Polarkreis und Umgebung
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Über dieses E-Book
Anton Christian Glatz
Anton Christian Glatz, geb. 21. Februar 1956, Schriftsteller in Graz. Seit seinem 17. Lebensjahr verfasst er literarische Texte mit den Schwerpunkten erzählende Prosa und Essays. A. Ch. Glatz fühlt sich der Fantastik sowie der Gesellschaftskritik verpflichtet.
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Buchvorschau
Polarkreis und Umgebung - Anton Christian Glatz
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Die Tasche des Franzosen
Der Mann mit dem Beduinen-Outfit
Als ich den Teufel suchen ging
Das Geheimnis der ersten Nacht
Abakus, die Legende
Brief an die Tochter
Die alte Männerweisheit
Alfred schreibt den großen Roman
Eine basisdemokratische Begegnung
Das Ruinengeheimnis
Alexanders Versuchung
Projekt „Imagine …"
Drachenerbe
Nachwort
Vorwort
Aus vielerlei Gründen liebe ich Erzählungen. Lassen Sie mich also erläutern. Die Bezeichnung Erzählung ist ein Überbegriff und umfasst weit mehr, als man auf den ersten Blick vermuten mag. Auch eine Meldung im Fernsehen ist eine Erzählung. Es wird z. B. erzählt, dass im Alpenvorland ein Unfall passierte, oder am Soundsovielten Unwetter niedergingen. Die Details begründen die Vollständigkeit, solange sie die sechs W-Fragen beantworten: Wer hat was, wann wo, wie und warum getan? Jeder Kinofilm ist eine Erzählung. Was ist Mozarts „Zauberflöte"? Ganz klar eine Erzählung, und zwar eine fantastische, im doppelten Sinne des Wortes. Mit Tschaikowskis Ballett „Schwanensee" erfreuen wir uns einer Erzählung. Dass sich all diese Erzählungen durchaus unterschiedlicher Ausdrucksmittel bedienen (bildhafte, musikalische, tänzerische etc.) ändert am Grundcharakter nichts.
In Wirklichkeit sind Erzählungen in all ihren ungemein ausdifferenzierten Erscheinungsformen fast schon allgegenwärtig. Doch leider macht es bekanntlich die Menge nicht. Im Gegenteil: Wirklich gute literarische Erzählungen sind dünn gesät. Es hängt ein bisschen damit zusammen, dass alle Welt glaubt, eine Inspiration, die streng genommen Textvolumen für eine Novelle hergibt, zu einem Roman auswalzen zu müssen. Vor allem in der deutschsprachigen Literatur wimmelt es von Romanen, die übermäßig aufgebläht sind. Ernst Jandl hat es einmal auf den Punkt gebracht: „Roman ist eine Geschichte, bei der alles zu lange dauert."
Zudem empfinde ich die typischen 500, 600 oder noch mehr-Seiten langen Wälzer meistens als tyrannisch. Wie oft verlangt die Autorin oder der Autor vom Publikum, Stunden um Stunden zu investieren, um das selbstverliebte Geschwätz zu konsumieren? Die allermeisten Romane würden von einer Kürzung profitieren. Unter Insidern heißt es so treffend, ein Roman sei nicht dann fertig, wenn es nichts mehr hinzuzuschreiben gibt, sondern wenn man nichts mehr wegstreichen kann.
Aus meiner Sicht wird in der gegenwärtigen, deutschsprachigen Literatur viel mehr geplappert, als erzählt. Dabei leitet sich das Wort „Dichtung von „verdichten
ab. Dies legt nahe, die Informationen auf das Wesentliche zu verdichten, und nicht, eine dünne Handlung mit einer Unmenge an Worten zu kompensieren. Nach dem Motto: „Ich habe zwar nichts zu sagen, tue das aber mit tausenderlei kunstvollen Worten" wird jede Menge dünne Suppe mit sprachlicher Akrobatik und Detailverliebtheit gewürzt. Jedoch hat unsere Zeit mit allem, was wesentlich ist, ein – ironischerweise – grundsätzliches Problem.
Was ist also das Wesentliche an einer literarischen Erzählung? Ich halte es mit Jim Henson, der in seinem „Storyteller" sagt: „Als man sich die Vergangenheit noch in Form von Geschichten erzählte, die Gegenwart in Form von Geschichten zu deuten versuchte und die Zukunft in Geschichten vorhersagte, da hielt man stets den besten Platz am Feuer dem Geschichtenerzähler frei." Weder die inhaltliche Übereinstimmung ist der entscheidende Punkt, noch der kommerzielle Erfolg, sondern dass die Leute zusammenkommen. Dieser Minimalkonsens klingt zwar bescheiden, legt hingegen das Fundament dafür, dass sich Literatur zu ihrer Blüte entfalten kann.
Den allermeisten meiner Geschichten liegt selbst ein origineller Entstehungskontext zugrunde, sozusagen erfundene Geschichten, eingebettet in autobiografisch-wirkliche. Einige wenige seien zumindest angedeutet.
Zum Beispiel: „Abakus, die Legende. Ich kam 2018 in Kontakt mit den sog. „Apfelmännern
. Bei ihnen handelt es sich um eine Vereinigung führender Apfelbauern der Gemeinde Puch bei Weiz, Oststeiermark. Seit 1998 bestimmen diese jedes Jahr nach der Apfelernte, welche Sorte am besten geraten ist. Dann brennen sie in einem „geheimer als geheimen", wie sie selbst sagen, Vorgang ihren Schnaps. Dazu „verlassen die Apfelmänner Haus und Hof, Frau und Kinder und sperren sich 3 Tage und 2 Nächte lang ein". Der Hochprozentige wird ein Jahr gelagert und, sofern als würdig empfunden, schließlich der Öffentlichkeit präsentiert. Unter der Marke „Abakus" wird dieser Schnaps überregional verkauft, 2020 um den schier unglaublichen Preis von € 104,44 zzgl. Versandkosten für die 7/10-Liter-Flasche. Dies auch nicht an jeden x-beliebigen Kunden, denn nach der neunten der zwölf selbsterfunden Regeln „sei der Kunde hinsichtlich seiner inneren Werte geprüft". Auch sonst betreibt man um diese Marke einen ziemlichen Kult¹, der hier keineswegs annähernd erschöpfend dargestellt werden kann.
Alles in allem handelt es sich freilich um einen Marketing-Gag. Indessen fand ich diesen so pfiffig, dass ich mich zu einer Novelle mehr als nur üblich inspiriert fühlte; es drängte mich geradezu, eine Erzählung beizusteuern. Diese sollte einen Charakter mit dem Namen Abakus zum Zentrum haben und sozusagen „historisch" ableiten, wie es zu diesem Schnaps kam. In dem – an sich sehr umfangreichen – Konzept der Apfelmänner blieb dieser Aspekt nämlich unbeachtet. Ein Blick auf die Kirchentür sagte mir, in welchem Szenario ich die Erzählung anzusiedeln hätte: 1455. In diesem Jahr war die Kirche eingeweiht worden. Allerdings kommt es bei einer historischen Erzählung bekanntlich viel auf die Recherche an.
Also setzte ich mich eines Tages in den öffentlichen Bus in Richtung Gemeinde Puch bei Weiz. Das Setting sollte möglichst realistisch recherchiert sein, wenn schon die Geschichte, also Charaktere und Handlung in bester literarischer Manier frei erfunden waren. In der Gemeinde führte ich ein liebenswürdiges Gespräch mit der Bürgermeisterin Gerlinde Schneider. Aus Freude, dass sich jemand für ihre Gemeindegeschichte interessierte, drückte sie mir die Gemeindechronik „600 Jahre Puch bei Weiz" in die Hand; selbstverständlich persönlich signiert.
Ich besichtigte eingehend den Ort und machte mich mit dem Ideengut der Apfelmänner vertraut. Meine Erzählung sollte sich möglichst geschmeidig in ihr ideelles Konzept einfügen, andererseits jedoch durchaus eigenständig sein, in sicherem Abstand von jedem Plagiat.
Ich werde die Gemeindechronik stets in Ehren halten. Sie erinnert mich an einen wunderbaren Tag mit reisen, nachforschen, erkunden, auf Menschen zugehen, gute Gespräche führen mit freundlichen Leuten, die Natur genießen, sich inspirieren lassen von allem, was die Kraft dazu hat, frei von allen Zwängen der Vermarktungsmühlen … Das verstehe ich unter lebendiger Literatur. Auf diesem Humus gedeihen meine Geschichten, meine Gedichte. Einige dieser solcherart entstandenen Texte finden sich hier versammelt.
Besonderer Erwähnung bedürfen die Kurzgeschichten „Das Ruinengeheimnis" (2016) und „Alexanders Versuchung" (2018). Die Texte wurden von den Teilnehmern der Donnerstagsmorgen-Runde des Männerwohnheims Graz gemeinsam entwickelt. Die Projektleitung hatte Frau Magistra Barbara Tschapeller-Warscher, klinische Psychologin des Hauses, inne, ich die wohlwollende Schriftführung bzw. Redaktion. Die Geschichten wurden in Jahreskalendern, welche inzwischen vergriffen sind, veröffentlicht.
Wie entstanden die Texte? Die Runde arbeitete mit dem Kartenspiel „Es war einmal …." (Pegasus-Spiele). Die Herausforderung bestand darin, in der Gruppe eine kleine Erzählung zu entwickeln. Die Spielkarten waren verschiedenen Oberbegriffen zugeordnet: Ort, Ding, Handlung, Charakter, Ereignis, Eigenschaft und Erzählende. Die Teilnehmenden zogen der Reihe nach eine Karte und ließen sich anhand dieser eine Geschichte einfallen. Diese führte der nächste Teilnehmer mit seiner Karte möglichst sinnvoll weiter, solange bis die Geschichte gemäß dem gezogenen Ende (z. B.: „Der Wahnsinn des Prinzen war geheilt.") beendet wurde. Die Karten wiesen typisch märchenhafte Elemente auf, sorgfältig aufeinander abgestimmt. Sie stellten sich als ungemein inspirativ heraus. Aus Gründen der Authentizität und aus Respekt vor der Leistung der Gruppe wurden die Kurzgeschichten in der – etwas ungeschliffenen – Form aufgenommen, in der sie damals in den Kalendern veröffentlicht wurden.
Mein Beitrag zum Projekt „Imagine ..." sollte ebenfalls als grenzüberschreitende Zusammenkunft verstanden sein. Hier trafen einander völlig fremde Menschen aus der bildenden Kunst und solche aus der schreibenden Ecke aufeinander. Es ging darum, zu einem der Bilder einen kongenialen Text zu entwickeln. Ohne zusätzliche Hinweise wie Name der Künstlerin oder des Künstlers sowie Titel sollte ich mich nur von der Abbildung selbst leiten lassen. Sprach mich das Bild an? Wohin würde es mich führen? Würde mir ein literarischer Ausdruck in irgendeiner Form gelingen? Auf Basis dieser außerordentlichen, fundamentalen Offenheit wurde mir das Projekt zur willkommenen Übung im Blick über meinen Tellerrand.
Und nun eine kleine Warnung: Wem es an Humor mangelt, wird an vielen meiner Geschichten keine rechte Freude finden. Oft sind es Satiren, in denen ich mich in der Kunst des literarischen Wadelbeißens übe. Ich pinkle gern den offiziellen gesellschaftlichen Autoritäten ans Bein. Selbst die berühmte politische Korrektheit ist mir nicht das Maß aller Dinge. Wo sie mir zum Korsett wird, oder zur vorauseilenden Selbstzensur, setze ich mich über sie hinweg. Ich lade alle Lesenden ein, an der kathartischen Wirkung dieser Grundhaltung zu partizipieren.
Die Abbildungen einer Krähe, die auf einem Kamin sitzt, soll der Gelegenheit dienen, zwischendurch ein wenig meditativ innezuhalten. In jedem kultivierten Spannungsbogen findet