Frei und gefährlich: Die Macht der Narren
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Buchvorschau
Frei und gefährlich - Klaus Werner-Lobo
Klaus Werner-Lobo
Frei und gefährlich
Die Macht der Narren
Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung ohne Gewähr. Eine Haftung der Autoren bzw. Herausgeber und des Verlages ist ausgeschlossen.
© 2016 Benevento Publishing,
eine Marke der Red Bull Media House GmbH,
Wals bei Salzburg
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Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:
Red Bull Media House GmbH
Oberst-Lepperdinger-Straße 11–15
5071 Wals bei Salzburg, Österreich
Satz: MEDIA DESIGN: RIZNER.AT
E-Book-Konvertierung: Satzweiss.com Print Web Software GmbH
ISBN 978-3-7109-5015-5
Mit Dank an meine Lehrerinnen und Lehrer.
Kapitel 1: Die Initiation
Um ehrlich zu sein, bin ich Clown.
Kapitel 1
Die Initiation
Drei mal zwei Meter, mein Zimmer. Links der Schreibtisch, rechts offener Koffer mit allem was ich habe, ich auf der Matratze, verschwitzt, Deckenventilator, das Leintuch nass, draußen Sonne, irgendwelche Viecher auf dem Boden und an der Wand, eigentlich überall. Und dann begann das Jucken in den Augen. Zuerst nur ein Jucken, dann wie Sandkörner auf der Netzhaut. Bindehautentzündung, da helfen keine Medikamente, man kann nur Sonnenbrille aufsetzen, aushalten und warten, warten, warten. Nach drei Wochen ist es vorbei.
Was nach drei Wochen nicht vorbei war, war die Einsamkeit. Das Gefühl des Gescheitertseins. Das Gefühl der größte Loser zu sein, ich, ein privilegierter Europäer, einer, der es sich leisten konnte nach Brasilien zu gehen und erstmal ohne konkrete Verpflichtungen nach Lust und Laune dahinzuleben. Hab ich ja auch getan, aber mein Herz war noch verletzt, war verlassen worden und konnte niemanden mehr wirklich lieben und liebte mich selbst am Allerwenigsten. Lebte also in dieser Wohnung eines Deutschen der hier hängengeblieben ist, hier in Santa Teresa, also dem früheren Bohème-Viertel von Rio, wo heute hauptsächlich Hipster, Loser und andere Künstler wohnen. In einem kleinen Zimmer mit Terrassenzugang, ich, er, an manchen Tagen der fünfjährige Sohn aus seiner gescheiterten Ehe mit einer Brasilianerin, und Marco, ein sehr sensibler, zarter Künstler, ein Marionettenspieler und Marionettenbauer, der sein Geld auf der Straße verdiente, viel zu wenig Geld für so viel Sensibilität und so gute Kunst, man muss vielleicht auch dazusagen, dass er aus armen Verhältnissen kam. Und Brasilien fast genauso rassistisch ist wie der Rest der Welt, die armen Verhältnisse also zumeist dunklere Hautfarbe haben. Marco war einer meiner wenigen Freunde in Brasilien, und doch trennte uns etwas: Ich hab noch nie in meinem Leben darüber nachdenken müssen, ob ich am nächsten Tag genug zu essen haben würde oder meine Miete bezahlen könne. Auch wenn ich jetzt in diesem Scheißzimmer lebte: Ich hätte mir auch ein Größeres leisten können, hätte mein Leben auch nicht besser gemacht. Und: ich war in Brasilien weil ich es mir ausgesucht hatte. Weil ich mir, nach der Trennung von meiner Ex, in den Kopf gesetzt hatte, es einfach mal ganz woanders zu versuchen. Und mir das leisten konnte.
Mittags ging ich oft von Santa Teresa nach Lapa, essen. Ich aß meistens allein, wirkliche Freunde hatte ich keine. Las Zeitung. Es war irgendwann Ende Oktober 2004. Rio de Janeiro. Ein Interview mit dem Clown Márcio Libar. Clowns waren für mich damals einerseits Zirkus- oder Kinderclowns mit roten Nasen, die mehr oder weniger lustige Dinge taten und in ihrem zwanghaften Drang lustig sein zu müssen schon auch mal eher unangenehm werden konnten. Andererseits hatte ich ein All-Time-Lieblingsbuch, Ansichten eines Clowns von Heinrich Böll, ihr kennt das: die Story eines sehr unglücklichen, nicht beziehungsfähigen, ziemlich selbstmitleidigen Clowns. Mit dem ich mich leider volle Pulle identifizieren konnte. So sehr, dass ich ab meinem 22. Lebensjahr manchmal mit »Clows« unterschrieb. Da hatte ich das Buch zum zweiten Mal gelesen und hörte am liebsten Tom Waits. Mein Grundzustand war die Einsamkeit mit einem gewissen Hang zum melancholischen Pathos, und so wie Bölls Protagonist Hans Schnier fühlte auch ich mich unverstanden und schrieb Zitate wie dieses in mein Tagebuch: »Ich glaube, es gibt niemanden auf der Welt, der einen Clown versteht, nicht einmal ein Clown versteht den anderen.« Und: »Unter Glück, das länger als eine Sekunde, vielleicht zwei, drei Sekunden dauert, kann ich mir nichts vorstellen.«
Clows. Traurig, aber klug. So klug, dass ich mich für was Besonderes hielt. So klug, dass mich meine Klugheit oft unglücklich machte, dass ich oft jene beneidete, die in ihrer Dumpfheit einfach in den Tag hineinlebten, sich nix schissen und einfach nahmen, was sie brauchten. Und ich: unglücklich, aber wenigstens was Besonderes. Und 15 Jahre später, als 37-Jähriger nach einer gescheiterten Beziehung in Brasilien gelandet, und immer noch der gleiche Depp.
Mir gefiel das Interview, mir gefiel, was dieser Márcio Libar, ein Afrobrasilianer meines Alters aus den Suburbs von Rio, über Clowns sagte: »Der Clown ist derjenige, der fällt, der scheitert, der verliert ... und immer wieder aufsteht. Deshalb lieben wir Clowns wie Charlie Chaplin: weil sie etwas zeigen, was wir selbst verstecken, wofür wir uns selbst genieren – dass wir selbst, jeder und jede von uns, immer wieder fallen, scheitern, verlieren, ein ganzes Leben lang.« Das traf. Ich fühlte mich wie gesagt als der größte Loser ever, und das klang nach Aussicht auf Versöhnung. Versöhnung mit mir selbst.
Ich lebte zu diesem Zeitpunkt schon ein gutes halbes Jahr in Rio, hatte ein Buch über Politik und Menschenrechtsverletzungen durch internationale Konzerne geschrieben, das es zum Weltbestseller gebracht hatte, damit viel Geld verdient und keine Ahnung, was ich in Zukunft machen wollte. Mein Erfolg als Autor und meine Bekanntheit zu Hause hatten mein Ego genährt, aber instinktiv merkte ich, dass mir dieses Ego, die – wenn auch erfolgreiche – Suche nach Anerkennung im Weg stand, mich daran hinderte befriedigende und tragfähige Beziehungen aufzubauen. Ich verstand mich als rebellischen, widerständigen Menschen, der einen Gutteil seiner Energie aus der Kritik an den politischen Verhältnissen bezog, wusste aber gleichzeitig, dass dieser Widerstand auch ein Widerstand gegen die eigenen Verhältnisse, gegen meine bürgerliche Herkunft, mein Land, meine Nazigroßeltern, die Widersprüchlichkeit, sie trotz ihrer politischen Überzeugung dennoch geliebt zu haben, gegen meine Erziehung und meine damit verbundenen Ängste war: Die Angst vor dem Verlust von Anerkennung, die Angst, gesellschaftliche Erwartungen an meine anerzogenen Bilder von Männlichkeit, Erfolg und Stärke nicht zu erfüllen und deshalb nicht geliebt zu werden. Nicht als der, der ich war: ein sensibler, nachdenklicher, selbstzweifelnder und sehr liebesbedürftiger Mittdreißiger. Sondern allenfalls für das, was ich konnte: schreiben, diskutieren, argumentieren, aufbegehren, Konflikte suchen und mich mit den Mächtigen – als Kind mit meinen Eltern und Lehrern, später mit Politikern und Konzernen, mit dem »System« – anlegen.
Daher erregte der zweite Teil des Interviews, in dem Márcio Libar über die gesellschaftliche Funktion von Clowns sprach, noch mehr meine Aufmerksamkeit:
Der Archetyp des Clowns umfasst den ewigen Kampf zwischen Autorität und Macht, zwischen Macht und Rebellion. In jedem von uns steckt ein Autoritärer und ein Rebell. Seitdem der Mensch in Gemeinschaft mit anderen lebt, existiert dieser Konflikt: Der Konflikt zwischen dem, der du wirklich bist, und demjenigen, der so ist wie es die Gesellschaft von dir erwartet. In diesem Widerspruch liegt unser existenzieller Kampf: Stehe ich auf oder bleibe ich noch im Bett? Esse ich noch ein Stück Schokokuchen oder halte ich Diät? Küsse ich jemand anderen oder bleibe ich treu? Trinke ich Caipirinha oder Tee? Wir befinden uns in einem ständigen Konflikt: mein Körper ist an die Schwerkraft gebunden, während meine Seele frei fliegen möchte.
Der Clown lebt genau in der Mitte dieses Konflikts, in diesem Widerspruch. Deshalb blickt er oft in die eine Richtung und geht in die andere – und läuft dann gegen die Wand. Er hat immer zwei Blickrichtungen, zwei Ziele. Er will die Welt auf den Kopf stellen. Die Welt der Komik ist verkehrt herum, und der Clown, ihr wichtigster Archetyp, sieht es als seine Mission, sie auf den Kopf zu stellen, sie verkehrt herum einzurichten, sie von innen nach außen zu stülpen. Wenn ich das sage, erschrecken die Leute, weil es so aussieht als wollte ich eine neue Welt erfinden. Die verkehrte Welt von dem, was wir kennen, würde aber schon bestehen, wenn alle Rechte und Gesetze die wir kennen, gelten würden. Damit wäre die Welt schon, so wie sie real existiert, auf den Kopf gestellt.
Und genau deshalb sei der Clown für Mächtige gefährlich. Weil er Widersprüchlichkeiten aufzeigt. Weil er nicht kontrollierbar ist, weil er sich selbst nicht einmal unter Kontrolle hat. Er ist kein Rebell der Rebellion wegen, aber er hat keine Angst vor der eigenen Lächerlichkeit, den eigenen Widersprüchen. Er akzeptiert sich in seiner Nicht-Perfektion, seiner Unzulänglichkeit, seinem Loser-Sein. Und das macht ihn nicht nur menschlich, es macht ihn auch gefährlich für jene, deren Macht auf die Angst gegründet ist, dass wir uns alle vorm Scheitern, vor sozialem Abstieg, vor dem Verlust von Anerkennung fürchten. Und er ist frei: denn wer alles verloren hat, der hat nichts mehr zu verlieren. Und wer komplett in der Scheiße steckt, wer nichts mehr zu verlieren hat, der kann alles machen.
Wumms. Das war’s. Gefährlich sein. Und frei. Genau das war’s was ich für mein Leben wollte. Frei und gefährlich sein. Das wollte ich lernen.
Das Interview war die Ankündigung einer Theatershow von Márcio Libar. Ein paar Tage später besuchte ich sein Solostück O pregoeiro – der Ausrufer oder Marktschreier. Dieses Stück, und was darauf folgte, sollte mein Leben verändern.
*
Was ist ein Clown? Die meisten Menschen kennen Clowns aus dem Zirkus oder von Kinderfesten, als bunt gekleidete Spaßmacher mit roter Nase. Viele haben schlechte Erfahrungen mit ihnen gemacht, aus einem ganz einfachen Grund: Die meisten Clowns sind grottenschlecht und in ihrer bemühten, aufdringlichen Witzigkeit ein Fall zum Fremdschämen. Viele Kinder, auch manche Erwachsene, fürchten sich vor ihnen. Für die Angst vor Clowns gibt es sogar einen Fachbegriff: Coulrophobie. In einer 2008 durchgeführten Studie der englischen University of Sheffield gaben fast alle der 250 befragten Kinder im Alter zwischen vier und 16 Jahren an, sich beim Anblick von Clowngesichtern zu fürchten oder zumindest unwohl zu fühlen. Der Grund dafür dürfte nicht nur im ungewohnten Erscheinungsbild und dem abnormen Verhalten von Clowns liegen, sondern in der Vermutung, dass diese hinter ihrem fröhlichen Auftreten ihre wahren Emotionen verbergen. Ab den späten 1980er-Jahren fanden böse Clowns außerdem massenmediale Verbreitung, allen voran mit der Verfilmung von Stephen Kings Roman Es und seinem Horrorclown Pennywise sowie Jack Nicholson und später Heath Ledger in der Rolle des Joker in Batman. Der US-amerikanische Serienmörder John Wayne Gacy vergewaltigte und ermordete als Pogo der Clown bei Kinderfesten mindestens 33 Jugendliche und wurde dafür 1994 hingerichtet. In Frankreich tauchten Ende 2014 an vielen Orten Männer in Clownskostümen auf, die grundlos Passanten anpöbelten und verprügelten.
All dies trug dazu bei, dass der Begriff »Clown« für viele als Schimpfwort gilt, mit dem als besonders dumm empfundene Menschen oder auch »Politclowns« wie Donald Trump oder Silvio Berlusconi bedacht werden. Schon der römische Konsul und Philosoph Cicero wurde von konservativen Zeitgenossen abschätzig als Scurra, einer Clownfigur des alten Roms, bezeichnet, da er seine Reden häufig mit Humor würzte.
Laut dem Oxford English Dictionary wurde das Wort »Clown« ab der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts als abfällige Bezeichnung für Zuwanderer vom Land verwendet, also aus der Sicht des städtischen Bürgertums ungebildete, rüpelhafte Menschen niedriger Abstammung, die mit den sozialen Normen der Stadt nicht vertraut waren. Ob es vom lateinischen colonus für Bauer stammt oder oder dem altnordischen klunni für ungebildete, unhöfliche, rüpelhafte Tölpel entlehnt wurde, ist ungeklärt.
Erstmalig literarisch verbürgt ist der Begriff rund um das Jahr 1600 bei William Shakespeare, in dessen Dramen immer wieder sowohl Clowns als auch Hofnarren als Angehörige unterer Klassen in komischen Szenen auftreten – häufig als gewitzte Gegenspieler seiner adeligen Protagonisten. So wie etwa jene beiden Clowns, die nach Ophelias Selbstmord den Schädel des königlichen Hofnarren Yorick für Prinz Hamlet ausgraben und an dessen komisches Talent erinnern. Sie sind clever und rechtskundig, also alles andere als dumm. Für das gemeine Volk, das die billigen Stehplätze des Londoner Globe Theatre bevölkerte, waren sie wegen ihrer Herkunft und ihres populären Gestus die heimlichen Stars. Und so wie die mittelalterlichen Hofnarren waren sie es, die unter dem Schutzmantel des Humors unangenehme Wahrheiten straflos aussprechen konnten.
In der deutschen Hamlet-Übersetzung ist nur von Totengräbern die Rede, der Begriff Clown fand außerhalb Englands erst im Lauf des 19. Jahrhunderts Verwendung. Zu jener Zeit wurde er in England vor allem für Schauspieler verwendet, die in den Pausen von Theaterstücken mit komischen Nummern oder als tolpatschige Kunstreiter in der Manege auftraten und damit die Karriere der Zirkusclowns begründeten, die sich in der Folge in ganz Europa ausbreiteten.
Wir sehen also: Clowns waren ursprünglich vor allem soziale Randfiguren, die sich die Freiheit herausnahmen, zunächst zum Beispiel am Hofe und im Theater, den Mächtigen einen Spiegel vorzuhalten und damit Menschen zum Lachen zu bringen.
*
Ein kräftiger Mann mit imposanten Dreadlocks in protziger Gangsterrapper-Montur, Lederjacke und Silberschmuck, betritt die Bühne: »Mein Name ist Márcio Libar. Eigentlich Márcio Limar-Barbosa. Limar ist der Nachname meiner Mutter, Barbosa der vom besten Freund meines Vaters.« Ein Sickerwitz. Gelächter. »Ich habe ihn auf Libar gekürzt.« Holt ein dickes, staubiges Lexikon aus seinem liebevoll ausgestalteten Zirkuskoffer, klopft den Staub ab: »Libar: Trinken, Saugen, Genießen«. Das portugiesische Wort für Genießen, gozar, wird auch für den Orgasmus verwendet. Gelächter. »Allein mein Name verdient schon einen Applaus! – Halt, stopp, nicht so einen billigen Applaus wie in einer dieser billigen Fernsehshows. Ich will empfangen werden wie ein Superstar! Lasershow, künstlicher Schnee, das volle Programm.« Blickt sich im Saal um, einer aufgelassenen Schweißerei, die zum Kulturzentrum umgewidmet wurde. »Ich bin ein armer Superstar, ich komme aus den Suburbs, wo man sich auch mit billigen Mitteln zu helfen weiß.« Márcio Libar verteilt Luftschlangen und weist das Publikum an, ihm einen fulminanten Empfang zu bescheren. Nach ausführlicher Erklärung verlässt er die Bühne und tritt wenige Sekunden später zu den tosenden Fanfaren von Richard Strauss’ »Also sprach Zarathustra« wieder auf, die Hände zum Triumph erhoben, währen das euphorisierte Publikum die Papierschlangen als glamouröse Girlanden über sein Haupt gleiten lässt. »Mein Superheld«, tobt es ihm weisungsgemäß entgegen, »Du geile Sau!« (»Ihr dürft lügen!«), »Bravo! Bravissimo!«
Na, war das ein Auftritt? »Und die Show hat noch nicht einmal begonnen!« Was nun folgt ist ein Feuerwerk an Gags, Gesang, Tanz und Jonglage, immer unter vollem Körpereinsatz und im Dialog mit dem Publikum. Dabei sind weder die Gags besonders gut, noch kann der Typ besonders gut singen, tanzen