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{{Dieser Artikel|behandelt die Form des Märchens. Zur Buchreihe siehe [[Volksmärchen (Akademie-Verlag)]].}}
[[Datei:Aschenputtel-Richter.JPG|250px|rightrechts|mini|Das Märchen von [[Aschenputtel]] - Zeichnung von [[Ludwig Richter|Adrian Ludwig Richter]]]]
'''Volksmärchen''' stellen eine [[tradition]]elle Form des [[Märchen]]s dar.
Sie basieren auf mündlich überlieferten Stoffen und haben im Gegensatz zum direkt niedergeschriebenen [[Kunstmärchen]] keine feste Textgestalt, die sich auf einen einzelnen Verfasser zurückführen ließe. Bevor sie von Sammlern fixiert und redigiert wurden, existierten sie in unterschiedlichen Erzählversionen.
 
== Gattungsmerkmale ==
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=== Inhaltlich ===
Merkmale:
* Unbestimmtheit von Orts- („Vor einem großen Walde...“, „Vor eines Königs Palast stand ein prächtiger Birnbaum...“) und Zeitangaben („Es war einmal ...“, „Vorzeiten lebte ein König...“): Anders als bei [[Sage]]n oder [[Legende]]n ist das Märchen geografisch und historisch explizit nirgendwo verankert. Allerdings weist z.&nbsp;B. Robert Darnton auf viele implizite Bezüge zur historischen Situation zur Zeit der schriftlichen Fixierung der Märchen hin.<ref>Robert Darnton: ''The Great Cat Massacre and Other Episosed in French Cultural History.'' New York 1985.</ref>
* Es erscheinen sprechende Tiere und Pflanzen, die mit dem Helden als Helfer oder Gegner in Kontakt treten.
* Phantasiewesen wie Riesen, Zwerge, Elfen, Nixen, Trolle, Hexen, Zauberer und (gute oder böse) Feen erscheinen, auch Fabeltiere wie Drachen und Einhörner.
* Fantastische Ereignisse finden sich mitten im Alltäglichen: So zum Beispiel ein Stein, der sich in einen Goldklumpen verwandelt, ein Berg, der sich öffnet und einen Schatz freigibt, oder ein Lebkuchenhaus auf einer Waldlichtung.
* Wiederholungsstruktur: zum Beispiel trifft der Held oft auf drei zu lösende Rätsel oder Aufgaben.
 
Im Mittelpunkt steht ein Held, der sich oft aus seiner anfänglichen Benachteiligung (er ist zum Beispiel ein Stiefkind, der Jüngste, der scheinbar Dümmste usw.) befreit bzw. von Helfern befreit wird, dann zu Glück und Wohlstand gelangt. Die Ausgangssituation ist meist gekennzeichnet durch eine Notlage, eine Aufgabe oder ein Bedürfnis. Eine Aufgabe kann etwa darin liegen, einen kostbaren Gegenstand zu finden, ein [[Rätsel]] zu lösen oder einen verwunschenen Menschen zu erlösen. Um die Aufgabe zu bewältigen, muss der Held oft sein Leben aufs Spiel setzen. Neben dem Helden treten auch weitere typische Gestalten auf: der Gegner, der Helfer, der Neider, der Ratgeber und der Gerettete bzw. der zu Rettende. Während des Ablaufs der Geschichte können immer wieder [[magisch]]e oder übernatürliche Elemente auftauchen. Ein glücklicher Ausgang ist jedoch nicht immer gewährleistet.
 
Charakteristisch für das Märchen ist insbesondere auch der scharfe Gegensatz zwischen [[Das Gute|Gut]] und [[Das Böse|Böse]], wobei meist das Gute belohnt und das Böse bestraft wird. Dennoch gibt es auch ambivalente Charaktere im Märchen. Märchen haben oft einen durchaus grausamen oder gewalttätigen Inhalt, vor allem wenn es um die Bestrafung von Bösewichtern geht, und sind daher in ihrer Wirkung auf Kinder umstritten.
 
=== Stilistische Kennzeichen ===
Volksmärchen sind leicht verständlich, besitzen einfache Strukturen und einen bildhaft anschaulichen Stil. Dadurch sind sie auch der kindlichen Vorstellung zugänglich, aber ursprünglich keineswegs für Kinder gedacht. Charakteristische Stilmerkmale sind (nach [[Max Lüthi (Literaturwissenschaftler)|Max Lüthi]] ''Das Europäische Volksmärchen''):
 
* Formelhaftigkeit: Das Märchen, vor allen Dingen das Volksmärchen, zeichnet sich durch wiederkehrende Eingangs- und Schlussformeln aus, die es für den Leser oder Zuhörer als solches leicht erkennbar machen. So zum Beispiel Anfangsformeln wie „Es war einmal...“ oder Schlussformeln wie: „...und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.“
 
* Wirklichkeitsferne: [[Sublimierung (Psychoanalyse)|Sublimierung]] als „Entwirklichung“ sowohl des Magischen als auch des Alltäglichen: Die Motive, die in einem Volksmärchen vorkommen, entstammen zwar der Wirklichkeit. Sie werden aber durch magische und mythische Elemente entwirklicht. So nimmt das Märchen stets die ganze Welt in den Blick, nicht nur ein individuelles Schicksal.
 
* Eindimensionalität der Wirklichkeitswahrnehmung: Das [[Diesseits]] und das [[Jenseits]] sind miteinander verbunden, ohne dass beide besonders unterschieden wären. Der Diesseitige stellt sich nicht vor, im Jenseits in einer völlig unterschiedlichen Dimension zu sein.
 
* Flächenhaftigkeit: Den Figuren eines Märchens fehlt es sowohl an körperlicher, als auch an seelischer Tiefe. Des Weiteren werden in den Volksmärchen nur spärlich Körper- bzw. Charaktereigenschaften von Figuren genannt, abgesehen von rein physischer Kraft oder besonderen Kunstfertigkeiten.
 
* Abstrakter Stil: Volksmärchen bestehen aus mehreren aneinandergereihten Gliedern. In Märchen gibt es keine Gleichzeitigkeit verschiedener Ereignisse. Die Erzählperspektive ist immer die des Helden, und es werden nur die wichtigsten Personen vorgestellt.
 
* [[Soziale Isolation|Isolation]] und Allverbundenheit: In den Volksmärchen geht der Held in aller Regel alleine seinen Weg. Diese Isolation erlaubt dem Helden aber Verbundenheit mit allen und allem.
 
* Zahlensymbolik: Dreizahl tritt häufig auf und dient der Einprägsamkeit einzelner Textpassagen in Reimen und Handlungsabläufen. So muss der Held beispielsweise eine bestimmte Handlung dreimal durchführen oder drei verschiedenen Hindernisse überwinden, um ans Ziel zu gelangen. Ähnliches gilt für die Zahlen sieben und dreizehn.
 
* Sympathieträger sind die Armen, Dummen, Naiven, Hungrigen, Schwachen, Jüngsten. Sie erscheinen am Ende der Handlung meist als die Erfolgreichen, die alle Gefahren überwunden und ihr Glück gemacht haben.
 
== Publikationsgeschichte ==
Volksmärchen waren bis zur Erfindung des Buchdrucks mündlich tradierte Prosaerzählungen des geschilderten Inhalts. Sie wurden ursprünglich (und werden im Orient z.&nbsp;T. heute noch) von einem Erzähler einem Zuhörerkreis professionell mit einer bestimmten Aufführungspraxis in Sprache, [[Gestik]] und [[Mimik]], aber auch von Märchenkundigen in der Familie vorgetragen. Keineswegs waren und sind nur Kinder das Publikum.
 
[[Datei:Grimm.jpg|mini|Die [[Brüder Grimm]]]]
Die ältesten europäischen Volksmärchensammlungen stammen von [[Giovanni Francesco Straparola]] (Ergötzliche Nächte, 1550), [[Giovanni Battista Basile]] (Pentameron, 1634) und [[Charles Perrault]] (1696/97). Die deutschsprachige Publikationstradition beginnt im 17. Jahrhundert mit [[Johannes Praetorius (Schriftsteller)|Johannes Praetorius]]. Weltgeltung erlangt haben aber insbesondere die 1812 erstmals veröffentlichten ''Kinder- und Hausmärchen'' der [[Brüder Grimm]]. Weitere bekannte deutsche Volksmärchensammler und -herausgeber waren [[Ludwig Bechstein]] (1801–1860) mit seinem ''Deutschen Märchenbuch'' (1845) und [[Johann Karl August Musäus]] (1735–1787) mit seinen ''Volksmärchen der Deutschen'' (1782–1786).
In Österreich war es [[Franz Ziska]], der 1819 in den ''Wöchentlichen Nachrichten'' das Märchen ''Da Schneida und da Ries'' gedruckt veröffentlichte. Diese Erzählung einer Bäuerin aus Döbling wurde 1843 auch in die Sammlung der Brüder Grimm aufgenommen. ''Tiroler Volksmärchen'' erschienen 1852 von den Brüdern Zingerle unter dem Titel ''Kinder- und Hausmärchen aus Tirol''. Weitere umfangreiche Sammlungen trugen [[Theodor Vernaleken]] mit den ''Alpenmärchen'' (1863) und Karl Haiding mit ''Österreichs Märchenschatz'' (1953) zusammen. Eine weitere überregionale Märchenausgabe, die neben Haidings Werk als repräsentativ für Österreich gelten konnte, war die Sammlung des Wiener Schuldirektors Karl Haller von 1915<ref>Christoph Schmitt: Homo narrans - Studien zur populären Erzählkultur, Waxmann Verlag, Münster 1999, S. 126. Siehe: Karl Haller (1915): „Volksmärchen aus Österreich“. Wien/Stuttgart/Leipzig.</ref>.
 
Zum Typ der Volksmärchen ist auch die orientalische Sammlung ''[[Tausendundeine Nacht]]'' zu rechnen, deren Ursprünge bis ins 9. Jahrhundert zurückreichen, die aber erst im 16./17. Jahrhundert in [[Ägypten]] niedergeschrieben wurde und publiziert wurde. Heute sind Märchen aus allen Kulturen der Erde bekannt und werden immer umfangreicher auch in vielen Übersetzungen veröffentlicht.
 
== Typologie des Volksmärchens ==
Bekannt wurde das Volksmärchen als [[Gattung (Literatur)|Gattungsbegriff]] durch die [[Brüder Grimm|Brüder Jacob und Wilhelm Grimm]].
Nach ihnen gibt es drei Typen von Volksmärchen:
* das Tiermärchen, in dem dankbare und hilfreiche Tiere auftreten,
* das [[Schwank|schwankhafte Märchen]], bei dem das Komisch-Scherzhafte im Vordergrund steht, und
* das so genannte „eigentliche Märchen“, das sich von den beiden erstgenannten Typen durch Mehrgliedrigkeit abhebt und sich wiederum in drei Formen untergliedern lässt:
** [[Legende]]nartige und [[Novelle|novellenartige]] Märchen,
** [[Zaubermärchen]] oder Wundermärchen, bei denen das [[phantastisch]]e Geschehen im Mittelpunkt steht, und
** Märchen vom dummen [[Riese]]n/[[Teufel]].
 
Einen besonderen Typus stellt das '''Feenmärchen''' dar. Feen (franz. fée = Fee) sind gutartige oder boshafte Frauen aus einem übernatürlichen Reich, die mit normalen Menschen in Beziehung treten. Oft sind diese Frauen Zauberinnen oder in Anlehnung an [[Naturgeist]]er oder [[Schicksalsgöttin]]nen konzipiert. Das Motiv der Fee als [[Pate|Patin]] tritt oft auf.
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Die [[Motiv (Literatur)|Motive]] der Volks- und Kunstmärchen speisen sich aus den unterschiedlichsten Traditionen. Viele von ihnen stammen in ihrer ursprünglichen Form aus dem [[Orient]] und wurden zur Zeit der [[Kreuzzüge]] nach [[Europa]] gebracht. Daneben wurden insbesondere [[Kelten|keltische]] und [[Germanen|germanische]] [[Mythos|Mythen]] verarbeitet. Das deutsche Märchen [[Frau Holle]] geht wahrscheinlich auf eine [[vorchristlich]]e [[Gottheit]] zurück. Motivzusammenhänge bestehen auch mit [[Heldenepos]] und [[Tierfabel]].
 
Im internationalen Vergleich ist festzustellen, dass gleiche Motive in unterschiedlichen Ländern und [[Kulturkreis]]en auftauchen. Teilweise ist dies mit der normalen gegenseitigen Beeinflussung zu erklären. Soweit eine solche aber unwahrscheinlich ist – etwa weil die betroffenen Kulturkreise zumindest zur Entstehungszeit der Märchen keinen nachweislichen Kontakt hatten –, wird als Erklärungsansatz häufig die von [[Carl Gustav Jung]] entwickelte sog. [[Archetyp (Psychologie)|Archetypenlehre]] herangezogen. Hiernach verfügt die Menschheit über ein [[Kollektives Unbewusstes]] mit einem Vorrat bestimmter gemeinsamer Vorstellungen.
Eine andere Erklärung geht davon aus, dass bestimmte Märchen, so genannte [[Initiationsmärchen]], in verfremdeter Form den Ritus der [[Initiation]] beschreiben.
 
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== Literatur ==
* Lüthi, Max Lüthi: ''Märchen. Stuttgart und Weimar, 1996. 9. Auflage.'' (= ''Sammlung Metzler. Realien zur Literatur,.'' Band 16). 9. Auflage. Stuttgart/Weimar 1996.
* Ludwig Bechstein: ''Thüringische Volksmärchen.'', Verlag Rockstuhl, Bad Langensalza, Reprint 185231852/2002, ISBN 3-936030-71-5.
* [[Charlotte Oberfeld]]: ''Volksmärchen aus Hessen.'' 1962.
* Ludwig Bechstein: ''Romantische Märchen und Sagen'', Verlag Rockstuhl, Bad Langensalza, Reprint 1855/2003, ISBN 3-936030-93-6
* GebrüderLudwig ZingerleBechstein: Kinder-''Romantische Märchen und HausmärchenSagen.'' aus TirolRockstuhl, Georg Olms Verlag,Bad HildesheimLangensalza, Reprint 18521855/19762003, ISBN 3-487936030-0515493-06.
* Gebrüder Zingerle: ''Kinder- und Hausmärchen aus Tirol.'' Olms, Hildesheim, Reprint 1852/1976, ISBN 3-487-05154-0.
* Helmut Wittmann, Helmut: ''Das grosse Buch der österreichischen Volksmärchen,.'' Ibera Verlag, Wien, ISBN 3-85052-209-1.
* Lüthi, Max: Europäische Volksmärchen, Manesse, 1994, 8. Auflage, Zürich, ISBN 3-7175-1120-3
* Post,Max ThomasLüthi: ''Europäische Volksmärchen,.'' Märchen,8. Fantastik,Auflage. Verlag E-PubliManesse, BerlinZürich 20151994, ISBN 37375400393-7175-1120-3.
* Thomas Post: ''Volksmärchen, Märchen, Fantastik.'' E-Publi, Berlin 2015, ISBN 978-3-7375-4003-2.
 
== Weblinks ==
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* [http://www.grimms.de/ Brüder Grimm-Museum Kassel und Brüder Grimm-Gesellschaft]
* [http://www.volksmaerchen.de Blog mit Hintergrundinformationen zum Thema Volksmärchen]
* [http://www.ddr-maerchen.de Liste mit über 200 Märchen im Archiv]
 
== Einzelnachweise ==
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Nur was an die Oberfläche der Handlung tritt, wird sichtbar, dafür aber scharf und genau; es existiert keine Tiefenstaffelung.
Die Episoden sind in sich abgekapselt.
All dies erzeugt eine Abstraktheit, eine Sublimierung; der klare Aufbau stützt durch das vorwiegend mündliche (z.&nbsp;T. aber auch schriftliche) Tradieren des Märchens die Gedächtnisfunktion des Erzählers.
 
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