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Neoliberalismus: Wie alles anfing: Das Walter Lippmann Kolloquium
Neoliberalismus: Wie alles anfing: Das Walter Lippmann Kolloquium
Neoliberalismus: Wie alles anfing: Das Walter Lippmann Kolloquium
eBook354 Seiten4 Stunden

Neoliberalismus: Wie alles anfing: Das Walter Lippmann Kolloquium

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Über dieses E-Book

Sommer 1938: Knapp zehn Jahre nach dem Börsencrash an der Wall Street und dem Einsetzen der New-Deal-Politik ist der wirtschaftliche Liberalismus auf dem Rückzug. In der Sowjetunion, Deutschland und Italien hält der Faschismus Einzug. Angesichts dieser geopolitischen Lage lädt der französische Philosoph Louis Rougier 26 Ökonomen, Soziologen, Philosophen und Juristen zu einem Kolloquium nach Paris ein. Darunter auch Walter Lippmann, der gerade sein Werk "The Good Society" vorgelegt hatte, in welchem er die These aufstellt, dass die Marktwirtschaft gerade nicht das spontane Ergebnis einer natürlichen Ordnung sei, sondern Ergebnis einer Rechtsordnung, die das Eingreifen des Staates voraussetze. Steht ein neoliberales Denken also für ein Mehr oder ein Weniger an staatlichem Eingreifen?

Die Teilnehmer des Walter-Lippmann-Kolloquiums sind mit der schillernden Unklarheit des Begriffs konfrontiert. Dennoch markiert ihr Zusammentreffen die Geburtsstunde einer geistigen Bewegung, die den weltweiten ökonomischen Diskurs entscheidend mitprägen wird. Der amerikanische Politologe Jurgen Reinhoudt und der französische Soziologe Serge Audier haben die Transkription der relevanten Passagen des Walter-Lippmann-Kolloquiums in einen wissenschaftlich kontextualisierten Rahmen gestellt und stellen damit sicher, diese einzigartig vielschichtige Begriffsgeschichte nachvollziehbar und jedem zugänglich zu machen, der den heutigen Diskurs mit dem adäquaten Instrumentarium gestalten will.
Erstmals erscheint Reinhoudts und Audiers Werk nun in deutscher Übersetzung. Neben den Originalbeiträgen bietet "Neoliberalismus. Wie alles anfing: Das Walter-Lippmann-Kolloquium" seinen Lesern hilfreiche Kommentare und Erläuterungen, einen Einblick in den historischen Kontext der Veranstaltung und Hintergründe zu allen Teilnehmern.
SpracheDeutsch
Herausgeberkursbuch.edition
Erscheinungsdatum10. Juni 2019
ISBN9783961960835
Neoliberalismus: Wie alles anfing: Das Walter Lippmann Kolloquium

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    Buchvorschau

    Neoliberalismus - Jurgen Reinhoudt

    Impressum

    Teil I

    Kapitel 1

    Einleitung

    Obwohl in den letzten Jahrzehnten häufig gebraucht, ist die analytische Bedeutung des Begriffs »Neoliberalismus« noch immer mit vielen Unklarheiten verbunden.¹ Das im Jahr 1938 veranstaltete Walter-Lippmann-Kolloquium, in theoretischer Hinsicht der Ursprung des Neoliberalismus, ist in jüngster Zeit zum Gegenstand des Interesses geworden.² Aber wenngleich Wissenschaftler die Bedeutung des Kolloquiums bereitwillig anerkennen, ist über diese wichtige Primärquelle noch relativ wenig geschrieben worden, insbesondere in der englischsprachigen Forschung.³ So hat der französische liberale Ökonom François Bilger in seiner 1964 veröffentlichten Studie des deutschen Ordoliberalismus die Bedeutung des Lippmann-Kolloquiums zwar hervorgehoben, diesen Punkt aber nicht weiter ausgeführt.⁴ Dreißig Jahre später hat Richard Cockett, der englische Historiker der Thatcher-Revolution, das Lippmann-Kolloquium lediglich in einer kurzen Bemerkung erwähnt.⁵ Und auch dem liberalen Kapitalismus-Historiker Max Hartwell, seines Zeichens Mitglied der Mont Pèlerin Society, auf dessen Arbeiten sich Cockett – trotz seiner ganz anders gearteten politischen Überzeugungen – bezieht, war das Lippmann-Kolloquium nur eine kurze Erwähnung wert: Er konzentriert sich auf die Geschichte der Mont Pèlerin Society nach dem Zweiten Weltkrieg.⁶ Schließlich haben Vivien Schmidt und Mark Thatcher in ihrer Studie zum liberalen Denken in Europa vom Lippmann-Kolloquium ebenfalls nur en passant Notiz genommen.⁷ So ist die Relevanz des Lippmann-Kolloquiums durchaus seit geraumer Zeit bekannt, doch kaum gewürdigt worden. Denn keiner der genannten, in ihren Auffassungen divergierenden Autoren gibt eine umfassende Darstellung oder Analyse des Kolloquiums, ganz so, als sei dessen Bedeutung offenkundig und als stelle das Kolloquium nur einen – in den Augen der einen verhängnisvollen, nach anderer Ansicht segensreichen – Schritt auf dem Weg zur Mont Pèlerin Society und dem Triumph des »Neoliberalismus« in den 1970er- und 1980er-Jahren dar.

    Die Entdeckung eines wesentlichen Dokuments der Geschichte des »Neoliberalismus«

    Sogar der Begriff »Neoliberalismus« ist jedoch bei Weitem nicht klar, wie die Analyse des Lippmann-Kolloquiums zeigt. Tatsächlich hat er eine verwickelte Geschichte. Von den 1930er-Jahren bis in die 1950er-Jahre unterschieden unter anderem die beiden französischen Ökonomen Alain Barrère und Gaëtan Pirou – zwei bedeutende und sich ausdrücklich vom klassischen Liberalismus distanzierende Vertreter der französischen Wirtschaftswissenschaften – in ihren historischen Darstellungen des ökonomischen Denkens den »Neoliberalismus« vom »Laissez-faire«-Liberalismus des 19. Jahrhunderts.⁸ Der deutsche Politologe Carl Friedrich wiederum gebrauchte die Bezeichnung »Neoliberalismus« in Bezug auf die ordoliberalen Wirtschaftstheoretiker in Deutschland.⁹ In den 1970er-Jahren wurde der Begriff »Neoliberalismus« verschiedentlich verwendet, zum Beispiel von den »neuen Ökonomen« in Frankreich, um die Ideen Friedrich August von Hayeks und Milton Friedmans zu verbreiten,¹⁰ und in der Folge dann von Michel Foucault in seinen Vorlesungen über den Ursprung der »Bio-Macht«,¹¹ aber ungefähr zur gleichen Zeit ebenso von einem führenden Politiker der französischen Sozialisten, Jean-Pierre Chevènement.¹² Ebenfalls seit den 1970er-Jahren sind die »Rational Choice«-Modelle Gary Beckers¹³ sowie die von Gordon Tullock und James Buchanan entwickelte »Public Choice«-Theorie gelegentlich mit dem Begriff »Neoliberalismus« in Verbindung gebracht worden. Und in Lateinamerika gewann die Bezeichnung »Neoliberalismus« nach dem Putsch in Chile und der Betätigung der »Chicago Boys« ¹⁴ zunehmend, wenn auch mit einer gewissen Verzögerung, an Verbreitung.

    In den 1980er- und mehr noch in den 1990er-Jahren wurde »Neoliberalismus« dann zu einem allgemein geläufigen Begriff. Die Wahlerfolge von Margaret Thatcher und Ronald Reagan und die anschließende Durchsetzung ihrer wirtschaftspolitischen Programme in Form von Deregulierung, Steuersenkungen und (vor allem im Fall Thatcher) der Privatisierung von Staatsunternehmen führten dazu, dass der Begriff »Neoliberalismus« praktisch mit diesen politischen Programmen identifiziert wurde.¹⁵ In den 1990er-Jahren erfuhr der Begriff noch weitere Verbreitung, insbesondere im Zusammenhang mit dem wachsenden Welthandel und dem »Konsens von Washington«, dem Institutionen wie der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Weltbank folgten, allerdings beinahe durchweg in kritischer Weise.¹⁶ Als die Bezeichnung »Neoliberalismus« in den 1980er- und 1990er-Jahren zunehmend in Gebrauch kam, war die Frühgeschichte dieser Bewegung mit ihren Komplexitäten und Nuancen weitgehend vergessen, selbst unter den Verfechtern einer sogenannten neoliberalen Politik, die diese Bezeichnung im Allgemeinen aber gar nicht für sich in Anspruch nahmen.

    Zu Beginn des 21. Jahrhunderts blieb »Neoliberalismus« ein oft verwendeter Begriff. So argumentierte der Geograf und marxistische Denker David Harvey 2005, »überall in der wirtschaftspolitischen Praxis wie im wirtschaftspolitischen Denken hat es seit den 1970er-Jahren eine bewusste Kehrtwende zum Neoliberalismus gegeben«.¹⁷ Im Jahr 2010 befanden Manfred Steger und Ravi Roy, der Neoliberalismus sei »ein eher umfassender und allgemeiner Begriff, der auf ein ökonomisches Modell oder ›Paradigma‹ verweist, das in den 1980er-Jahren Bekanntheit erlangte.« ¹⁸ In jüngster Zeit ist der Begriff dann mehr und mehr in Form der Kritik benutzt worden.¹⁹ Nach der Finanzkrise von 2007 hat der »Neoliberalismus« erneut Aufmerksamkeit auf sich gezogen, wiederum meist unter einem kritischen Gesichtspunkt.²⁰ Oft wird Neoliberalismus dabei als synonym mit einer ungezügelten Laissez-faire-Politik angesehen, die mit Deregulierung und Liberalisierung der Märkte einhergehe. Aber der Begriff ist durchaus auch anders verstanden worden. Gerade als Reaktion auf die Debatten über die Eigenart des »Neoliberalismus« des europäischen Einigungsprozesses seit den 1990er-Jahren haben Theorien vom »starken Staat«, der über den gesellschaftlichen Interessengruppen steht und das Funktionieren der Marktordnung sicherstellt, im Kontext des frühen neoliberalen Denkens neues Interesse gefunden.²¹ Tatsächlich ist es nicht klar, ob »Neoliberalismus« für den »Rückzug« des Staates aus dem Wirtschaftsleben steht oder im Gegenteil für eine Stärkung der staatlichen Rolle als Garant des Wettbewerbs auf dem Markt. Diese Zweideutigkeiten sind ein Grund mehr, sich den Wurzeln des »Neoliberalismus« zuzuwenden.

    Als Primärquelle bleibt das Kolloquium von 1938 wichtig, weil es die offizielle Geburtsstunde des Neoliberalismus als geistige Bewegung markiert. Da die Mitschrift des Lippmann-Kolloquiums nicht leicht zugänglich ist, war in der Vergangenheit die Kenntnis darüber meist aus zweiter Hand.²² Einige der Diskussionsbeiträge wurden nicht mitgeschrieben, wodurch diese Primärquelle unvollständig ist. Und es gibt auch keine Tonbandaufzeichnung, die als unabhängige Aufzeichnung des Kolloquiums dienen könnte. Hingegen gibt es eine Textversion des Lippmann-Kolloquiums, die vermutlich von Louis Rougier, als dem Veranstalter, selbst hergestellt worden ist, und dieser Text stellt eine Quelle von unschätzbarer Bedeutung für ein Verständnis der Ursprünge des Neoliberalismus dar. Da Historiker, politische Theoretiker und Philosophen nicht müde werden, die Geschichte des Begriffs »Neoliberalismus« und dessen Bedeutung zu diskutieren, ist es sicherlich hilfreich, dem Kolloquium unsere Aufmerksamkeit zuzuwenden, auf dem die Bewegung offiziell ihren Anfang nahm.

    Das Walter-Lippmann-Kolloquium: eine heterogene Versammlung von »Liberalen«

    Als Ideengebäude wie auch als Netzwerk von Gelehrten und Forschern hatte der »Neoliberalismus« seinen Ursprung in einem Kolloquium, das vom 26. bis 30. August 1938 in Paris abgehalten wurde. Das bedeutet nicht, dass es nicht zuvor schon »neoliberale« Ideen oder Thesen gegeben hätte. Es bedeutet, dass der Neoliberalismus als geistige Bewegung 1938 eine Geschlossenheit annahm (ungeachtet ihrer tiefen inneren Heterogenität, wie wir noch sehen werden), die ihm bis dahin gefehlt hatte, sowie einen offiziellen (wenn auch umstrittenen) Namen. Vielleicht hatte der Wissenschaftsphilosoph und Epistemologe Louis Rougier als Veranstalter des Kolloquiums und Organisator der »neoliberalen« Bewegung dabei an den ihm vertrauten Begriff »Neopositivismus« gedacht.²³ Rougier war ein Mitglied des Wiener Kreises, der als einer von wenigen die analytische Philosophie in Frankreich bekannt gemacht hatte.²⁴ Im Jahr 1935 hatte er an den Pariser Sorbonne den großen, bahnbrechenden Internationalen Kongress für wissenschaftliche Philosophie organisiert und dabei, in Anwesenheit der bedeutendsten Philosophen des Logischen Empirismus und der Epistemologie, sowohl den Einführungs- als auch den Abschlussvortrag gehalten.²⁵ Aber auch der ideologische und der politische Kontext werden bei der Namensgebung eine Rolle gespielt haben. Dabei sollte man sich in Erinnerung rufen, dass die Bezeichnung »Neoliberalismus« damals mit Bezug auf eine andere Gedankenströmung, den »Neosozialismus«, aufkam. In den 1920er-Jahren war »Neo« ein Trend der Zeit: Neosyndikalismus, Neo-Saint-Simonismus, Neokapitalismus und so weiter. Aber die berühmteste Neo-Verknüpfung, und gewiss auch diejenige, die sich in Rougiers Kopf festgesetzt hatte, war der »Neosozialismus«, eine von der offiziellen Linie der Französischen Sozialistischen Partei (SFIO) abweichende Strömung, die den Marxismus zu überwinden suchte, indem sie eine neue Art von »Planung« propagierte, die sich an den Ideen des belgischen Sozialisten Henri de Man orientierte. Aus Rougiers Schriften wissen wir, dass er mit dieser Strömung vertraut war. Und genau wie die französischen »Neosozialisten« in den 1930er-Jahren den alten Sozialismus zu reformieren suchten, indem sie ihn im Sinne der neuen Herausforderungen der Zeit modifizierten und »erneuerten« – was hieß, sich mit der aktuellen Bedeutung der »Rationalisierung« im Wirtschaftsgeschehen, der Schlüsselrolle der Mittelschichten und der Stellung von Autorität und Nation angesichts der faschistischen Bedrohung auseinanderzusetzen –, suchten die »Neoliberalen«, den Liberalismus kritisch zu überprüfen und zu erneuern.

    Das Wort erscheint also im Kontext einer ernsten Krise: der Krise des Kapitalismus, also dem Börsencrash an der Wall Street 1929 und der anschließenden Weltwirtschaftskrise, und der durch den Aufstieg der totalitären Regime ausgelösten politischen Krise.²⁶ In diesem Kontext nun wurde die Bezeichnung »Neoliberalismus«, lange vor Rougier, von Pierre-Etienne Flandin lanciert, einem französischen Politiker der konservativen Rechten. »Ich sage ›Neoliberalismus‹, weil es richtig ist, dass die alte, traditionelle liberale Wirtschaftsordnung reformiert werden muss«, argumentierte Flandin 1933, »und sei es nur als Antwort auf den Wandel, den die Produktionsverfahren und die Organisation des internationalen Handels erfahren haben.« ²⁷ Die Bezeichnung »Neoliberalismus« wurde dann 1934 von dem Nationalökonomen Gaëtan Pirou – der zur Überwindung der Krise ganz entschieden für neue Formen sozialer und wirtschaftlicher Interventionen plädierte – aufgegriffen, als er von »einem Versuch, die liberale Lehre zu erneuern«, sprach.²⁸ Und die Bezeichnung wurde, mit abwertender Intention, auch von einigen Sozialisten benutzt, so von Marcel Déat, einem der bedeutendsten Theoretiker und Aktivisten des »Neosozialismus«, der 1937 den »Tod des Liberalismus« verkündet hatte. Déat warf Léon Blum und dessen Volksfront-Regierung vor, nach einem Kompromiss zwischen sozialem Interventionismus und Liberalismus zu suchen, der seiner Auffassung nach Gefahr lief, einem »Neoliberalismus das Wort zu reden« und damit die linken Wähler der Volksfront zu verprellen.²⁹

    Ungefähr zu dieser Zeit hatte Louis Rougier, selbst politisch konservativ eingestellt und ein elitärer Theoretiker der Demokratie, mit großem Interesse das 1937 erschienene Buch The Good Society von Walter Lippmann gelesen. Rougier war der Ansicht, dass Lippmanns Buch »darlegt, dass die Marktwirtschaft nicht, wie viele klassische Ökonomen geglaubt hatten, das spontane Ergebnis einer natürlichen Ordnung ist, sondern das Ergebnis einer Rechtsordnung, die den Eingriff des Staates voraussetzt«.³⁰

    Diese Entwicklungen entfalteten sich, wie wir gesehen haben, in einem für den Liberalismus höchst ungünstigen Umfeld. Viele hielten ihn für »tot« seit der Krise von 1929, dem Einsetzen der New Deal-Politik und den verschiedenen Experimenten mit korporatistischen Ordnungen, nicht zu vergessen auch das Modell der »Fünfjahrespläne« in der Sowjetunion, an dem viele Intellektuelle im Westen Gefallen fanden, weil es eine Alternative zum todgeweihten Kapitalismus zu bieten schien. Und nicht nur der wirtschaftliche Liberalismus war auf dem Rückzug: Beinahe überall sah sich der politische Liberalismus bedroht, und in Josef Stalins Sowjetunion, dem faschistischen Italien und NS-Deutschland wie auch in Portugal, Spanien und vielen Ländern Osteuropas wie zum Beispiel Rumänien wurde er in der einen oder anderen Form sogar ausgeschaltet. Das Lippmann-Kolloquium fand fast genau ein Jahr vor dem Beginn des Zweiten Weltkriegs statt, weniger als ein halbes Jahr nach dem »Anschluss« Österreichs und einen Monat vor dem Münchner Abkommen; und einige der deutschen und österreichischen Teilnehmer, wie Ludwig von Mises, waren zu diesem Zeitpunkt vom NS-Regime verfolgte Exilanten, die angesichts der totalitären Gefahr und des drohenden Krieges um ihr Leben fürchten mussten.

    Dieser tragische Kontext wirft ein Licht auf die Art und Weise, in der sich zu diesem Zeitpunkt besonders isoliert, zerstreut und machtlos scheinende »Liberale« auf Anregung von Louis Rougier versammelten, um den Liberalismus zu verteidigen und zu erneuern. Auf Einladung Rougiers trafen sich also im August 1938 insgesamt 26 Nationalökonomen, Philosophen, Soziologen, Staatsbeamte, Unternehmensleiter und Juristen, um The Good Society zu diskutieren. Lippmann, der mit seinem Buch ein breites Publikum erreicht hatte, verteidigte darin den wirtschaftlichen wie den politischen Liberalismus angesichts des weltweiten Aufkommens von Faschismus, Nationalsozialismus und Kommunismus, allesamt illiberale, antiparlamentarische Bewegungen, die in mehr oder weniger großem Maß auf Planwirtschaft und, im Hinblick auf eine künftige Kriegswirtschaft, verstärkter Autarkie fußten. Auch in den Vereinigten Staaten löste das Buch Diskussionen aus, hatte sein Verfasser doch den New Deal kritisiert, obgleich er als Vertreter eines »progressiven Denkens« 1932 die Kandidatur von Franklin D. Roosevelt gegen Herbert Hoover unterstützt hatte. Angesichts der drohenden Kriegsgefahr schien Lippmann eine Lenkung der Wirtschaft in jeglicher Form abzulehnen (auch wenn sein Standpunkt tatsächlich differenzierter war, wie eine genauere Lektüre seines Buches zeigt).³¹ Auch in Frankreich fand Lippmanns Buch in konservativen Kreisen viel Lob, und man beschloss, es übersetzen zu lassen. Dazu wurde der Pariser Verlag Librairie de Médicis gewonnen, dessen eindeutig konservative Ausrichtung von Rougier in der Folge genutzt wurde, um dort dem »Neoliberalismus« ein Zuhause zu geben und, in gewissem Sinne, die Führung der Reaktion gegen die Volksfrontregierung zu übernehmen. Zahlreiche Originalausgaben und Übersetzungen von Büchern liberaler Autoren erschienen dort Ende der 1930er-Jahre auch in der Absicht, die öffentliche Debatte, die staatliche Politik und das geistige Klima zu beeinflussen.

    Die Veranstaltung des Walter-Lippmann-Kolloquiums war mindestens zum Teil dem Zufall geschuldet, auch wenn es einem politischen und geistigen Bedürfnis entsprach. Als Rougier erfuhr, dass Lippmann auf einer Reise durch Europa in Paris Station machen wollte, hatte er zunächst geplant, einige Interessierte zu einem Abendessen zusammenzubringen, woraus dann letztlich das Kolloquium wurde. Rougiers Ziel war simpel: eine Gruppe heterodoxer Denker zu versammeln, die ähnliche oder wenigstens ähnlich erscheinende ³² Thesen wie Lippmann in The Good Society vertreten hatten oder dessen Hauptthesen, nach Rougiers Auffassung, aufgeschlossen gegenüberstünden. Trotzdem erwies es sich als nicht ganz einfach, das Treffen zustande zu bringen, denn Lippmann war zunächst skeptisch.

    Zweifellos waren seine und Rougiers soziologische und politische Auffassungen sehr verschieden. Während Lippmann als Journalist von internationalem Ruf aus progressiven Kreisen stammte (als Student in Harvard hatte er einen sozialistischen Diskussionskreis gegründet und später gemeinsam mit Herbert Croly und Walter Weyl die Zeitschrift The New Republic herausgegeben) ³³, war Louis Rougier der Enkel eines liberalen Ökonomen aus Lyon, ein kaum bekannter Philosophieprofessor und Erkenntnistheoretiker, dessen politische Einstellung zunächst sehr konservativ war. Aber Lippmanns politische Entwicklung hin zu einem »Liberalismus« kontinentaler Prägung sowie der Zeithintergrund – der Aufstieg totalitärer und autoritärer Systeme überall in Europa – führten die beiden Männer in ihrer Verbundenheit mit dem Liberalismus zusammen. Und das war dann auch die Grundlage, auf der sich eine breiter gefächerte, sehr amorphe liberale Gemeinde konstituierte.

    Es ist aufschlussreich zu lesen, mit welchen Worten Rougier das Ziel des Lippmann-Kolloquiums beschrieb. In einem maschinengeschriebenen Brief vom 12. Juli 1938, der einigen Eingeladenen zugesandt wurde, beschrieb der Philosoph das inhaltliche Programm der Tagung wie folgt: »Die Freunde von Walter Lippmann haben beschlossen, anlässlich seines Aufenthalts in Paris und der Übersetzung seines Buches The Good Society ins Französische … ein kleines Kolloquium in geschlossenem Kreis abzuhalten, um die Kernthesen des Buches über den Niedergang des Liberalismus und die Bedingungen für eine Rückkehr zu einer liberalen Ordnung, die sich vom Manchester-liberalen Laissez-faire unterscheidet, zu erörtern.« Die Einladung führte weiter aus, »das Kolloquium wird das praktische Ziel haben, ein Studienprogramm zu erarbeiten zur Vorbereitung eines internationalen Kongresses im Jahr 1939 zu den gleichen Themen«. Schließlich wurde auch die Liste der wichtigsten eingeladenen Teilnehmer aufgeführt: »Diese Einladung wurde an die Herrn Baudin, Casillero [d. i. Castillejo, d. Hg.], Detoeuf, L. Einaudi, Hayek, Huizinga, Kittredge, Lavergne, Lippmann, Marlio, Mercier, Ludwig von Mises, Nitti, Ortega y Gasset, Rappard, Ricci, Rist, Robbins, Röpke, Rougier, Rueff, Truchy, Marcel van Zeeland versandt.« ³⁴

    Die Suche nach einem »erneuerten« Liberalismus, der einen Bruch mit dem »Manchester«-Liberalismus bedeuten sollte, stand auch im Mittelpunkt einer Notiz zum Walter-Lippmann-Kolloquium, die am 30. August 1938 in der Tageszeitung Le Temps veröffentlicht wurde, einem damals sehr einflussreichen Blatt, das dem gemäßigten Republikanismus nahestand. Dabei lässt sich der besondere geschichtliche Kontext des Kolloquiums mit einem Blick auf die Titelseite der Zeitung erfassen, wo ausschließlich die tschechoslowakische Frage und die militärische Drohung durch NS-Deutschland Thema ist. Auf der letzten Seite erwähnt eine anonyme, vermutlich von Louis Rougier verfasste Mitteilung unter dem Titel »Wie man uns mitteilt« daher die mit der Veranstaltung verknüpften Erwartungen. Dabei werden die Kernthesen von The Good Society so zusammengefasst: »In diesem Werk legt Walter Lippmann, wie wir wissen, dar, dass die Missstände unserer Zeit auf zwei irrige Vorstellungen zurückgehen: den irreführenden Gegensatz, der zwischen Sozialismus und Faschismus behauptet wird, und der nicht weniger falschen Gleichsetzung des Liberalismus mit der Manchester-Doktrin des Laissez-faire, Laissez-passer. Herr Walter Lippmann zeigt, wie die liberale Wirtschaftsordnung, die auf dem Privateigentum, freiem Wettbewerb und dem Preismechanismus beruht, nicht nur das Ergebnis einer naturgegebenen Ordnung ist, sondern auch das Ergebnis einer rechtlichen, vom Gesetzgeber geschaffenen Rahmensetzung, die der kontinuierlichen Anpassung an die unablässig sich verändernden Umstände der wirtschaftlichen auf Arbeitsteilung beruhenden Verfahren bedarf.« ³⁵ In diesem Zusammenhang sei das Vorhaben einer gemeinsamen Überprüfung des Liberalismus sowohl auf gedanklicher wie auf organisatorischer Ebene entwickelt worden, nicht unter dem Namen »Neoliberalismus« – das Wort taucht in diesem Text nicht auf –, sondern unter der Bezeichnung »positiver Liberalismus«: »Ziel dieses rein privaten Kolloquiums ist die Einrichtung einer internationalen Forschungsstelle mit der Aufgabe einer systematischen Untersuchung der theoretischen wie praktischen Probleme, die eine Rückkehr zu einem positiven Liberalismus beziehungsweise dessen Erhaltung aufwirft, einem System, das die Voraussetzung jeder Zivilisation ist, denn es ist als einziges dazu fähig, die persönlichen Werte, die allen Fortschritt schaffen, zu schützen.« ³⁶

    Etliche der Teilnehmer des Kolloquiums stammten aus Frankreich, aber die übrigen Eingeladenen kamen aus ganz verschiedenen Ländern und gehörten ganz unterschiedlichen beruflichen Gruppen an. Es ist wichtig, das hier zu betonen, denn bislang wurde das Lippmann-Kolloquium im allgemeinen Bewusstsein meist nur mit einer kleinen Auswahl von Namen verknüpft, die in späteren Jahren Berühmtheit erlangt haben. Unter dem Gesichtspunkt einer kontextuellen Geschichtsschreibung (und das ist der hier eingenommene Blickwinkel) ist es hingegen wünschenswert, keinen allzu beschränkten Blick auf die damals beteiligten Akteure zu werfen. Im Anschluss an diese Einleitung wird man daher eine Art Prosopografie finden, die jeden Teilnehmer am Lippmann-Kolloquium kurz vorstellt, sowie eine Liste der Eingeladenen, die an einer Teilnahme verhindert waren. Hier soll zunächst auf die allgemeineren soziologischen, intellektuellen und nationalen Gruppierungen hingewiesen werden. Ökonomen waren die zahlenmäßig größte Gruppe unter den Teilnehmern, darunter die Franzosen Louis Baudin, Jacques Rueff, Bernard Lavergne, André Piatier, Etienne Mantoux und Robert Marjolin, die Deutschen Wilhelm Röpke und Alexander Rüstow, als führende Vertreter der Österreichischen Schule Ludwig von Mises und Friedrich August von Hayek, teilweise sekundiert von Michael Heilperin, sowie eher unorthodoxe Ökonomen wie zum Beispiel der in Großbritannien ausgebildete John Bell Condliffe. Zu den Philosophen zählten neben Louis Rougier auch Raymond Aron und Michael Polanyi. Die Sozialwissenschaften waren vertreten durch Bruce Hopper und Alfred Schütz, deren intellektuelle Anliegen sich zum Teil mit denen der »Philosophen« überschnitten. Der Franzose Roger Auboin und der Belgier Marcel van Zeeland (nicht zu verwechseln mit seinem Bruder Paul, dem belgischen Staatsmann) waren leitende Staatsbeamte.

    Außerdem nahmen an dem Kolloquium erfolgreiche Geschäftsleute, Industriekapitäne und Technokraten teil (Marcel Bourgeois, Auguste Detoeuf, Louis Marlio, Ernest Mercier), ein spanischer Jurist (José Castillejo) und natürlich, als einziger Journalist, Walter Lippmann.³⁷

    Wenngleich also rund die Hälfte der Teilnehmer aus Frankreich stammte, war das internationale Kontingent mit Österreichern, Deutschen, Amerikanern (Hopper und Lippmann, aber kein einziger amerikanischer Ökonom), je einem Belgier, Spanier und Neuseeländer (Condliffe, der damals an der London School of Economics unterrichtete) und einem Ungarn (Polanyi, der damals im Exil in England lebte) doch gut vertreten. Eine ganze Reihe von ihnen waren Exilanten: Röpke hatte den Nationalsozialisten den Eid verweigert und war über die Türkei in die Schweiz emigriert, wo er am Genfer Hochschulinstitut für internationale Studien arbeitete; sein Freund Rüstow lehrte in Istanbul; Mises hatte sich der antisemitischen Verfolgung in Wien gerade noch entziehen können, aber Hab und Gut beim »Anschluss« verloren, und auch Schütz war vor der Judenverfolgung der Nazis in die Vereinigten Staaten geflohen.

    Neben der unmittelbaren historischen Kontextualisierung muss eine Analyse des Lippmann-Kolloquiums auch die Soziologie der Netzwerke, der akademischen wie die der Aktivisten, und der mit ihnen verbundenen Institutionen in Erinnerung rufen. Mehrere der Teilnehmer kannten einander zum Teil seit vielen Jahren durch gemeinsame Arbeit an Universitäten und Forschungseinrichtungen. So gab es mehrere ehemalige Teilnehmer an Ludwig von Mises’ Wiener »Privatseminar« (Hayek und Schütz), zwei Dozenten der London School of Economics (Hayek und Condliffe; eingeladen war auch Lionel Robbins, wiederum ein früherer Teilnehmer an Mises’ Seminar), Franzosen, die sich an der »X-Mines«-Gruppe ehemaliger Schüler der Ecole Polytechnique beteiligten (Detoeuf, Rueff und andere), Forscher, die an der Ecole Normale Supérieure als Mitarbeiter von Célestin Bouglé tätig waren (Aron und Marjolin), und einige (darunter Castillejo), die in Verbindung standen mit dem Internationalen Institut für geistige Zusammenarbeit (einer Einrichtung des Völkerbundes in Paris), unter dessen Dach auch das Kolloquium stattfand.

    Eine weitere bedeutsame Einrichtung in diesem Zusammenhang war das Hochschulinstitut für internationale Studien (HEI) in Genf. Es wäre falsch, diese Einrichtung als die Wiege des Liberalismus zu bezeichnen (so unterrichtete dort für einige Zeit zum Beispiel auch Hans Kelsen, alles andere als ein Liberaler der alten Schule), aber dort lehrten damals sowohl Röpke als auch Mises, und Rougier hielt seine Vorlesungsreihe über die »mystiques économiques« (ökonomischer Aberglauben, Mythen der Ökonomie) und entwickelte dabei seine neoliberalen Ideen. Das Genfer HEI war auch der Ort, an dem Hayek 1937 seine (heute nahezu vergessenen) Vorlesungen über »monetären Nationalismus« hielt.³⁸ Und hier fand auch der liberale italienische Antifaschist Guglielmo Ferrero 1932 Aufnahme als Dozent, nachdem ihm Rougier bei der Ausreise aus Italien geholfen hatte. Bewundert von Rougier, aber auch von Röpke, der gut mit ihm befreundet war, starb Ferrero 1942 an einem Herzinfarkt – oberhalb von Vevey in Mont Pèlerin, wo Röpke und Hayek fünf Jahre später die Mont Pèlerin Society gründen sollten.

    Das HEI stand unter der Leitung von Paul Mantoux, dem Vater von Etienne (der am Kolloquium teilnahm), und William Rappard, der trotz Einladung nicht teilnahm, aber in der Folge eine überaus aktive Rolle in der Mont Pèlerin Society spielte. So lässt sich sagen, dass das Lippmann-Kolloquium keineswegs bei null anfing, aber seine historische

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