Leonardo da Vinci (1452–1519) bleibt stets aktuell. Und das nicht bloß, weil in schöner Regelmäßigkeit ein bisher unbeachtet gebliebenes Kunststück dem Universalgenie zugeschrieben wird. Ein echter Leonardo – das wird allzu gerne verkündet, beweist aber auch die Faszination dieses Künstlers.
In diesem Jahr hat leider noch niemand einen halbwegs echten Leonardo aufgestöbert. Schade. Das wäre doch eine schöne Ergänzung gewesen zur soeben erschienenen DVD meines Arte/SWR-Films „Der Leonardo-Code“. Welch ein wunderbares Abenteuer war es, Leonardos vielfältiges Werk selbst zu vermessen, das geheimnisvolle Leben des Mannes aus Vinci nochmals abzuschreiten und dann meine eigenen filmischen Schlüsse zu ziehen.
Erstmals hörte ich von Leonardo, als ich so gar keine Lust hatte, zur Schule zu gehen, und stattdessen morgens Schulfunksendungen lauschte. Da wurde die rührselige Geschichte erzählt, der Meistermaler aus Vinci habe lange nach einem Modell für den Judas in seinem „Abendmahl“ gesucht. Als er endlich einen ziemlich heruntergekommenen, nicht mehr jungen Mann fand, der ihm zum Judas taugte, gab sich dieser als jene Person zu erkennen, die Wochen zuvor für seinen Christus Modell gestanden hatte. Eine der vielen Legenden, die sich um Kunst und Leben von Leonardo ranken.
Natürlich hatte dieser gar keine Zeit, lange nach Modellen zu suchen. Seine Malweise auf der Wand verbot ihm das. Und wer sich „Das Abendmahl“ anschaut, das auch ich immer wieder nach den Personen, dem Ereignis, nach religiösen und gesellschaftlichen Hintergründen in der Zeit Jesu befrage, entdeckt einen ganz anderen Judas. Denn bei Leonardo ist immer alles anders. Sein Judas ist kein heruntergekommener Gesell, kein Verkniffener am Tisch des Herrn. Er ist ein ernst bis sorgenvoll auf Jesus blickender Jünger. Anders als bei anderen Künstlern sitzt Judas nicht isoliert, sondern mitten unter den Jüngern, an prominenter Stelle. Die einzige Person, die Leonardo isoliert präsentiert, ist Jesus selbst, um dessen Wohl und Weh sich Johannes, den man den Lieblingsjünger nennt, erstaunlich wenig schert.
Vor dieser Großtat der abendländischen Malerei im Refektorium des Klosters Santa Maria della Grazie bei den Dreharbeiten quasi alleine zu stehen, das war atemberaubend.
Allerdings hat die Realität vor die Dreharbeiten die Recherchen gesetzt. Das ist die Phase, in der ein Filmemacher, dessen Gewerbe und Erfolg ja von der Fähigkeit, dem Talent und dem Engagement vieler abhängen, ziemlich alleine auf sich selbst gestellt ist. Beim Bücherdurchstöbern. Beim Foliantenwälzen. Beim Suchen nach Experten. Während der Entscheidung, was zu tun ist, was denn zu lassen wäre.
Ich mag diese Zeit des Suchens, des Entdeckens, diesen Lernprozess, der die oft belächelte Erkenntnis bestätigt, dass man nie auslernt.
Ebenso wie den schwierigen Beginn mit der Entwicklung des Drehplans schätze ich die Arbeit im Schneideraum. Hier laufen alle Fäden zusammen. Dort zeigen sich unerbittlich alle Stärken und Schwächen der bis dahin geleisteten Arbeit. Gewogen wird hier das Material, aus dem ein Film werden soll: Es wird als zu leicht befunden und verworfen, bejubelt oder eben mal so akzeptiert. Der Schneideraum ist der Ort der Wahrheit. Die letzte Instanz. Auch der Filmschnitt ist Vertrauenssache. 19 Jahre habe ich fast alle meine Filme mit Ursel Schulze vom SWR geschnitten. Auch beim „Leonardo-Code“ war sie die engste Vertraute, die Mitbestimmerin, die schärfste Kritikerin. Die Auswahl der Filmmusik war ihre Sache.
Doch der Weg in den Schneideraum war bei Leonardo besonders lang. Als authentisch beglaubigte Orte suchte ich nach Schauplätzen, die sich mit den Kunstwerken von Leonardo da Vinci in Verbindung bringen ließen. An seiner letzten Wirkungsstätte, Amboise an der Loire, besichtigte ich die in unseren Tagen nachgebauten Maschinen und Waffen, die er in beeindruckenden Skizzen festgehalten hatte.
Vor allem anderen aber seine Kunst: Es bleibt meine These, dass nicht die ungezählten technischen Zeichnungen, die da Vinci realisierte, sondern die wenigen uns bekannten Bilderwerke den Ruhm Leonardos über die Jahrhunderte getragen haben. Nicht der technisch hochbegabte Mann aus Vinci, wie zukunftweisend seine Konstruktionen auch gewesen sein mögen, begründete seine Unsterblichkeit, sondern eine Handvoll Gemälde. Von denen wir nicht einmal mit letzter Sicherheit sagen können, ob sie alle von Leonardo stammen.
Der Aufwand für den „Leonardo-Code“ war erheblich. Im magischen Dreieck Vinci, wo Leonardo 1452 geboren wurde, Florenz, wo er zum Künstler reifte, und Mailand – nicht bloß Ort des Abendmahls – waren wir mit einem Film-Kran unterwegs. Ihm und dem geschickten Zusammenspiel von Kameramann und Kranführer verdanken wir attraktive toskanische Landschaftsaufnahmen aus der „Vogel-Perspektive“ und poetische Blicke in das Elternhaus jener Frau, die wir als Mona Lisa zu kennen glauben. Und im Louvre zu Paris, wo so viele Leonardo-Gemälde faszinieren, waren zudem wunderbare Kamera-Fahrten möglich – von einen Leonardo-Bild zum anderen. Und irgendwo im Gebirge simulierten wir das Fliegen, schließlich hatte Leonard ja auch Flugkörper entworfen.
Drehorte haben viel Schönes, aber auch ihre Tücken. Höchste Konzentration ist gefragt von allen Beteiligten. Aber auch dann kann manches schiefgehen. Bei Arezzo, am Ufer des berühmten Arno, bei den Vorbereitungen zu den Dreharbeiten für jene Brücke, die Leonardo in sein „Mona Lisa“-Bild hineingemalt haben soll, das Desaster: Wolfgang Brinschwitz, mit dem ich so manchen Film zwischen Tadschikistan und den USA gedreht habe, stürzte so unglücklich, dass er ausgeflogen werden musste. Der neue Kollege kam ungefähr 24 Stunden nach dem Unglück. Wir verloren viel Zeit, und manches musste umorganisiert werden. Und während wir einen langen Tag in Mailand „Das Abendmahl“ filmisch sezierten, erwartete uns bereits ein zweites Film-Team in Paris.
Der ganze Leonardo, das war die Aufgabenstellung des Films. Der Film grenzt Vermutungen von Behauptung ab, thematisiert Unwahrscheinliches ebenso wie Mögliches. Fakten stehen gegen Annahmen. Er benennt Spekulationen deutlich, lässt ihnen aber freien Lauf: Und auch ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, dem Leben und Werk eine eigene Spekulation hinzuzufügen.
Letzte Sicherheiten gibt es bei Leonardo nicht. Das bestätigen auch die internationalen Leonardo- und Religionsspezialisten, die ich in Frankfurt, Paris und Boston aufsuchte. Und immer wieder Fragen: War Leonardo ein Ketzer? Lächelt die Mona Lisa wirklich? Schmuggelte Leonardo seinen Lieblingsgehilfen Salai ins „Abendmahl“? Malte er deswegen so oft den Täufer, weil er eigentlich ein Johannes-Jünger war? Und: Was hat er überhaupt gemalt?
Widerstrebende Gedanken. Kann es sein, dass über Generationen hinweg in Mailand ein Abendmahl bewundert und verehrt worden war, das vermutlich erst nach der Restaurierung 1999 jenem ähnlich ist, das Leonardo 1498 malte? Und was würde es ausmachen, wenn einige seiner erotischen Preziosen nicht aus der Hand des Meisters stammten? Von dessen „Mona Lisa“ auch immer wieder mal kolportiert wird, die im Louvre sei nicht die wahre.
Die strittigen Behauptungen, das Gerangel um Fakten und die fragwürdigen Hypothesen, die giftigen Reden und Gegenreden in allen Zeiten und Epochen waren nicht zuletzt Voraussetzung, dass dieses geradezu überirdische Werk Leonardos in unserem kollektiven Bewusstsein lebendig geblieben ist. Sich diesem Universum nähern zu können war einfach wunderbar.