Abu Muhammad al-Dschaulani
Ahmad Husain asch-Schar’a[1] (arabisch أحمد حسين الشرع, DMG Aḥmad Ḥusain aš-Šarʿ; * 1982 in Riad, Saudi-Arabien[1]), bekannt unter dem Kampfnamen Abu Muhammad al-Dschaulani oder Dscholani (arabisch أبو محمد الجولاني, DMG Abū Muḥammad al-Ǧaulānī), ist seit 2017 der Anführer des syrischen Milizbündnisses Haiʾat Tahrir asch-Scham (HTS).
Er war Gründer und von 2012 bis 2016 Anführer der vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen als Terrororganisation eingestuften al-Nusra-Front.
Leben
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Seine Familie väterlicherseits stammt nach eigenen Angaben von den Golanhöhen (daher auch sein Kampfname al-Dschaulani, arabisch für „der aus dem Golan stammt“). Sein Vater sei in seiner Jugend von Gamal Abdel Nasser beeinflusst worden und ein arabischer Nationalist gewesen. Berichten zufolge war sein Vater, der aus einer bäuerlichen Familie kam und an der Universität Bagdad studiert hatte, ein säkularer Gegner des Regimes von Hafiz al-Assad. Nach den Staatsstreichen (1961, 1963) der syrischen Neo-Baathisten, die die Vereinigte Arabische Republik zerschlugen und die Arabische Sozialistische Baath-Partei an die Macht brachten, wurde sein Vater vom Al-Assad-Regime inhaftiert bzw. war politischer Gefangener, bevor er ins Exil gehen konnte. In Saudi-Arabien arbeitete sein Vater, wo al-Dschaulani nach eigenen Angaben 1982 in Riad geboren wurde, als Wirtschaftswissenschaftler im Ministerium für Erdöl. 1989 sei er mit seinem Vater und seiner Familie nach Syrien zurückgekehrt. Er sei bei Damaskus, in einem liberalen und wohlhabenden Viertel der Stadt, in al-Mazza, aufgewachsen.[1][2] In der Zeit war seine Mutter Lehrerin und sein Vater Berater für die Ölindustrie des Premierministers Mahmoud Al-Zoubi.[3] Da er propalästinensisch erzogen wurde, habe ihn die Zweite Intifada während der Jahrtausendwende beeinflusst. Zu der Zeit habe er mit dem Beten angefangen und zum islamischen Glauben gefunden.[1][2]
Wenige Wochen vor der US-geführten Invasion in den Irak 2003 verließ er seine Heimat Syrien in Richtung Irak, wo er sich Al-Qaida anschloss und über die Jahre innerhalb der Organisation aufstieg.[1][4] Die Zeitung Times of Israel behauptete, al-Dschaulani sei ein enger Vertrauter des Al-Qaida-Führers Abū Musʿab az-Zarqāwī gewesen.[5] al-Dschaulani bestritt dies im Jahr 2021; er habe al-Zarqawi nie getroffen, und behauptete, er habe nur als regulärer Fußsoldat unter al-Qaida im Irak gegen die Besetzung des Irak gedient. Im Jahr 2006 wurde al-Dschaulani von US-amerikanischen Soldaten festgenommen und war nach eigenen Angaben über fünf Jahre lang in verschiedenen Militärgefängnissen inhaftiert, darunter angeblich in Abu Ghraib, Camp Bucca, Camp Cropper und im al-Tajji-Gefängnis.[1]
Im März 2011, als die Revolte gegen Assads Regime in Syrien begann, kehrte er in sein Heimatland zurück und gründete die Al-Nusra-Front, deren Anführer er von 2012 bis 2016 war.[2] Die Nusra-Front kämpfte als syrische Untergruppe von al-Qaida im Bürgerkrieg in Syrien unter anderem gegen die Regierung Baschar al-Assads, Teile der Freien Syrischen Armee, kurdische Volksverteidigungseinheiten und seit Februar 2014 gegen den Islamischen Staat (IS). Der IS hatte Dschaulani und seiner Organisation den Krieg erklärt, nachdem al-Dschaulani – nach einem Treffen mit dem Abu Bakr al-Baghdadi (dem selbst ernannten Kalifen des IS) und infolge der Behauptung Baghdadis, dass die Al-Nusra-Front in den IS eingegliedert werde – al-Qaida Chef Aiman az-Zawahiri die Treue schwor und sich somit nicht den IS als Schutzmacht ausgesucht hatte. Vermittler des Seitenwechsels war Abu Chalid al-Suri, ein prominenter syrischer al-Qaida-Veteran.[6] Im Jahr 2013 stuften die USA al-Dschaulani wegen seiner Beziehungen zu al-Qaida als Terroristen ein.[7][8][1] Für Hinweise, die zu seiner Verhaftung führen lobten die USA 10 Millionen US-Dollar aus.[9] Wegen des im September 2015 begonnenen russischen Militäreinsatzes in Syrien und der damit verbundenen Angriffe der russischen Streitkräfte gegen die syrische Zivilbevölkerung rief al-Dschaulani im Oktober 2015 Dschihadisten im Nordkaukasus zu Racheaktionen gegen russische Zivilisten und Soldaten auf.[10] Gleichzeitig zog er sich mit seiner Organisation in die Provinz Idlib zurück, die zu einer Art Refugium für Rebellengruppen und mehr als zwei Millionen Rebellen geworden war.[6] Dort begann er die Organisation zu einer Art Protostaat umzubauen,[6][11] sich von der transnationalen dschihadistischen Ideologie zu distanzieren und seine Fraktion zunehmend in den Kontext eines nationalistischen syrischen Kampfes zu stellen.[4][12] Im Mai 2015 gab al-Dscholani an, dass er im Gegensatz zum IS nicht die Absicht habe, Anschläge gegen den Westen auszuführen. Auch erklärte er, dass es im Fall einer Niederlage Assads keine Angriffe aus Rache gegen die alawitische Minderheit in Syrien geben werde, der Assads Familie entstammt.[2]
In einem Video vom Juli 2016 offenbarte al-Dschaulani, dass sein realer Name Ahmad Husain asch-Scharʿa sei.[13][14] Im selben Monat benannte er die Al-Nusra-Front in Front für die Eroberung der Levante um und brach mit der al-Qaida, um sich fortan mit anderen Rebellengruppen zu vereinen und Dschihadistengruppen, wie solche, die zuvor ebenfalls al-Qaida die Treue geschworen hatten, entmachten bzw. ausschalten zu können. Außerdem sollte dies dazu beitragen, von der Terrorliste der USA gestrichen zu werden. Im Jahr 2017 nannte er die Front für die Eroberung der Levante in Haiʾat Tahrir asch-Scham (HTS, Komitee zur Befreiung der Levante) um.[6][11] Als HTS-Anführer gelang es al-Dschaulani in der Provinz Idlib andere Rebellengruppen wie die Freie Syrische Armee fast vollständig zu verdrängen.[15]
Im November 2024 befahl al-Dschaulani eine Offensive gegen die syrischen Regierungstruppen.[15] Innerhalb weniger Tage nahm die HTS mit Unterstützung der Freien Syrischen Armee mit Aleppo das Wirtschaftszentrum Syriens ein. Während des Einmarschs in Aleppo bemühte sich al-Dschaulani Berichten zufolge, Ängste von Christen oder anderen Minderheiten zu zerstreuen. Ausdrücklich habe er den Befehl gegeben, Zivilisten zu schonen und gefangen genommene Soldaten nicht zu töten.[16][17] Er schickte Emissäre zu den christlichen Gemeinden in Syrien, die diesen versicherten, dass sie keine Übergriffe zu befürchten hätten.[6] Er kündigte an, dass alle Kämpfer innerhalb weniger Wochen aus Aleppo abziehen werden.[18] Anfang Dezember 2024 versprach er in einem Interview mit CNN, Minderheiten zu schützen. Er drückte auch seine Absicht aus, die Rückkehr syrischer Flüchtlinge in ihre Heimat zu erleichtern.[19][20] Al-Dschaulani schickte bei der Offensive, die letztlich innerhalb von 12 Tagen zum Ende des Assad-Regimes führte, jeweils Verhandler voraus, die Bürgermeister und lokale Milizen davon überzeugten, sich kampflos zu ergeben oder sich den Rebellen anzuschließen.[21] Der Zerfall des Assad-Regimes bzw. die dafür benötigte knapp zweiwöchige Offensive forderte nach Angaben der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte das Leben von 910 Menschen; davon seien 392 Rebellen, 380 regimetreue Kämpfer und 138 Zivilisten gewesen.[22] Im Jahr 2021 war die Anzahl der Todesopfer im Bürgerkrieg auf eine halbe Million Menschen geschätzt worden.[23]
Positionen und Rezeption
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Im Februar 2021 veröffentlichte der US-amerikanische, öffentlich-rechtliche Sender PBS den Dokumentarfilm „The Jihadist“ über al-Dschaulanis Vergangenheit im Kontext des syrischen Bürgerkriegs.[8] Dabei gab al-Dschaulani ein Interview, führte durch Idlib sowie zu einem Treffen der HTS.[8]
Nach Angaben der International Crisis Group (ICG), die mehrmals Kontakt mit al-Dschaulani hatte, ist dieser „kein Kleriker, er ist Politiker“. Al-Dschaulani sei laut ICG bereit, Deals zu schließen und in vielen Dingen sehr kompromissbereit – außer im Kampf gegen das Regime” von Baschar al-Assad.[6]
Er erklärte, es sei ihm vor dem Hintergrund der kontinentalen Auswirkungen des syrischen Bürgerkriegs und der vielen Opfer ein Anliegen, „das wahre Bild der syrischen Revolution“ zu vermitteln, dass der Kampf gegen den diktatorisch regierenden syrischen Staatspräsidenten Baschar al-Assad ein gerechter sei und dass von Syrien keine Gefahr für Amerika und Europa ausgehe. Er relativierte seine frühere Zusammenarbeit mit der Terrororganisation al-Qaida und erklärte, dass er keinen Einfluss auf die Bombenattentate von al-Qaida-Mitgliedern hatte, bei denen mitunter auch Zivilisten starben, vielmehr habe er diese bei Gefahr für Zivilisten immer abgelehnt. Er und andere Mitglieder der al-Nusra-Front hätte sich immer gegen Operationen im Ausland positioniert und es widerspreche seiner Politik, von Syrien aus „externe Operationen“ gegen Europäer oder Amerikaner zu führen. Seine Einstufung als Terrorist entbehre jeglicher Grundlage. Er sprach der Scharia, die er in Syrien implementieren will, „große Güte, Gerechtigkeit und soziale Lösungen“ zu und behauptete, die Scharia schließe Mitglieder anderer Religionsgemeinschaften nicht aus. Der Bürgerkrieg in Syrien sei kein Religionskrieg, es gehe vor allem darum, die Unterdrückung durch ein verbrecherisches Regime zu beenden. Islam und Christentum in Syrien hätten über 1.400 Jahre koexistiert.[1][8]
Literatur
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Aaron Y. Zelin (Washington Institute for Near East Policy): The Age of Political Jihadism. A Study of Hayat Tahrir al-Sham. Rowman & Littlefield, Maryland, USA 2023, ISBN 978-1-5381-8293-2.
Weblinks
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- tagesschau.de (8. Dezember 2024):
- Syriens Rebellenchef Mohamed al-Julani: In Syrien euphorisch als Befreier gefeiert. In: taz online, 8. Dezember 2024
Einzelnachweise
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- ↑ a b c d e f g h Abu Mohammad al-Jolani. In: pbs.org. PBS, abgerufen am 30. November 2024 (englisch).
- ↑ a b c d Syriens Milizenführer al-Dscholani: Wer ist der Mann, der Assad stürzte? In: tagesschau.de. 8. Dezember 2024, abgerufen am 8. Dezember 2024.
- ↑ Syria war: Inside the world of HTS leader Abu Mohammad al-Jolani | Middle East Eye. 6. Dezember 2024, abgerufen am 8. Dezember 2024.
- ↑ a b Raya Jalabi: Abu Mohammad al-Jolani, the Syrian rebel leader who overthrew the Assad regime. In: Financial Times. 8. Dezember 2024 (ft.com [abgerufen am 8. Dezember 2024]).
- ↑ Qassim Abdul-Zahra, Zeina Karam: Elusive Al-Qaeda leader in Syria stays in shadows. Abgerufen am 8. Dezember 2024 (englisch).
- ↑ a b c d e f Christoph Reuter: Syrischer Rebellenführer Abu Mohammad al-Julani – das ist der Mann, der Baschar al-Assad stürzte. In: Der Spiegel. 9. Dezember 2024, ISSN 2195-1349 (spiegel.de [abgerufen am 9. Dezember 2024]).
- ↑ Terrorist Designation of Al-Nusrah Front Leader Muhammad Al-Jawlani. In: 2009-2017.state.gov. Abgerufen am 30. November 2024.
- ↑ a b c d The Designated Terrorist and the Fight Over the Future of Syria. In: pbs.org. Abgerufen am 30. November 2024 (englisch).
- ↑ Erdogans Syrien-Pakt: Warum der türkische Präsident mit einem der gefährlichsten Terroristen zusammenarbeitet. In: HuffPost Deutschland. 9. November 2017, archiviert vom (nicht mehr online verfügbar) am 2. August 2018; abgerufen am 2. August 2018.
- ↑ Islamistische Nusra-Front ruft zu Terror gegen Russen auf. FAZ.net, 13. Oktober 2015.
- ↑ a b Mackenzie Holtz: Examining Extremism: Hayat Tahrir Al-Sham (HTS). In: csis.org. Center for Strategic and International Studies (CSIS), 3. August 2023, abgerufen am 4. Dezember 2024 (englisch).
- ↑ Assads schlimmster Albtraum: Dieser Mann leitet die Dschihadisten-Armee in Syrien. In: t-online.de. 3. Dezember 2024, abgerufen am 9. Dezember 2024.
- ↑ ntv.de, jwu/rts: Neuer Name – neue Ziele? Nusra-Front kappt Verbindungen zu Al-Kaida. In: n-tv.de. 28. Juli 2016, abgerufen am 10. Februar 2024.
- ↑ Charles Lister: The Nusra Front Is Dead and Stronger Than Ever Before, foreignpolicy.com, 28. Juli 2016.
- ↑ a b Şebnem Arsu, Mohannad al-Najjar, Maximilian Popp, Dunja Ramadan: Syrien: So konnte Aleppo von den Rebellen eingenommen werden. In: Der Spiegel. 30. November 2024, ISSN 2195-1349 (spiegel.de [abgerufen am 30. November 2024]).
- ↑ Eroberung von Aleppo nur Zwischenziel für syrische Rebellen. In: handelsblatt.com. 1. Dezember 2024, abgerufen am 2. Dezember 2024.
- ↑ Bürgerkrieg in Syrien: Druck auf Assad – Syriens Regierung verliert Aleppo. In: Der Tagesspiegel Online. ISSN 1865-2263 (tagesspiegel.de [abgerufen am 1. Dezember 2024]).
- ↑ Fritz Schaap: Syrien: Warum die Armee von Baschar al-Assad sich teilweise zurückzieht. In: Der Spiegel. 5. Dezember 2024, ISSN 2195-1349 (spiegel.de [abgerufen am 6. Dezember 2024]).
- ↑ Jomana Karadsheh, Gul Tuysuz, Brice Laine, Lauren Kent, Eyad Kourdi: Syrian rebel leader says goal is to ‘overthrow’ Assad regime. 6. Dezember 2024, abgerufen am 6. Dezember 2024 (englisch).
- ↑ Reuters and ToI Staff: Thousands flee as Syrian rebels advance on crossroads city of Homs. Abgerufen am 6. Dezember 2024 (englisch).
- ↑ Anne Allmeling: Vormarsch der Rebellen in Syrien: Wie konnte das Asad-Regime so schnell kollabieren? In: Neue Zürcher Zeitung. 8. Dezember 2024, ISSN 0376-6829 (nzz.ch [abgerufen am 9. Dezember 2024]).
- ↑ Anna-Sophie Schneider, Steffen Lüdke, Miriam Khan, Hannah Helene Häseker: Syrien-News am 8. Dezember: Erste Kämpfer auf Gelände von Assads Palast in Damaskus. In: Der Spiegel. 8. Dezember 2024, ISSN 2195-1349 (spiegel.de [abgerufen am 8. Dezember 2024]).
- ↑ Steven Geyer: Bürgerkrieg in Syrien: Was sind die Ursachen und wer sind die Rebellen? 6. Dezember 2024, abgerufen am 9. Dezember 2024.
Personendaten | |
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NAME | Dschaulani, Abu Muhammad al- |
ALTERNATIVNAMEN | Schar’a, Ahmad Husain asch- (wirklicher Name); أبو محمد الجولاني (arabisch); أحمد حسين الشرع (arabisch) |
KURZBESCHREIBUNG | syrischer Milizionär |
GEBURTSDATUM | 1982 |
GEBURTSORT | Riad, Saudi-Arabien |