersten Mal vom heute verbreiteten Begriff der Neuromyelitis optica.[17]
Seit dieser Zeit haben sich der Begriff und die Definition der Neuromyelitis optica mehrere Male geändert. Insbesondere diagnostischen Kriterien wechselten öfter: von manchen Autoren wurden sogar sämtliche Patienten ausgeschlossen, die noch andere neurologische Auffälligkeiten neben einer Sehnerventzündung und einer Myelitis aufwiesen. Auch die Frage, ob die NMO überhaupt eine eigene Krankheit ist, oder nur als spezielle Form einer multiplen Sklerose anzusehen ist, wurde unterschiedlich beantwortet. Devic und Gault glaubten an eine eigene Krankheit, andere Autoren, z. B. Russell Brain, sahen dafür nicht genügend Unterschiede zwischen beiden Krankheiten.[17]
Studiengruppe
Die Neuromyelitis optica Studiengruppe (NEMOS) vernetzt klinische und wissenschaftliche Aktivitäten zur Neuromyelitis optica für Ärzte und Patienten, um wichtige Informationen zur Epidemiologie, zum klinischen Verlauf, zur Pathogenese, zur Prognose und zur Behandlung der Erkrankung zu erhalten. NEMOS veröffentlicht auch Empfehlungen zu Diagnose und Therapie der NMO.[10]
Literatur
- B. Wildemann, S. Jarius, F. Paul: Neuromyelitis optica. In: Aktuelle Neurologie. Nummer 1, 2012. doi:10.1055/s-0031-1297261. (Review)
- N. Asgari, T. Owens, J. Frøkiaer, E. Stenager, S. T. Lillevang, K. O. Kyvik: Neuromyelitis optica (NMO)–an autoimmune disease of the central nervous system (CNS). In: Acta Neurologica Scandinavica. Band 123, Nummer 6, Juni 2011, S. 369–384. doi:10.1111/j.1600-0404.2010.01416.x. PMID 20880299. (Review).
- D. J. Graber, M. Levy, D. Kerr, W. F. Wade: Neuromyelitis optica pathogenesis and aquaporin 4. In: Journal of neuroinflammation. Band 5, 2008, S. 22. doi:10.1186/1742-2094-5-22. PMID 18510734. PMC 2427020 (freier Volltext). (Review).
- M. C. Papadopoulos, A. S. Verkman: Aquaporin 4 and neuromyelitis optica. In: The Lancet Neurology. 11, 2012, S. 535–544, doi:10.1016/S1474-4422(12)70133-3.
Weblinks
- Neuromyelitis optica Studiengruppe (NEMOS): Was ist die NMO?
Einzelnachweise
- ↑ Urban und Vogel: NMO ab jetzt nur noch als Spektrumerkrankung. In: InFo Neurologie & Psychiatrie. Band 17, Nr. 30. Springer, 2015, ISSN 1437-062X, S. 30, doi:10.1007/s15005-015-1448-z (springer.com [abgerufen am 11. April 2019]).
- ↑ Corinna Trebst: Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen. Klinik und Therapie. In: Arzneimitteltherapie. Band 36, Nr. 8. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Stuttgart, 2018, ISSN 0723-6913, ZDB-ID 380334-X, S. 237 (aerztekammer-bw.de [PDF; abgerufen am 11. April 2019]).
- ↑ Todd A. Hardy, Stephen W. Reddel, Michael H. Barnett, Jacqueline Palace, Claudia F. Lucchinetti und Brian G. Weinshenke: Atypical inflammatory demyelinating syndromes of the CNS. In: Lancet Neurology. Band 15, Nr. 9, August 2016, S. 967, doi:10.1016/S1474-4422(16)30043-6, PMID 27478954 (englisch, thelancet.com [abgerufen am 11. April 2019]).
- ↑ a b c d e S. Jarius, K. Ruprecht, B. Wildemann, T. Kuempfel, M. Ringelstein, C. Geis, I. Kleiter, C. Kleinschnitz, A. Berthele, J. Brettschneider, K. Hellwig, B. Hemmer, R. Linker, F. Lauda, C. A. Mayer, H. Tumani, A. Melms, C. Trebst, M. Stangel, M. Marziniak, F. Hoffmann, S. Schippling, J. Faiss, O. Neuhaus, B. Ettrich, C. Zentner, K. Guthke, U. Hofstadt-van Oy, R. Reuss, H. Pellkofer, U. Ziemann, P. Kern, K. P. Wandinger, F. Then Bergh, T. Boettcher, S. Langel, M. Liebetrau, P. S. Rommer, S. Niehaus, C. Münch, A. Winkelmann, U. Zettl, I. Metz, C. Veauthier, J. P. Sieb, C. Wilke, H. P. Hartung, O. Aktas, F. Paul: Contrasting disease patterns in seropositive and seronegative neuromyelitis optica: A multicentre study of 175 patients. In: Journal of neuroinflammation. Band 9, Januar 2012, S. 14, doi:10.1186/1742-2094-9-14. PMID 22260418, PMC 3283476 (freier Volltext).
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- ↑ M. Krumbholz, U. Hofstadt-van Oy, K. Angstwurm, I. Kleiter, S. Jarius, F. Paul, O. Aktas, G. Buchholz, P. Kern, A. Straube, T. Kümpfel: Very late-onset neuromyelitis optica spectrum disorder beyond the age of 75. In: J Neurol. 262(5), 2015, S. 1379–1384.
- ↑ a b c d Sven Jarius und Brigitte Wildemann: The history of neuromyelitis optica. In: Journal of Neuroinflammation. Band 10, Nr. 8, 2013, ISSN 1742-2094, doi:10.1186/1742-2094-10-8, PMID 23320783, PMC 3599417 (freier Volltext).
- ↑ E. Devic: Myélite aiguë dorso-lombaire avec névrite optique. Autopsie. In Congrès français de médecine (Premiere Session; Lyon, 1894; procès-verbaux, mémoires et discussions; publiés par M. le Dr L. Bard). Paris: Lyon: Asselin et Houzeau, Louis Savy; 1895, S. 434–439.
- ↑ F. Gault: De la neuromyélite optique aiguë. Faculté de Médecine et de Pharmacie, Thése 1894.