Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Ab $11.99/Monat nach dem Testzeitraum. Jederzeit kündbar.

Schlangentanz: Reisen zu den Ursprüngen des Nuklearzeitalters
Schlangentanz: Reisen zu den Ursprüngen des Nuklearzeitalters
Schlangentanz: Reisen zu den Ursprüngen des Nuklearzeitalters
eBook444 Seiten5 Stunden

Schlangentanz: Reisen zu den Ursprüngen des Nuklearzeitalters

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Kann man zu den Ursprüngen der Bombe von Hiroshima reisen? Patrick Marnham, weit gereister BBC-Korrespondent, Biograf und Schriftsteller, kennt den Weg, und Joseph Conrad, Aby Warburg und Robert Oppenheimer sind seine Begleiter. Die Reise führt zunächst von Brüssel mit seinem Justizpalast, erbaut aus den Einkünften der kongolesischen Horrorkolonie, in den heutigen Kongo, ­woher das Uran für die Bombe kam. Weiter geht es nach New Mexico, einem magischen Stück USA, mit einer ausgelöschten Indianer-Kultur und dem Vermächtnis von Robert Oppen­heimer und Aby Warburg, zwei "verrückten Genies" die sich der zerstörerischen Kraft der Wissenschaft im 20. Jahrhundert auf ganz verschiedenen Wegen näherten. Die Reise endet in Fukushima, wo 2011 die in Hiroshima und Nagasaki entfesselten Kräfte zeigten, was sie auch heute noch anrichten können.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum16. Mai 2016
ISBN9783937834979
Schlangentanz: Reisen zu den Ursprüngen des Nuklearzeitalters

Ähnlich wie Schlangentanz

Ähnliche E-Books

Moderne Geschichte für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Schlangentanz

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Schlangentanz - Patrick Marnham

    TEIL EINS

    Reise zu einer zerstörten Kolonie

    KAPITEL EINS

    Am Rande der Finsternis

    Onkel Norman starb am 8. März 1906. Am Frühstückstisch im Haus Helderfontein in Stellenbosch in der Kapprovinz. Er war zwei Jahre alt; sein morgendlicher Haferbrei war mit einer Prise Arsen versetzt worden. Das langgestreckte, lichtdurchflutete Frühstückszimmer von Helderfontein blickte auf den Blumengarten hinaus, dessen Beete im März morgens um diese Zeit noch bewässert wurden; der gesamte Garten konnte dank eines genialen Systems von gemauerten Kanälen und Holzdämmen von einem einzigen Wasserhahn versorgt werden. Als Norman starb, war meine Großmutter mit dem dritten ihrer sechs Kinder schwanger.

    Eigentlich hatte der Arsenanschlag meinem vierjährigen Vater gegolten. Das Frühstückszimmer lag an einem Ende des Hauses, die Kinderzimmer befanden sich am anderen. Mein Vater hatte einen ausgeprägten Sinn für Hierarchie und für den ihm gebührenden Platz in der Welt von Helderfontein, und das rettete ihm das Leben. Als er an diesem Morgen später als üblich am Frühstückstisch erschien – normalerweise war er vor den anderen dort –, erbrach Norman sich krampfartig. »Ich setze mich nicht mit einem Kind an einen Tisch, das sich übergibt«, verkündete mein Vater und verließ den Raum, ohne seinen Haferbrei angerührt zu haben. Als meine herbeigeeilte Großmutter sich bemühte, den kleinen Jungen zu beruhigen, fielen ihr tote Fliegen in einer kleinen Pfütze neben dem Teller auf. Nachdem Norman gestorben war, wurde der Inhalt des Milchkrugs noch am selben Tag zur Analyse geschickt. Meine Großmutter war eine fromme Christin, und deswegen wurde der ungetaufte Norman an einem Hang unweit des Hauses bestattet. Die Grabstätte gehörte zum Hof; um sie zu erreichen, musste man den Fluss hinter dem Obstladen überqueren. Meine Großmutter kennzeichnete die Stelle mit einem kleinen Stein und verbot allen in der Familie, Norman jemals wieder in ihrem Beisein zu erwähnen.

    Hauptverdächtiger war ein Mann namens Wilson, der ehemalige Kutscher meines Großvaters. Wilson war gemischter Abstammung, was später, in der Apartheid, als »Cape Coloured« klassifiziert werden sollte. Er war ein paar Wochen zuvor wegen Diebstahls entlassen worden und hatte Rache geschworen. Er kannte die Morgenroutine von Helderfontein, wusste, wann die Kühe gemolken wurden und wo die Frühstücksmilch aufbewahrt wurde. Er wusste auch, wann man die Molkerei unbemerkt betreten konnte. Und dass der älteste Sohn seines Arbeitgebers der Erste war, der die Milch zu sich nahm. Doch die Ermittlungen der Polizei waren nicht beweiskräftig genug. Weder konnte man dem Kutscher den Kauf von Arsen nachweisen, noch ihn sonst irgendwie mit dem Verbrechen in Zusammenhang bringen. Wilson wurde vor Gericht gestellt, freigesprochen und verschwand aus der Gegend. Doch das überzeugte meine Großmutter noch lange nicht von seiner Unschuld.

    Mein Großvater Arthur war ein Pferdenarr. Es bereitete ihm großes Vergnügen, frühmorgens mit meinem Vater auszureiten, um den Simonsberg zu erkunden und allerlei Abenteuer zu bestehen. Mein Vater hatte sein eigenes Pony, und ein paar Monate nach Normans Tod, als er fünf wurde, hielt man ihn für alt genug, täglich zur Schule zu reiten. Der Pfad führte durch den Wald, und eines Nachmittags wurde mein Vater auf dem Heimweg erneut von dem Kutscher angegriffen, dessen Groll sich trotz Normans entsetzlichem Tod nicht gelegt hatte. Er schoss zwischen den Bäumen hervor, schwang eine Axt und brüllte: »Diesmal kriege ich dich!« Das Pferd ging durch, aber mein Vater hielt sich im Sattel und galoppierte nach Hause.

    Als er seiner Mutter erzählte, was geschehen war, wurde ihr klar, dass ihr Sohn erst sicher sein würde, wenn der Mann für den Mord an Norman verurteilt wurde. Sie engagierte einen Privatdetektiv aus Kapstadt namens Davis, der sehr gründlich vorging und schließlich den Händler ausfindig machte, von dem Wilson das Arsen gekauft hatte. Aufgrund der veränderten Beweislage konnte der Mordprozess gegen Wilson neu verhandelt werden.* Wie beim ersten Mal wies er auch jetzt alle Schuld von sich. Er behauptete, das Arsen als Rattengift gebraucht zu haben.

    Im Laufe des Kreuzverhörs fragte ihn der Staatsanwalt: »Sie haben mehr Gift gekauft, als man für Ratten benötigt. Was haben Sie mit dem Rest getan?«

    »Ich habe es ins Feuer geworfen.«

    »Gab es daraufhin irgendeine Reaktion?«

    »Eine Stichflamme.«

    »Welche Farbe hatte sie?«

    »Sie war gelb.«

    Der Experte, den die Staatsanwaltschaft als Nächstes aufrief, gab zu Protokoll, dass Arsen die Flammen beim Verbrennen blau färbt.

    Der Kutscher wurde des Mordes schuldig gesprochen, zum Tode verurteilt und gehängt. Mein Vater konnte wieder unbehelligt zur Schule reiten, und meine Großmutter konnte in Ruhe um Norman trauern. Jedenfalls dachte sie das. Das Gerichtsverfahren hatte sie erschöpft, und einige Zeit später reiste sie nach England, um bei ihren Cousinen Abstand von den Ängsten zu gewinnen, die ihr glückliches Leben in Helderfontein überschatteten. An den Docks von Southampton stieg sie in den Zug nach London. Ein Gepäckträger hievte ihren Koffer auf die Ablage über ihrem Platz. Auf dem Schild der Union Line war »Mrs. Arthur Marnham, Stellenbosch« zu lesen. Als sich der Zug in Bewegung setzte und meine Großmutter sich an der abwechslungsreichen Landschaft der Hampshires und dem Gefühl zu erfreuen begann, den noch nicht lange zurückliegenden Albtraum allmählich hinter sich zu lassen, beugte sich die ihr gegenübersitzende Frau vor und erkundigte sich: »Sind Sie verwandt mit der Dame, deren kleiner Junge am Kap ermordet wurde?«

    Im ganzen Königreich hatte die Presse über den Mord an Onkel Norman berichtet. Doch in dem drei Monate nach den Ereignissen im Auckland Star* erschienenen Artikel war mittlerweile von der Vergiftung der gesamten Familie die Rede. Das Verbrechen war zum Sinnbild für den kolonialen Albtraum geworden: Offene Rechnungen mussten beglichen werden, alles hatte seinen Preis. Alle unterdrückten Völker rächten sich eines Tages. Joseph Conrads Herz der Finsternis war 1902 in Buchform erschienen.

    Gleichwohl schien Normans Tod meine Großeltern an Afrika zu binden. Arthur war ursprünglich nur ans Kap ausgewandert, um seine angeschlagene Gesundheit wiederherzustellen, und hatte immer beabsichtigt, irgendwann nach England zurückzukehren, und doch verbrachten seine Frau und er den Rest ihres Lebens in Helderfontein. Nach seinem Tod meißelten die Mitglieder der Methodistischen Kirche in Stellenbosch, der Kirche der »Cape Coloured«, seinen Namen in einen Stein neben der Kapellentür. Und darunter den Zusatz, dass es ihm zeit seines Lebens ein Anliegen gewesen sei, »Gutes zu tun«. Mein Vater verließ Südafrika im Alter von einundzwanzig Jahren; er lebte nie wieder dort. Er sprach auch nie darüber, dass ein Mann, den er für einen Freund gehalten hatte, zweimal versucht hatte, ihn umzubringen, als er noch ein kleiner Junge gewesen war. Als er Helderfontein verließ, um in England Medizin zu studieren, überreichte ihm John X. Merriman, der letzte Premierminister der Kapkolonie, ein Abschiedsgeschenk: Zwischen Wasser und Urwald von Albert Schweitzer.

    Für den Kongo benötigt man ein Visum. Die Botschaft ist in Nordlondon in einem Reihenhaus aus dem 19. Jahrhundert untergebracht, dem einzigen mit einem Fahnenmast. Grauer Backstein an einem grauen Tag. Eine schmuddelige blau-rote Flagge hängt, schlaff von Abgasen und Regen, am Mast. Viele der Reihenhäuser sind mittlerweile Wettstuben und Schnellrestaurants. Die windschiefen Schornsteine scheinen nur von dem Gewirr rostiger Antennen gestützt zu werden. Jahrelang war diese Gegend ein Rotlichtviertel gewesen. Am Eingang von Gray’s Inn Road Nr. 281 waren am Tag meines Besuchs zwei Überwachungskameras und drei unbeschriftete Klingeln unter der Flagge angebracht. Es war nur ein Hauseingang in King’s Cross, aber schon hier spürte ich Afrika – nach dreißig Jahren – deutlich. Die unbekannte Flagge, die Klingeln ohne Schilder, das Gefühl, selbst aus den Bäumen beobachtet zu werden – alles lief auf die Frage hinaus: »Willst du hier wirklich rein?«

    In den 1970er Jahren war ich mir jedenfalls sicher gewesen, raus zu wollen. Das war in Obervolta gewesen, dem späteren Burkina Faso. Die Hauptstadt heißt nach wie vor Ouagadougou. Damals gab es Probleme wegen eines Ausreisevisums. Das gar nicht existierte. Wenn man mich damals mit der Forderung nach einem nicht existenten Dokument konfrontierte, weigerte ich mich zu zahlen. Ich hatte kein Geld und mehrere Jahre Arbeit in Afrika hinter mir. Ich schwor: Sollte es mir gelingen, mich an diesem Uniformierten vorbeizudrücken, ohne für dieses imaginäre Visum zu zahlen, dann wäre es das letzte Mal.

    Jetzt boten mir die fehlenden Klingelschilder erneut eine Chance, nicht in den Kongo zurückzukehren. Aber ich hatte mich vertraglich zur Reise verpflichtet, also brauchte ich ein kongolesisches Visum. Keine der Klingeln funktionierte, doch die Tür der Botschaft gab auf leisen Druck nach – und damit hatte ich meine Chance vertan. Hinter mir fiel die Tür ächzend ins Schloss. In einer dunklen Ecke moderten Hochglanz-Visitenkarten von Prostituierten vor sich hin. Es gibt Gerüchte, nach denen der kongolesische Botschafter in Tokio einmal das Dienstgebäude verkaufte. Das Personal landete vermutlich in einem japanischen Gegenstück zu Nr. 281. Im Schummerlicht konnte ich am Rand der Finsternis die ungestrichenen Wände des Flures ausmachen, die den Eindruck erweckten, als habe es vor kurzem gebrannt. Von der rußigen Decke baumelte ein Sicherungskasten an einem einzelnen Kabel. An der gegenüberliegenden Wand konnte ich durch die Glasscheibe neben einer Tür etwas erkennen, was nach dem Tresen eines Wettbüros aussah. Zwei vergitterte Schalter waren besetzt; über dem einen stand: »Konsularabteilung – Visa«.

    Hinter diesem Gitter im Empfang der kongolesischen Botschaft in der Gray’s Inn Road saß eine majestätisch schöne Frau in einem prachtvollen wallenden Gewand. Sprach man sie auf Englisch an, antwortete sie auf Französisch. Entgegnete man ihr auf Französisch, wechselte sie wieder zu Englisch. Oder andersherum. Eine Frage der Macht. Sie reichte mir ein detailliertes Formular. Die Gebühr für das Visum betrug vierzig Pfund. Die Bearbeitungszeit, sagte sie, werde sich sehr lange hinziehen, ja, eigentlich könne sie mir gar kein Datum für die Fertigstellung nennen. Es sei denn, ich entscheide mich für den Express-Service, der höchstens vierundzwanzig Stunden dauere. Die Gebühr belaufe sich auf weitere dreißig Pfund, in bar, ohne Beleg. Auf einem weiteren Formular hatte ich meinen guten Leumund zu bestätigen. Wenn ich den Express-Service in Anspruch nähme, dürfe ich eigenhändig versichern, dass ich polizeilich nicht bekannt war. So viel zu dem Vorsatz, den ich in Ouagadougou gefasst hatte. Siebzig Pfund wechselten den Besitzer. Sie nahm meine Opfergabe an, ohne zu lächeln. Das Visum wurde innerhalb von zwölf Stunden ausgestellt. Der Flug ging von Brüssel.

    *Nach südafrikanischem Recht konnte jemandem nach einem Freispruch noch einmal der Prozess gemacht werden, wenn neue Beweise auftauchten.

    *Auckland Star , 9. Juni 1906, S. 13

    KAPITEL ZWEI

    Der Justizpalast

    Im November 1889 ging Józef Teodor Korzeniowski, ein polnischer Händler und Seemann, in London an Land, um nach Arbeit zu suchen. Zwölf Jahre zuvor hatte er sich in einer dunklen Stunde in Marseille in die Brust geschossen.¹ Die Kugel hatte sein Herz verfehlt. Danach hatte er ein Kapitänspatent erworben, fand aber kein Schiff. Er erfuhr jedoch, dass sich Binnenschiffkapitänen eine Perspektive im Kongo-Freistaat eröffnete, einem riesigen Gebiet im Innern Afrikas, das sich König Leopold von Belgien als persönliches Lehnsgut angeeignet hatte. Also galt es, Erkundigungen in Brüssel einzuziehen. Korzeniowski war König Leopold als Mann bekannt, dem es ein Anliegen war zu helfen; er wurde vor allem dafür gerühmt, eine Zivilisierungsmission in Afrika zu finanzieren.

    Die afrikanische Unternehmung, die dem polnischen Kapitän eine Chance zu bieten schien, war eines der erstaunlichsten politischen Vorhaben der Epoche, für das es weder Vorbilder noch Nachahmer gab. Es entsprang dem Willen eines einzelnen Mannes, des Monarchen eines wohlhabenden, aber unbedeutenden europäischen Landes, der sich nebenher zum Despoten eines immensen Gebietes in der unerforschten Welt aufgeschwungen hatte. Jeder Tagträumer kann in seinem Lehnstuhl solchen Illusionen nachhängen, doch Leopolds Genialität bestand darin, dass er die führenden internationalen Staatsmänner seiner Zeit dazu brachte, sein privates Reich anzuerkennen. Durch geschickte Manöver brachte er 1885 ein Gebiet von der Größe Westeuropas in seinen Besitz, das er so lange ausplünderte, wie es ihm nur möglich war.

    Bis heute ist die Demokratische Republik Kongo, der ehemalige Kongo-Freistaat, danach Belgisch-Kongo und später Zaire, mit Abstand die größte Nation Zentralafrikas. Leopold kündigte seine territorialen Absichten an, als er im kleinen Kreis erklärte, dass »Belgien auch einen Teil von diesem ausgezeichneten afrikanischen Kuchen«² abbekommen müsse. Seine damaligen Konkurrenten waren Großbritannien, das mächtigste Land der Erde, Deutschland, die bedeutendste Nation Europas, die von einem weiteren Genie namens Bismarck regiert wurde, Frankreich als zweite Weltmacht sowie Portugal, die Kolonialmacht, die sich damals bereits in der Kongoregion festgesetzt hatte. Leopold steckte sie alle in die Tasche. Seine Taktik bestand darin, den geplanten Vorstoß in den Kongo als philantropische Unternehmung zu tarnen. Doch selbst ein Genie ist auf Glück angewiesen, und seine Glückssträhne begann, als er den englischen Forscher Henry Morton Stanley in seine Dienste nahm, den die anderen europäischen Regierungen nicht zu würdigen wussten.

    Leopold saß bereits neun Jahre auf dem belgischen Thron, als Stanley 1874 von der Insel Sansibar an der Küste Ostafrikas aufbrach, um nach der Quelle des Nils zu suchen. Drei Jahre blieb seine Expedition im Urwald verschwunden. Als sie an der Atlantikküste wieder auftauchte, hatte Leopold auf der von ihm einberufenen Geographischen Konferenz in Brüssel zwei wichtige Weichen gestellt: die Gründung der Internationalen Afrika-Gesellschaft mit König Leopold als Präsident und die Ankündigung der wissenschaftlichen Erforschung des Kongobeckens. Zum Wohle Afrikas und der Menschheit plante man dort auch die Errichtung von »Missions- und Forschungsstationen«. Sobald Stanley nach Europa zurückgekehrt war, warb ihn der König an, und gemeinsam überlegten sie, wie sie den Kongo unterwerfen und ausbeuten konnten.

    Bis zum 19. Jahrhundert war Afrika vor europäischen Eindringlingen durch gewaltige, größtenteils natürliche Barrieren geschützt. Wegen der starken Brandung war das Anlegen an vielen Stränden zu riskant, und die großen Flüsse, die den Kontinent entwässerten, versteckten ihre Mündungen hinter Sandbänken. Dazu kamen Stromschnellen, bedrohliche Urwälder mit todbringenden Pflanzen und unbekannten wilden Tieren, das Fieber und nicht zuletzt die Speere. Nachdem Stanley 1877 den Kontinent von Ost nach West durchquert hatte und aus den Wäldern von Boma wieder aufgetaucht war, waren diese Hindernisse nicht mehr unüberwindlich. Zwar hatte er die Quelle des Nils nicht gefunden, dafür aber den Kongostrom und seine wichtigsten Nebenflüsse kartografiert und auf diese Weise ein Bild des undurchdringlichen Urwalds erstellt, das ebenso genau war wie das Röntgenbild eines menschlichen Skeletts. Es würde seinen Zweck erfüllen.

    Einen großen Teil des Reichtums aus der Plünderung des Kongo nutzte Leopold II., um die Hauptstadt seines Landes so prachtvoll herauszuputzen, dass sie es mit Berlin oder Paris aufnehmen konnte. Die königlichen Pläne hatten eher kaiserliche Ausmaße, und in weniger als zwanzig Jahren war Brüssel verwandelt. Im April 1890, als Józef Teodor Korzeniowski dort eintraf, nahmen die neuen Paläste, Chausseen, Parks und Arkaden bereits Gestalt an. Ein paar Jahre später rief sich der polnische Seekapitän, der unter dem Namen Joseph Conrad schrieb, in dem Roman Herz der Finsternis seine Eindrücke von dieser Stadt ins Gedächtnis, die ihn an eine »weiße Gruft« gemahnte.³

    An den Toren des Warandeparks vor dem Königspalast gibt es eine Statue von König Leopold II., der, hünenhaft und mit langem Spitzbart, auf einem Rappen thront. Einem Gerücht zufolge wurde Belgien – nachdem es 1831 den Trümmern des napoleonischen Reiches entrissen worden war – von Beratern der Rothschild-Bank absichtlich als kleines Land entworfen, damit es von einer großen Bank beherrscht werden konnte. Unglücklicherweise war es nun aber so klein, dass die europäischen Mächte Schwierigkeiten hatten, einen geeigneten Kandidaten für den Thron zu finden. Bis dieser gigantische Mann namens Leopold auf seinem gigantischen Pferd des Weges kam.

    Noch heute gibt es belgische Bürger, die das Andenken an den berühmtesten Herrscher des Landes hochhalten. Als im Kongo nach der Unabhängigkeit 1960 Unruhen ausbrachen, knieten Demonstranten sogar vor der Statue des schon lange verstorbenen Königs in Brüssel nieder, um seinen Beistand zu erbitten. Auch die anderen Denkmäler des Monarchen, sei es in der Hauptstadt oder anderswo, sind von gewaltigen Ausmaßen. Der Königspalast im Zentrum der Hauptstadt wirkt deutlich größer als der Buckingham Palace. Man braucht mehrere Minuten, um ihn abzuschreiten, auch wenn er heute nicht mehr von Riesen bewohnt wird. Hat man das Ende schließlich erreicht, kommt man auf einen hübschen Platz aus der Zeit vor Leopold II., auf dem sich allerdings auch ein Reiterstandbild findet. Diesmal ist es ein Mann in Rüstung, Gottfried von Bouillon, der Gründer des christlichen Königreichs Jerusalem, das im Jahre 1099 nach dem Ersten Kreuzzug ins Leben gerufen wurde, aber nur achtundachtzig Jahre bestand, bevor Saladin es einnahm. Somit wird der Palast von zwei Herrschern hoch zu Ross flankiert, die mit ihren Erfindungen exotischer Königreiche entsetzliche Verheerungen anrichteten.

    Leopold II. reiste nie nach Afrika und zeigte kaum Interesse am Schicksal der Afrikaner, die seiner Obhut überantwortet waren. Doch mit der neuen Kolonie, die sich als eine der weltweit lukrativsten Pfründe entpuppen sollte, gab er dem belgischen Volk ein einendes Ziel. Brüssel und Ostende erhielten herrliche Bauwerke und Parks, die das Ansehen der Nation und damit auch ihres Königs hoben. Als dieses einende Ziel verlorenging, ribbelte sich das nationale Gewebe nach und nach auf.

    Als Föderalstaat mit einem dezentralen System starker regionaler Behörden wird Belgien heute von einem enormen bürokratischen Apparat geprägt. Es hat in etwa so viele Einwohner wie London, aber wofür die britische Hauptstadt einen »Minister« beschäftigt, nämlich den Bürgermeister, gibt es in Belgien siebzig. Hätte China dasselbe Verhältnis von Ministern zur Bevölkerungszahl wie Belgien, bestünde die chinesische Regierung aus 35000 Ministern. Kabinettssitzungen müssten in Fußballstadien stattfinden.

    Und dennoch gibt es in diesem Land, in dem alles genauestens reglementiert ist und das sich im Herzen der Bewegung für ein vereintes Europa befindet, Anzeichen nationaler Auflösung. Zwischen Flandern und der Wallonie, den Regionen, in denen niederländisch beziehungsweise französisch gesprochen wird und deren Grenze quer durch den Nationalstaat verläuft, verschlechtern sich die Beziehungen zusehends. Die meisten Flamen weigern sich, Französisch zu sprechen, während den Wallonen das Niederländische immer noch schwerfällt. Besuchern drängt sich der Eindruck auf, dass die beiden Volksgruppen nur in Brüssel gut miteinander zurechtkommen.

    Im Juni 2011 stellte Belgien mit der Zeitspanne, die zwischen einer Wahl und der Bildung einer neuen Regierung verstrich, einen neuen Weltrekord auf. Achtzehn Monate blieb das Land aufgrund interner Machtkämpfe ohne Regierung, was allerdings im alltäglichen Leben kaum zu spüren war. In die ersten Monate des Interregnums fielen die Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag der Unabhängigkeit des Kongo im Juni 2010, und obwohl Belgien weder einen Premierminister noch einen Außen-, Verteidigungs- oder Entwicklungshilfeminister vorweisen konnte, obwohl es genau gesagt jeglichen Ministers ermangelte, dessen Fernbleiben von einem solchen Ereignis normalerweise undenkbar gewesen wäre, konnte es unter der Führung König Alberts II. eine imposante Delegation in den Kongo entsenden. Diese Situation erheiterte die Einwohner des afrikanischen Viertels von Brüssel, Matongé, so sehr, dass sie eine Petition in Umlauf brachten, welche die »sofortige Wiedereingliederung Belgiens in die Demokratische Republik Kongo« forderte.

    Die Petition, im streitlustigen, ausgelassenen Stil Kinshasas verfasst, forderte für Belgien den Status eines Überseeterritoriums der DRK, da es schon immer vom Kongo abhängig gewesen sei und dieser auch wesentlich zu seiner Zivilisierung und seinem Wohlstand beigetragen habe. Das belgische Sprachproblem lasse sich lösen, indem Lingala zur offiziellen Amtssprache im gesamten kongolesischen Gebiet – auch in der entlegenen Provinz Belgien – erklärt werde. Alle Belgier sollten mit sofortiger Wirkung die kongolesische Staatsbürgerschaft erhalten. Weil der Kern der Sache wahr war, traf der Witz ins Schwarze: Belgiens Spaltung und sein wirtschaftlicher Niedergang beschleunigten sich in den Jahren nach der Unabhängigkeit des Kongo.

    Als König Leopold die koloniale Herrschaft anstrebte, war es für ihn von großem Vorteil, dass ihn die übrigen europäischen Herrscher für einen reichlich naiven Idealisten hielten. In deren Augen war der belgische Monarch offenkundig bereit, sein beträchtliches Privatvermögen aufs Spiel zu setzen, um »den im Elend lebenden Völkern dieser Erde große Wohltaten angedeihen zu lassen«⁴. Der König selber verglich seine Internationale Afrika-Gesellschaft (IAG) mit dem Wirken des Internationalen Roten Kreuzes in Afrika. Zu den erklärten Zielen der Afrika-Gesellschaft zählte die Durchsetzung von Rechtsstaatlichkeit. Millionen von Kongolesen würde Gerechtigkeit durch den Habeas-Corpus-Grundsatz widerfahren, mit dem sie vor Freiheitsentzug und damit vor dem Sklavenhandel geschützt werden sollten.

    Tatsächlich wurde das Land durch die Verbrechen, die Bevollmächtigte König Leopolds im Kongo – den er Kongo-Freistaat nannte – begingen, zu einem der grausamsten Schauplätze kolonialer Unterdrückung. Leopold II. ist als gnadenloser Tyrann in die Geschichte eingegangen, der ein Terrorregime errichtete und Millionen von Menschen versklavte. Nie wird man mit Sicherheit sagen können, wie viele Afrikaner durch die Hände seiner Helfershelfer umkamen. Die Mehrheit von ihnen erlag der Versklavung, die außer Hunger, Erschöpfung und Krankheit einen dramatischen Rückgang der Geburtenrate mit sich brachte.*

    Angesichts dessen, was in Wirklichkeit geschah, entspricht das größte von Leopold II. errichtete Gebäude, nämlich der Justizpalast, der Brüssel noch heute beherrscht, seiner Herrschaft vielleicht am ehesten. Der Palais de Justice steht am Rande eines Felsens über Marolles, dem damaligen Armenviertel. Mit seiner knapp hundert Meter hohen Kuppel ist er höher als der Petersdom in Rom und gilt als das größte europäische Gebäude des 19. Jahrhunderts. Noch immer dominiert er das Stadtbild im Umkreis von mehreren Kilometern.

    Der neoklassizistische Palast hat dreißig Eingänge und dreihundertfünfzig Räume über einem Labyrinth von fünf unterirdischen Stockwerken, in dem sich Gerichtsarchive befinden und eine Rasse blinder Katzen lebt – im Dunkeln geboren, erblicken sie niemals das Tageslicht und sterben im Dunkeln. Das Gerichtsgebäude wurde von Leopold siebzehn Jahre nach Baubeginn eingeweiht. Am imposantesten ist die überdimensionale Eingangshalle, die salle des pas perdus. Leopold I. hatte die Pläne autorisiert, aber tatsächlich gebaut wurde unter Leopold II., und der Sohn war es auch, der die Größenordnung festlegte. Der Palast ist weit mehr als beeindruckend – er ist überwältigend, er duldet keinen Widerspruch, er ist die Verkörperung einer arktischen Autorität. Leopold I. bestieg den Thron nach einem Volksaufstand, der zum Sturz seines Vorgängers, des Königs von Holland, geführt hatte. Das Gebäude, das sein Sohn und er errichteten, dient als eine ständige Warnung vor dem Versuch einer Wiederholung.

    Der gigantische quadratische Eingangssaal mit seinen vier monumentalen Gewölben, die durch Emporen, Treppen und Balustraden miteinander verbunden sind, strahlt dieselbe Unmenschlichkeit aus, die die Herrschaft des Königs in Afrika kennzeichnete. Orson Welles wollte die salle des pas perdus als Kulisse für Der Prozess nutzen, bekam aber keine Drehgenehmigung. Wenn man in diesem Eingangssaal steht und um sich blickt, glaubt man gern, dass der Architekt vor Fertigstellung des Gebäudes verrückt geworden sein soll.

    An den Wänden unterhalb der Balkone stehen sechzehn Eichentische mit Bänken. Bei meinem ersten Besuch waren zwei oder drei dieser Tische von Anwälten belegt, die sich dort mit ihren Klienten berieten, die alle afrikanischer Herkunft waren. Vielleicht Kongolesen, die sich um eine Aufenthaltserlaubnis bemühten. Während ich mir Notizen machte, klapperte die Messinglampe auf meinem Tisch wie eine Schiffslaterne auf See. In ihren Metallfuß hatte jemand eine Nachricht eingeritzt: »La justice nique« (»Scheiß auf die Justiz«). Ein Gerichtssaal nach dem nächsten war menschenleer und ungenutzt, niemand fragte mich, was ich dort zu suchen hatte, es gab keine Überwachungskameras. An den Wänden eines verlassenen Korridors hingen Fotografien längst verstorbener, graugesichtiger Männer in schwarzen Roben.

    Schließlich stieß ich auf einen Gerichtssaal, in dem zwei lebende Anwälte saßen und Zeitung lasen. Eine Seitentür öffnete sich und drei Polizisten führten einen jungen Mann in Hemdsärmeln herein, dessen Hände hinter dem Rücken gefesselt waren. Der Gefangene sah sich um, doch die Juristen schenkten ihm keine Beachtung. Er setzte sich. Die kleine Gruppe wartete, drei in Uniform, zwei in Roben, einer in Handschellen, aber keine Türen öffneten sich und keine Richter kamen, um sich auf die entfernte Bank zu setzen.

    Am Ende eines anderen Flurs befand sich eine unauffällige Aufzugtür aus Stahl. In der Hoffnung, hier entlang auf die Kuppel gelangen zu können, drückte ich auf den Knopf mit der Ziffer vier. Der Aufzug fuhr nach unten, nicht nach oben, und hielt in einem Stockwerk, das sich als Ebene fünf herausstellen sollte. Hier in der Tiefe gab es keine Heizung. Eine einzelne Glühbirne warf ein spärliches Licht auf eine Stahltür und den verspäteten Hinweis: interdit aux publiques. Das Licht flackerte, es schien keinen Schalter zu geben. Ein Labyrinth aus Tunneln und mit Drahtgittern gesicherten Regalen verlor sich in der Finsternis. Akten mit der Beweisführung und den Urteilen, die von den längst verstorbenen Männern auf den Fotos gesprochen worden waren. Was für ein Denkmal für die letztendliche Vergeblichkeit des Lebens von Menschen, die ihren Scharfsinn für juristische Streitfälle einsetzen. Als die Lichter erneut flackerten, rief ich den Aufzug. Zu meiner Überraschung kehrte er zurück.

    Das Justizministerium will aus dem Gerichtsgebäude König Leopolds ausziehen; seit fünfzig Jahren sind hier Renovierungsmaßnahmen überfällig. Die Fassade bröckelt, das Gebäude ist zu groß, als dass man es bewachen könnte, und zu viele Häftlinge fliehen durch die unterirdischen Labyrinthe. Es thront über der Stadt, ein Mausoleum menschlichen Missgeschicks und Leidens, eines der letzten verbleibenden Symbole eines vereinten Belgiens.

    Unter König Leopolds kaiserlichen Entwürfen befanden sich Pläne für weitere Einrichtungen, die niemals vollendet wurden, unter ihnen das Musée royal de l’Afrique centrale in Tervuren. Dieses 1899 eröffnete Museum ist in einem prächtigen Schloss in einem Wäldchen zwanzig Kilometer außerhalb von Brüssel untergebracht. Anfänglich sollte es Leopolds wissenschaftlichen und humanitären Fortschritt im Kongo dokumentieren. Dieses Gebäude war ursprünglich als Teil eines deutlich größeren Palastes vorgesehen, welcher nicht nur ein Museum Zentralafrikas beherbergen sollte, sondern eines der gesamten Menschheit. Doch der König starb, der Erste Weltkrieg brach aus und das imperiale Vorhaben wurde aufgegeben.

    Betritt man die Ausstellung in Tervuren, drängt sich einem der Eindruck auf, in einem versteinerten Zoo gelandet zu sein. Die Schaukästen zeigen Bilder aus dem kolonialen Leben in Afrika, und Legenden, die sich um die Herrschaft König Leopolds II. ranken, werden geradezu verschwenderisch in Szene gesetzt. Dazu Masken, Darstellungen von Tänzen, Zeremonien und Dörfern, ausgestopfte Tiere, Einbaumkanus, Kultbilder und Trommeln. Drei Figuren in Bronze – eine Afrikanerin bäuchlings vor einem arabischen Sklavenhalter auf dem Boden liegend, der mutige Ehemann protestierend – sollen den Besucher an eines der erklärten Ziele Leopolds II. erinnern, nämlich an die Vertreibung arabischer Sklavenhändler aus dem Kongo. Ein kongolesisches Grab aus dem 12. Jahrhundert mitsamt Skelett, Kupferschmuck und allerlei Gefäßen und Töpfen. In der Sammlung, deren Absicht in der irreführenden Zurschaustellung einer nicht-existenten idealen Kolonie bestand, zeigt sich heute in einer eigentümlichen Umkehrung der Geist der Kolonialisierung. Auf den Punkt gebracht ist die Botschaft des Museums, dass die Kongolesen nackte, ungebildete Wilde waren, die noch in der Steinzeit lebten, und dass die Soldaten, Ingenieure und Missionare, die auf des Königs Kosten zu ihnen geschickt wurden, nur das Beste für die Afrikaner wollten. Dabei sind im Museum die Beweisstücke ausgestellt, die dieser Unterstellung zuwiderlaufen: Viele der schönsten Schnitzereien kommen aus der Gegend von Kuba im Südkongo.*

    Mehr als zweihundertfünfzig Jahre lebte das Volk der Kuba nach Sitte und Gesetz unter seinen Königen, entwickelte ein kulturelles Gedächtnis und schuf mit gewebten Textilien und Holzschnitzereien Objekte von hohem künstlerischen Wert. Ihr Land an den Ufern des Flusses Kasai lag so tief im Wald, dass sie mehr als vierhundert Jahre von Händlern und Sklavenfängern unbehelligt blieben, die aus dem Osten und Westen vordrangen. Als Leopold II. im Jahre 1885 seine Herrschaft über das an den Fluss Kongo grenzende Gebiet ausrief, erklärte er ein Zehntel dieses Territoriums, 250000 Quadratkilometer, die halbe Fläche Frankreichs, zum Eigentum der Krone. Dieses Gebiet grenzte an das Königreich von Kuba. Leopold hatte niemals das Geringste von Kuba gehört, für ihn war es nur eine Region, in der viele der ertragreichsten natürlichen Kautschukwälder lagen, die es in Zentralafrika noch gab. Der König der Kuba hatte jedoch von den Belgiern gehört und jedem die Todesstrafe angedroht, der diesen Eindringlingen half, den Weg ins Königreich zu finden.

    Der Autor Adam Hochschild berichtet allerdings von einem presbyterianischen Missionar, dem Afroamerikaner William Sheppard, der nach Kuba kam und die Hauptstadt erreichte, ohne geköpft zu werden. Sheppard war zwar gekommen, um das Evangelium zu verkünden, und das tat er sicherlich auch, wahrscheinlich hat er jedoch deutlich mehr von den Kuba gelernt als sie von ihm. Auch ihre außergewöhnliche Schönheit scheint ihm nicht entgangen zu sein, denn er nahm sich eine junge Geliebte – eine umgekehrte Konversion.

    Mr. Sheppard warf keinen Schatten des ›Grauens‹ wie die Abgesandten Leopold II., die als Kautschukhändler acht Jahre später auf den Spuren des Missionars nach Kuba kamen. 1900, zwei Jahre nach der Eröffnung des Museums in Tervuren, erreichten belgische Truppen die Hauptstadt des Königreiches, plünderten sie und zwangen die Einwohner als Kautschuksammler zur Sklavenarbeit. Kurz danach betraten Archäologen und Ethnografen den Schauplatz und schickten schon bald die ersten Kisten mit Kulturschätzen von Kuba nach Tervuren.

    Die sechs Monate im Kongo prägten Conrad für den Rest seines Lebens. Nachdem er einige Tage in Brüssel verbracht hatte, nahm er den Zug nach Bordeaux, wo ein portugiesischer Küstendampfer auf ihn wartete, um ihn nach Banana an der Mündung des Kongo zu verschiffen. Seine Reise nach Brüssel war erfolgreich verlaufen; er war als Dampfschiffkapitän angeheuert worden und hatte einen Dreijahresvertrag mit der Société anonyme Belge pour le commerce du Haut-Congo unterschrieben.

    In Herz der Finsternis erinnert sich Conrad an die Stadt, die er hinter sich ließ. Er beschreibt eine »schmale, menschenleere Straße in tiefem Schatten«⁵, »die so still und wohlanständig war wie eine gut gepflegte Friedhofsallee«⁶. Dorthin hatte man ihn zum Vorstellungsgespräch gebeten. Im Vorzimmer saßen strickende Frauen, »die das Tor zur Finsternis bewachten«. »Nicht viele von den [Männern] sahen

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1