Villa Ravan: Hinter dem Draußen
Von Milan Jaker
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Über dieses E-Book
Während er verzweifelt versucht herauszufinden, wem er vertrauen kann, merkt er nicht, dass er in einen Jahrhunderte alten Teufelskreis gezogen wird.
Milan Jaker
Milan Jaker, geboren 2004 in Schleswig-Holstein, hat im Juni 2022 seine schulische Ausbildung mit dem Fachabitur abgeschlossen. Bereits seit seiner Kindheit ist er als Autor aktiv; im Alter von 10 Jahren kam es zu einer ersten Veröffentlichung eines Textes in der österreichischen Zeitschrift Augustin. Im Vordergrund des Debütromans von Milan Jaker stehen neben seiner düsteren Kreativität die Gruselkomponenten sowie die Anregung der Lesenden zu anspruchsvollem Mitdenken. Zu seinen literarischen Vorbildern zählen Stephen King, Dan Brown und H. P. Lovecraft. Maßgeblich getragen wird die Geschichte von den beeindruckenden Zeichnungen Milan Jakers. Seit früher Kindheit nimmt er regelmäßig Kunstunterricht an der Muthesius Kunsthochschule in Kiel, wo er beispielsweise in intensiver Auseinandersetzung mit Goethes Faust szenische Illustrationen geschaffen hat. Erste Illustrationsaufträge waren Porträts von Komponisten für die Lernhefte Epochen der Musik, erschienen im AOL-Verlag Hamburg (2018 und 2019).
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Buchvorschau
Villa Ravan - Milan Jaker
MILAN JAKER
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VILLA RAVAN
Hinter dem Draußen
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Hinter dem Draußen ist kein Ort.
Es ist ein Spiegel dessen, was wir wollen, denken
und fühlen, aber nie tun. Wir alle haben Schmerzen
und glauben, wir sind damit allein.
Wir versuchen, uns anzupassen, normal zu sein.
Unsere inneren Abgründe, unsere über Jahre
angestaute Wut müssen wir unterdrücken.
Hinter dem Draußen bist Du. Ich. Wir alle.
Wenn Du hinter das Draußen siehst, wirst Du
Dich selbst erblicken, all den Schmerz,
den Du nie ausleben konntest.
Alles sammelt sich hinter dem Draußen.
Dort, wo unser Schmerz sich versteckt.
ISBN 978-3-75-627537-3
1. Auflage
Copyright © 2022 Milan Jaker
Alle Rechte vorbehalten
Cover & Illustrationen: Milan Jaker
Instagram: milanjaker
Lektorat: Freie Lektoren Obst & Ohlerich, Berlin
www.freie-lektoren.de
Korrektorat: Lektorat Willmann, Berlin
www.lektorat-willmann.de
E-Book-Layout: Holger Steinbach, Berlin
www.selfpublishing-service.de
***
Die Veröffentlichung und Weiterverwendung der Texte und Abbildungen
(auch auszugsweise) ist nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors erlaubt.
Alle in diesem Buch geschilderten Handlungen und Personen sind frei erfunden.
INHALTSVERZEICHNIS
IMPRESSUM
KAPITEL 1
Der Start
KAPITEL 2
Die letzten Tage in Polstaun
KAPITEL 3
Die Villa
KAPITEL 4
Der Schlafwandler und die Fliege
KAPITEL 5
Der Wald und die Reflexionen
KAPITEL 6
Dannys Traum
KAPITEL 7
Die Spiegelseite
KAPITEL 8
Ende des Albtraums
KAPITEL 9
Frei
Prolog
Es ist dunkel. Die Nacht taucht die Gänge des alten Gebäudes in Finsternis. Das mittelalterliche Gemäuer verbirgt in sich viele Korridore und Räume, aber wir interessieren uns nur für ein ganz bestimmtes Zimmer, in dem gerade, mit dem mitternächtlichen Schlagen der Standuhr, weiße, langgliedrig knochige Hände aus einer düsteren Ecke hochfahren. Eine Gestalt erhebt sich aus einem wuchtigen Ledersessel und wandelt leichtfüßig durch den Flur zur Standuhr. Natürlich erwartet sie, wie von ihr schon Jahrhunderte lang gewohnt, dass die Glocke nach dem zwölften Schlag verstummen wird, doch diesmal schlägt die alte Uhr einfach weiter.
Die Erscheinung bleibt davon äußerst beunruhigt vor ihr stehen und betrachtet aufmerksam diesen hölzernen Schrein.
Auf einmal verstummt die Uhr. Doch in dem Moment, als sich die Gestalt erleichtert von ihr abwenden will, beginnt sie erneut zu schlagen. Sie schlägt fortwährend weiter und weiter. Mit gleichzeitig zunehmender Lautstärke beginnen sich nun auch noch die römischen Zahlen auf ihrer Zeitscheibe schneller und schneller zu drehen, umher zu wirbeln wie auf einem Karussell, um daraufhin abrupt zu stoppen und dann, unter völligem Verlust ihrer Orientierung, versuchen sie, ihre gewohnten Plätze wieder einzunehmen. Jedoch bleiben sie in spiegelverkehrter Ausrichtung auf ihrem elfenbeinweißen Blatt stehen. Daraufhin beginnen sich die Zeiger wie wild vorwärtszudrehen. Dabei vibriert der alte Uhrenkasten, bis sein Schrankkörper zu beben beginnt.
Während die Zeit weiter rückwärts rast, sieht die Gestalt, wie die vernarbte Haut ihrer Handfläche allmählich anfängt aufzureißen. Dabei empfindet sie keinen Schmerz, nur unendlich drückende, bittere Furcht.
Während die verschnörkelten Uhrzeiger weiterrasen und der Glockenschlag zunehmend lauter hallt, füllt sich die Handfläche der Gestalt nach und nach mit ihrem Blut, bis es schließlich über ihren Rand läuft und stetig auf die Dielen tropft. Dort fließt das dunkelrote, langsam anwachsende Rinnsal durch die uralten staubgefüllten Fugen über dem Boden.
Überdies nimmt die Gestalt auch Echos wahr, die durch ihr Zurückprallen an den Wänden zusehends in ihrer Lautstärke anschwellen und sich unruhig in ihre Gehörgänge einfressen. Nach und nach entstehen aus diesem chaotischen Widerhall Stimmen, die sich schließlich zu entsetzlich durchdringenden und quälenden Schreien entwickeln.
Verstört windet die Gestalt sich hilflos im Flur, als auch noch ihre rechte Handfläche aufzureißen beginnt.
Um sie herum versammeln sich die vor Jahrhunderten brutal misshandelten, völlig verstümmelten Körper von Männern, Frauen und Kindern, und vorneweg steht da ein blutweinendes, krummes Kind mit langen spinnenverwebten Haaren und hält zittrig eine rote Laterne in seinen Händen.
Der Halbkreis, den die Untoten nun um die Gestalt bilden, wird umschlossen von ihrem eigenen vergossenen Blut. Sie alle bluten in zähen Strömen den Boden voll. Doch hinter diesen Untoten richtet sich ein riesenhaftes, hageres, schwarzes Geschöpf auf, von der die Kreatur mit den knochigen Händen nur die Augen sehen kann, die sie gierig anstarren.
„Was willst du?", schreit die Kreatur verzweifelt der großen, schwarzen Gestalt zu, die hinter den Untoten steht.
„Schau hin, was du uns angetan hast!", klagen die zu Tode Geschändeten im Chor, während sich aus dem kriechenden Blut zwei Wörter formen:
ZEIT ABGELAUFEN
Von einem Augenblick zum anderen verstummen sie. Die Uhr bleibt mit einem Ruck stehen, die Zahlen beginnen in der Trägheit der Zeit wieder zurück an ihre Plätze des Ziffernblattes zu wandern, und ebenso findet das Uhrwerk wieder zurück in seinen gewohnten Takt.
Während sich die Gequälten in Reih und Glied formieren, das Kind vorneweg mit seiner Laterne, und sich im soldatischen Gleichschritt unter Wehklagen wieder in die Dunkelheit zurückziehen, weiß jetzt die langfingrige Gestalt, warum und was zu tun ist, und braucht für alles, was da nun kommen wird, keine Erklärungen mehr.
Sie eilt den Flur hinunter zu den Treppen, steigt hinauf ins nächste Stockwerk, wo sie einen versteckten Raum betritt. Dieser befindet sich in einem der Türme, über dessen Eingang ein spiegelverkehrtes Wort steht. Sie öffnet eine Luke, eingelassen in die Decke, und steigt hindurch, in eine kleine Bibliothek, in eine düstere, runde Kammer. An ihre kalten Wände gelehnt, ächzen vollbeladene Regale mit verstaubten und mit Spinnengarn umwebten Büchern, unter ihrer durch jahrhundertelanges Tragen drückenden Last.
Stirnseitig, am Ende des mittleren Bücherregals, steht ein Tisch, auf dem ein mickriges, scheues Kerzenlicht flimmert. Die Gestalt holt das letzte Buch aus dem Regal, schlägt es auf und mit zittrigen Knochengliedern ihrer Hand blättert sie zur letzten Seite. Wie schon auf hunderten Seiten in unzähligen Büchern zuvor, steht in diesem Band nichts anderes als untereinander aufgelistete, in spiegelverkehrter Schrift geschriebene Namen. Und jeweils neben diesen Namen ein Bild, ein Bild der dazu gehörigen Person.
„Okay", flüstert sie, nimmt die Feder und schreibt, ebenfalls spiegelverkehrt, unter den letzten Namen einen weiteren. In Sekundenschnelle erscheint dann auch schon das Bild der Person dazu. Die Gestalt sieht es sich an und seufzt tief, weil nun alles, alles Grauen, aller Horror wieder von vorne beginnt.
„Erzähl mir was über ihn", flüstert sie hilflos, aber doch auffordernd.
Hinter ihr kichert es: Aber natürlich.
Obwohl nicht gesprochen, denkt die Gestalt, die Antwort aus dem dunklen Hintergrund gehört zu haben. Hoffentlich wird nicht noch mehr Blut vergossen werden müssen, betet sie inständig.
Noch während sie sich so in ihrem innigen Flehen weiter quält, spürt sie in ihrem kalten Schweiß noch immer seine Anwesenheit. Er ist noch immer da!
KAPITEL 1
Der Start
1
Harald Niken musste noch Fotos von der Villa Ravan machen. Ursprünglich hatte er dies gleich am Morgen machen wollen, aber wegen des zähen Korrigierens eines Tests hatte er es vergessen. So machte er sich erst am späten Nachmittag auf den Weg. Er nahm seine billige Kamera und stieg in seinen kleinen Nissan. Die Sonne war bereits dabei unterzugehen und schon größtenteils hinter dem Horizont verschwunden. Niken schaltete das Innenraumlicht ein und schaute auf die Uhr. Er würde, wenn er ohne Stau durchkam, etwa noch eine halbe Stunde brauchen, um sein Reiseziel zu erreichen. Doch die Sonne schien rascher sinken zu wollen als ihm vertraut, so als ob sie vor Niken entfliehen wollte, denn schon bald durchfuhr er nur noch eine ihm sonderbar erscheinende Dunkelheit.
Schließlich erreichte er das Tor, das in den verwilderten Park hineinführte, in dem sich die Villa Ravan befand. Es stand offen und Niken fuhr geradewegs hindurch. Die Bäume waren nur als Schemen zu erkennen, gezeichnet durch die einfallenden, bläulichen Lichtstrahlen des Mondes zwischen ihren Ästen und Blättern.
Der Weg selbst glich eher einem breiteren Trampelpfad als einer Einfahrt. In der Ferne konnte Niken die Villa bereits schwach, inmitten von schwarzem Gestrüpp erkennen. Eine Katze huschte plötzlich durch das Licht der Autoscheinwerfer. Niken trat hart auf die Bremse.
„Scheiß Viecher!", fluchte er vor sich hin, während das Tier aufgeschreckt wieder im Gebüsch verschwand. Wenig später erreichte er das Eingangstor zum Vorhof der Villa und parkte das Auto dicht vor der Haustür, die sich hinter vier schlanken Säulen verbarg. Niken knipste ein paar Bilder des Portals und der oberen Fensterreihe. Anschließend warf er noch einen flüchtigen Blick auf die Bilder. Niken war sichtlich zufrieden mit den Aufnahmen und wollte gerade schon kehrtmachen, als er bei mehr zufälliger Betrachtung eines der Fotos im Türschloss der Villa einen Schlüssel erblickte, der, durch das Blitzlicht reflektiert, eigentlich nur so für ihn erst sichtbar wurde. Sonst wäre er ihm wohl überhaupt nicht aufgefallen. Verwundert blieb er im Scheinwerferlicht seines Autos stehen und schaute nachdenklich zurück. Ach was sollʼs, haderte er mit sich und ging entschlossen zurück, die steinernen Stufen hoch und betrachtete den Eingang nochmal genauer. Tatsächlich, da steckte ein Schlüssel. Nach kurzem Zögern drehte Niken ihn vorsichtig um und betrat die Villa. Drinnen war es dämmerig und er ärgerte sich, keine Taschenlampe mitgenommen zu haben. Den Lichtschalter zu suchen, würde wahrscheinlich länger dauern, als seine jetzt fortgesetzte Fotoaktion an Zeit beanspruchen würde. Doch bestimmt werden sich seine Augen noch daran gewöhnen und das von draußen spärlich hereinscheinende Mondlicht in den Gängen würde vollends ausreichen, um zurechtzukommen.
Es musste einfach reichen, denn er hörte, völlig überrascht, wie die Haustür hinter ihm ins Schloss fiel. Er erschrak für einen kurzen Moment, aber zum Glück hatte er ja den Schlüssel. Das gab ihm Sicherheit und beruhigte ihn zugleich. So tastete er sich durch die riesige düstere Eingangshalle bis hin zu den Treppen. Dort blieb er plötzlich wie versteinert stehen, weil er in diesem Halbdunkel ein Gesicht über der ersten Stufe schwebend gesehen zu haben glaubte. Niken schüttelte ungläubig den Kopf und stieg die knarrenden Treppen hinauf bis in den ersten Stock, ohne das Gesicht noch einmal gesehen zu haben, wenn es denn überhaupt dagewesen war.
Vor ihm erstreckte sich jetzt ein langer Flur, mit vielen Türen in gleichmäßigen Abständen zu beiden Seiten. In dieser geradezu gespenstischen Stille konnte er weiche, gedämpfte Geräusche hören, als würde sich jemand in einem der Zimmer im Bett herumwälzen. Allerdings verstummten sie wieder nach kurzer Zeit.
Anschließend glaubte er, von oben ein Knarren wahrgenommen zu haben. Er hielt die Luft an. Wieder ein Knarren. Nun aber hallte es wie ein Ruf durch die Villa. Niken lief, nein, er stolperte hinauf in den zweiten Stock und horchte erneut. Das Geräusch kam von noch weiter oben. Also stieg Niken hastig die nächsten Treppen hinauf. Alles im Düsteren, aber seine Augen hatten sich mittlerweile daran gewöhnt. Dann stutzte er. Die Treppen führten zwar weiter nach oben, aber nicht in ein weiteres Stockwerk, sondern, wie es aussah, in einen Turm auf dem Dach der Villa. Niken überfiel eine riesige Angst, jetzt noch weiterzugehen. Regungslos blieb er stehen. Er konnte dort einfach nicht hinauf und wollte auch jetzt nicht mehr weiter.
„Wie kann dort oben im Turm jemand sein?", flüsterte er leise vor sich hin.
Doch dann ertönte schaurig-heiser eine Stimme: „Niken? Sind Sie das?"
Irgendwie kam ihm diese Stimme bekannt vor, doch war er in der jetzigen Situation nicht in der Lage, sie einer Person zuzuordnen. Aber langsam drängte sich ihm ein Name ins Bewusstsein. Es war die Stimme von Ed Nigra, einem Schüler, den Niken unterrichtete. Seine Stimme klang schrill und irgendwie bizarr oder nicht ganz real. So, als wäre sie nur ein Traum oder doch nur eine Erinnerung?
Niken hatte keine Ahnung, wie viel Uhr es war. Schließlich war es ja schon nachts und Ed konnte zu dieser späten Stunde überall sein, nur nicht hier. Niken schüttelte selbstzweifelnd den Kopf, nahm allen Mut zusammen und begann nun doch die Wendeltreppe aufwärtszusteigen, hinauf in den Turm. Spiralförmig stieg er immer höher, bis er völlig außer Atem endlich oben ankam.
Währenddessen wurde das Knarren der Dielenbretter immer lauter und eindringlicher, als wäre es in seiner unmittelbaren Nähe. Es hallte aus jeder Ecke der Villa wider. Oben im Turm endete die Treppe an einer hölzernen Tür. Auf Augenhöhe war das Gesicht einer jungen Frau ins Holz geschnitzt. Sie hatte die Augen geschlossen und ihre Mundwinkel hingen nach unten. Jedes Haar war einzeln, mit viel Mühe ins Holz gekerbt worden, was einen darüber nachdenken ließ, wie lange der Künstler wohl dafür gebraucht haben mochte. Niken verspürte eine abscheuliche, ihn unrettbare Angst, die junge hölzerne Frau könnte jederzeit die Augen aufreißen, denn er erkannte sie nach und nach als das Gesicht, das er bereits unten über der ersten Treppenstufe schwebend gesehen hatte.
Zudem nahm er Schritte hinter der Tür wahr, die auf- und abgingen. Vorsichtig, möglichst lautlos, wollte er einen Fuß zurücksetzen und in dem Moment ächzte eine Bodendiele unter seinem Gewicht. Er hielt inne. Die Schritte waren verstummt. Doch hinter der Tür atmete etwas.
Nikens Herz dröhnte wie ein Rennwagen.
In diesem Augenblick klopfte es an der Tür. Kein Hämmern, sondern ein Klopfen, das freundlich, ja vertrauensvoll fragen will: Hallo, wer ist da? Ich will Ihnen nichts Böses. Da erblickte Niken, dass da wieder ein Schlüssel in der Tür steckte, so wie schon unten im Hauptportal, so als ob jemand für ihn so etwas wie einen Pfad bis hierhin angelegt hätte. Schon wieder klopfte es.
„Niken, wir brauchen Sie", ertönte nun Ed Nigras Stimme hinter der Tür, die, wie schon zuvor, seltsam klang, als ob sie ein Lachen unterdrücken wollte. Kurz kam Niken der Gedanke, die Jungs wollten ihn auf den Arm nehmen. Sie wussten doch eigentlich nichts von der Existenz dieser Villa! Außerdem befand sie sich in einiger Entfernung von der Stadt.
Es klopfte erneut. Niken drehte zitternd den Schlüssel im Schloss, riss entschlossen die Tür auf und sah Ed Nigra vor sich stehen, etwas kleiner als er selbst. Seine Gesichtshaut sah fahl aus wie aus Stein, seine Locken waren steif, sie wirkten wie aus frischem Ton gedreht. Doch am merkwürdigsten waren seine Augen.
„Was machst du hier? Und was ist mit deinen Augen?", fragte Niken erstaunt. Oder eher verwirrt?
„Verängstigt …", flüsterte Ed, legte eine Hand auf Nikens Schulter und grinste
höhnisch, wobei sich seine Zähne entblößten.
KAPITEL 2
Die letzten Tage in Polstaun
1
Einige Wochen später.
Lass es einfach vorbeigehen! Denk an etwas anderes! Versuche es zumindest! Nur noch ein paar Minuten! Halte einfach durch, kippe nicht um, halte durch vor all diesen Leuten! Sollte es doch passieren, kannst du sicher sein, dass das Ganze hier noch länger dauern wird! So dachte Danny mitten unter den Reportern, zutiefst verstrickt in seine eigenen, aufgewühlten Gedanken. Alle hielten sie ihre Kameras hoch und schossen Fotos von dem Vierzehnjährigen.
So hatte er vor sich hingeträumt, als er aus der Schule gekommen war, und war zufällig in die Gruppe der Reporter und Zeitungsmänner geraten. Vor einem Schuhgeschäft stand ein junger Mann, bekleidet mit einem glänzenden Anzug und Krawatte. Um ihn herum hatte sich ein enger Halbkreis von Fans, Reportern und anderen Personen gebildet, die wissen wollten, was eigentlich los war. Ein paar Mädels um die zwanzig kreischten vor Freude oder vor was auch immer.
Danny war ziemlich fertig und wollte es eigentlich vermeiden, jetzt direkt in diese Gruppe reinzulaufen, was er unbewusst dann doch tat. Er war nicht einmal mehr verträumt, er ging einfach, den Blick zu Boden gerichtet. Rechts von ihm verlief die Straße, auf der gerade ein Mofa laut knatternd vorbeiraste. Links von ihm reihten sich Läden in einer Geschäftszeile. Ein großzügiger Platz rundete das kleinstädtische Panorama ab.
Wer auch immer dieser junge Mann war, der vor dem Schuhgeschäft posierte, Danny kannte ihn nicht.
In dem Moment, als die Kameras wie ein Gewitter aufblitzten und begannen, jetzt erst recht die Aufmerksamkeit des Jungen auf sich zu lenken, war es bereits zu spät. Geh einfach weiter, sagte er sich, aber bloß nicht laufen. Geh einfach unauffällig weiter, als ob du gar nichts bemerkst. Trotzdem blieb er stehen. Warum bleibst du stehen? Geh doch endlich weiter, du Idiot! Er tat es nicht und blieb stehen.
„Was soll das? Geh aus dem Bild, rief einer der Reporter mit dunkelblauem Cowboyhut. Der Junge sah den faltigen Mund und seine große Nase. Diagnose: Alter Sack, der den Morgen damit verbringt, Alkohol in sich hineinzuschütten. Eine andere Reporterin keifte Danny ebenfalls wütend an: „Jetzt geh verdammt noch mal aus dem Bild, Junge!
Danny fühlte sich sofort von den umstehenden Erwachsenen gemobbt. Versehentlich hatte er einen falschen Schritt gemacht, und schon wurde er mit groben Blicken und Worten übel verscheucht. Zu guter Letzt drehte sich auch noch der posierende Mann zu dem Jungen um.
Wie gern hätte er das Weite gesucht, aber er überblickte die Situation überhaupt nicht. Für ihn war es, als wäre er gerade erst aufgewacht. Links, am Ende des Halbkreises der Reporter, stand eine kleine Gruppe Jungen aus seiner Klasse, Ed, Malte und Mark. Sie alle trugen schwarze Caps, was bei Ed besonders krass aussah, weil er unübersehbar dichtes lockiges Haar hatte. außerdem stachen noch zwei angenähte Augen über dem Schirm von Eds Cap hervor.
Malte trat hervor und winkte Danny zu sich. Er ging, noch immer aufgewühlt von dem ganzen Szenario, hinüber und geriet so endlich aus dem Blickfeld der lästigen Reporter.
Mark und Malte hatten nicht nur ähnliche Namen, sie sahen sich auch sonst verblüffend ähnlich. Das Einzige, was die beiden unterschied, war ihre Haarfarbe.
Ed hingegen fiel durch sein bleiches Gesicht auf, was noch dadurch verstärkt wurde, dass er ausschließlich schwarze Klamotten trug.
Danny hatte schwarze Haare, in die sich ein paar blonde Strähnen geschlichen hatten, was ihn ein bisschen wie ein Streifenhörnchen aussehen ließ.
„Danny, hast du gepennt, oder was?", fragte Malte derb.
„Das ist doch eher was für Ed", fiel Mark grinsend ein.
„Was ist denn das hier? Danny schaute in die Runde. „Ihr wurdet doch auch ausgewählt, oder?
Die drei nickten.
„Lass mal weg hier. Diese Typen nerven", rief Mark.
Er machte, ohne zu gucken, ein paar Schritte auf die Straße. Malte und Ed zuckten die Schultern und folgten ihm wie zwei Hundewelpen nach.
„Danny, komm doch auch mit", forderte Mark ihn auf.
„Okay", willigte er bereitwillig, aber etwas lustlos ein.
Sie liefen zum nahegelegenen großen Platz, der, bis auf eine kleine spärlich besuchte Imbissbude, die unscheinbar in einer Ecke stand, komplett menschenleer war. In der Mitte stand die Statue irgendeines mit Taubenkot verdreckten Kriegers. Schön, dass wenigstens die Tauben auf den Krieg scheißen können, blinzelte Danny hämisch dem Denkmalsoldaten zu. Niemand wusste, ob er jemand Bestimmtes darstellen sollte. Die Statue stand auf einem Podest, das von immerzu sauber gefegten Stufen umgeben war, auf die sich Mark, Malte, Ed und Danny nun setzten.
„Wer ist das gewesen?", fragte Danny neugierig.
„Weiß selbst nicht. Irgendein Modedesigner", antwortete Ed.
Das erinnerte Danny an seinen Vater Martin, der immer und ständig nur von Mode sprach. Was ist heute im Trend? Was ist out? Was passt nicht zu den Schuhen? Was passt nicht zum Hemd? Halt so ein richtiger Modefanatiker. Sich dieses Gelaber immerzu anhören zu müssen, tat auf die Dauer in den Ohren weh. Wieso sein Vater ständig davon redete, wusste er selber nicht. Einmal hatten er und sein Erzeuger in der Küche gegessen, während seine Mutter Tine abwusch. Martin plauderte vom neuesten Designerhemd. Wenn er so darüber redete, kam es Danny vor, als ob sein alter Herr damit versuche, jung zu bleiben, denn wenn er über Mode und sein Outfit sprach, sah er aus wie ein alt gewordener Jugendlicher. Und im Allgemeinen konnte Danny sich heute gar nicht mehr vorstellen, wie Martin und Tine damals zusammengekommen waren. Ein Liebesgeständnis hatte es jedenfalls bestimmt nicht gegeben. Als sie beide in der zehnten Klasse gewesen waren, hatten sie sich über Freunde kennengelernt, die sie wohl mehr oder weniger verkuppelt hatten. Sie hatten sich einfach gut verstanden, sonst nichts. Ganz allgemein hätte Danny gerne mal gewusst, wie eigentlich so eine Liebeserklärung funktionierte. Und überhaupt, was war Liebe? Er konnte sich das alles nicht so richtig vorstellen. Und wieso drängelte sich ausgerechnet Ed in diesen Gedanken?
„Und was machen wir jetzt hier?", fragte er in die Gruppe.
„Ach, uns war langweilig. Dachten, wir könnten etwas durch die Straßen laufen", antworteten sie ebenso gelangweilt.
Eigentlich wollte er wissen, wieso sie ausgerechnet hier auf diesem Platz waren, aber die Frage schien ihm jetzt deplatziert.
Mark zuckte mit den Schultern. „Zeit haben wir genug. Musst du um eine bestimmte Zeit zu Hause sein?"
Danny überlegte und schüttelte den Kopf.
Sie sahen zu, wie sich die Traube der Reporter langsam aufzulösen begann. Als der ältere Mann mit dem dunkelblauen Cowboyhut am Rand des Gehsteiges stand, rief Mark ihm schnoddrig und ohne nachzudenken zu: „Hey, Sie!"
Der Reporter schaute auf.
„Ja, ganz genau Sie!"
„Was ist, Junge?, keifte er genervt zurück. „Mann, was machst du denn da?
, flüsterte Ed. Mark hielt ihm eine Hand vor den Mund.
„Sagen Sie mal, wissen Sie, ob es hier in der Nähe einen guten Alkoholladen gibt?"
Alkoholladen? Komischer Ausdruck.
„Woher soll ich das wissen? Ich bin nicht von hier", rief der Cowboyverschnitt zurück.
Doch Mark grinste nur und blökte frech: „Ach so, entschuldigen Sie. Sie sehen nämlich ganz so aus, als wären Sie ein Alkoholiker."
Malte musste ein schelmisches Lachen unterdrücken, wobei der Mann bösartig auf Mark schaute: „Was sagst du da?"
„Ich habe nur gesagt, Sie sehen aus wie ein Alki, der bestimmt weiß, wo man hier einen fuseligen Schnaps herkriegt."
Der Mann steckte die Kamera in die Tasche seines abgetragenen, braunen Mantels, um gleich danach die Hände zu Fäusten zu ballen und sie drohend in Richtung der Jungen zu erheben.
„Lass jetzt weg, sagte Ed beunruhigt, aber Mark blieb sitzen. „Warte ab.
Ed wurde hibbeliger. Der Reporter kam mit hastigen Schritten über die Straße, doch bevor er sich weiter nähern konnte, fuhr ihm ein großer schwarzer Porsche vor die Nase. Erschrocken blieb er stehen. Sein Gesicht erstarrte und verlor jegliche Farbe.
„Du! Ich wäre deinetwegen fast überfahren worden!", fauchte der Reporter.
„Habe ich gesagt, Sie sollen über die Straße gehen, wenn ein Auto vorbeifährt?", hielt Mark ihm schadenfreudig entgegen.
Der Mann biss die Zähne zusammen, wandte sich fluchend von ihnen ab und watschelte wie eine Ente den Gehsteig hinunter.
„Na bitte", Mark schlug sich selbstzufrieden auf die Oberschenkel.
Auch wenn Danny das gerade eben Geschehene etwas übertrieben fand, musste