Die ewigen Außenseiter – Seite 1
"Uß den landen teutscher nacion" vertrieben werden sollten alle Personen, "so sich ziegeiner nennen", beschloss der Reichstag am 4. September 1498. Mit den "ziegeinern" waren Angehörige des Volkes der Roma gemeint. Es stammte ursprünglich aus Indien und war im 10. Jahrhundert über Persien und die heutige Türkei nach Griechenland eingewandert. Zu Beginn des 15. Jahrhunderts zogen dann einige Roma, die zum Stamm der Sinti gehörten, in das Gebiet des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation und in die Schweiz.
Dort wurde ihnen faktisch Asyl gewährt, ein formales Asylrecht gab es noch nicht. Und es wurden ihnen, in heutigen Begriffen gesprochen, Aufenthaltsbescheinigungen und Berufsgenehmigungen ausgestellt – sogenannte Geleitbriefe. Spätmittelalterliche Chroniken und Urkunden nennen die Anführer der Sinti ehrfurchtsvoll "Fürsten" oder "Grafen", beschreiben sie als gut gekleidet und ausgesprochen wohlhabend. Geradezu bewundert wurden die Sprachkenntnisse der "ziegeiner", beherrschten sie doch neben ihrer eigenen Sprache, dem Romanes, stets noch etliche weitere sowie die in ihrer neuen deutschen Wahlheimat gebrauchten Dialekte.
Eines aber war – und blieb – befremdlich: Die Eingewanderten ließen sich nicht nieder, vermischten sich nicht mit den Einheimischen. Sie blieben lieber unter sich, zogen in größeren und kleineren Gruppen im Lande herum und verdienten ihren Lebensunterhalt als Händler, Handwerker, Musiker oder Wahrsager.
Allerdings hatten ihnen die geistlichen und weltlichen Gewalten diese besondere Arbeits- und Lebensweise zuvor ausdrücklich genehmigt. In einigen der erwähnten Geleitbriefe aus dem 15. Jahrhundert war ihnen sogar das seltene Privileg einer eigenen Gerichtsbarkeit verliehen worden.
Aus formaler Sicht waren die Sinti und Roma also voll und ganz in die spätmittelalterliche, christlich-feudale Ordnung integriert. Warum sollten sie trotzdem "uß den landen teutscher nacion" vertrieben werden?
Der Vorwurf lautete, dass sie "erfarer, usspeer und verkundschafter der christen lant" seien – sprich: Sie hätten für die Osmanen spioniert. Dieser Vorwurf war geradezu grotesk, schließlich waren die deutschen "ziegeiner" allesamt Christen. Tatsächlich taucht die Anschuldigung auch in keinem weiteren der vielen "Zigeunergesetze" auf, die verschiedene Landesfürsten nach dem Reichstagsbeschluss von 1498 erlassen haben. Darin werden den Sinti und Roma keine politischen Vergehen mehr vorgeworfen, sondern kriminelle: Sie würden umherziehen und sich von Gaunereien statt von ehrlicher Arbeit ernähren.
Fortan mussten "ziegeiner" in den deutschen Landen fürchten, festgenommen und dann unverzüglich abgeschoben zu werden. Wer sich widersetzte, wurde mit "Zigeunerstrafen" belegt – gebrandmarkt, ausgepeitscht oder am nächsten Baum aufgehängt. Dieses Schicksal ereilte nicht nur unzählige Männer, sondern auch Frauen. Nur Kinder blieben verschont. Sie wurden entweder in ein Arbeitshaus gesteckt oder bei regelrechten Auktionen an den Meistbietenden versteigert.
Mal verfolgt, mal erfolgreich assilmiliert
Liest man die Berichte über die "Zigeunerjagden", zu denen die veränderte Gesetzgebung einlud, fragt man sich, wie es den Roma überhaupt gelang, zu überleben. Die Antwort ist einfach: Sie wurden noch gebraucht – als brav ihre Steuern zahlende fahrende Händler, Handwerker und Musiker und als ebenso brav und mutig ihr Vaterland verteidigende Soldaten.
Auch in späteren Epochen setzte sich die Diskriminierung fort. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert wurden Sinti und Roma in großer Zahl ausgewiesen, wenn sie keine deutsche Staatsbürgerschaft nachweisen konnten. Auf Ausgrenzung und Entrechtung folgte in der NS-Zeit die systematische Vernichtung. Nach glaubwürdigen Schätzungen sind dem nationalsozialistischen Völkermord 500.000 europäische Roma zum Opfer gefallen. Etwa 30.000 von ihnen waren Deutsche. Noch längst ist der Porajmos, wie die Verfolgung und Vernichtung auf Romanes genannt wird, nicht ausreichend dokumentiert und aufgearbeitet.
Zugleich handelt die Geschichte dieses Volkes nicht nur von Diskriminierung und Ausgrenzung. Phasen der Verfolgung wechselten sich immer wieder ab mit Phasen erfolgreicher Assimilation: So gelang es auch im 16. Jahrhundert nicht, die zuvor in die mittelalterliche Ordnung integrierten Sinti und Roma aus den deutschen Territorien zu vertreiben. Im 17. und 18. Jahrhundert arbeiteten viele Roma hierzulande wieder als Händler, Handwerker und Musiker und dienten als Soldaten und Offiziere in den Söldnerheeren der frühen Neuzeit. Und obwohl sie – im Unterschied zu den Juden – niemals formal emanzipiert wurden und die Bürgerrechte erhielten, ist es im 19. Jahrhundert bemerkenswert vielen von ihnen gelungen, einen ständigen Wohnsitz und schließlich auch die deutsche Staatsbürgerschaft zu erlangen. Alle beherrschten zudem die deutsche Sprache, waren meist fromme Katholiken und überzeugte Patrioten.
Nach 1945 setzte sich die Geschichte der Integration fort – trotz des Völkermordes und im Übrigen nicht als Verdienst der deutschen Mehrheit, sondern vielmehr der Minderheit selbst.
Großen Anteil daran hatte der deutsche Sinto Romani Rose, der 1982 den Zentralrat Deutscher Sinti und Roma gründete, den er bis heute leitet. Der Rat ist insbesondere geschichtspolitisch aktiv; von Anfang an setzte er sich dafür ein, dass der Völkermord an den Roma bekannt und als solcher anerkannt wird. Sichtbares Zeichen dafür ist seit Oktober 2012 ein Denkmal für die in der NS-Zeit ermordeten Sinti und Roma unweit des Reichstages in Berlin. Es soll auch ein Mahnmal dafür sein, künftige Verfolgungen zu verhindern.
Wie wir nicht erst seit heute wissen, sind wir weit davon entfernt, dass sich diese Hoffnung erfüllt. Denn vor allem in einigen osteuropäischen Ländern, in Ungarn etwa, aber auch in den Balkanstaaten sind die Roma erneuten Verfolgungen ausgesetzt, die sie ihrer Rechte berauben und ihnen eine Zukunft unmöglich machen.
Um der Verfolgungen zu entgehen – und keineswegs nur aus ökonomischen Gründen, wie ihnen gern unterstellt wird –, sind in den vergangenen Jahren wieder vermehrt osteuropäische Roma nach Deutschland geflohen. Ihre Eingliederung allerdings gestaltet sich oft schwierig, denn die asylsuchenden Roma sprechen nicht nur kein Deutsch, sondern auch ganz andere Dialekte des Romanes als die seit Generationen hier lebenden Angehörigen ihres Volkes. Umso wichtiger ist es, dass sich die deutsche Mehrheitsgesellschaft aktiv bemüht, sie aufzunehmen. Die Geschichte ist da mehr als nur eine Mahnung: Blickt man zurück auf die Phasen des friedlichen Zusammenlebens, hält sie auch positive Beispiele bereit für eine erfolgreiche Integration.