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Stummes Erbe: Ein Vogelsbergkrimi
Stummes Erbe: Ein Vogelsbergkrimi
Stummes Erbe: Ein Vogelsbergkrimi
eBook346 Seiten4 Stunden

Stummes Erbe: Ein Vogelsbergkrimi

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Über dieses E-Book

Vor zwei Jahren wurde eine 90jährige, bettlägerige Dame ermordet. Die Geschichte spielt in einem historischen Hofgut. Die Polizei hatte sechs Verdächtige, konnte den Mord jedoch keiner einzelnen Person nachweisen. Jetzt ermitteln ein pensionierter Kommissar und eine Krimiautorin erneut und versuchen in den inneren Kreis dieser verschworenen Gruppe vorzudringen. Ausgehend von dem Gedanken, dass vermutlich die zu Unrecht Verdächtigten inzwischen ihre Unschuld beweisen wollen. Gelingt es ihnen oder wird vielleicht noch ein weiterer Mord geschehen um das Geheimnis zu bewahren?
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum6. Apr. 2024
ISBN9783384194404
Stummes Erbe: Ein Vogelsbergkrimi
Autor

Cynthia Lotz

Cynthia Lotz wurde in Langen/Hessen geboren und zog mit 28 Jahren in den Vogelsberg. Zunächst studierte sie Jura in Frankfurt/Main, betrieb dann ein eigenes Weinlokal in Alsfeld/Vogelsbergkreis und danach folgten ein paar Jahre als Geschäftsführerin eines Tierheims. Dort lernte sie ihren Mann kennen und arbeitet von da an mit in seiner Tierarztpraxis. Nach einem beruflich sehr abwechslungsreichem Leben widmet sie sich nun ausschließlich dem Schreiben. Sie lebt mit ihrem Mann und Ihren Tieren in einem kleinen idyllischen Städtchen im Vogelsberg. In ihren Büchern versucht sie das Landleben in seiner ganzen Vielfalt zu zeigen und zu vermitteln, dass man modern und intelligent sein kann und gerne auf dem Land leben möchte. "Stummes Erbe" ist das erste Buch gemeinsame Buch mit Viola Euler und Herbert Jost-Hof. Davor veröffentlichte sie bereits eine Trilogie mit ihrer Protagonistin Nora Nieberg: 1. Sie verschwinden nicht 2. Der Tod kam zur blauen Stunde 3. Ein verhängnisvoller Stopp Auch diese drei Bücher sind bei Tredition erschienen.

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    Buchvorschau

    Stummes Erbe - Cynthia Lotz

    Prolog

    In Merschenrod geschieht nie etwas. So würde es jeder Außenstehende sehen. Aber hinter dicken Mauern herrscht das kalte Grauen. Wie überall anders auch.

    Merschenrod hat 317 Einwohnern und ist ein Ortsteil von Bergental im Vogelsbergkreis. Die Umgebung ist eine malerische Mittelgebirgslandschaft mit grünen Hügeln, undurchdringlichen Wäldern, kristallklaren Seen und schneebedeckten Gipfeln im Winter.

    Viele Bewohner pendeln täglich in die umliegenden Städte, um zu ihren Arbeitsplätzen zu gelangen. Hier jedoch, fernab der großen Metropolen, wo die Zeit langsamer zu vergehen scheint, verbergen sich Geschichten, die sich wie ein dunkler Schleier über das Dorf legen.

    Das Leben ist geprägt durch eine rege Vereinstätigkeit. Diese decken in ihrer Angebotsvielfalt die Interessen aller Altersgruppen ab.

    Weiterhin gibt es auch Präferenzen, die nicht der Struktur eines Vereins bedürfen und eher einem Club gleichen oder private Interessenverbände sind.

    Oberflächlich gesehen ist Merschenrod der idyllischste Ort, den man sich vorstellen kann. Doch hinter der friedlichen Fassade verbirgt sich ein Geheimnis, das nur darauf wartet, enthüllt zu werden.

    Kapitel 1

    Tag 1 – Donnerstag

    Es gab keinen Verein, den Rainer Werner interessant genug fand, um sich dort zu engagieren.

    Er war Kommissar im Ruhestand und nach einem Schlaganfall körperlich nicht mehr so mobil wie zuvor, da er seitdem unter leichten Lähmungserscheinungen in seinem linken Bein zu leiden hatte. Sein Verstand funktionierte aber immer noch so scharfsinnig wie zu seinen besten Zeiten. Seine Frau hatte ihn schon vor vielen Jahren verlassen und sein einziger Sohn hatte eine Französin geheiratet und lebte mit ihr in der Bretagne. Er hatte als Kommissar unzählige Fälle gelöst und konnte auf ein erfolgreiches Berufsleben zurückblicken. Dieses war sehr abwechslungsreich gewesen und die Arbeitszeiten füllten seine Tage aus. Wenn er abends heimkam, blieb meistens nicht mehr genug Zeit für irgendwelche Aktivitäten. Mit der Reinigung seiner Wäsche und der Wohnung sowie dem Einkaufen und Kochen war er völlig ausgelastet und froh, wenn er danach seine Füße hochlegen konnte und der Fernseher ihm ein Programm bot, welches nicht zu anspruchsvoll war. Seit seiner Pensionierung hatte sich dies jedoch grundlegend geändert. Seine Arbeitskollegen fehlten ihm und auch die geistige Anregung. Nachdem er den Schlaganfall überlebt und sich soweit regeneriert hatte, dass ein normales Leben wieder möglich war, wurde er sich seiner Vereinsamung bewusst.

    Er überlegte, ob er nicht ein paar Menschen zu regelmäßigen Treffen einladen sollte. Der Zweck könnte sein, Cold-Case-Fälle neu durchzusehen und eventuell zu lösen. Dies würde nicht nur seinen Geist anregen, sondern auch seine Einsamkeit mildern. Das Problem dabei war, dass er während seiner Berufstätigkeit so wenig Sozialkontakte außerhalb des Kommissariats hatte, dass er nun nicht wusste, wen er zu sich einladen sollte. Er war nach seiner Scheidung nach Merschenrod gezogen, weil es nur ein paar Kilometer von seinem Arbeitsplatz entfernt lag und die Miete für seine Wohnung sehr günstig war. Als Zugereister mit inzwischen 60 Jahren schloss man nicht so leicht Freundschaften. Seine ehemaligen Kollegen hatten tagsüber genug Fälle zu lösen und würden sich sicherlich nicht dazu bereit erklären, sich auch noch nach Feierabend damit auseinanderzusetzen. Privat kannte er nicht viele Menschen. Die Bäckerin und der Metzger, mit denen er gelegentlich über das Wetter sprach, hätten vermutlich kein Interesse daran. Auch nicht seine Nachbarn, die er höchstens traf, wenn sie gemeinsam Mülltonnen rausstellten oder wieder hereinholten. Die einzige Person, die ihm nach langem Nachdenken in den Sinn kam, war eine Autorin, die Krimis schrieb, welche in Bergental und Umgebung spielten. Leider war er ihr noch nie begegnet. Er überlegte, wie er sie von seiner Idee überzeugen könnte. Nach zwei Tagen war ihm noch immer nichts eingefallen. Völlig frustriert entschied er sich für einen Spaziergang durch den Ort. Er hoffte dabei auf eine Eingebung, wie er dieses Problem lösen sollte.

    Vor dem örtlichen Supermarkt gab es eine alte, frisch gestrichene Telefonzelle. Diese diente als Bücherzelle. Wer mochte, konnte dort Bücher hineinstellen oder sich welche mitnehmen. Direkt daneben stand eine Sitzbank aus Holz. Der Schriftzug an der Rückenlehne erklärte diese zur ‚Schwätzerbank‘. Er fragte sich, ob man sich auch daraufsetzen durfte, wenn man nicht mit jedem schwätzen, sondern nur ausruhen wollte. Die Schmerzen im Bein entschieden darüber, dass er sich die Frage mit ‚ja‘ beantwortete. Während seine Beschwerden langsam abklangen, kam eine Frau mit einem Bollerwagen voller Bücher vorbei und füllte die Bücherzelle auf. Als sie damit fertig war, setzte sie sich zu ihm, davon ausgehend, dass er ein Gespräch suchte. Sie stellte sich als diejenige vor, die die Bücherzelle betreute. Da er nicht unhöflich sein wollte, stellte auch er sich vor. Als er erwähnte, dass er Ex-Kommissar sei, strahlte die Frau über das ganze Gesicht.

    „Das ist ja fantastisch, dass ich Sie endlich einmal kennenlerne. Das habe ich schon länger vorgehabt. Mein Name ist Dajana Borowska, aber sicher kennen Sie mich besser als Jana Jackson, das ist mein Pseudonym, unter dem ich Regionalkrimis schreibe. Dürfte ich Sie vielleicht hin und wieder um fachmännischen Rat fragen, wenn ich für eines meiner Bücher ein Verbrechen plane und dafür Hintergrundinformationen benötige?" Dabei strahlte sie ihn mit einer Offenheit und Herzlichkeit an, die keinen Zweifel daran ließen, dass sie es auch so meinte.

    Das war der Zufall, mit dem man nie rechnete und der trotzdem gelegentlich eintrat. Rainer Werner freute sich sehr. Auch er strahlte Dajana Borowska an und erwiderte:

    „Das beruht auf Gegenseitigkeit. Seit Tagen denke ich darüber nach, wie ich mit Ihnen Kontakt aufnehmen könnte. Und nun haben uns glückliche Umstände hier zusammengeführt. Ich überlege, alte Cold-Case-Fälle neu zu recherchieren, und suche deshalb noch einige kriminalistisch interessierte Menschen, die sich beteiligen wollen. Hätten Sie Interesse und kennen vielleicht noch ein paar Personen, die sich dafür auch begeistern ließen?"

    „Ich wäre daran sogar sehr interessiert. Spontan fällt mir gerade niemand ein, der hierfür infrage käme, aber ich denke darüber nach. Haben Sie denn einen speziellen Fall im Visier, den sie zu bearbeiten gedenken?"

    „Es kam vor einiger Zeit hier im Ort zu einem Todesfall, der nie gelöst werden konnte. Dabei handelte es sich um eine 90-jährige, pflegebedürftige Dame, die vergiftet wurde. Ich nehme an, Sie haben davon gehört. Ich hatte damals nichts mit dem Fall zu tun, aber da ich in Merschenrod lebe, nun im Ruhestand bin, dachte ich, dass ich mir diesen Fall einmal näher ansehen und versuchen sollte, ihn mit Hilfe einiger intelligenter Köpfe zu lösen."

    Dajana Borowska blickte nervös auf ihre Uhr.

    „Leider bin ich jetzt etwas in Zeitdruck, aber sehr interessiert daran mitzuarbeiten. Hätten Sie denn heute Abend Zeit, mich zu besuchen? Dann könnten wir vielleicht schon das eine oder andere klären. Wie wäre es um 20 Uhr auf ein Glas Wein bei mir?"

    Rainer Werner sagte sofort begeistert zu. Sie gab ihm ihre Adresse, verabschiedete sich und machte sich eilig auf den Weg. Seine Schmerzen waren soweit abgeklungen, dass er wieder nach Hause gehen konnte. Zuvor kaufte er im Supermarkt noch eine Schachtel Pralinen, um sie abends als Gastgeschenk überreichen zu können.

    ***

    In Merschenrod wohnte kein Merschenröder weit entfernt von einem anderen Merschenröder. Da das Wetter einen angenehmen Frühlingsabend versprach, machte Rainer Werner sich rechtzeitig zu Fuß auf den Weg. Er hatte sich zu diesem Anlass für seinen besten Anzug entschieden. Lange hatte er darüber nachgedacht, ob das zu förmlich sei und ob er nicht lieber etwas Lässigeres anziehen sollte. Sein Kompromiss sah vor, zu seinem Anzug anstelle von Hemd und Krawatte ein T-Shirt zu tragen. Er war noch immer ein sehr attraktiver Mann. Der Schlaganfall hatte seine linke Körperhälfte gelähmt, aber dank der Reha und einem starken Willen, mittels Physiotherapie, wieder der Alte zu werden, war davon nur noch übriggeblieben, dass er sein linkes Bein etwas hinterherzog. Ein paar Minuten vor acht stand er vor Dajana Borowskas Haus. Es handelte sich dabei um ein kleines, aber außergewöhnliches Objekt. Es befand sich am Ende des Ortes, abseits der Hauptstraße, hatte einen blasslavendelfarbenen Anstrich und dunkelgrün gestrichene alte Fensterläden. An der einen Hauswand wuchs wilder Wein empor. Im Vorgarten stand eine steinerne Bank mit einer lebensgroßen lesenden Steinfigur darauf. Zu deren Füßen lag ein ebenfalls steinerner schlafender Hund. Um dieses Arrangement herum sah man begehbare, bereits mit winzigen weißen Blüten bestückte Bodendecker. Eingerahmt wurde das alles durch viele Lavendelsträucher und Rosenbüsche. Im Hochsommer würde das fantastisch aussehen. In diesem harmonischen Bild wirkten die geschickt verborgenen Überwachungskameras wie Fremdkörper. Wahrscheinlich würde ein weniger geschulter Blick als der des Kommissars diese überhaupt nicht wahrnehmen. Wozu benötigte Sie diese? Pünktlich um 20 Uhr klingelte Rainer Werner bei Dajana Borowska an der Haustür.

    Sie öffnete ihm und ihr Anblick verschlug ihm die Sprache. An der Bücherzelle sprach er mit einer sportlichen Frau in Jeans und Sneakers mit kurzer Lederjacke und einer Kappe auf ihrem Kopf, unter die sie ihre Haare gesteckt hatte. Nun stand er einer Frau gegenüber, bei deren Anblick ihm sofort der Begriff ‚Femme fatale‘ einfiel. Sie hatte lange, rote, lockige Haare und strahlend grüne Augen. Sie trug ein wunderschönes Kleid, das aus einem engen Oberteil in der Farbe ihrer Augen bestand und in einem roten, weiten, wadenlangen Rock endete, der die gleiche Farbe hatte wie ihr Haar. Rot-grüne Muster zogen sich über das gesamte Kleid. Er hätte sie damit zum Traualtar geführt, aber sie trug es mit einer Lässigkeit, dass er den Verdacht hegte, dass es für sie nicht mehr als ein bequemes Hauskleid war. Es war ihm schon lange nicht mehr passiert, dass eine Frau ein solch heftiges Verlangen in ihm auslöste. Seit seine Frau ihn verlassen hatte, war er keine feste Beziehung mehr eingegangen. Gelegentlich hatte es bedeutungslose One-Night-Stands gegeben, wenn er in Hotels auf Fortbildung war, aber darüber hinaus hatte sich nie etwas entwickelt. Mit ihr konnte er sich jedoch alles vorstellen. Er hätte nie damit gerechnet, dass ihm so etwas noch einmal passieren würde. Dajana bat ihn herein und er folgte ihr, noch immer die Pralinenschachtel in der Hand. Auch das Innere des Hauses passte zum ersten äußeren Eindruck. Das Erdgeschoß bestand aus einem kleinen Flur mit Garderobe sowie Gästetoilette und im Anschluss daran folgte ein großer offener Raum. In diesem befanden sich die Küche, der Essbereich und das Wohnzimmer. Die Küche wurde durch einen Tresen vom Wohnbereich getrennt. Vor dem Tresen stand ein Esstisch für acht Personen. Im eigentlichen Wohnraum befand sich ein weißes schmiedeeisernes Bettsofa mit sehr vielen Kissen. Ihm gegenüber standen mehrere weiße Ledersessel und dazwischen ein niedriger Glastisch, auf dem einige Bücher lagen. Die Fußbodendielen waren, genau wie die einzelnen Fachwerkbalken, die die Bereiche voneinander trennten, weiß lackiert. Der Putz an den Wänden war blasshellgrün gestrichen und die wenigen Teppiche hatten die gleiche Farbe. An einer Wand standen prall gefüllte Bücherregale, an den anderen hingen viele Bilder. Vor der hinteren Wand führte eine Treppe in die obere Etage. Rainer Werner fühlte sich in dieser Wohnung sofort wohl. Sie wirkte einladend und freundlich. Noch immer hielt er die Pralinenschachtel in der Hand. Würde er sie ihr nicht bald geben, würde die Hitze seiner Hände die Pralinen zu einer unförmigen Schokoladenmasse schmelzen. Die Packung weit von sich streckend überreichte er sie ihr. Sie bedankte sich und bat ihn, Platz zu nehmen.

    Während sie die Schachtel in die Küche brachte und mit zwei Gläsern und der bereits geöffneten Flasche Wein in der Hand wiederkam, stand er noch immer unschlüssig mitten im Raum. Sich auf das Bettsofa zu setzen wäre ihm zu intim vorgekommen, der Esstisch zu förmlich und bei den Sesseln wusste er nicht, für welchen er sich entscheiden sollte. Sie löste das Problem, indem sie die Flasche und die Gläser auf den Esstisch stellte. Dort stand schon eine Schale mit Snacks sowie zwei Wassergläser und eine Karaffe mit Wasser. Er setzte sich und wusste nicht genau, wie er die Unterhaltung beginnen sollte. Auch dieses Problem löste sie, indem sie das Gespräch eröffnete, während sie den Wein einschenkte. Offensichtlich war sie gut im Problemlösen. Das gefiel ihm.

    „Ich freue mich sehr, dass Sie meiner Einladung gefolgt sind. Seit heute Vormittag habe ich ununterbrochen über ihren Vorschlag nachgedacht und inzwischen auch ein paar Ideen dazu. Ich will Ihnen aber nicht vorgreifen. Erzählen Sie doch bitte, wie Sie sich das vorgestellt haben. Aber erst einmal ‚Prost, auf eine erfolgreiche Zusammenarbeit‘."

    Sie erhob ihr Glas und stieß mit ihm an.

    „Vielen Dank für die Einladung. Zunächst möchte ich Ihnen sagen, dass Sie ein sehr schönes, geschmackvolles Haus und Grundstück haben. Dazu passt auch dieser ausgezeichnete Wein." Er wollte ihr noch weitere Komplimente über ihre Augen, ihre Haare, ihre Figur und ihr Kleid machen, aber selbst ihm war klar, dass er sich in einer Art Hormonrausch befand und dass dies etwas übertrieben wirken würde. Deshalb fuhr er sachlicher fort:

    „Gerne will ich Ihnen meine Vorstellungen unterbreiten. Ich dachte, es sei eine gute Idee, eine Gruppe von kriminalistisch interessierten Menschen zu suchen, welche sich regelmäßig treffen, um über alte, ungelöste Fälle zu sprechen. Polizisten, so sie nicht im Ruhestand sind, fügte er hinzu, „kommen hierfür eher nicht infrage, da sie in ihrer Freizeit nicht auch noch ihrem Beruf nachgehen möchten. Leider stamme ich nicht von hier und war vor meiner Pensionierung beruflich so stark eingespannt, dass ich hier kaum Sozialkontakte habe und darum niemanden kenne, der sich dafür interessiert. Auch wenn wir uns noch nie persönlich begegnet waren, hatte ich natürlich schon von Ihnen gehört. Ihr Ruf als Autorin von sehr spannenden Kriminalromanen eilt Ihnen voraus. Deshalb kam mir der Gedanke, Sie zu fragen, ob Sie an einem solchen Projekt Interesse hätten. Soviel ich weiß, stammen Sie hier aus dem Ort und kennen bestimmt viele Leute, die ebenfalls infrage kämen.

    „Ich freue mich sehr darüber, dass uns der Zufall heute früh zueinander geführt hat. Solch ein Projekt finde ich ausgesprochen spannend und erhoffe mir dadurch natürlich auch, Einblicke in die professionelle Polizeiarbeit zu bekommen, die ich dann in meinen Kriminalromanen verwenden kann. Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass mir nicht viele Menschen eingefallen sind, die eine Bereicherung für ein so ein Vorhaben darstellen würden. Entweder sind die Leute, die mir einfielen, intelligent, aber ihnen fehlt die nötige Fantasie, oder sie haben mehr Fantasie als Intelligenz, was auch nicht gerade hilfreich ist. Deshalb kam mir ein anderer Gedanke. Ich kenne natürlich keine Polizeiinterna, aber ich hörte, wie jeder andere Merschenröder auch, dass einige Personen im direkten Umfeld der toten Dame verdächtigt wurden. Wie Sie schon sagten, stamme ich aus Merschenrod, kenne hier fast alle Einheimischen und somit auch die Leute, die in Zusammenhang mit dem von Ihnen erwähnten Fall stehen. Diese Menschen sind eng miteinander verwoben und jemand außerhalb dieser Gruppe wird es bis heute schwer haben, an andere Informationen zu kommen als die bisher bekannten. Allein schon aus diesem Grund würde es wenig Sinn machen, irgendwelche kriminalistisch Interessierte, ohne Zugang zum internen Zirkel, in die Ermittlungen einzubeziehen. Das bedeutet, dass man in diesen Kreis eindringen muss, um diesen Fall zu lösen. Aber wie gelingt das? Da der Fall nie aufgeklärt wurde, schwebt über allen damals Verdächtigen noch immer der Verdacht, ein Mörder zu sein. Gerade in so einem kleinen Ort kann dies zu einer starken persönlichen Belastung führen. Meine Überlegungen gehen nun in folgende Richtung: Jeder der Beschuldigten hat mit Sicherheit ein starkes Interesse daran, endlich seine Unschuld zu beweisen. Den Mörder oder die Mörderin schließe ich dabei natürlich aus. Um in diesen Kreis vorzustoßen, habe ich mir nun Folgendes überlegt: Warum sollte man also nicht die damals Verdächtigten einladen, sich an der endgültigen Aufklärung dieses Falles zu beteiligen?"

    Rainer Werner blickte Dajana sprachlos an. Auf diese Idee war er überhaupt nicht gekommen. Selbst wenn ihm dieser Gedankengang gekommen wäre, hätte diese Personengruppe niemals seine Einladung angenommen. Wenn allerdings Frau Borowska die Einladungen aussprechen würde, wäre es vorstellbar, dass solch ein Treffen durchaus zustande kommen könnte.

    „Das ist eine hervorragende Idee. Ich bin begeistert. Meinen Sie diese Personen nehmen Ihre Einladung an?"

    „Ich denke, es ist einen Versuch wert. Da ich in den Fall nicht näher involviert war, benötige ich natürlich von Ihnen die Namen der Verdächtigen."

    „Damals wurde Edeltraud von Heideberg mit Gift ermordet. Sie war 90 Jahre alt und bereits seit geraumer Zeit bettlägerig. An dem Tag ihres Todes waren sechs Personen in ihrer Wohnung. Jede dieser Personen hatte die Gelegenheit, das Gift in ihren Tee zu geben. Der Polizei gelang es nicht, dies einer Person nachzuweisen. Bei den Verdächtigen handelt es sich um den 65-jährigen Sohn der Toten, Hubertus von Heideberg, um die 60-jährige Schwiegertochter Hildegard von Heideberg und um deren gemeinsame Tochter, die 38-jährige Helene von Heideberg. Weiterhin hielten sich am Todestag von Edeltraud von Heideberg auch die Haushälterin Gerlinde Hill, die Pflegerin Karin Weber und der Nachbar Gerd Blössel in deren Wohnung auf."

    Dajana Borowska hatte sich die Namen notiert.

    „Ich kenne diese Personen entweder persönlich oder zumindest vom Namen her. Ich denke, es wird kein Problem sein, sie einzuladen. Wo sollen diese Treffen abgehalten werden und haben Sie eine konkrete Vorstellung davon, wann und wie oft diese stattfinden sollen?"

    Über die Frage des Ortes hatte der Kommissar sich noch keine Gedanken gemacht. Sicher war jedenfalls, dass ein solches Treffen mit so vielen Menschen, unmöglich in seiner Wohnung vonstatten-gehen könnte. In seiner Fantasie hatten immer ein paar ältere Männer mit ihm zusammen bei ein paar Flaschen Bier gesessen und mit ihm einen Fall erörtert. Nun war die Zusammensetzung der Gruppe jedoch völlig anders und passte weder in seiner Vorstellung noch in der Realität in seine Wohnung. Dajana Borowska sah ihn an und konnte offensichtlich seine Gedanken lesen.

    „Was halten Sie denn davon, wenn wir uns in der Wohnung der Toten treffen? Soviel ich weiß, steht diese noch immer leer. Auf dem Anwesen gibt es auch Nebenräume für Veranstaltungen, die dafür geeignet wären. Falls das nicht geht, könnten wir uns auch im Nebenraum einer Gaststätte treffen. Notfalls auch bei mir."

    Rainer Werner hätte es schön gefunden sich bei ihr zu treffen, aber offensichtlich präferierte sie diesen Ort nicht. Eine Gaststätte hielt er für völlig ungeeignet, egal ob im Haupt- oder Nebenraum. Den Gedanken an den Tatort als Treffpunkt fand er hingegen gar nicht schlecht.

    „Die Wohnung der Toten wäre eine gute Idee. Allerdings hege ich Zweifel, ob dem die Angehörigen zustimmen."

    „Mehr als ‚Nein‘ können sie nicht sagen. Lassen Sie es mich wenigstens versuchen. Irgendeinen passenden Ort finden wir schon. Haben Sie denn bereits über den zeitlichen Ablauf nachgedacht?"

    „Ich dachte, bei der ersten Zusammenkunft stellen wir uns kurz vor, ich berichte darüber welche Fakten in der Polizeiakte stehen und gebe noch ein paar weitere Hinweise preis. Danach hat einer der Anwesenden ein paar Tage oder eine Woche Zeit, um eigene Informationen zu sammeln und uns dann beim nächsten Treffen seine Ergebnisse und möglicherweise die Tatperson zu präsentieren. Diese Sachverhalte fließen dann auch in den Wissensstand der nachfolgend Vortragenden ein. Ich hoffe, dass mit jedem Abend das Gesamtbild deutlicher erkennbar sein wird und wir vielleicht schneller als erwartet den Täter oder die Täterin überführen können. Was die Uhrzeit angeht, schlage ich 20 Uhr vor, da doch einige der genannten Personen noch berufstätig sind."

    „Ich vermute, dass die Anwesenden sich bereits genügend Gedanken gemacht haben. Mit wirklich neuen Erkenntnissen ist meiner Meinung nach nicht zu rechnen. Sie werden wahrscheinlich höchstens ein paar Tage benötigen, um ihre Sichtweisen zu formulieren und vortragen zu können."

    Das erschien Rainer nachvollziehbar.

    „Dann schlage ich vor, wir verbleiben so, dass Sie zunächst mit den Verdächtigen Kontakt aufnehmen und sie fragen, ob sie bereit wären, mitzumachen und vielleicht sogar Räumlichkeiten dafür zur Verfügung zu stellen."

    Dajana Borowska nickte und schenkte erneut Wein nach. Offensichtlich empfand sie den Abend noch nicht als beendet.

    „Das werde ich tun. Gab es damals denn schon einen Hauptverdächtigen?"

    „Wenn ich das verraten würde, dann wäre die bevorstehende Veranstaltung nicht einmal halb so spannend, wie sie es werden könnte." Ein süffisantes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. Dieses Lächeln erwiderte sie jedoch nicht, sondern antwortete in Gedanken versunken:

    „Ich hoffe sehr, dass sich der Fall endgültig lösen lässt. Es würde all jenen, die unschuldig sind, eine schwere Last von den Schultern nehmen."

    Danach trank sie ihren Wein mit einem Schluck aus und sah auf ihre Uhr.

    Rainer Werner interpretierte das so, dass der Abend aus ihrer Sicht nun doch beendet war. Er konnte aber seinen Wein nicht so schnell austrinken, deshalb fragte er sie:

    „Hat es Sie nie in die Welt hinausgetrieben? Wollten Sie immer hier in Merschenrod bleiben?"

    Erstaunt blickte sie ihn an, als wäre sie überrascht, dass er noch immer hier war. Gab dann jedoch bereitwillig Auskunft:

    „Ich bin hier geboren. Dieses Haus ist mein Elternhaus. Schon meine Großeltern haben hier gewohnt. Sobald ich alt genug war, Merschenrod zu verlassen, habe ich das getan. Direkt nach dem Abitur bin ich ein Jahr gereist und habe dann in Paris und London jeweils ein Semester studiert. Fragen Sie mich bitte nicht was. Denn das hatte letztendlich keine Bedeutung. In Wirklichkeit studierte ich Menschen und die Nachtclubs. Diese Zeit finanzierte ich durch Aushilfsjobs, die hauptsächlich darin bestanden zu kellnern. Nach etwas über zwei Jahren kam ich zu Besuch nach Hause. Meine Eltern waren zu diesem Zeitpunkt bereits krank und starben innerhalb von wenigen Monaten. Ich habe beide bis zu ihrem Tod gepflegt. Sie hinterließen mir dieses Haus und einen größeren Geldbetrag. Diesen gab ich für meinen Lebensunterhalt aus, als ich in Marburg begann Germanistik zu studieren und nebenbei ein Volontariat bei einer kleinen Tageszeitung machte. Als freiberufliche Journalistin verdiente ich dann mein Geld. Es reichte, um Stück für Stück das Haus zu renovieren sowie mich und mein Auto zu finanzieren. Außerdem gab es mir die Gelegenheit, Bücher zu schreiben. Mit dem fünften Buch gelang mir der finanzielle Durchbruch. Seit dieser Zeit lebe ich ausschließlich vom Bücherschreiben. Ich habe danach ein paar Jahre in Berlin gelebt, aber dann zog es mich wieder in die Heimat zurück. Ich kenne die Merschenröder gut und sie kommen in allen meinen Büchern vor. Aber bisher gab es keinen Mordfall in Merschenrod, über den ich hätte schreiben können. Der Mord an Edeltraud von Heideberg war mir zu nah an meinem Lebensbereich, als dass ich ihn schriftstellerisch verwenden wollte. Aber durch ihren Ansatz kann sich daran etwas ändern."

    Rainer Werner hatte inzwischen seinen Wein ausgetrunken. Er blickte auf die Uhr.

    „Es war ein sehr netter und aufschlussreicher Abend bei Ihnen. Ich bedanke mich recht herzlich für Ihre Einladung. Hier ist meine Visitenkarte. Sobald Sie mit den Verdächtigen gesprochen haben, können Sie mich anrufen. Sollte es Ihnen gelungen sein, auch noch eine Örtlichkeit für die Treffen zu finden, können Sie auch gleich den ersten Termin dafür ausmachen. Ich als Rentner habe immer Zeit."

    Beide standen gleichzeitig auf, sie brachte ihn zum Ausgang und bedankte sich für seinen Besuch. Sobald er ihr Haus verlassen hatte, schloss sie die Tür hinter ihm. Er hätte es schöner gefunden, wenn sie ihm zum Abschied lächelnd nachgewunken hätte. Der Abend war noch jung und er machte noch einen kleinen Umweg, bevor er nach Hause ging. Ziel des Umweges war es, sich das Anwesen der von Heidebergs anzusehen. Es war ein Gutshof mit mehreren Nebengebäuden, die in ihrer Gesamtheit einen runden, in sich geschlossenen Verband darstellten. Von außen gesehen wirkte der Hof abweisend und glich eher einem Gefängnis als einem attraktiven Hofgut. Was sich in den einzelnen Gebäuden befand, wusste er nicht, da er lediglich um die Anlage in der Dorfmitte herumgehen konnte, aber keine Möglichkeit hatte, einen Einblick zu bekommen. Er hoffte, dass sich dies ändern würde, falls es Dajana Borowska gelang, die Treffen dort zu organisieren. Er ging beim Dönerstand vorbei und bestellte sich einen Döner zum Mitnehmen. Nachdem er wieder daheim war, öffnete er eine Flasche Bier, schaltete den Fernseher ein und aß seinen Döner, während er versuchte, frühzeitig herauszubekommen, wer der Mörder im Krimi war. Er kam zum Ergebnis, dass die Drehbuchschreiber weder fantasiebegabt noch fachlich kompetent waren. Der Täter erschien jedes Mal in den ersten fünf Minuten und war stets der nette Unverdächtige. Auch dieses Mal war es so. Nach Ende des Krimis schaltete er den Bildschirm aus und nahm das bereits angefangene Buch zum Lesen in die Hand. Seine Gedanken glitten jedoch immer wieder zu Dajana Borowska. Er legte das Buch zur Seite, ging ins Bett und stellte sich vor, sie käme herein, ließ ihr wunderschönes Kleid zu Boden gleiten und hätte darunter nichts als ihre nackte Haut, die durch den Mond, der durchs Fenster schien, in magisches Licht getaucht war.

    Tag 3 – Samstag

    Dajana Borowska rief Rainer Werner zwei Tage später an.

    „Guten Morgen, Herr Werner. Ich hoffe, ich störe Sie gerade nicht."

    „Guten Morgen, Frau Borowska. Sie stören nie. Wie geht es Ihnen? Konnten Sie bereits etwas erreichen?"

    „Gut, danke. Ja. Tatsächlich ist es mir gelungen, mit allen, damals Verdächtigen, Kontakt aufzunehmen. Sie sind bereit, sich an der Aufklärung des Falles zu beteiligen. Vielleicht können nicht alle bei jedem Treffen dabei sein, aber sie versuchen es. Weiterhin ist die Familie damit einverstanden, dass diese Zusammenkünfte im Anwesen der von Heidebergs stattfinden. In der Wohnung der Verstorbenen möchte es die Familie nicht, allerdings haben sie einer Führung durch die Räumlichkeiten zugestimmt, damit auch Sie sich ein Bild von den örtlichen Gegebenheiten machen können. Eines der Nebengebäude war früher eine Kapelle und wird heute für Veranstaltungen und private Feiern genutzt. Dort ist Platz genug. Dieser Raum würde sich für unsere Zusammenkunft anbieten. Ich könnte ein Flipchart oder einen Overheadprojektor zur Verfügung stellen. Das erste Treffen könnte schon bald stattfinden. Sie müssen nur

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