Derpessimismusi 00 Plma
Derpessimismusi 00 Plma
Derpessimismusi 00 Plma
Pessimismus
von
O. Plümacher.
Zweite Ausgabe.
Heidelberg.
Consul
zu Maracaibo, Venezuela,
zugeeignet.
Vorwort.
0. Plümacher.
Einleitung. Seite
1. „Pessimistisch" und „Pessimismus" 1
Erster Theil.
Der geschichtliche Entwickelungsgang des Pessimismus.
I. Cap. Der Pessimismus im Alterthum 18
1. Der Pessimismus im Brahmanismus und Buddhais-
mus. S. 18.
a. Brahmanismus. S. 18.
h. Buddhaismus. S. 23.
Eeformatoren. S. 54.
5. Ketzergerichte und Hexenglaube. S. 57.
S. 66.
9. Die Weltverachtung als officielle Weltanschauung
der christlichen Kirche. S. 70.
III. Cap. Der Pessimismus in der Wissenschaft 73
t. Der Optimismus der wiedererwachten Wissen-
schaften. S. 7.5.
VIII
Seite
2. Der Skepticismus als .Pessimismus der Wissen-
schaft. S. 78.
3. Maupertuis. S. 85.
4. Kant und der Pessimismus und die Sittenlehre.
S. 90.
IV. Cap. Der Weltschmer/ und die Poesie des Pessimismus .... 101
1. Der Weltschmerzler und seine Welt. S. 101.
Zweiter Tlieil.
VI. Cap. Die Bekämpfung des Pessimismus vom Standpuncte des na-
turalistischen Optimismus 179
1. Individuelle Verschiedenheit als angeblicher Grund
der Unmöglichkeit einer Lust- und Unlust-Bilance.
S. 179.
2. Die angebliche Unvergleichbarkeit der aus ver-
schiedenen Quellen stammenden Gefühle. S. 184.
3. Die angebliche Unwissenschaftlichkeit der Hart-
mannschen Lust- und Unlust-Bilance. S. 190.
4. Die angeblich falsche Gefühlstheorie als Ver-
fälscherin des empirischen Pessimismus-Beweises.
S. 195.
IX
Seite
5. Der Pessimismus angeblich eine pathologische
Empfindungs weise. S. 199.
6. Der Werth der Arbeit. S. 210.
mismus. S. 305.
4. Die Kechtfertigung des Übels. S. 308.
5. Weder die Kechtfertigung des Übels, noch die
Theodicee leisten, was sie sollen. S. 312.
6. Die Metaphysik des Pessimismus. S. 315.
7. Kesüme. S. 319.
IX. Cap. Die Opposition vom Standpunet des p anlogist ischen Opti-
mismus 323
1. Der Optimismus des reinen Denkens. S. 323.
2. Der metaphysische Optimismus contra metaphysi-
schen Pessimismus. S. 333.
3. Die Erlösung vom Sein und die Bedingung ihrer
Möglichkeit. S. 343.
Schlusswort 349
Namens -Verzeickniss.
(Die mit iSternchen versehenen Zahlen beziehen sich auf Fussnoten.)
Jankowski, E. 297-298.
Paulus. 55.
Jean Paul. 216.
Pelagius. 55.
Innocenz III. 66—70.
Pfleiderer, Edmund. 240. 280—281
Justinus, Märtyrer. 54.
— , Otto. 30.
Xant. 64. 85. 90—98. 106. 131. 184. — ,
Rudolph. 306.
248. 261. 340. Plato. 10.
82—84. 90—91.
Leibniz. 23. 78. 129. Schölling. 125. 197.
Sully, J. 185. 189. 190. 192—193. 198. Veeri, Conte di. 98*.
202. 228. Venetianer, M. 177.
Visclier, Tli Fr. 234. 235.
Taubert, A. 177. 207. 217. -228-230.
: Volkelt, J. 234. 235. 247*. 331—33
Tertullianus. 54.
Voltaire 82. 85.
Trautz, Th. 312
Wagner, E. 16. 230.
Ulrici. 312. Weis, L. 207.
; Weygoldt. 200*. 210*. 307.
Yaihinger, J. 234.
Wolf. 90.
Valentinus. 53.
T^ivassar. 54. Zwingli. 5'?. 72*.
Betrachtet man dagegen die „Welt" als einen das Sein, die
Existenz nicht erschöpfenden Begriff, versteht man also den Ter-
minus „Pessimismus" nur als Repräsentant des einfachen Satzes
„es ist mehr Unlust als Lust in dieser, unserer Welt", so ist
der Pessimismus in diesem Sinne nichts Neues; vielmehr bildet er
recht eigentlich den einen Pol der Geistesreligionen, also auch des
Christenthums. Ausserdem bilden diejenigen Betrachtungen und
Erfahrungen, aus deren Synthese das eudämonologisch negative
Werthurtheil der Welt resultirt, den Untergrund, aus welchem die
Plümacher Pessimismus. 1
2 Einleitung.
Wir können auf anderem Gebiet noch heute analoge Vorgänge be-
*)
obachten. Die rohe Kraft, die im selben Grade nützlich erscheint als sie
einem Gegner zugewandt gefährlich und verderblich werden kann, findet
noch immer die volle Bewunderung der rohen Massen und erwirbt leicht
„Ehrfurcht", d. h. die Ehre der Furcht. Und die Bewunderung^ die der Pöbel
stets dem Reichthum (selbst wo dieser durch zweifelhafte Mittel erworben
ist)nicht umhin kann entgegen zu bringen (so lange sein Neid durch dio^
Verhältnisse zum blossen Zähneknirschen verurtheilt ist), beruht eben auf
dem Bewusstsein, dass Reichthum Macht, für ihn unantastbare, unter Um-
ständen vernichtende Macht ist. —
12 Einleitung.
*) Der Gedanke eines dereinstigen neuen Himmels und neuer Erde kann
nicht als eine „Hoffnung", nicht als ein optimistisches, eudämonologisches
Moment gelten; denn das neue Sein wurde als ein durchaus Anderes, nicht
als eine blosse Metamorphose des bestehenden vorgestellt. Es möchte
diese Idee vielleicht entstanden sein durch die Ungeneigtheit, sich das der
Götterdämmerung folgende Nichts als reine Negation zu denken und durch
die Unmöglichkeit sich das Nichts vorzustellen. Freilich ist auch die Mög-
lichkeit nicht ausgeschlossen, dass der Gedanke einer anderen Götter- und
Weltexistenz durch die Bekanntschaft mit anderen Religionen entstund,
sowie der Ahnung, dass deren Göttervorstellung der eigenen überlegen
sein könnte.
14 Einleitung.
*) Im Canton Zürich kann man noch von alten Leuten auf dem Lande
den Stoseseufzer hören: „0 myn Gott und alle Lüte Gott aber myne z'erste"
(meiner zuerst).
Einleitung. 15
Plümacher, Pessimismus. 2
Erster Theil.
I. Capitel.
a. Brahmanismus.
*) "Heber den Widerspruch der Lehre von der Maja vergl. E von Hart-
mann: D. relig. Bewusstsein. B. I. d. Monismus pp. 283-2^7.
2*
20 Der Pessimismus des Brahmanismus und Buddhaismus.
erklärt, der vergisst, dass seiner Trauer über den Wechsel ein
Wille des Beharrens zu Grunde liegt, der ja selber als solcher
grundlos ist und zum Nicht-sein-sollenden gehört.
Den Willen des Beharrens, das Wollen des Conservirens ge-
wisser instinctiv als positiv werthvoll angenommener Daseinsmo-
mente hinweggedacht, ist die Flüchtigkeit der Werde- und Seins-
f'ormen durchaus Es ist daher zum mindesten so
gleichgültig.
correct vom Standpunkt des Illusionismus und Akosmismus aus,
wenn man, statt sich als Asket zwischen vier Feuer zu stellen, sich
mit dem Dichter der folgenden Zeilen auf die luftige Warte rein
indifferenter Beschaulichkeit aufschwingt:
b. Buddhaismus.
vollen —
freilich durch empirische Kategorien nicht zu bestimmen-
den Zustand —
dadurch festhielt, dass er im Widerspruch zu der
Maja-Lehre die höchsten Geisteszustände, intuitives Erkennen und
Wissen, im Brahm verabsolutirt.
Für den Buddhaismus giebt es ausser dem irdischen kein Er-
kennen und Wissen, denn ausser der Welt ist nicht ein Geist, son-
dern das Nichts, und das irdische Wissen ist ja nur Wissen vom
Elend und vom Mangel. So fällt auch aller Wissensstolz und alle
Erkenntnissfreude hinweg, denn nicht dem Göttlichen kommt man
im Wissen näher, sondern nur dem Nichts. Nicht wie im Brah-
manismus ist die Welt deswegen ein trugvolles Gebilde, weil sie
das ewige Eine in der Vielheit der Individuen erscheinen lässt,
sondern die Welt ist das Nichtsein-sollende, weil sie wirklich dem
Nichts entsprossen ist, welche Abstammung sich in der Todes-
verfallenheit kund thut.
Die Trauer über die Vergänglichkeit alles Irdischen, welche
in den verschiedenen historischen Formen des Pessimismus eine
so hervorragende Rolle spielt, hat im Buddhaismus ihr eigentüm-
lichstes, gewaltigstes Denkmal erhalten.
Da nun das Nichts wohl als Hintergrund, nicht aber als Ur-
sache des Seins vorgestellt werden kann, so tritt die Illusion an
diese Stelle. Die Illusion wird schöpferisches Weltprincip; aber da
sie nur als Welt ist, und die Welt erfahrungsgemäss vom Uebel ist,
so findet die Ethik keine Begründung, weder für das Sollen noch
für ihr oberstes Princip: das Mitleid, dieses Moral -Princip par
excellence des Pessimismus.
Das Mitleid mit seinem Hofstaat von stützenden Triebfedern
sittlichen Thuns, wie Liebe, Freundschaft, Dankbarkeit findet sich
einfach im Bewusstsein vor; eine Erklärung für sein Dasein wie
das Brahmanische tat Twam asi (das Wort von der Wesenseinheit
des als Vielheit erscheinenden) fehlt dem Buddhaismus. Das Nichts
ist nämlich so wenig ein Band zwischen den Individuen als der
Trug der Maja es sein kann; denn diese letztere ist ja eben nur,
was sie als Welt ist, wo die Individuen ja gerade das Getrennte sind.
Wenn nun trotzdem der Buddhaismus zum Begriff einer sitt-
lichen Weltordnung gelangt, in deren Dienste sich zu stellen, unter
die sich zu beugen und seinen Eigenwillen unterzuordnen als die
Pflicht des Individuums erscheint, und der zu folgen auch die Klug-
heit antreibt, weil an die Pflichterfüllung die Möglichkeit der Er-
lösung von dem Unheil der Existenz geknüpft ist, so zeigt sich
die Thatsache als Wirkung jenes „ dunklen Dranges", der den
„ guten Menschen den rechten Weg
leitet", mag auch immerhin die
äussere Vermittelung dieses ethischen Processes die Anlehnung an
die Sankhya-Philosophie des Kapila sein, welche Gautama
26 Der Pessimismus des Brahmanismus und Buddhaismus.
chem sich der Mensch nicht nur als unglücklich, sondern als schuld-
beladen empfand. So adoptirte er denn die Seelenwanderungslehre,
die er vorfand, und die Theorie einer sittlichen Weltordnung, nach
welcher das Uebel die Folge und Sühne der Schuld ist. Die Schuld
als solche ist natürlich der Drang nach dem nicht-sein-sollenden
Sein und die Strafe das nun innerhalb der sittlichen Weltordnung
gerechtfertigte Leid. Das Heil ist die Rückkehr ins Nichts, der
Der Pessimismus im Griechenthum. 27
Sterben den Körper und wird im Hades zum eldwlov, zum wesen-
losen Scheinbild und Schatten des gewesenen Menschen. Der Geist
ist an die Function des Leibes gebunden; das Zwerchfell (cpgeveg)
ist das rein körperliche Princip des Lebens, der Sitz des Gedächt-
nisses und der Intellegenz. Trennt sich die Psyche vom Sorna, so
hört der Geist auf zu sein; Intelligenz, Gedächtniss, mit einem
Wort: Bewusstsein schwindet und die Persönlichkeit hört auf.
Es ist aber die Bewusstlosigkeit des noch übrig bleibenden
Schattens, die der natürliche Mensch in nicht erkanntem Wider-
spruch zu empfinden fürchtet. Darin liegt der eigentliche Schrecken
des Todes für die homerischen Menschen; denn kein Leiden, keine
Strafen birgt noch der Hades. Aber das blosse Nicht -Leben ist
der Gipfel des Schrecklichen für den, der noch ganz und voll in
dem natürlichen Lebensdrange steht und eben deshalb auch die
Negation des Lebens nicht rein zu denken vermag, sondern nur so,
dass noch immer ein Rest gespenstigen Seins zurückbleibt. Es
ist kein Leben, und doch auch nicht der Friede des Verblasenseins
im Nirvana. Denn der Mensch jener machtvoll treibenden Zeit
kann, wenn er auch den Farbenreichthum seines kämpf bewegten
Lebens wegdenkt, doch nicht den Trieb fortdenken, und so wird
ihm der Schatten im Hades zum hoffnungslos sich sehnenden, nach
Stimme und Laut drängenden Leidensbild seiner selbst. Darum
ist der lebende Schweinehirt glücklicher zu preisen, als der König im
Reiche der Schatten.*) Der Tod will mit Resignation getragen sein,
im ebenso düstern Glauben an das Schicksal, die Moiqa. Diese
ist die unpersönliche, blinde Macht hinter und über den Göttern.
Auch deren Geschick ist Schicksal, aber die Menschen sind doch
noch viel ungünstiger gestellt, denn ausser ihrer Abhängigkeit von
der blinden Moira, sind sie auch noch —
natürlich im Widerspruch
mit der Moira-Idee —
von den Launen und der Willkür der Götter
abhängig. **)
Nur die überschwängliche Lebenskraft eines jugendlichen, für.
hohe Culturstufen und besonders für ästhetische Lebensgestaltung
prädestinirten Volkes konnte es ermöglichen, dass bei dieser An-
schauung von Abhängigkeit und Tod das Leben doch mit solcher
*) Das Wort des Chores im „Oedipos in Colonos": „Das Beste ist nicht
geboren zu sein, oder wenn schon geboren, dann ba'd wieder von hinnen
zu gehen", ist nicht nur der Ausdruck individueller Anschauung des
Sophokles; das Wort ist älter, es stammt schon von Hesiod, der bereits
die Unmöglichkeit vollkommenen Glückes lehrte; und durch alle Jahr-
hunderte griechischen Lebens hindurch möchte es so geläufig gewesen sein,
wie innerhalb der christlichen Welt das Wort „vom irdischen Jammerthal."
Vergl. auch Nägelsbach „Nachhomerische Theologie und der Volksglaube
bis Alexander." Nürnberg 1857.
32 Der Pessimismus im Griechenthum.
die Strafe gewiss, wenn auch für die kurzsichtige Menge dieses
Verhältniss nicht immer erkennbar hervortritt.
Der Stoicismus ist ohne Zweifel die höchste Form der Welt-
anschauung des klassischen Alterthums und übt bis heute noch
ihren Zauber auf kräftige Charaktere, bei denen das nüchterne,
reflexive Raisonnement bedeutend über Gefühl und Phantasie vor-
herrscht und bei denen die Vernunft sich mehr durch die punctuelle
Energie als durch die Weite ihres Horizontes auszeichnet.
Diese höchste Spitze ist aber auch der Abschluss des bisherigen
Standpunctes und U ebergang zu einem andern; die stoische Ethik
bricht nach zwei Seiten hin mit dem Princip des klassischen Zeit-
alters: erstens erhebt sich ihr Intellectualismus auf einer pessi-
mistischen Anschauung des gesammten sinnlichen, un-
mittelbar gegebenen Lebens, und zweitens fängt die Idee der
Eudämonologie des Absoluten an neben dem Individual-
Eudämonismus Raum zu gewinnen, dadurch, dass es die Welt-
vernanft ist, der im Individuum zum siegreichen Sichselbst-
behaupten verholfen werden soll.
Die Stoa fand zahlreiche Jünger und erlebte später in Rom
eine Nachblüthe; ihre Verherrlichung des Selbstbewusstseins , der
ausgesprochen männliche Charakter ihres Tugendideales entsprach
den besten Seiten des römischen Nationalcharakters, begünstigte
gleichermassen seine Vorzüge wie seine Mängel. Zu den Stoikern
zählt auch der Philosoph auf dem Caesarenthrone: Markus Au-
relius bei dessen „Selbstgesprächen" (Meditationes) wir etwas ver-
weilen wollen; denn in ihrer subjectiven Unmittelbarkeit und Un-
gekünsteltheit und in dem Verzicht auf Systematisirung der An-
schauungen und Empfindungen sind sie besonders geeignet, die
Eigentümlichkeit der Stellung des Stoicismus zu der axiologischen
Frage zu zeigen. Diese besteht darin dass obgleich das Leben
,
,
eben darum nicht klagen (VIII, ^>), denn wenn man sich mit dem
blossen Bewusstsein der Vernünftigkeit genügen lässt, so kann man
Die pessimistischen Elemente der Philosophie. 35
Güter, wie der Tod an und für sich das grösste Uebel ist. Nicht dass
man blind wäre für die Mängel des natürlichen Lebens; so fern es
das Endliche ist, wird es als das niedrige, unreine dem Herrn des
Himmels, dem reinen, heiligen entgegen gesetzt. Aber in dem
historischen Verhältniss des Volkes zu seinem Grotte wird dieses
Unreine, Hinfällige regiert. Sofern das Individuum dem Gesetze
gemäss lebt, nimmt es Theil am Bunde, den Gott mit dem Volke
gemacht hat, und lebt dadurch im reinen und berechtigten Dasein
zur Ehre Gottes, der mit seiner geschaffenen Welt im Ganzen wohl
zufrieden ist. Durch die zahlreichen, den Gebrauch der Natur-
dinge einschränkenden Gesetze und Verordnungen soll die Natur
nicht unterdrückt, sondern nur geheiligt werden durch bewusste
Unterstellung in jedem einzelnen Falle unter Gottes Willen.
Aber in dieses selbstzufriedene Leben fällt derselbe Schatten,
der auch über die Lebensfreudigkeit der griechischen National-
jugend eine Trübung bereitete. Der Tod ist der Gegensatz zum
lebendigen Gott und der Punct, wo der Mensch der Natur, dem
Irdischen im Gegensatz zum Göttlichen verfällt.
Der Scheol ist das Analogon des Hades; kein Ort der Qual,
nur unvollkommen vollzogene Negation des Lebens. Der Tod ent-
fremdet nicht nur dem Leben, sondern auch Gott. Der Scheol
ist die naive Vorstellung eines Unvorstellbaren: des Nicht-seins,
und daher ist der lebendige Gott nicht auch der Gott der Todten.
Der Tod ist das Unreine, mit ihm verfällt der Mensch gleich dem
Thiere, mit dem er „einerlei Odem" hat, der Natur schlechthin.
Dem Optimismus des Volkes als solchem konnte diese düstere
Todesauffassung nichts anhaben; denn dem Volk als solchem war
das Leben vorläufig sicher, wohl aber war es dem natürlichen
lebensfreudigen Individuum ein mächtiger Dämpfer, wie es denn
im „Prediger Salomonis" besonders die Todesverfallenheit auch des
Herrlichsten ist, welche besonders beklagt wird.
Aber einen eminent optimistischen Characterzug hat der
.
begriffe, welchen Hiob bisan mit der Masse seines Volkes theilte.
Durch von Hiob errungene erhabenere Auffassung Gottes, ent-
die
sprechend welcher Gott als der dem menschlichen Kalkuliren Un-
durchdringliche sowie von dessen Begriffen von Recht und Ge-
rechtigkeit durchaus Unabhängige verstanden wird, geschieht
aber nur der Verzweiflung der Ungewissheit Einhalt, welche
letztere das Resultat des Erwachens aus der bisan mit der grossen
Menge getheilten Illusion war, als ob die Fügungen Gottes ganz
nach menschlichen Rechtsbegriffen und dem Menschenverstand
durchschaubar eingerichtet seien.
Letztere Ansicht möchten Hiobs drei Freunde gerne noch
retten; nach ihnen ist das Unglück gleichsam der Kettenhund
Gottes, den dieser nach Willkür loslässt, um zwischen diejenigen
zu fahren, die seine Gebote verletzen. Indem Hiob überzeugt ist,
dass er dem Gesetz gemäss gelebt hat*), muss er nun, wo er sich
von allem ihm denkbaren Unglück überhäuft sieht und wo gleich-
zeitig auch sein A.uge geschärft wird für das allenthalben sich
breit machende Unheil, entweder irre werden am Glauben an Gott,
dem Geschickelenker, oder aber ihn in dieser letzteren Eigenschaft
in anderem Sinne auffassen, als er bisan gewohnt war.
Dies letztere gelingt ihm; er rettet seinen Jaho-Glauben und
erhebt seinen Gott nur um so höher, indem er ihn in eine dem
Rechtsverhaltniss unnahbare Transcendenz versetzt. Das Leid
der Welt soll als Gottes unerforschbarer Wille aufgefasst werden,
und soll nicht Gegenstand der Klage sein, denn der Mensch ist zu
klein, dieWege des grossen Gottes zu durchschauen.**)
Möglich ist es immerhin, dass dem Dichter die Erkenntniss
aufdämmerte, dass des Lebens Uebel und Leiden noth wendig mit
dem Dasein selbst gesetzt seien, ihre nothwendige Stellung in dem
Zusammenhang der Weltbewegung haben und darin ihre (relative)
Berechtigung finden. Zum Ausdruck kommt diese der Zeit des
Dichters jedenfalls ganz ungeläufige Auffassung aber nicht; das
einzige ist, dass die Worte, die er seinen Helden, sowie Gott bei
*) XXXIII, 16 u. folg.
42 Der Pessimismus im Judenthum.
von einer lebendigen Fortdauer nach dem Tode wissen (VII, 9 und
XIV, 10, 11, 12), so dass hier ohne Zweifel eine nachträgliche
Einschaltung stattgefunden hat. Die Zeit, wo allmählich — und
wahrscheinlich durch asiatische Einflüsse beschleunigt und historisch
vermittelt — der eudämonologische Trieb sich vor der aufdrängen-
den pessimistischen Erfahrung in die Hoffnung transcendenter Herr-
lichkeit flüchtete, mag derjenigen der Entstehung des Baches Hiob
nicht ferne liegen; Hiob jedoch hat noch nicht in dem Grade mit
dem Optimismus seines Väterglaubens gebrochen, um einer solchen
Rückzugsposition zu bedürfen.
Seine Weltanschauung ist nämlich nur insofern pessimistisch
gefärbt, als er die Ohnmacht und Rechtlosigkeit gegenüber der
göttlichen Schicksalsfügung erkennt; nicht aber in dem Sinne, dass
er an dem eudämonologischen Werthe der sogenannten „ Lebens-
güter " zweifelte. Gesundheit, Reichthum, Ehre vor den Menschen,
Bevorzugung vor andern, Armen, deren Existenz gleichsam als
Folie gefordert erscheint, Liebesbefriedigung und sinnliche Genüsse
aller Art, werden bis zu Ende als vollgültig anerkannt. Kein
Ahnen drängt sich ein, dass auch ihr Werth nur ein relativer sei,
dass auch diese Güter das tiefste Sehnen des Herzens nie voll-
ständig und auf die Dauer zu stillen vermögen. Dabei werden
die, die Lebensgüter vorstellenden Objecte ganz entsprechend dem
uns im Mosaismus so unangenehm berührenden Egoismus nur allein
danach geschätzt, wie sie auf das redende Subject, dem sie Object
sind, wirken, nicht wie sie für sich selbst Subjecte sind: Hiobs
Heerden werden fortgetrieben, die Hüter, seine Diener und Sklaven
werden erschlagen — kein Mitleid mit deren Loos erschüttert
ihn, denn er schätzt deren Leben nur nach seiner Relation zu
ihm. Erst als Krankheit und Schmerzen ihn selber packen, erst
als sein Stolz durch seine ihm an Roheit des Gefühls und Selbst-
sucht gleiche Umgebung gekränkt wird, erst da gehen ihm die
Augen auf über die Beschaffenheit des Lebens und er giebt sich
an's Klagen.
Bedeutend näher dem modernen Bewusstsein steht die pessi-
mistische Lebensanschauung des „Prediger Salomonis".
Der Prediger theilt mit dem Hiob die dem Mosaismus und
orthodoxen jüdischen Dogma fremde Einsicht: dass Glück und
Unglück nicht im Verhältniss von Gerechtigkeit oder Sünd-
haftigkeit vertheilt sind, sondern dass andere, unerkennbare Gründe
für die Vertheilung der Geschicke vorhanden sein müssen. (IX, 1, 2.
11); aber er ist weitaus pessimistischer gesinnt als Hiob, denn die-
jenigen Zustände und Objecte, die letzteren noch als eudämono-
logisch vollgewichtig gelten, erscheinen dem Prediger als „eitel"
und nichtig, nicht ein Armer, Kranker, Verachteter klagt im
Das Buch Hiob und c'er Prediger Salomonis. 43
„Prediger" die Welt an, sondern Einer, über den das „Glück"
sein Füllhorn ausgeschüttet hat, erkennt, dass dasjenige, was man
eben „Glück" nennt und als Güter erachtet, doch nicht das Herz
zu befriedigen im Stande ist. Der Prediger besitzt Reichthum,
Macht und das Wissen seiner Zeit;*) was die Kunst zu bieten hat,
kann er sich aneignen,**) jedem Gelüste seiner Sinne kann er Ge-
nüge thun, und er geniesst es auch im Bewusstsein, dass es sich
so gehöre, als Lohn seiner Arbeit.***) Denn er will nicht nur
passiv empfangen, er greift kräftig an, um die Lustquellen zu
mehren: baut Häuser, pflanzt Weingärten, legt Teiche an, daraus
zu wässern die Haine und die Fruchtbäume, f) Aber all dies
Streben und Gewinnen befriedigt il n nicht, sein tiefstes Sehnen
bleibt ungestillt. Er, der Wissende, der Reiche und Mächtige fühlt
sich in seinem Herzen nicht besser gestellt als „der Narr"; er,
der „im Lichte" ging, fand mit Mühen und Sorgen nicht mehr
„als der Narr, der im Dunkeln ging", d. h. wie der, welcher sich
von der Forderung des Augenblicks lenken lässt, ohne um die
Zukunft zu sorgen. Wie dieser gewinnt er nichts als eben die
Existenz ff), und diese ist eitel, „ganz eitel" (ich sah Alles, das
unter der Sonne geschiehet und siehe es war alles Eitel und
Jammer, I, 4). Das Wissen zu mehren ist erst recht eitel; denn
nicht nur macht die Arbeit des Erringens Mühe, sondern man
bringt sich dadurch um die Hoffnung.
Aber selbst wenn die Lebensgüter Behagen erzeugen, so tritt
nun ein anderer Feind auf, ein Feind, der so recht aus der Mitte
der Festungen des Optimismus hervorwächst: die allem anhaftende
Vergänglichkeit, ff f) Die Vergänglichkeit wird aber dem Prediger
noch dadurch ganz besonders fatal, dass wenn er selber ihr zum
Opfer gefallen sein wird, dann e'in Anderer benutzen soll, was er
mit Mühe und Arbeit errungen hat.*f)
So ist denn das Leben schlimm und fast möchte man die
Todten für die Begünstigteren halten, den Tag des Todes für preis-
werter als den Tag der Geburt. Die Todten sind der Last des
Lebens enthoben, aber freilich auch des Lebens Macht und da-
her ist eigentlich „ein lebender Hund mehr als ein todterLöwe" **f);
am besten daran aber ist jedenfalls der, der noch nicht ist.f*)
Martens en in seiner „christlichen Ethik" nennt den Prediger
das klassische Beispiel des zum religiösen Optimismus verklärten
Skepticismus. Diese Ansicht können wir nicht theilen. Der Prediger
hält allerdings fest am Glauben seiner Väter, indem er trotz der
Beobachtung, dass auch der Gerechte leidet, schliesslich doch an
der Meinung festhält, dass der Gottlose erst recht übel wegkomme,,
und dass das kleine Restchen Lebensgenuss, den er, wie wir gleich
sehen werden, sich doch noch zu retten hofft, durchaus nichts so
selbstverständliches, sondern immerhin noch ein besonderes gnädiges
Geschick ist. Er empfiehlt daher als das immerhin lohnendste:
den Wandel in der Furcht Gottes und im Gesetz. Aber nicht um
der Gottseligkeit selber willen, nicht aus gottliebender Sehnsucht
nach dem Unendlichen; denn obgleich er die pessimistische Er-
kenntniss als solche für relativ werthvoll erachtet, indem „Trauern
das Herz bessert",*) so will er für seinen Theil sich doch nicht
bei dieser Erkenntniss resigniren, sondern ein positives eudämono-
logisches Resultat schliesslich doch noch retten. Das Ziel, welches
er sich nach Verzicht auf sein bisheriges Ideal des allseitigen sich
Auslebens und Auswirkens setzt, ist ein sehr bescheidenes und dein
religiösen Standpunkt schnurstracks zuwiderlaufendes. Der Prediger
will sich mit den primitiven sinnlichen Genüssen, mit Essen und
Trinken und der Freude mit seinem Weibe begnügen, um (ganz
im Widerspruch mit dem oben angeführten Lob der pessimistischen
Erkenntniss) des Lebens Jammer im Naturgeniessen zu ver-
gessen.**) Arbeiten stärkt den Appetit und macht die Ruhe süss T
daher will er auch arbeiten, aber nicht zu viel, denn eine Handvoll
mit Ruhe ist besser als zwei mit Mühe,***) und mitnehmen, wenn
er stirbt, kann er ja doch nichts, —
diejenigen aber, die nach ihm
kommen, die kümmern ihn nicht.
Es erhebt sich also zwar der Prediger zur genügenden Klar-
heit, um überall die das Leben begleitende Unlust zu erkennen,,
aber er vermag sich nicht zu einem andern Standpunct aufzu-
schwingen, einen andern Maassstab und Werthmesser des Lebens,
Thuns und Strebens zu finden als den individual-eudamonistischen.
Er hat keine Zukunftsideale, denn er kennt keine Entwicklung:
das Morgen ist wie das Heute und es giebt nichts Neues unter der
Sonne, f
Die pessimistische Weltbetrachtung ist in den beiden behan-
*) VII, 4, 5. **) III, 12, 13. V, 17, 18, 19. VII, 15. VIII, 15. IX, 9.
***) V, 6.
t) Man
könnte den Prediger Salomonis als Illustration zu Abschnitt I, 3
und des ersten Theiles der „Phän. d. sittl. Bewusstseins" von E. von
II, 1
Hartmann benutzen, bezüglich des Ueberganges vom (Pseuclo-) Moral-
Prinzip des Individual-Eudämonismus zum heteronomen Princip des
göttlichen Willens; derart, dass beim Prediger das erste Princip noch fest-
gehalten, der Egoismus dem heteronomen Princip noch nicht rücksichtslos
geopfert wird, sondern im Hintergunde bestehen bleibt, da,s heteronome
Princip in der Form des „Gesetzes" aber der Handlungsweise als Richt-
schnur dienen muss; und. zwar auf Grund der Verzweiflung an der
directen Realisationsmöglichkeit des ersten eudämonologischen Princips. —
Das Buch Hiob und der Prediger Salomonis. 45
delten Fällen eine rein empiristische. Beim Hiob liegt der Schwer-
punct des pessimistischen Bewusstseins darin, dass das Verhältniss
von Wohlergehen und Unglück kein dem menschlichen Begriff' von
Gerechtigkeit entsprechendes ist; beim Prediger gesellt sich die
weitere Einsicht hinzu, dass auch das gute Geschick, die verhält-
nissmässig mit hohen Glücksgütern gesegnete Existenz nicht das
letzte, tiefste Sehnen des Menschen zu befriedigen vermöge. Nach
beiden Seiten hin aber wird dieser neue Bewusstseinsinhalt nicht
Ausgangspunct neuer Ideengänge, weder über die Natur des Seins,
noch über das Verhältniss des Menschen zum Gotte des Dogmas.
Dem Judaismus wie dem Mosaismus ist die Welt von
Gott zu seiner Ehre und seinem Vergnügen geschaffen und das
jüdische Volk ganz speciell das Volk Gottes. Kein politisches
Missgeschick, kein sociales Elend vermochte den gewaltigen Opti-
mismus-Instinct dieses Volkes zu Boden zu drücken, und wo die
Wirklichkeit in zu grellem, hohnvollen Gegensatze stand zu
diesem stolzen Glauben, da ergriff man mit den Fangarmen der
Sehnsucht das verheissene zukünftige Gottesreich. Dieses wurde
um so jenseitig -luftiger, je weniger Anhaltspuncte die Gegenwart
zum Anknüpfen realistischer Hoffhungen bot, und es wurde um so
glanzvoller, um so seligkeitsreicher von der Phantasie ausgebaut,
je transcendenter es sich gestaltete: der Schein schien um so glän-
zender je mehr ihm das Sein abhanden kam.
Dass das Buch Hiob und der Prediger unter die heiligen
Schriften aufgenommen wurde, zeigt, dass ihre pessimistischen Be-
kenntnisse von der geistigen Macht des jüdischen Volkes als W
ahrheit
anerkannt wurden, aber man schloss die Augen vor demjenigen, was
sich logischer Weise für die Theologie hätte daraus ergeben sollen.
Nicht im speculativen Sinne wurde der neue Bewusstseins-
inhalt verwerthet, sondern nur im Interesse der Klugheitsmoral.
Der im Prediger Laut gewinnende empirische Pessimismus hat
jene Lebensweisheit gezeitigt, wie sie Jesus Sir ach lehrt.
Man kann dieselbe ein Anologon zum Epikureismus nennen;
die Unterschiede wachsen unmittelbar aus den Verschiedenheiten
des Volkscharacters der Juden und Griechen hervor: dort der
Idealismus der Religiosität, hier Idealismus des Kunststrebens und
der Cultus des Schönen; dort ein starkes Solidaritätsgefühl ge-
gründet auf den gemeinsamen Gottesglauben und auf die Illusion
einer besondern göttlichen Bevorzugung, hier der Stolz auf eine
specifische Civilisation und höchste Cultur. Gemeinschaftlich aber
ist der jüdischen Klugheitsmoral und dem Epikureismus das Fest-
halten des Eudämonismus und das ängstliche Bemühen durch sorg-
fältige Sicherung relativer „Werthe" und „ Güter" dem natürlichen
Leben einen selbstständigen Werth für das Individuum zu
46 Der Pessimismus im Judenthum.
Als Jesus zu lehren begann, war unter dem Volke der Glaube
schon sehr verbreitet, dass die Welt alt und zum Untergang bereit
sei und nicht mehr lange bestehen könne. Die socialen Verhält-
nisse waren gespannt und unerquicklich, sowohl in Folge der poli-
tischen Zustände , als auch durch die religiöse Ausgestaltung des
Judenthums, welches mit seiner Verknöcherung im Ceremonialdienst
dem nach Trost und Erhebung hungrigen Volke nur einen Stein
statt des Brodes zu bieten hatte. Pessimistische Anschauungen
waren allgemein und die Aufforderung zur Busse, die Johannes
predigte, zeigt, dass das irdische Leben als durchaus gegensätzlich
zu dem zu kommenden Himmelreiche erachtet wurde. Bei Jesus
und seinen unmittelbaren Jüngern und Bekennern war das Ver-
hältniss zwischen der Welt und dem Himmelreich noch ganz das
gefühlsmässige des wirklichen, ursprünglichen, religiösen Erzeugungs-
actes: die W'eltmüdigkeit erzeugte die Himmelssehnsucht, die sich
Genüge schaffte in einem Glauben, der die Welt mehr durch Ver-
gessen negirte, als dass er sie ohne weiteres zu einem Gegenstand
des Schreckens und Abscheus machte. Das junge Christenthum
ist pessimistisch, weil es die Welt (so wie seine Bekenner sie er-
fahren haben) als werthlos, als das tiefe Sehnen des Herzens und
das Hungern und Dürsten der Seele nicht stillend erkannt haben.
Die junge Glaubensgenossenschaft missachtet die Welt, sie
fürchtet sie aber nicht. Jesus und seine Jünger hatten nicht
nöthig zu fasten und sich zu kasteien, um Pessimisten zu sein; sie
assen und tranken normal, und der Wein zu Kanaan zeigt, dass
auch die Unterschiede zwischen den Producten nicht übersehen
Weltmüdigkeit 49
wurden; aber die relativ guten Momente hinderten nicht das Welt-
verdammungsurtheil.
Dies änderte sich aber rasch genug; sobald der Glaube an die
Botschaft vom nahen Himmelreich nicht mehr ein Werdeprocess,
sondern ein Gewordenes war, wurde er auch Object der Reflexion
und nun wurde die den Urbekennern gleichgültige und unschäd-
liche Welt ein feindliches Object, sobald es galt, das für sich
Gewonnene Andern. mitzutheilen. Nicht Allen schien es so selbst-
verständlich der Welt praktisch zu entsagen, selbst wenn man sie
der Theorie nach gering schätzte; insbesonders der römischen Cultur
war es eigen, Weltverachtung mit Weltgenuss zu verbinden;
der Gebrauch der Weltgüter war zur andern Natur geworden und
das als eudämonologisch werthlos Erkannte war doch durch die
Gewohnheit eine Macht geworden, von der loszukommen schwer war.
Sobald innerhalb der jungen Glaubensgenossenschaft damit be-
gonnen wurde, die Errungenschaften des zu neuer Stufe vorge-
schrittenen religiösen Bewusstseins zu sichten und zu ordnen, so-
bald die einzelnen Momente der Lehre Jesu und der Apostel in
Verbindung gesetzt wurden, d. h. also: sobald sich die Dogmen zu
krystallisiren begannen, sammelte sich in dem Christenthum, wie
in einem Brennspiegel, alles was jüdische Dogmatik und alexandri-
nische Philosophie zur Discreditirung der Welt, der Natur im
engern Sinne und der plrysischen Natur des Menschen aufgebracht
hatten. Das Resultat war eine absolut unausfüllbare Kluft zwischen
allem Natürlichen einerseits und der Religion und deren Organi-
sationen andererseits. Die Welt, die bloss missachtet worden war,
wurde nun gefürchtet, nachdem sie geradezu zum Reich des Bösen
gemacht worden, in welchem nun auch diejenigen Factor en, welche
bisan als relative Güter erachtet wurden, zu erst recht gefähr-
lichen Fallstricken und Angelhaken des Widersachers Christi ge-
stempelt worden waren. Erst einer spätem Entwickelungsstufe des
Dogmas wurde es wieder möglich, zwischen der zwar in Folge des
Sündenfalls corrumpirten Natur und der eigentlichen Sündenbethä-
tigung des Menschen zu unterscheiden, wodurch dann natürlich
auch wieder ein günstigeres, milderes Licht auf die Natur als
solche fiel.
eine Uraeon sich selbst reflectirt, sind nichts anderes, als die reinen Ge-
danken, die reinen Wesenheiten, in welchem der Geist sein eigenes Wesen
denkt, die reine Selbstbewegung des an sich seienden geistigen Lebens. Im
pseudoclementinischen System ist wenigstens die Sophia, die als die mit Gott
selbst identische Seele mit ihm verbunden gedacht wird, und dasMarcionitische
charakterisirt seine Eigenthümlieheit eben dadurch, dass es den höchsten un-
sichtbaren Gott ohne allen objectiven Inhalt setzt, als eine blosse Abstract-
heit desBewusstseins. In den Aeonen des Valentinianischen Systems manifestirt
sich zwar in der Einheit auch schon die Verschiedenheit, der Unterschied des
Geistes an sich, alsüebergang zum Anderssein und zur Verendlichung, aber es
3*
52 Der Pessimismus innerhalb des Christenthums.
gilt hier was Hegel von Gott sagt, sofern er in seiner ewigen Idee
ganz,
an und für im Element des Gedankens betrachtet, so zu sagen vor
sich,
oder ausser der Erschaffung der Welt ist, in seiner Ewigkeit, als die ab-
stracte Idee, dass Gott zwar ewig sich unterscheidet, was aber sich so von
sich unterscheidet,doch nicht die Gestalt eines Anderseins hat, sondern
das Unterscheidende nur das ist, von dem es geschieden worden ist."
Baur; „"Die christliche Gnosis" p. 675.
Der Gnosticismus und der Pessimismus.
Menschen, welche den Gebrauch der Vernunft erlangt haben, sondern auch
kleine Kinder, die in ihrer Mutter Leibe zu leben anfingen und dort ge-
storben, oder die unmittelbar nach der Geburt aus der Welt geschieden
sind, ohne das Sacrament der h. Taufe empfangen zu haben, die ewige
Qual des unauslöschlichen Feuers zu ertragen haben; denn obgleich
sie mit ihrem eigenen Willen keine Sünde begangen haben, haben sie sich
56 Der Pessimismus innerhalb des Christenthums.
des Fleisches auch den Teufel bei sich aufgenommen und zwar in
doppelter Eigenschaft: als Beherrscher aller derjenigen, die ihr
Herz an die Welt ketteten, und dann auch mit Gottes besonderer
Zulassung als Prüfer und Versucher.
Und wie eine sinnlich productive religiöse Gestaltungskraft den
Henotheismus erzeugt, in welchem die getrennten Momente des gött-
lichen Seins als besondere Gottheiten verehrt werden, so, dass doch
immer in allen Einzelnen das Eine Göttliche voll und ganz empfunden
wird, so wurde auch unter dem Einfluss der Dämonologie des an-
tiken Volksglaubens und einer sich in Phantasiespiele verlierenden
Philosophie das eine böse Princip zu einer Vielheit zerfasert, ent-
sprechend den vielfachen Formen, in denen es sich bemerklich
macht; der Teufel erscheint als hundertfältig und bleibt doch immer
ganz und gar „das Böse"*).
Wie die Hebräer nicht an die Realität der Götter der Egypter
und der ihnen feindlichen nomadischen Stämme zweifelten, so
waren auch den Ungebildeten unter den Christen der ersten Jahr-
hunderte die römischen und griechischen Göttergestalten lauter
Teufel und Teufelinnen, ein Glaube, der sich ja auch später in
Deutschland wiederholte und einigen der nordischen Götter eine
schattenhafte Fortdauer in Localsagen gewann.
In einer dem Teufel preisgegebenen Welt sind aber die Hexen,
die Heiligen und Priesterinnen des Bösen, eine ganz selbstverständ-
liche Sache, und nichts ist natürlicher, als ihre rücksichtsloseste
Verfolgung. Wie die Christenverfolgungen als Anstiftungen des
Satans erachtet wurden, so waren auch seine Bekennerinnen die
Feinde Gottes und seines Reiches, und der Kampf gegen sie Pflicht
und Verdienst, sobald die Möglichkeit dazu gegeben war. Und
wie das Mitleid mit den Ketzern schon verdächtig und anrüchig
war für die eigene Rechtgläubigkeit und somit Wohlgeborgenheit
in der Arche der Kirche, so war anderseits eine Mitbethätigung
an der Hexenjagd gleichsam eine beruhigende Versicherung, die
man sich selbst gab, dass man zu den Begnadigten, zu den Streitern
des Gottesreiches gehöre.
Der furchtbare Wahn suchte und fand am meisten Opfer in
den Zeiten, wo die Kirche bereits den Gipfel ihrer Macht erreicht
hatte — aber auf Kosten der, in der Theorie natürlich stets ver-
neinten, Verweltlichung und Weltfreudigkeit — und von äussern
Feinden unbehelligt, diese sich nun in ihrem eigenen Kreise zu er-
heben begannen. Die jungen Christengemeinden hatten den Teufel
Bös und Gut noch keine Anwendung findet, wodurch sie gerade
|
6. Der Tod.
Wh* sind ferne davon uns gegen die optimistische Seite des
Christenthumes zu verblenden. Jede Religion ist optimistisch, so-
fern man diesen Begriff nur in dem landläufigen Sinne (adverbial
und adjectivisch) versteht, wo er eine tröstliche, befriedigende, ver-
söhnliche Anschauung gewisser Zustände bezeichnet. Es ist
dem Wesen der Religion eigen Glaube daran zu sein
, dass auf
,
*) Eine hierauf bezügliche Sage sei, da sie wenig bekannt scheint, bei-
gefügt. In Schottland stürzte ein Ritter auf der Jagd und blieb auf dem
Flecke todt. Da er ein wildes Leben geführt hatte, war seine fromme Ge-
mahlin in grosser Sorge um sein Seelenheil und grämte sich so sehr, dass
ihr eigen Leben in Gefahr kam. Da sprosste auf dem Grabe eine Pflanze,
die niemand kannte und deren Blätter merkwürdige, schriftähnliche Linien
zeigte. Ein Geistlicher entzifferte dieselben endlich und übersetzte sie
wie folgt:
Betwixt the stirrup and the grouncl
Pity was saught and pity found.
(Zwischen dem Steigbügel und dem Boden wurde Erbarmen gesucht und
gefunden.) Die Wittwe stiftete eine Capelle und war getröstet.
Die optimistischen Elemente des Christenthums. Die Willensfreiheit. 63
Als ein Beispiel ersterer Form, die allein uns hier etwas
angeht, nennen wir des nachmaligen Papstes Innocenz III.
Schrift „de contemptu mundi". Da, so viel uns bekannt ist,
keine deutsche Uebersetzung dieser Schrift existirt, so geben wir
in knappster Form den hauptsächlichen Inhalt des ersten Theiles,
der uns hier ausschliesslich interessirt, mit Weglassung der zahl-
reichen Wiederholungen, in freier Uebersetung. Die römischen
Zahlen bezeichnen die Capitel.
„Wehe mir, dass ich geboren wurde, dass meiner Mutter Leib
nicht zugleich mein Grab wurde! Wo fände ich Thränen genug,
den verabscheuungswürdigen Ausgang, Fortgang und das bedauerns-
werthe Ende zu beweinen! Unter Thränen habe ich bedacht, aus
was der Mensch gemacht ist, was er macht und was er machen
wird. Aus Erde ist er gemacht, in Sünde empfangen, geboren
zum Schmerz zum Leid zum Tode zur Strafe. Er thut das
, , ,
Schändliche, was nicht sein soll, das Eitle, was nichts nützt; das
Böse, womit er sich und den Nächsten schädigt und Gott beleidigt.
Er wird eine Beute des Feuers, Futter für die Würmer und Stoff
für die Fäulniss." (I.)
„Der Mensch ist weder aus dem Feuer gemacht, wie die Ge-
stirne, noch aus dem Wasser, wie die Pflanzen. Er ist von dem-
selben Stoffe wie das Vieh und geht zu Grunde wie dieses." (II.)
„Adam war zum wenigsten noch aus unschuldigem Lehm ge-
formt, aber wir sind aus unreinem Samen hervorgegangen. In
meiner eigenen Sünde nicht allein, auch in der Sünde anderer bin
ich gezeugt." (III.)
Vermögen (vires naturales) hat die Seele: die
„Drei natürliche
Vernunft, um zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, Zorn,
das Böse zu verabscheuen,, und das Streben nach dem Guten.
Aber wie ein unreines Gefäss die Flüssigkeit verdirbt, welche man
in dasselbe giesst, so leidet die Seele durch ihren Eingang in den
Leib." (IV.)
„Ekelhaft ist die Ernährung des Kindes im Mutterleibe, und
mit dem Samen aus dem sie erzeugt ist, nimmt die Frucht ekel-
hafte Krankheit und körperliche Mängel in sich auf." (V.) „Warum
Der Tractat: de comtemptu mundi. 67
müssen oft solche geboren werden, die eher einem Scheusal als
einem Menschen ähnlich sehen? Viele kommen zum Jammer der
Eltern und Angehörigen mit mangelhaften Gliedern und Sinnen
zur Welt, Alle aber heulend, schwach, verstandlos, kaum sich von
den Thieren unterscheidend, ja in mancher Hinsicht unter den
Thieren stehend: Diese können wenigstens gleich laufen, jene aber
nicht eben kriechen." (VI.) „Und die Mutter! Sie empfängt in
Unreinigkeit ,
gebärt mit Schmerzen, die keinen andern zu ver-
gleichen sind, und pflegt das Kind in grossen Sorgen."
. (VII.)
„Arm kommt der Mensen zur Welt, arm geht er wieder aus der-
selben; aber wenn er auch nackt in das Leben tritt, so möge er
zusehen, was die Bekleidung sei, die er mit sich hinaus nehme:
scheusslich zu sagen, scheusslicher zu hören, am scheusslichsten
anzusehen: eine von Blut unterlaufene Haut!" (VHI.) „0, der em-
pörenden Niedrigkeit des menschlichen Daseins! Befrage die Gräser
und die Bäume: sie bringen aus sich hervor Blüthen, Laub und
Früchte; du aber —
weh' dir! —
du bringst hervor: Läuse, Un-
geziefer und Eingeweidewürmer! Jene scheiden Oel, Wein, Balsam
aus, du aber scheidest Urin, Speichel und Koth aus; jene hauchen
süsse Düfte, du aber giebst abscheulichen Gestank von dir!" (IX.)
„Kurz ist unser Leben und doch viel Elend und Mühsal erleben
wir; wenige nur kommen auf 40 Jahre (!?) heutzutage, sehr wenige
auf 60; wenn aber jemand alt wird, so wird sein Leib gebrechlich,
schwach, hässlich und ekelhaft; der Greis wird leicht gereizt, mit
Mühe nur versöhnt; er ist halsstarrig und begehrlich, schwatzhaft,
ungeschickt im Zuhören, leicht in Zorn zu bringen, er lobt das
Alte, verachtet das Neue, tadelt die Gegenwart, er verdumpft und
versiegt." (X u. XI.)
„Wie verschieden auch immer die Bestrebungen der Menschen
seien, wie verschieden auch ihre Beschäftigungen, eine und die-
selbe Wirkung haben sie doch alle: Mühsal und Betrübniss des
Geistes. Grosse Arbeit ist allen Menschen zugetheilt, ein schweres
Joch tragen alle Söhne Adams." (XII.)
„Auch das Studium bringt Noth. Ich habe mein Herz daran
gesetzt, Weisheit und Wissenschaft zu gewinnen, und weiss nun,
dass es Mühsal und Betrübniss des Geistes ist; denn bei grosser
Erkenntniss ist auch grosse Entrüstung und wer in die Erkennt-
niss eingeht, der geht auch in den Schmerz ein. Wie sehr der
Forscher auch in Mühe die Nächte durchwacht, so giebt es doch
kaum etwas, es sei noch so gering, welches der Mensen zur völligen
Durchsichtigkeit durchdränge, es sei denn die Erkenntniss:
dass er nichts vollständig erkennen könne, und dies ist ein
Widerspruch. Und das kommt daher, weil sterblicher Leib die
Seele beschwert und irdische Hülle den Geist niederdrückt." (XIII.)
5*
Der Pessimismus innerhalb des Christenthums.
und Macht zu gewinnen, und finden nur Mühe, Angst, Sorg und
Schrecken; keiner, er sei reich oder arm, Herr oder Knecht, bleibt
hievon frei. Weh' mir, wenn ich ungerecht bin, denn mich trifft
Strafe, und bin ich gerecht, so kann ich doch vor Betrübniss nicht
mein Haupt erheben." (XIV u. XV.)
„Wie unselig ist der Arme. Die Noth zwingt ihn zu betteln,
aber wenn er bettelt, so verwirrt ihn die Scham; er wagt mit
Gott zu rechten und ihn ungerechter Gütervertheilung anzuklagen.
Seine Freunde verlassen ihn, denn —
schmählich ist es zu sagen
— man Werth der Person nach dem äusseren Glück,
schätzt den
statt das Glück nach dem Werthe der Person zu schätzen. Leidet
der Arme Noth, so geht der Reiche im Ueberfluss zu Grunde und
indem er seinen Gelüsten nachgeht, stürzt er sich in's Unerlaubte;
so wird,was Ergötzen war, zum Mittel seiner Strafe. Mühe beim
Erwerb, Sorge beim Besitz, Schmerz beim Verlust, das plagt die
Seele des Reichen." (XVI.)
„Elend und auf alle Weise geplagt ist derjenige, der dienen
muss, und von Sorge belastet der Herr; gegen allerlei Unheil
muss er immer gewappnet sein und nicht genug, dass jeder Tag
seine eigene Sorge hat, so erzeugt auch jeder Tag die Plage des
nächsten und jede Nacht kündet die Angst der folgenden an."
(XVII.)
„Den Ehelosen quält die Fleischeslust, den Verehelichten sein
Weib. Es will Schmuck und Tand ohne Rücksicht auf des Mannes
Einkünfte, sonst schmollt und brummt es; es ist eifersüchtig, selbst-
süchtig und herrschsüchtig. Ist das Weib schön, so verlieben sich
andere in sie und es muss mühsam gehütet werden, ist es häss-
lich, so freut einen ein Besitz, den Niemand begehrt, auch nicht."
(XVIII.)
„Der Gute wie der Böse sind gleich geplagt. Das Leben ist
ein Kampf. Der Mensch kämpft gegen den Menschen, gegen die
Natur, gegen sein Fleisch und gegen den Teufel. Die Ruchlosen
richten feurige Geschosse und der Tod sucht ihn zu erfassen. Erde,
Luft, Wasser und Feuer bedrohen uns und wir werden sogar zur
Beute der Thiere." (XXI.)
„Der Körper ist das Gefängniss der Seele; wer hätte je einen
Tag reines Vergnügen genossen, wer hätte nicht an jedem Tage
den Stachel des Gewissens, den Impuls des Zornes, die Regung
der Begehrlichkeit empfunden; wo ist der Tag, den weder Neid,
Geiz, Hochmuth berührt hätte, noch eine Kränkung gebracht hätte?
Aber auch wo Lust ist, da folgt ihr rasch die Trauer, und die
irdische Lust selbst ist mit Bitternissen versetzt." (XXII u. XXHI.)
Der Tractat: de contemptu mundi. 69
„Wir sterben so lange wir leben, und nur wenn wir zu leben
aufhören, hören wir auf zu sterben; es ist also besser lebendig
zu sterben, als todt zu leben. Denn das Leben ist nichts anderes
als ein lebendiger Tod.' (XXIV.)
„Die Zeit, die der Ruhe gewidmet ist, findet die Ruhe nicht;
denn die Schlafenden werden von Träumen verwirrt, die oft quälen
und beunruhigen, —
ist aber der Traum angenehm, so ist das
Aufwachen gleichsam ein Verlust. Und nicht am eigenen Leide
isf s genug, wir leiden iin Mitgefühl noch für die Andern mit, so
dass also sogar die Liebe Leid und Schmerz mit sich bringt."
(XXV u. XXVI.)
„Nie ist man desmorgigen Tages sicher; unerwartet tritt
das Unglück heran. Was soll man von der Krankheit sagen? Soll
man die Unerträglichkeit der Krankheit erträglich nennen, oder
die Erträglichkeit derselben unerträglich? Am
besten wird beides
verbunden. Immer schlechter wird die Welt, es hat der Makro-
kosmos wie der Mikrokosmos gealtert, und was in früheren Zeiten
noch zuträglich war, das wird heutzutage schädlich." (XXVIII.)
„Wie zahlreich und schrecklich sind die Strafen, mit denen
der Verbrecher gestraft wird,*) und furchtbares Maass kann die
Noth annehmen, so dass eine Mutter ihr eigen Kind verzehren
mag." (XXIX u. XXX.)
„Oft wird auch der Unschuldige gestraft und der Schuldige
geht frei aus, und der Tugendhafte wird verkannt. Dreierlei be-
sonders plagt den Menschen: Reichthum, Ueppigkeit und Ehre;
aus dem Reichthum ergiebt sich das Verkehrte, aus der Ueppig-
keit das Schmähliche, aus der Ehre das Eitle." (XXX u. XXXI.)
Soweit der erste vom Leben im Allgemeinen handelnde Theil.
Der zweite Theil geisselt die socialen Mängel zur Zeit des
Verfassers; die Eitelkeit, Prunksucht und Schlemmerei der Grossen,
die Verweltlichung und Ausschweifangen der Geistlichkeit, die
Mangelhaftigkeit des Gerichtswesen (wo das Recht für Geld feil
sei). Es ist dieser Theil von etwelchem culturhistorischen Inter-
esse, geht uns aber hier nichts an, da es blosser „Entrüstungs-
pessimismus" ist, welch letzterer durchaus nicht nothwendig mit
allgemeiner Weltverachtung verbunden zu sein braucht. Ebenso
können wir den dritten Theil übergehen, wo Innocenz die Leiden
der Verdammten schildert und beklagt. „Vergeblich wollen die
Verdammten Busse thun; mannigfaltig sind ihre Strafen, unaus-
sprechlich ihre Angst. Sage nicht „„Gott wird nicht ewig zürnen,
seine Barmherzigkeit geht über alles. Der Mensch hat in der Zeit
gesündigt, darum wird Gott nicht ewig strafen"" —
(bekanntlich
als unästhetisch verhüllt werden muss, das bei allen mehr religiös
als wissenschaftlich veranlagten Völkern, sobald sie eine gewisse
Culturstufe erreicht hatten, als „unrein" beachtet wurde, warum
endlich die Natur des Menschen eine solche ist, dass mit steigen-
der Cultur der Individuen ein zusammengedrängtes Wohnen, ja
sogar schon ein längerer Aufenthalt im Gedränge zur Quelle grossen
Unbehagens wird, während das üppigste Zusammendrängen pflanz-
lich-vegetativen Lebens nicht nur nicht unangenehm empfunden,
sondern sogar genossen wird.
oder die andere Seite derselben (mehr der Mangel und das Leiden
oder mehr das Schuldgefühl) sich in den Vordergrund drängt. Als
moralischer Entrüstungspessimismus donnert sie in Buss- und Er-
weckungs - Predigten von der Kanzel, als demüthig - zerknirschtes
Sünder-Bewusstsein reflectirt, wird sie In Bussliedern laut und pro-
ducirt „Beichtspiegel" und allerlei heilsame „ Betrachtungen " und ;
*) Besonders Zwingli nahm es mit letzterer genau, und bis zur Stunde
deutet noch mancher Gebrauch auf jene ernste Lebensanschauung hin; so
werden jetzt noch in manchen Dörfern des Cantons Zürich die Kinder in
schwarzem „Taufgerust" zur Taufe gebracht."
Js
III. Capitel.
was uns schadet. Das letztere ist nur eine Privation von gewissen
Eigenschaften, nicht aber etwas Positives. Das Gute ist das Nütz-
liehe, nützlich aber ist was uns zu grösserer Realität bringt, was
das Sein extensiv und intensiv steigert. Nun ist zwar unser wahres
Wesen Erkennen, mithin die wirksamste Steigerung unseres Seins
1
lirte, schwächte sie auch den Begriff der Schuld innerhalb seiner
berechtigten Sphäre ab und schaffte mit ihrer Anschauung von
gut und böse die Möglichkeit, dass im Dienste der egoistischen
Klugheitsmoral der Begriff der Schuld ganz und gar hinweg-so-
phisticirtwerden konnte. Auch trägt der Intellectualismus dem
tiefstenSehnen der Menschenbrust nicht Rechnung, weil er nur der
einen Hälfte der seelischen Energien entspringt. Auf mehr als
genug ihrer Blätter bezeugt es die Weltgeschichte, dass der Mensch
nicht nur .zu leiden, sondern sogar freiwillig zu leiden vermag,
aber er will wissen (resp. zu wissen vermeinen!), warum er leidet.
Die Lehre des Spinoza nimmt zwar dem Weltelend den giftigen
Stachel der Schuld-Theorie, aber dadurch, dass das Böse und das
Uebel bloss relativ dieses für den Menschen sind, nicht aber an
sich, sondern an sich gleichwerthige Modi des absoluten Wesens,
hören sie doch nicht auf, für den Menschen zu sein, was sie re-
lativ sind, d. h. für die Empfindung bleibt Uebel Uebel. Es hat
aber Spinoza keine Antwort darauf, warum solche Modi sind —
sein müssen, welche zwar in der Idee des Absoluten nicht als
Böses vorhanden sind, wohl aber für das Absolute dieses
werden, sofern das Absolute in der Entfremdung der Verend-
lichung zum Subjecte des Fühlens geworden ist.
Als den .Vater des Optimismus der neuern Zeit bezeichnet
man in der Regel Leibniz, der es in seiner populär-philosophisch
gehaltenen Theodicee unternahm, die bestehende Welt als die
bestmögliche Welt darzustellen. Mundus optimus ist aber das
Sein schon bei Spinoza, da die modi der Existenz und die Sub-
sistenz der Substanz, oder mit andern Worten die natura naturata
und die natura naturans, nicht durch einen Act der Willkür ge-
trennt sind, sondern die Existenz der Substanz sich in ihren Attri-
buten ganz so auswirkt, wie sie kraft ihrer Substanzialität es
muss. Des Leibniz Aufgabe war nur, diesen Gedanken zu po-
pularisiren, mit der noch dominir enden christlichen Gottesvor-
stellung womöglich in Einklang zu setzen, ganz besonders
aber, ihn von der Grundlage des Monismus auf den Boden des
pluralistischen Individualismus zu verpflanzen.
Mit Locke (1632) beginnt jene Wendung der auf der Em-
welche bestimmt war, zum Zweifel an
pirie fussenden Philosophie,
der Bedingung ihrer eigenen Existenz als Wahrheitser-
Der Skepticismus als der Pessimismus der Wissenschaft. 79
man keine Rücksichten verlangen, und braucht sich nicht über die
Sinnlosigkeit zu wundern, mit der sie das Werthvolle mit dem
Werthlosen gleichzeitig zerstört, da solche Unterschiede nur für den
Menschen vorhanden sind. Die Naturgenüsse, d. h. die sinnlichen
Genüsse vermittelst der Hingabe an die mit Lustempfindung ver-
bundenen Instincte, gewinnen an Werth, dagegen sind alle höheren
moralischen Ideale blosses Hirngespinnst ohne objective Bedeutung;
jede Beziehung des Sinnenfälligen auf transcendentes Sein blosser
Trug des auf Irrwege gelangten Verstandes und daher nur schäd-
lich und zu bekämpfen.
Die Wirkungen einer solchen Theorie auf die verschiedenen
Charactere und unter verschiedenen Lagen und Geschicken des
Lebens sind leicht zu begreifen. Die Thatsachen bleiben jeder
Theorie gegenüber dieselben; das Leben bietet der überwiegenden
Mehrzahl der empfindenden und denkenden Geschöpfe eine kaum
unterbrochene Kette von Sorgen, Mühen, Leiden und Schmerzen
und nur einer kleinen Minderzahl eine derart geschützte Lebens-
lage, dass die in ihr Geborgenen von dem groben Geschütze des
Weltleides nicht getroffen werden, während das leichte Geschoss
der Unlust vermöge eines flüchtigen Sinnes oder etwelcher mora-
lischer Dickhäutigkeit minder empfunden wird. Gleich bleibt sich
auch der Drang des Menschen nach Stillung seines Lebenstriebes,
seines Glückverlangens, und gleich bleibt für jeden Denkenden das
Bewusstsein von der Incongruenz von Wollen und Erlangen.
Wonun die materialistische Theorie von einem Geist und
Character erfasst wird, in dem sich zu starken sinnlichen Trieben
ein vorherrschender Sinn fürs Reale und Concrete gesellt, da
muss dem, der keine andere Grenze anerkennt als seine Macht,
keinen Zügel duldet als denjenigen, den ihm die egoistische Klug-
heit widerwillig aufdrängt, ein rücksichtsloser Egoismus als allein
vernünftige Maxime gelten, entsprechend der absoluten Zweck-
losigkeit und Herrscherlosigkeit des zwar nothwendigen, aber ge-
rade in seiner Notwendigkeit doch wieder nur zufalligen Seins.
Wo aber eine idealistisch veranlagte Natur theoretisch überzeugt
wird von der blossen Materialität und blinden, zwecklosen Mechanik
der Welt, da muss sich zur Unlust des real empfundenen Unge-
maches des Lebens noch düstere Trauer des Herzens gesellen über
die Unseligkeit des Naturzufalles, der des Menschen Geist nur des-
wegen zur Selbsterkenntniss heranbildet, um ihn seine theuersten
Gebilde als Trug und Schaum zertrümmern zu lassen; Trauer über
eine Naturnothwendigkeit, die ihre Geschöpfe zwingt, sich selbst
zu opfern für die wesenlosen Gebilde ihres eigenen subjectiven
Wahnes. Ein solcher Mensch muss gleichzeitig aus seinem Wahr-
heitspathos heraus das Irrgehen des Geistes verachten, welches
Der Skepticismus als der Pessimismus der Wissenschaft. 81
empirischen Welt durch die Idee: es sei das Uebel bloss priva
tiven oder negativen Characters, denn diesen Schleichweg ver-
suchte schon Augustinus zu gehen, und das Uebel als blossen
Mangel des Guten zu erklären; eine Ansicht die nach ihm auch
Scotus Erigena und Abälard nutzbar zu machen versuchten
Die Popularisirung dieser Ideen war aber ein zeitgemässes Be
ginnen. Unstichhaltig vor der Kritik, wie die Lehre von der
„besten Welt" ist, die das Empirische (die Positivität des Uebels)
negiren zu können meint vermittelst Deduction aus einem Princip,
welches inductiv unnachweisbar ist, kam sie doch dem Be-
dürfniss der Zeit entgegen, denn das erwachte theoretische Gewissen
(welches auch innerhalb der Theologie in Form des reformato-
rischen und protestantischen Princips lebte und wirkte) hatte die
Autorität des Dogmas von der Gegensätzlichkeit des Irdischen und
Himmlischen untergraben und das Glücksverlangen wünschte schon
in diesem Leben etwelche reelle Garantie für die Gewährung seiner
Forderungen. Man hielt an der Hoffnung des künftigen Lebens
fest; damit man aber an die Vorzüglichkeit des Jenseits sollte
glauben können, schien es nöthig, an der Güte der Welt gleich-
sam eine Probe für die Macht und Weisheit des Schöpfers und
Herrn des künftigen Lebens zu haben. Der Leibniz'sche Optimis-
mus kam der, aus der langen Zurückdrängung des eudämonistischen
Dranges durch das kirchlich -heteronome Moralgesetz sich zur
Freiheit durchdringenden Lebensfreudigkeit zu sehr entgegen, als
dass man seine Blossen sogleich und allgemein wahrgenommen
hätte; vielmehr wurde dieser Optimismus die vorherrschende Welt-
anschauung der auf Leibniz folgenden Zeit. Er wurde gleicher-
massen von den Philosophen wie von den Theologen acceptirt, und
die Umrisslinien des Systems wurden auch vom grossen Publicum
als bequeme theoretische Rechtfertigung der, allem Ungemach der
Natur und der historischen Gestaltungen zum Trotze florirenden
instinctiven Lebensliebe dankbar entgegengenommen.
Die Leibniz'sche deutsche Auf klär ungs- Philosophie hat mit
ihrer französischen Schwester die Opposition gegen die maassge-
bendsten Dogmen der Kirche gemein; sie theilt mit ihr die
Illusion, dass bei vernunftgemässer Gestaltung des Lebens die
jetzt noch die Menschheit belastenden Uebel zum grössten Theile
überwunden werden könnten; ferner den Zug zur Individuali-
sir ung und der Verherrlichung des Individualismus (welcher in
den kirchlich gestimmten Zeiten nicht voll aufkommen konnte, ob-
gleich er sich schon mit dem Geiste der Reformation lebhaft zu
regen begann, wo er sich im religiösen Gebiete durch Secten-
bildung äusserte). Die deutsche Aufklärung blieb dagegen dem
naturwissenschaftlichen Materialismus noch ferne, aber ganz wie
Maupertuis. 85
3. Maupertuis.
(p- 197).
W enn man mit Voraussetzung obiger Definition des Begriffes
Lust und Unlust das Leben prüft, so „wird man erschrecken es ,
mit Unlust überfüllt zu sehen, und wie wenig Lust man dagegen
findet." „Wahrlich wie selten sind die Empfindungen, welche die
Seele zu bewahren wünscht? Ist das Leben etwas anderes, als ein
beständiger Wunsch, die Empfindung zu wechseln? Es geht dahiu
in Verlangen und die Zwischenzeit, welche das Verlangen von
seiner Erfüllung trennt, wünschen wir vernichtet (aneanti): oft
wünschen wir Tage, Monate gänzlich übergangen, und wenn Gott
diese unsere Wünsche erfüllte und die Zeiten, die wir hinweg-
wünschen, wirklich aus unserem Leben streichen würde, es würde
Maupertuis. 87
nicht viel übrig bleiben, vielleicht vom längsten Leben nur einige
Stunden" (p. 202).
Es gäbe — fährt Maupertuis fort — wohl wenig Menschen,
welche nicht zugestehen, dass ihr Leben mehr mit Unlust-Momenten
als mit Momenten der Lust erfüllt war, auch wenn sie nur die
Länge der Dauer der verschiedenen Empfindungs-Momente in
Betracht ziehen; wird aber auch die Intensität mit in Rechnung
gebracht, dann zeigt sich der Ueberschuss der Unlust über die
Lust als noch grösser und der Satz wird noch wahrer: „dass in
dem gewöhnlichen Leben die Summe der Uebel die Summe des
—
Wohls übertreffe" (p. 202 203). „Alle Zerstreuungen der Menschen
haben die Unlust zu ihrer Voraussetzung; nur um den un-
angenehmen Empfindungen (perceptions fächeuses) enthoben zu
sein, spielt der eine Schach, der andere geht auf die Jagd: Alle
suchen in ernsthaften oder frivolen Beschäftigungen sich selbst zu
vergessen. Auch findet man sehr Wenige, die noch einmal alle
die Zustände durchempfinden möchten, in denen sie sich schou
befanden haben; ist damit nicht klar gezeigt, dass des Uebels
mehr ist als des Wohls?"
Wir kommen nun zu den Erörterungen über die Natur der
Lust- resp. Unlust-Empfindung als solcher, d. h. abgelöst
von deren inhaltlichen Bestimmung, wodurch eine Empfindung, ab-
gesehen davon dass sie Last oder Unlust ist, auch „diese" oder
„jene" Empfindung ist.
schied ist, dass die einen durch Erregung von aussen erzeugt
werden, die andern durch Bewegung der Seele selbst. „Ich nenne
die einen Lust und Unlust des Körpers, die andern Lust und Un-
lust der Seele" (p. 208). Es ist zu verneinen, das Lust und Unlust
des Körpers nicht echte Lust und Unlust sind. „Der Philosoph,
der sagt, dass die Gicht kein Uebel sei, sagt eine Dummheit
(sottise), oder will damit nur sagen, dass dieselbe die Seele nicht
mangelhaft mache, sagt also eine Trivialität. Die Lust und Un-
lust des Körpers formen ohne Widerrede die Summe der Glücks-
und Unglücks-Momente, das Uebel und das Wohl. Die Lust und
Unlust der Seele formen ähnliche andere Summen; weder die einen
noch die andern dürfen vernachlässigt werden, man muss beide in
Rechnung bringen."
Hierzu sagt Maupertuis in der Vorrede zur Gesammt- Aus-
gabe seiner Werke: Manche hätten sich an dieser Ansicht bezüg-
lich der Gleichstellung der aus den Sinnen und der aus der Seele
stammenden Lust und Unlust gestossen; diese hätten eben ohne
Zweifel seine Definition der Begriffe Lust und Unlust vergessen,
88 Der Pessimismus der Wissenschaft.
und eben so, dass der Werth (die Grösse) der Lust und Unlust
von deren Dauer wie von deren Intensität abhänge. „Wir be-
finden uns nicht in der Illusion zu glauben, dass die eine Lust
niinder edler Natur sei als die andere; die Lust ist die edelste,
welche am grössten ist." Es zeigt aber die Untersuchung, dass
die aus der Seele stammende Lust dauernder ist, als die aus den
Sinnen stammende und das macht sie zur werthvolleren (p. 184,
ebenso p. 218— 219).
Die Lust und die Unlust, welche durch die Sinne vermittelt
werden, haben die Eigentümlichkeit, dass die Lust mit der Dauer
ihrer Ursache sich mindert, die Unlust aber sich mit der Dauer
ihrer Ursache vermehrt. Dauert die Lust zu lange, so hört sie
auf und die Ursache ihrer Entstehung wird zur Unbequemlichkeit.
Die Ursachen der Unlust können lange dauern, und je länger sie
dauern, um so schmerzlicher ist ihre Wirkung. Nur einige Theile
des Körpers vermögen Lust zu vermitteln, aber der ganze Körper
vermag Schmerz zu empfinden. Die zu lange oder zu häufige Be-
nützung der Objecte, welche die Lust der Sinne veranlassen, haben
körperliche Störungen zur Folge, und man wird nur noch kränker
durch zu häufige oder zu andauernde Wirkung der Unlust erzeugender
Objecte: es gibt hier kein Ausgleich. Das Maass der Lust,
die unser Körper uns schmecken lässt, hat enge Grenzen; das
Maass der Unlust ist grenzenlos (p. 210 211). —
Wenn man aber einwenden wollte, dass auch der Schmerz
seine Grenzen habe, indem er wie die Lust die Empfindung ab-
stumpfe, so gelte das nur von einem extremen Schmerze, wie er
nicht zu den gewöhnlichen Vorkommnissen (Zustand, etat) der
Menschen gehöre, und welchem auch keine Gattung von Lust
gegenüber gestellt werden könnte.
Günstiger stellt sich das Verhältniss für die aus der Seele
stammende Lust und Unlust. Nicht nur ist die Lust der Seele
dauernder, die Dauer und die Wiederholung vergrössert sie auch.
Die Seele empfindet sie in ihrer ganzen Ausdehnung und sie wird
durch dieselbe gekräftigt. Unter Lust, resp. Unlust der Seele ver-
steht aber Maupertuis nur solche Empfindungen, die aus der
Uebung der Sittlichkeit, resp. Unterlassung derselben, und aus
der Erkenntniss der Wahrheit, resp. aus dem Mangel derselben,
fliessen.
Alle andern, Furcht, Hoffnung u. s. w. entstammen den Sinnen,
es sind nur nähere oder fernere Objecte, auf die sie sich beziehen.
Der Gedanke, dass „man seine Pflicht nicht gethan habe, ist nun
auch eine sehr leidvolle Unlust (peine tres douloureuse): aber es
hängt von uns ab, ihn aufzuheben: sie ist sich selbst ihr Prä-
servativ. Was nun die Unlust angeht, die aus dem Nichterkennen
Maupertuis. 89
Mit Kant beginnt nicht nur ein neuer Abschnitt der Ge-
schichte der Philosophie, sondern auch die pessimistische Lebens-
betrachtung erhält von ihm eine neue Wendung, indem sie in ein
bisher nicht vorhandenes Verhältniss zur Sittlichkeit gerückt wird.
Aber wie nicht Kant schlechthin, sondern erst der Kant der
„Kritik der reinen Vernunft" der Eckstein der modernen Phi-
losophie wird, so ist auch für Kant die pessimistische Weltan-
schauung erst das Ergebniss seiner gereiften Jahre. Aus der Reihen-
folge seiner Werke lässt sich das Heranwachsen derselben zu der
Form, in welcher sie die Frucht der anti-eudämonistischen
Sittenlehre erzeugt, annähernd verfolgen.
Der junge Kant philosophirt im Sinne Leibniz' und der Ver-
nünftigkeitsphilosophie Wolf's, und ganz in diesem Sinne schreibt
er im Jahr 1759 seinen „Versuch einiger Betrachtungen über den
Optimismus". Ganz durchdrungen und gehoben durch das Be-
wusstsein, wie herrlich weit die raisonnirende Vernunft es nun-
mehr in der Begriffsbildung gebracht, geht er an seine Aufgabe,
die Berechtigung der Annahme, dass unsere Welt die bestmög-
liche der Welten sei, vermittelst Deduction aus dem Begriffe Gott
zu erhärten.
Aus dem „ geziemenden Begriff", den
man sich nunmehr von
Gott macht, ergiebt sich „als ganz natürlich, dass, wenn dieser
wählt, er das Beste wählt." Anzunehmen, dass keine Welt mög-
lich ist, über die sich nicht noch eine bessere denken lässt, ver-
stösst gegen den rechtgläubigen Begriff von Gott, indem darin eine
Beschränkung von dessen Denkvermögen enthalten ist. Gott muss
alle denkbar möglichen Welten denken können, also muss er auch
die positiv beste Welt gedacht haben. Es sind aber auch nicht
zwei oder mehrere gleich gute Welten möglich; denn der Grad
der Güte besteht in dem Grad der Realität. Nun kann aber Rea-
lität von Realität nicht unterschieden werden, es geschehe denn
dadurch, dass in dem einen zu vergleichenden Ding etwas nega-
tives gedacht wird, mithin können zwei Welten nur durch den
Grad ihrer Realität unterschieden werden. Die Gegner des Opti-
mismus sagen, es sei so wenig eine vollkommenste Welt zu denken,
als eine grösste Zahl; aber man darf die Eigenschaften der Zahl
nicht auf den Begriff der Realität übertragen; es giebt allerdings
keine Zahl, auch keine Geschwindigkeit, über die sich nicht eine
noch grössere Zahl, noch grössere Geschwindigkeit denken Hesse,
aber das sind betrü gliche Begriffe, die selbst der göttliche Ver-
Kant und der Pessimismus und die Sittenlehre. 91
stand nicht denkt. Es ist keine grösste Zahl möglich, wohl aber
grösste Realität und diese zwar in Gott. Was der realsten Welt
nun an absoluter Realität mangelt, das ist eben nur dasjenige, was
ihr nothwendig mangelt als einem Endlichen gegenüber dem Un-
endlichen; die Welt aber, die zunächst jener Kluft steht, welche
die endliche Realität von der Unendlichkeit in Gott trennt, mithin
zusammen mit letzterer die absolut grösste Summe der Realität
abgiebt, diese Welt musste Gott zum Schaffen wählen.
So ist denn Kant überzeugt und erfreut, sich als „Bürger
einer Welt zu wissen, möglich war. Von dem
die nicht besser
besten unter allen Wesen
zu dem vollkommensten unter allen mög-
lichen Entwürfen als ein geringes Glied, an mir selbst unwürdig,
und nur um des Ganzen willen auserlesen, schätze ich mein Da-
sein desto höher, weil ich erkoren ward, indem besten Plane eine
Stelle einzunehmen. Ich rufe allen Geschöpfen zu: Heil uns, wir
sind! und der Schöpfer hat an uns sein Wohlgefallen."
In dieser Betrachtung ist das Ziel nur zu zeigen, dass „das
Ganze das Beste sei, und Alles um des Ganzen willen gut." Es
handelt sich dabei nur um das Interesse des religiösen Gemüthes,
welches seinen Gott als Schöpfer einer tadellosen Welt wissen will;
nicht aber handelt es sich um den Werth der Welt, resp. den
Werth der Existenz in einer solchen für das Individuum.
Erst im Jahre 1763, in der Abh. „Versuch, den Begriff der
negativen Grössen in die Weltweisheit einzuführen" behandelt
Kant das Verhältniss von Lust und Unlust zum Zwecke einer
Bilanz beider und des auf dieser gegründeten Urtheils über den
eudämonologischen Werth der Welt.
Hier tritt Leibniz Lehre von dem bloss privativen
er bereits
Character Unlust entgegen. Unlust ist nicht lediglich ein
der
Mangel, sondern eine positive Empfindung und die blosse Nega-
tion der Lust ist die Indifferenz.
„Der Mangel der Lust sowohl als der Unlust, insofern er eine
Folge aus der Realopposition gleicher Gründe ist, heisst Gleich-
gewicht; beides ist Zero, das erstere eine Verneinung schlechthin,
das zweite eine Beraubung. Der Zustand des Gemüths, in welchem
bei ungleich entgegengesetzter Lust und Unlust von einer dieser
Empfindungen etwas übrig bleibt, heisst das Uebergewicht der Lust
oder Unlust. Nach dergleichen Begriffen suchte der Herr von
Maupertuis in seinem Versuch der moralischen Weltweisheit die
Summe der Glückseligkeit des menschlichen Lebens zu schätzen,
und sie kann auch nicht anders geschätzt werden . . Aber .
*) Ein Punct der erst durch E. von Hartmann zur vollen Klarheit
gelangt.
**) „Zur Geschichte des Pessimismus". I. Berlin, C. Duncker 1880.
94 -D er Pessimismus der Wissenschaft.
man ihn frage ob er wohl nicht nur auf dieselben sondern auf
, ,
erwidern: warum uns denn Gott in ein Leben gerufen habe, wel-
ches uns nach einem richtigen Ueb erschlag nicht wünschenswerth
erscheinen müsse? Und auf die Einwendung, dass die Welt nur'
der künftigen Glückseligkeit willen geschaffen sei, dass dieser aber
ein mühevoller Kampf vorangehen müsse, erwidert er: dass diese
Prüfungszeit („der die Meisten unterliegen, und in welcher auch
der Beste seines Lebens nicht froh werden könne") vor der höch-
sten Weissheit durchaus Bedingung der dereinst zu geniessenden
Freude sein müsse, und dass es nicht thunlich gewesen, das Ge-
schöpf mit jeder Epoche seines Lebens zufrieden werden zu lassen,
könne zwar vorgegeben, aber schlechterdings nicht einge-
sehen werden; „man kann also freilich den Knoten durch Be-
rufung auf die höchste Weisheit, die es so gewollt hat, durch-
hauen, aber nicht auflösen."
Endlich mit Bezug auf das Verhältniss von Vergehen und
Strafe bezeichnet er es als einen Irrthum zu glauben, dass das
böse Gewissen hinlängliche Strafe sei, wo die äussere Vergeltung
fehle; hiebei trage der tugendhafte Mann seine Weise zu empfin-
den auf den Lasterhaften über, was nicht statthaft sei. Denn um
so tugendhafter der Mensch, um so mehr peinige ihn das Gewissen
um kleiner Vergehungen willen, wogegen der Lasterhafte der
Aengstlichkeit der Redlichen lache, so lange er nur äusserer Züch-
tigung entgehen kann.
Die Uebel, welche angeblich als Wetzstein der Tugend dienen
sollen, erscheinen der Erfahrung gemäss oft, als ob sie nicht da
seien, damit der Tugendhafte seine Tugend rein zeige, sondern weil
sie es schon ist, d. h. entgegen kluger Selbstliebe, mithin also ge-
rade als das Gegentheil der Gerechtigkeit, wie solche der Mensch
sich vorstellen muss. Wenn nun aber auch wieder auf eine andere
Ordnung der Dinge in einer künftigen Welt verwiesen werden
sollte, so ist diese Voraussetzung auch willkürlich: „denn was hat
die Vernunft für ihre theoretische Vermuthung anderes zum Leit-
faden als die Naturordnung? wie kann sie erwarten, dass,
da der Lauf der Dinge nach der Ordnung der Natur hier auch
für sich seihst weise ist, er nach ehen demselben Gesetze in einer
7*
100 Der Pessimismus der Wissenschaft.
Die Zustände des Lebens, an welchen sich die Klage des pessi-
mistischen Bewusstseins entzündet, welches man den Weltschmerz
nennt, sind als Zustände zum Theil dieselben, die .schon den
„Prediger" verdrossen, die den Stoicismus und den Neuplatonis-
mus zur Resignation und zur Fleischesverachtung und das Christen-
thum zum contemptus mundi geführt hatten. Doch sind es eben
nur dieselben Zustände, aber nicht mehr dieselben Ob j e et e, weil
die Subjecte, für die sie Object werden, Andere geworden sind im
Laufe der natürlichen und historischen Entwicklung durch die
Jahrhunderte und Jahrtausende. Es sind aber auch die socialen
und politischen Kreise und Formen durchaus verändert und secun-
däre Gebilde erwachsen, auf die das Empfmdungssubject in Lust
und Unlust reagirt, und ist damit Material für die pessimistische
Betrachtung geliefert, welches den Pessimisten der frühern Perio-
den noch mangelte.
Der Mensch selbst ist ein anderer geworden. Der Träger des
Weltschmerzes ist der Abkömmling von Generationen, deren Kampf
um die Existenz vorwiegend mit den Waffen des Geistes geführt
wurde; er ist der Natur in concreto in hohem Grade entfremdet,
obgleich er in abstracto die Zugehörigkeit zu ihr oft mit Pathos
betont und diese Entfremdung, deren Gegentheil er doch nicht
.
letzte Wort zu sagen weiss, so ist er geneigt, auch das, was sie
ihm zu sagen hat, gering zu achten, oder doch nur im Dienste
der Zersetzung der optimistischen Anschauungen zu acceptiren;
sei es, dass sie durch besonnene Zurückhaltung über die letzten
tiefsten Naturgeheimnisse ihm das Gefühl des Verlorenseins im
Geheimniss des Alls schmerzlich zum Bewusstsein bringe, sei es,
dass sie als sogenannter wissenschaftlicher Materialismus den
Hintergrund des Seins als einen solchen darstellt, von dem sich
das Menschenleben mit seinen Schmerzen und seinem Hoffen, seinem
Sehnen und Streben, seinen Idealen und seinem Schmutze erst
recht als ein Tollhäuslertraum abhebt.
Die Periode des Weltschmerzes beginnt mit dem letzten Jahr-
zehnt des vorigen Jahrhunderts und dauert bis zur Stunde, während
die typischen literarischen Denkmäler, welche der Weltschmerz
erzeugte, in die zwanziger bis fünfziger Jahre unseres Jahrhunderts
fallen. Der Weltschmerz in seinen verschiedenen Stadien ist die
Reaction auf den Optimismus der rationalistischen Aufklärungs-
Philosophie des 18. Jahrhunderts, auf den ethischen Rigorismus
Kants und den abstracten Idealismus Fichtes. Er ist das Bewusst-
sein, dass weder die AufkläruDg im religiösen Gebiet, noch die
Fortschritte der Wissenschaft, noch die Dienstbarmachung der-
selben fürs gewöhnliche Leben, noch die mässigen Fortschritte in
der Richtung einer günstigeren politischen Ordnung glücklich zu
machen vermögen; dass allen Idealismas ungeachtet das Leben im
Ganzen noch realistisch materiell und egoistisch gemein und
kleinlich geblieben ist. Er ist ferner das Bewusstsein, dass die
Welt, so sehr sie innerlich und äusserlich verändert ist, doch noch
immer das „irdische Jammerthal" des als irrationell verwor-
fenen Dogmas ist, nur noch etwas schattendunkler, weil sich der
Regenbogen der Jenseits-Hoffnung nicht mehr darüber wölbt. Er
ist endlich das Bewusstsein, dass Tugend und Glück (wenn man
unter letzterem mehr versteht als Ruhe des Gewissens) nicht in
Proportion stehen, auch nicht unter einen Hut zu bringen sind,
was schon Kant gelehrt hat, was aber bei minder reintheoretisch
veranlagten Characteren zum vollen herzdurchfluthenden Bewusst-
sein nur vermittelst einer gewaltigen, schmerzlich an den Grund-
festen der Seele rüttelnden Erschütterung —
gleichsam einem
geistigen Erdbeben —
kommen kann.
Die dem Weltschmerz eigene, vorwiegend lyrische Form endlich
ist das Resultat jenes Ich-seligen Individualismus aus dem Ende
des vorigen und Anfang dieses Jahrhunderts, wo man es versuchte,
sich über die äussere Welt zu trösten durch Schaffung einer parti-
cularistischen nur mit wenigen gleichgestimmten Seelen zu thei-
,
nicht die Idee, die er vertritt; er rettet vielleicht diese erst durch
seinen Untergang, oder aber die Tragik liegt darin, dass eine be-
rechtigte Idee und deren Träger einer noch höher berechtigten
weichen müssen. Es ist dann das Loos des Individuums zwar ein
betrübendes und erschütterndes, aber das Unterliegen der minder
berechtigten Idee (ungeachtet ihrer machtvollen Vertretung) ist ein
Moment der besten 'Weltordnung; so erscheint auch der ganze
Weltprocess entsprechend der H
e g e l'schen Philosophie als ein
tragischer, und doch ist die Weltanschauung des Systems eine
optimistische.
Dagegen geht beim Weltschmerzdichter das Berechtigte gleich
zu Grunde wie das Falsche, und nicht die logische Berechtigung
des Sieges einer universalem Idee über eine andere wird betont,
sondern der Schmerz des unterliegenden Theiles. Dieses hat ja
auch eine gewisse Berechtigung: denn das Unterliegende ist in
der Regel das Individuelle und von einer concreten Person Ver-
tretene, das Siegreiche aber das Allgemeine, also nicht ein Em-
pfindungssubject wie das erstere. Es ist ferner auch insofern be-
rechtigt, als häufig genug das logische Verhältniss der im Kampfe
liegenden Ideen vorläufig unerkennbar bleibt, so dass, was einer
fortgeschritteneren Zeit als logische Notwendigkeit und welt-
teleologisch vollberechtigt erscheint, doch von der Zeit des Ge-
schehnisses wie blindes Fatum empfunden wird: „das „Warum"
wird offenbar, wenn die Todten auferstehen" —
eine Antwort die
um so schmerzlicher ist, als der Weltschmerz-Dichter den Accent
auf das „wenn" legen muss.
Der Weltschmerz in den Faustdichtungen. 109
Wahrung der Ichheit aber, welche die Identificirung mit dem All-
gemeinen nicht vermittelst der Hingabe an die Welt, sondern viel-
mehr vermittelst der Aufnahme des Formenreichthums der Welt
in's eigene Ich verlangt, entspricht dem Erkenntnissdrange, dem
Alles nur ist, sofern es als Vorstellung zum Inhalt und gleichzeitig
damit zum Factor des Ich's wird. Es wohnt dieser Erkenntniss
die Ahnung inne, dass nur unter Voraussetzung der Einheit alles
Seienden überhaupt Aussicht auf Stillung seines Dranges sei, endlich
auch, dass wir in unserem Innern dem Absoluten noch immer näher
stehen, als wir ihm vermittelst Ausdehnung im Seienden nahe
kommen könnten. Aber dieser Ahnung, diesem dunklen Drang ist
vorerst der „rechte Weg" durchaus noch nicht gegeben; Fausts,
des Weltschmerzlers Weg ist zuerst ein Irrweg und aus der Posi-
tionsverrückung aus der versuchten Ueberordnung des Einzelnen
,
Auch auf die Natur schilt er, die ihn nur mit ihren Wer de-
Geheimnissen locke, ohne etwas davon zu verrathen, und er wendet
sich von ihr ab; aber eben so wendet er sich von der religiösen
Idee ab: durch Gottes Gnade, durch Gottes Geist zum Wissen
des Absoluten zu gelangen:
sagt letzterer und dem Faust dämmert zwar die Ahnung auf, wo
sein Unheil im Allgemeinen liegt, wenn er (allerdings in erster '
3. Drei Weltschmerzdichter.
wir leiden müssen, leiden durch Ekel an dem nichtigen Leben der
Gegenwart, ein Uebel für den hochgestimmten Geist, schlimmer
als positive Qual,
Er beklagt den
politischen Verfall seines Vaterlandes und be-
jammert seine sich vermählende Schwester, dass es nun ihr Ge-
schick sein werde, in solcher schlimmen, schmachvollen Zeit das
unselige Geschlecht des Vaterlandes vermehren zu helfen. Unglück-
liche oder Feige werde sie gebären, und er muss wünschen, dass
es der erstem werden, da doch nun einmal ein Abgrund klaffe
zwischen Glück und Werth.
Ja, so schlecht und verächtlich ist dem Dichter sein Volk und
seine Zeit, dass an deren Beifall ihm nichts gelegen ist; nicht
Ruhm kann ihn locken, nur der Wahrheit will er dienen, nur sie
kann ihn noch in Thätigkeit erhalten, denn
„erkannte Wahrheit, ob sie
Auch trostlos sei, hat ihren Reiz."
Drei Weltschmerzdichter. 117
„Gleiche
Zaubermacht übt Schönheit wie Musik, die uns so oft
Von unbekannten Paradiesen hehres
Geheimniss zu enthüllen scheint. Dann hätschelt
Der tiefge troff 'ne Sterbliche das Kind der eignen
Seele, das geliebte Urbild,
Den Inbegriff der ew'gen HimmelsAvonne,
Ganz in Gesicht, Geberde, Stimm und Rede
Dem ird'schen Weibe gleich, das zu ersehnen
In seinem Taumel wähnt der Liebende.
Und doch nicht dieses, jenes nur, das Urbild
Liebt und ersehnt er selbst im Rausch der Sinne.
Doch endlich wird er inne seines Wahns
Und der Verwechslung, zürnt dann und beschuldigt
Gar ungerecht, das Weib."
der hart, weil unabwendbar, der Schmerz nicht geringer, weil die
Hoffnung, dass es dauernd besser werde, mangelt. Und nun soll
auch selbstgewählter Tod den „Göttern" missfällig sein? Sollte
denn unser Herzeleid den Göttern Kurzweil sein? Glücklicher sind
die Thiere als die Menschen; denn wenn jene die Noth treibt, sich
selbst zu zerstören, so würden sie nicht, wie den Menschen, von
einem Etwas, „sei es Wahngedanke, sei es geheim Gesetz", daran
verhindert.
Mit der etwas im Zopfstil personificirten „Natur" die auch
,
blühende, als Thier und Vegetation des Lebens sich freuende Na-
tur gemeint. An der Natur in letzterem Sinne erfreut er sich,
sieht aber darin wieder die Zeichen menschlichen Elendes, dass
diese Natur so unbekümmert um das Geschick der Menschen und
der Nation ihr Leben weiter lebt. Ebenso strahlend geht der Mond
auf über des Dichters verkommenes Zeitalter, wie über Roms Grösse,
und unbekümmert singt der Vogel, mögen die Zeiten sich auch
fort und fort verschlimmern. So reichlich aber auch der Quell
des Jammers sprudelt, zwei Objecte des Weltschmerzes bleiben
unausgebeutet der erkenntnisstheoretische Zweifel und der
:
folger gefunden, von denen mehr als einer, wenn auch nicht an
Tiefe der Empfindung, so doch in der Macht des Ausdruckes ihm
überlegen war; wir erinnern beispielsweise an G. Herwegh (Lieder
eines Lebendigen).
Ebenso die andern Seiten des Weltschmerzes, das Gefühl des
Preisgegebenseins des Einzelnen im Getriebe des Weltganzen, und
vor allem das Gefühl der Müdigkeit, welche das Ringen um Lust
und Glück, an die man nicht mehr ehrlich glaubt und die man
doch nicht missen möchte, im Gefolge hat, haben in allen Cultur-
sprachen ihren Ausdruck gefunden in gereimter Form, wie nicht
minder auch im Roman und in der Novelle.
Unter den Dichtern der Gegenwart hört man öfter H. Lorm
als Weltschmerzdichter bezeichnen; aber mit Unrecht, denn Lorm
schifft nicht auf dem uferlosen See der blossen Erfahrung herum,
sondern er führt uns in der Reflexionsdichtung eine metaphysisch
ergänzte Weltanschauung vor, die ihm das Anrecht auf die Be-
zeichnung als Pessimismus-Dichter giebt. Dass diese seine
Weltanschauung sehr negativ ist, und mit den Indiern und mit
Schopenhauer eigentlich nur die trügerische Maja und den
lebenshungrigen Willen zum Princip hat, ändert daran nichts.
Die Sehnsuchtsstimmung, das Verlangen nach Ruhe, aber ge-
fühlter, süsser Ruhe findet sich sehr schön bei diesem Dichter
ausgesprochen:
4. Pessimistisches im Sprichwort.
Deutsche, „ein Unglück, ein Glück", sagt sogar der Russe, und
der Spanier und Baske in „Willkommen Unglück, wenn du allein
kommst." Das Unglück kommt schnell und geht langsam: „Un-
glück kommt geritten, geht weg mit Schritten", auch kommt es
„Fuderweis und geht Lothweis" —
sagt der Italiener.
Wenn man glaubt, einer Sache noch so sicher zu sein so ,
Sprachen sagt man, dass man „den Tag nicht vor dem Abend
loben soll."
122 Der Weltschmerz und die Poesie des Pessimismus.
Manches sieht anfänglich ganz günstig aus, aber „es ist nicht
alles Gold was glänzt" und „der hinkende Bote kommt hinterher."
Auch schützt kein Stand und keine Lage vor dem Uebel:
„Es ist kein Häuslein, es hat sein Kreuzlein", sagen die christ-
lichen Schwaben, und der Litauer sagt ganz Schopenhauerisch:
„wo Fussstapfen sind, da ist auch Noth". Arm sein ist
schlimm, denn „den Armen kennt man nicht" and „der Armuth
werden die Pillen nicht vergoldet"; dazu kommt noch, dass ..Ar-
muth eine Haderkatze ist." Aber reich sein bringt auch Uebel
im Gefolge: „hoher Baum fängt viel Wind" und „Würde bringt
Bürde"; „grosses Gut, grosse Sorge" und „Gut" macht nicht nur
„Muth", sondern „Gut macht Uebermuth", und „Uebermuth thut
nicht gut", denn, setzt der Franzose hinzu: „Man erträgt alles,
nur nicht das zu gut."
Es entspricht Wohlergehen und Unglück auch nicht dem
Verdienste: „Der Esel trägt das Korn in die Mühle und bekommt
Disteln"; „die Frommen bekommen die Neige" und „der Gute
hat selten das Gute" (Albanesisch). In christlich beeinflusster Form
heisst's „der Frömmste muss das Kreuz tragen", und wenn tröst-
lich darauf folgt: „per crucem ad lucem", so ist dies doch erst
Vergeltung im Himmel, aber in diesem Leben ist „Undank der
Welt Lohn".
Bei dieser Beschaffenheit des Daseins lobt die Volksweisheit
denn die „Hoffnung" sehr, die diesen Übeln Zustand erträglicher
macht; „wenn die Hoffnung nicht wär, so lebt ich nicht mehr,"
sagt der Schweizer, „die Welt ruht auf der Hoffnung" der Perser,
und der Italiener sagt „Hoffnung ist das Brod der Unglücklichen."
Aber auch die Hoffnung theilt die Unvollkommenheit alles
Uebrigen: „Hoffen und Harren macht manchen zum Narren," und
„wer von der Hoffnung lebt, stirbt arm."
Dies mag genügen für unsern Zweck; die Beispiele können
aus jeder Sprichwörter-Sammlung ergänzt und vermehrt werden.
An die abergläubischen Sitten, wie sie gegenwärtig noch
selbst bei unserem mittel-europäischen aufgeklärten Bauern- und
Bürgerstand lebendig sind, können wir ebenfalls nur erinnern und
überlassen es dem Leser selbst, die Beispiele herbeizuziehen: es
wird ihm nicht schwer werden, solche zu finden.
Besonders interessant auf diesem Gebiete erscheint uns die
Furcht, „das Glück zu berufen", d. h. die Scheu, sich selbst glück-
lich zu preisen oder sich seines Wohlergehens, der Gesundheit
seiner Kinder u. s. w. zu rühmen, weil man die Dauer des ge-
rühmten Zustancles damit für gefährdet erachtet. Dieser aber-
gläubischen Furcht könnten zwei Gedankengänge zu Grunde liegen:
Pessimistisches im Sprichwort. 123
i. Schopenhauer.
a. Schopenhauers Weltschmerz.
Sinnlichkeit sind, worin wir das ewig Eine Wesen anschauen und
welche diesem, abgesehen von seiner Erscheinung als Object eines
Subjectes, gar nicht zukommen; ebenso wie die Kategorien der
Zahl, der Quantität, Qualität und Modalität bloss Formen unseres
Intellectes sind. Das „Ding an sich" aber, welches Kant vermit-
telst seiner Theorie nie zu erfassen vermag und dennoch nicht
missen kann, das erfasst Schopenhauer im eigenen, der Erkennt-
niss durch die Anschauung nicht benöthigenden Inneren, als den
Willen.
Den Willen, der das Sein will und es damit setzt, erfährt
der Mensch in seinem Sein und seinem Streben zwar auch nicht
gänzlich rein an sich, denn er erfasst ihn in sich selbst immerhin
auch in der Form der Zeitlichkeit, aber doch frei von der Hülle
der übrigen Formen der Sinnlichkeit und des Denkens.
Im Willen ist dasPrincip gefunden, welches die Erkenntniss-
theorie vor dem Illusionismus rettet, zugleich aber auch dasjenige
psychologische Princip, wodurch das Licht des Verständnisses
auf die leidvolle Beschaffenheit des Lebens und der Welt fällt.
Durch die psychologische Betrachtung der Lebensvorgänge gelangt
Schopenhauer zu demselben Puncte, zu dem er aus der subjec-
tiv-idealistischen Erkenntnisstheorie flüchtet, wenn ihm in dieser
der Boden der transcendenten Realität und damit auch die Berech-
tigung und Vorbedingung des Philosophirens zu wanken beginnt.
Darum nannte Schopenhauer seine Philosophie ein Schmerzens-
kind, unter Drang und Noth geboren, weil der Weltschmerz im
Centrum seiner ganzen Denkthätigkeit stand und unter seinem Ein-
fluss und in seiner grellen Beleuchtung das Princip seiner Welt-
erklärung gefunden wurde.
Der Wille, der Eine und untheilbare (denn „Theil" und „Viel-
heit" sind nur Begriffe, welche dem Ding an sich nicht zukom-
men), will stets und immer mit unendlichem, unstillbarem Durste
das Dasein; er will es blind und ziellos im anorganischen Reiche,
blind und in traumartigem, instinctivem Halbbewus'stsein in der
Pflanzen- und Thierwelt, und mit Bewusstsein und zielvoller Ab-
sichtlichkeit im Menschen. Das Bewusstsein und die Intelligenz
mit ihren Denkformen ist Product des Gehirnes, oder richtiger,
d. h. von einem höheren Standpunkte betrachtet, ist das Gehirn
die materielle Anschauungsform des Intellectes; beide (die aber
nur für die unphilosophische Betrachtung zwei sind) sind oberstes,
höchstes Product des Willens. An sich, seinem Wesen nach, ist
auch das Gehirn Wille; Wille zum Erkennen, wie der Magen und
die vegetativen Organe Wille zum Verdauen und Ernähren, die ge-
schlechtlichen Organe Wille zur Fortpflanzung der Gattung sind;
alles, was ist, ist nur der eine Wille in seiner unendlichen Man-
Schopenhauer. 127
als Leiden; kein letztes Ziel des Strebens, also kein Maass und Ziel
des Leidens." (365.)
Wie Leibniz nur die Lust als positiv und die Unlust als
blosse Privation kennen will, so ist für Schopenhauer die Un-
lust das Positive und
die Lust nur die Privation derselben.
Schopenhauer empfindet durchaus als Weltschmerzler; er
hat ein titanisches Selbstgefühl, welches (als Gefühl) weder sein
Monismus noch die erkenntnisstheoretische Einsicht von der blossen
Phänomenalität der Ichheit zu dämpfen vermag und welche ihn zu
hoher Grlorificirung des Genius gegenüber der „Dutzendwaare der
Natur" führt.
Dieses starke geniale Ichgefühl ist nur eine specielle Anwen-
—
.
b. Schopenhauers Weltverachtung.
die unlustige Erfahrung lehrt, besser nicht wäre, wird ihm zum
Nicht-sein-sollenden im Sinne von Nicht-sein- dürfenden. Erstellt
sich ausschliesslich auf den Intelligenz-Standpunct und muss von
diesem aus, nachdem ihm einmal die Allmacht des Leides klar ge-
worden ist, alles Grundlose verneinen; aber statt es nur als un-
vernünftig zu verurtheilen, verdammt er es als bös.
PI üm ach er. Pessimismus. 9
130 Der philosophische Pessimismus.
2. E. v. Hartmann.
a. Hartmänn's Weltprincip als Princip des eudänionolo-
gisclien Pessimismus.
Der Wille ist das An-sich der Realität: alles, was real ist,
ist Wille; aber nicht der „blinde", leere Wille Schopenhauers ist
das An-sich der realen Welt, denn der Wille muss, um realität-
setzendes Princip zu sein, einen Inhalt haben. Dieser Inhalt ist
die Vorstellung.
Der Wille setzt das „dass" der Welt, die Vorstellung bestimmt
ihr „Wie" und „Was", d.h. die qualitativen Eigenschaften des Da-
seins. Der Wille ist das Primäre und Ursprüngliche, das unzeit-
lich der Vorstellung Voranstehende. Das Welt-Wollen erhebt sich
als Action aus der Potentialität grundlos aus sich selbst und er-
greift erst in seinem Aufbäumen die Vorstellung als seinen Inhalt,
womit ihm erst die Möglichkeit des realen Daseinssetzens ge-
geben ist. Der Wille ist reine Activität, die Vorstellung reine
Passivität.
Das Dasein der Welt ist grundlos, nicht aber der Inhalt der
Welt; dieser ist von der Vorstellung nach deren eigenen Gesetzen
bestimmt; wie aber der Wille das Alogische ist, so ist die Vor-
stellung das Logische, und dieses bestimmt das concrete Sein und
Geschehen.
Der Wille und die Vorstellung sind nicht zwei Wesenheiten,
sondern es sind die Thätigkeiten eines Trägers ihrer Existenz: sie
sind die Attribute des Absoluten. Der Wille ist an und für sich
als Princip der Actualität und Realität ein unbewusster psychischer
Vorgang; die Vorstellung als an sich seiende Inhaltbestimmung des
Willensactes ist unbewusste Idee. So ist das Absolute der All
Eine unbewusste Geist. Erst in der Collision der mit unbe-
wusstem Inhalt erfüllten Willensacte entzündet sich das Bewusstsein
und der nunmehr bewusste Willensinhalt gewinnt im endlichen
Geiste eine Selbständigkeit in der rein-idealen Sphäre des Intel-
lectes, welcher mithin gleichsam den Spiegel der real-seienden Welt
bildet. (Die Welt als meine Vorstellung.)
Bei Schopenhauer wird der Wille als das An-sich der Welt
beständig behandelt, als ob er Wesen im Sinne von Substanz
wäre, obgleich uns ausdrücklich gesagt wird, dass er nur eine
Aeusserungsweise sei, über die hinaus man mit der Erkenntniss
nicht könne; ebenso wird der Wille beständig so dargestellt, als
ob er mit unbewusster Vorstellung, als seinem Inhalt, erfüllt sei,
obgleich er principiell als der blinde, leere Wille zum Dasein auf-
E. v. Hartmann. 135
geführt wird und aller so und so bestimmte Inhalt nur der sub-
jectiven Erscheinungswelt, der Welt als Vorstellung des Intellectes
angehören sollte. Dass sich Schopenhauer nicht über den Wider-
spruch erheben kann, der darin liegt, dass ein einfaches, blindes,
in |sich bestimmungsloses Princip in seiner Action plötzlich als
Subject sehend und als Object in unerschöpflichem Formenreich-
thum erscheinen soll, das liegt an seinem erkenntnisstheoretischen
Idealismus. Hart mann vertritt einen transcendentalen Real-Idea-
lismus; nach diesem ist die Welt allerdings in erster Linie .meine
Vorstellung". Aber mein ideales Gebiet der Vorstellungen ist nicht
das alleinige Reich der Vielheit, sondern meinen subjectiv vorge-
stellten Dingen und Geschehnissen in Zeit und Raum und bestimmt
durch die Kategorien der Sinnlichkeit und des Denkens entsprechen
objective, reale „Dinge an sich" und „Geschehnisse an sich", die
wie in ihrem Sein so auch in ihrem So-sein unabhängig von meiner
Perception sind.
Freilich ist das Wesen der Welt nur Eins, aber in seiner
Thätigkeit als Wille und Vorstellung setzt es eine reale vielfor-
mige, vielgestaltige Welt der Individuation; principia individuato-
nis sind (wie bei Schopenhauer) Raum und Zeit, aber Raum
und Zeit sind nicht blosse Formen der Anschauung, sondern der
Raum wird gegeben durch die Kreuzungspuncte der Willensacte,
welche die Materie darstellen, während die Zeit mit dem realen
Geschehen als dessen Accidenz gesetzt wird. Das Gesetz unseres
Geistes, wonach wir die Anschauungen und Wahrnehmungen als
ausser uns seiende und von uns unabhängige, von aussen auf uns
einwirkende Dinge und Vorgänge aufzufassen genöthigt sind, das
Causalitätsgesetz, es ist kein Trug, kein „Schleier der Maja",
sondern es ist die ideale Brücke, auf welcher unser Geist aus der
„Welt als Vorstellung" hinübergelangt zu der Welt der Dinge an
sich; dass aber der endliche Geist als Intellect das ausser seiner
Individual-Sphäre liegende Reale ideal reproduciren kann, das setzt
voraus, dass dieses, ungeachtet seiner Realität, doch auch geistiger,
idealer Art sei.
Was wir „Materie" nennen, das ist unsere Anschauungsweise
gewisser Willensactionen des Einen unbewussten Geistes; die quali-
tative Beschaffenheit aber bedingt die unbewusste Vorstellung, als
Inhalt der sie tragenden Willensacte.
Auf dem Standpunct des subjectiven Idealismus ist nicht ein*
mal eine Metaphysik im eingeschränkten Sinne Schopenhauer's
gerechtfertigt; seine unmittelbare Erfassung des Willens ohne
Theilung in Subject und Object ist eine Selbsttäuschung.
Auch meinen Willen, wie mein „Ich", besitze ich nicht als Ding
an sich, sondern nur in der Empfindung, und der primitivsten Form
136 Der philosophische Pessimismus
der bewussten Vorstellung werde ich nur inne; aber allerdings bin
ich in mir dem Wesenhaften näher als sonst wo, weil in meinem
Bewusstsein Spiegelbild und Spiegel eins sind.
Die Berechtigung, vermittelst Vernunftschlüsse auf das hinter
der Erfahrung liegende zu schliessen, also der Schluss vom Physi-
schen auf ein Metaphysisches, von der eigenen Psyche auf die
Weltpsyche, hängt davon ab, ob das Causalitätsgesetz in uns uns
trügt oder nicht. So ist denn auch Hartman n's Philosophie
nur Philosophie der Wahrscheinlichkeit und will nichts an-
deres sein.
Die Philosophie der Wahrscheinlichkeit ist streng monistisch,
aber concreter, nicht abstracter Monismus, wie Hart-
sie ist
mann den auf transcendental-realistischer Grundlage sich erhebenden
Monismus von dem auf subjectiv-idealistischer fussenden Monis-
mus S c ho penhau er' s und der indischen Religionsphilosophie
unterscheidet.
Ein unbewusster Geist setzt in seiner Willens- und Vorstel-
lungsthätigkeit die Welt, die nicht als „Schöpfung", als ein Zweites
ausser ihm, steht, sondern in welcher und als welche er existirt.
Die Welt ist eine Summe von Willensacten und eine Summe von
Ideen; allseitig untereinander zusammengefasst zu Willens- und
Idee-Complexen, aber auch ebenso in lauter Acte der Opposition
zerspalten.
Denn jede Idee ist zwar einfach, was sie ist, und genügsam in
ihrer Beschränktheit, welche letztere zu ihrer (ewigen) Natur ge-
hört; aber die Kraft ihrer Existenz ist der Wille und der Wille
istschrankenlos und will sich schlechthin und ganz, daher jeder
Willensact ins Unendliche strebt. Die Existenz ist ein beständiger
Kampf der Willensacte, der sich im Reich des Bewusstseins als
Kampf der Ideen darstellt und in der Psychologie den Egois-
mus bildet.
Der Monismus ist die Vorbedingung, wenn Erkenntniss im
philosophischen Sinne möglich sein soll; Vorbedingung der Reli-
gion, in dem Sinne eines Zusammenwirkens des göttlichen und
menschlichen Geistes, und endlich die Vorbedingung der Begrün-
dung der ethischen Forderung.
Als das Characteristische seiner Weltanschauung bezeichnet
Hartmann nicht sowohl den Pessimismus schlechthin, als vielmehr
die Verbindung des Pessimismus mit dem Optimismus, deren For-
mel so lautet: die Welt ist so gut als sie sein kann, aber sie ist
schlechter als keine Welt.
Aller Inhalt des Seins ist logisch; in der Uebereinstimmung
der Seinsformen (und der Formen des inhaltlichen Geschehens) mit
den Formen unseres Intellectes liegt die Ursache, dass vom reinen
E. v. Hartmann. 137
Empfinden keinen Anhalt hat, wird von Hart mann dahin corri-
girt, dass „der zur Aequivalenz (einer Unlust) nöthige Coefficient
nicht nur gleich 1 zu sein brauche", wie man gewöhnlich annehme,
„vielmehr eine Lust dem Grade nach merklich grösser sein muss,
als eine Unlust, wenn beide sich für das Bewusstsein so auf-
wiegen sollen, dass man ihre Verbindung dem Nullpunct der
Empfindung gleich setzt, und sie demselben bei einer kleinen Er-
höhung der Lust oder Erniedrigung der Unlust (dem Nichts-Em-
pfinden) vorzieht." „Wahrscheinlich schwankt übrigens dieser Coef-
ficient bei verschiedenen Individuen zwischen gewissen Grenzen
und dürfte nur seine mittlere Grösse grösser als 1 sein." Uebri-
gens bezeichnet Hartmann diese Ansicht selbst nur als „ihm sehr
wahrscheinlich vorkommend", und nur wenn sie richtig sein sollte,
so würde auch dieser Umstand wieder bewirken, dass bei objec-
tivem Gleichgewicht von Lust- und Unlust - Ursachen doch die
Verbindung beider dem eudämonologischen Werth nach subjectiv
unter dem Nullpunct stehen würde.
Mit Schopenhauer theilt hingegen Hart mann die Ausdeh-
nung seiner Betrachtungen über das Verhältniss von Lust und
Unlust auf die Thier weit; es ist dies theoretisch begründet durch
den Monismus, dem entsprechendes das Eine Wesen, das eine
Subject-Object ist, welches auch in der Psyche der Thiere der
Träger von Lust und Unlust ist.
140 Der philosophische Pessimismus.
dar, den Bauhorizont, auf dem erst die Lust des Lebens sich er-
heben sollte. So lange sie ungestört bestehen, werden sie durch-
aus nicht als Lust empfunden, sondern sie haben jenen rein priva-
tiven Character, den Leibniz dem Uebel zuschreiben wollte. Sie
sind nur die Privation von Alter, Krankheit, Knechtschaft und
Noth; sie sind ihrer Natur nach unfähig, Lust zu erzeugen, es sei
denn vermittelst des Contrastes mit vorhergehender Unlust, hervor-
gerufen durch gegensätzliche Zustände (denn jedes Hinuntersinken
von diesem Bauhorizont wird schmerzlich empfunden).
Niemand fühlt ein Glied, als wenn er krank ist, der Gesunde
nimmt nur durch den Gesichts- und Tastsinn wahr, dass er einen
Leib hat.
Die Jugend ist die Zeit der vollkommensten Gesundheit und
des ungestörtesten Gebrauches des Körpers und Geistes, woraus die
vollste Genussfähigkeit resultirt; die Fähigkeit zum Geniessen garan-
tirt aber nur die Möglichkeit, nicht die Wirklichkeit des Ge-
nusses: was nützen einem z. B. die besten Zähne, wenn man nichts
zum Beissen hat.
Ebenso fühlt niemand etwas besonderes, wenn er selbst seine
Handlungen bestimmt, denn dies ist der selbstverständliche, natür-
liche- Zustand; aber schmerzlich wird jeder Zwang von aussen als
Verletzung des ersten und ursprünglichsten Naturrechtes em-
pfunden.
Auch die auskömmliche Existenz, oder das Gesichertsein vor
E. v. Hartmann. 141
Noth und Entbehrung ist nur die conditio sine qua non des Lebens,
das nun seiner inhaltlichen Erfüllung harrt, und kann daher auch
nicht als Genuss oder Gewinn erachtet werden.
Denn das nackte, in seinen Existenzbedingungen gesicherte
Dasein kein positives Gut, es befriedigt uns nicht; es wird im
ist
Gegentheil durch die Langeweile zur Qual, wenn nicht eine inhalt-
liche Erfüllung hinzu kommt.
Die gewöhnliche Erfüllung ist nun die Arbeit; die Arbeit ist
für den, der arbeiten muss, ein Uebel, mag sie auch in ihren
Folgen für ihn selbst, wie für die Menschheit und den Fortschritt
in ihrer Entwickelung noch so segensreich sein. Niemand arbeitet,
der nicht muss, d. h. der nicht die Arbeit als das kleinere von
zweiUebeln auf sich nähme, oder um sich grössere positive Güter
zu erkaufen. „Alles, was man über den Werth der Arbeit sagen
kann, reducirt sich entweder auf volkswirtschaftlich günstige Fol-
gen, oder auf die Vermeidung grösserer Uebel („Müssiggang ist
aller Laster Anfang"), und das höchste; was der Mensch erreichen
kann, ist, „dass er fröhlich sei bei seiner Arbeit, denn das ist sein
Theil", d. h. dass er das Unab wendliche durch Gewohnheit so gut
als möglich ertragen lernt. Während Jugend und Gesundheit
einem geschenkt sind, ist Arbeit in der Regel der Preis, um wel-
chen die gesicherte Existenz erkauft wird; die letzte, ohnehin kein
positives Gut, muss also auch noch mit Unlust erkauft werden.
Hier citirt Hartmann Schopenhauer: „Im Alter von 5 Jah-
ren eintreten in die Garnspinnerei oder sonstige Fabrik, und von
dem ab erst zehn, dann zwölf, endlich vierzehn Stunden darin
sitzen und dieselbe mechanische Arbeit verrichten, heisst das Ver-
gnügen, Athem zu schöpfen, theuer erkauft."
Und nicht mindere Opfer als die Erkämpfung des Lebensunter-
haltes „erfordert das Erkämpfen einer relativen Freiheit. Denn
volle Freiheit erlangt man nie."
Besitzt man die vier privativen Güter, so sind die äusseren
Bedingungen zur Zufriedenheit gegeben; tritt dann die innere
Bedingung, das sich Bescheiden mit dem Nothwendigen hinzu,
so wird in dem Betreffenden Zufriedenheit herrschen, so lange keine
erheblichen Unglücksfälle und Schmerzen ihn treffen. „Die Zu-
friedenheit verlangt kein positives Glück, sie ist gerade die Ver-
zichtleistung auf ein solches, sie verlangt nur Freisein von er-
heblichen Uebeln und Schmerzen, also ungefähr denNullpunct der
Empfindung.
„Wenn trotzdem so vielfach die Zufriedenheit als ein Glück,
ja als höchst erreichbare Glück gepriesen wird
das —so kann
,
dies nur dann richtig sein, wenn der Zustand der Schmerz-
losigkeit und freiwilligen Resignation auf alles positive Glück
142 Der philosophische Pessimismus.
und Unendlichen, der sie eigentlich hebt und trägt, ist zerstört;
sie erscheint vergänglich wie alles Wiederkehrende."
Die Liebe ist aber nicht allein Instinct im Dienste der Natur-
zwecke; sie ist auch „der Silberblick der ewigen Wahrheit" der
metaphysischen Wesenseinheit des empirisch Getrennten. Aber
auch diese tiefste metaphysische Wurzel der Liebe, die allen ihren
empirischen Erscheinungsformen untersteht, producirt mehr Be-
wusstseinsreflexe der Unlust als der Lust. Denn alle Liebe ist
Sehnsucht nach Vereinigung, eine Vereinigung, die nie so erreicht
wird, wie das Individuum ersehnt, sondern die sich factisch nur in
einem Dritten vollzieht, wo sie fürs Bewusstsein verloren ist.
Was nun endlich die glücklichen Ehen betrifft, so sind sie
dies nicht durch die Liebe im Sinne der Liebesleidenschaft, son-
dern durch die Freundschaft, in welche die Liebe sanft und
unmerklich da hinüberführen kann, wo characterologische und
Plüuiacher, Pessimismus. 10
146 Der philosophische Pessimismus.
Lust; es bestellt aber die Illusion darin, „dass 'das Bestreben, die
Identität des All-Einigen Unbewussten" ( —
die Gottheit, des Abso-
luten —
) „mit demBewusstseins-Subject, welche in Wirklichkeit exi-
c. Die Welterlösung.
3. J. Bahnsen.
a. Das Princip.
Schopenhauer, wenn er die Welt anklagt, wird nicht müde,
neben der Schlechtigkeit der Menschen auch die Rücksichtslosig-
keit der elementaren Naturmächte gegen die Lebewesen zu be-
tonen: nur nothdürftig könne sich das Leben erhalten, überall
drohten die elementaren Factoren der organischen Natur mit Tod
und Untergang; daneben erinnerter an die schreckliche, blutige
Seite der für die ästhetische Betrachtung so schönen Natur; an
das beständige Fressen und Gefressenwerden im Thierreich, wel-
ches so abstossend wirkt, wenn man unwillkürlich das Naturleben
unter menschlich-sittlichem Gesichtspunct anschaut: er nennt die
Welt eine Hölle, und über dem von ihm gemalten Weltbilde schwebt
Blut- und Feuerschein.
Bei Hart mann tritt mehr die Oede des Lebens innerhalb
der Culturformen in den Vordergrund; nicht sowohl die Schrecken
der Natur, nicht die dämonischen Verirrungen der Menschennatur,
nicht das Weh des heroisch-tragischen Unterganges sondern die
,
Lust gesellt sich, als deren mitgesetzte Kehrseite, die Unlust; denn
wo ein Wille befriedigt ist, soweit er Affirmation ist, ist er un-
befriedigt, soweit er Negation ist und umgekehrt. Während
Schopenhauer seiner Theorie zu liebe der Erfahrung Zwang an-
thut und die positive Natur der Lust verneint, während Hartmann
wieder dem unbefangenen Empfinden gerecht wird, und Lust und
Unlust für gleich real und positiv erklärt, giebt es bei Bahnsen
weder reine Lust noch reine Unlust, denn in jeder Lustempfindung
erachtet er das negative Moment der Unlust, und in jeder Unlust
die verhüllte Befriedigung des negativen Willens vorhanden; so
ist alle Lust von Wehmuth und Ungenügen angehaucht , in den
Schmerz aber mischt sich die Wollust des Schmerzbewusst-
seins ein.
Wie Hartmann zu Schopenhauer und Hegel in Relation
steht, indem er des letztern Princip: die sich nach ihrem eigenen
Gesetz logisch entwickelnde Idee neben dem Realprincip des
Willens als Attribut des All-Einen Geistes setzt, so steht Bahnsen
in Relation zu Hegel, indem er die Dialektik, den Fortgang des
J. Bahnsen.
Werdens und Seins durch den Widerspruch auf den Willen über-
trägt. So wird die bei Hegel ideelle Dialektik zur Realdialektik
und das Weltdasein erscheint, im Gegensatz zu Hegels panlogi-
stischem Optimismus und zu Hartmanns teleologischem Evolu-
tionismus als zweck- und zielloses Zerren an sich selbst zur eigenen
Qual.
Mit Schopenhauer theilt Bahnsen die Zerklüftung des
Seins in eineWelt des bewussten Seins, in der allein das Gesetz
des Logischen herrscht, und in das Reich des an sich seienden
blinden, alogischen Realen; aber die Kluft ist tiefer bei Bahnsen,
weil er consequenter als Schopenhauer ist, und sein blindes
Princip sich nicht schon in seinem vorbewussten Naturweben
teleologisch gebärden lässt. Er ist auch pessimistischer als
Schopenhauer. Denn das Licht des Bewusstseins das sich an ,
J. Bahnsen. 165
b. Extractum vitae.
Das Erste, was uns bei diesem extractum vitae auffällt, ist die
psychologisch interessante Thatsache, dass der Verfasser diejenige
Auffassungsweise des Lebens und dasjenige Verhalten gegen das
Leben in abstracto perhorrescirt, welches er selbst in concreto durch-
gängig übt.
ist dies die Wirkung einer geistigen „Verwerfungs spalte"
Es
der Intellect gelangt zwar hinreichend zur theoretischen Freiheit,
um die eudämonologische Bedeutungslosigkeit der meisten soge-
nannten „ Lebensgüter " zu erkennen, aber er emaneipirt sich nicht
vollkommen genug von der Priorität des egoistischen, glückshung-
rigen Willens um von einer höheren Warte den logischen und
,
Th. Grieben, 1879. Es wird zur Zeit allgemein bekannt sein, dass Bahn-
sen der Verfasser der anonym erschienenen Schrift war; wer je etwas von
Bahnsen gelesen hatte, musste den Verf. errathen, da der Stil Bahnsen's
ein ganz eigenthümlicher ist.
166 Der philosophische Pessimismus.
auf alle Wünsche kein ander Echo zurückschallt, als ein rauhes:
Nein'/
Soweit diese Misserfolge objective Thatsache sind, möchten
sie sich aus der Unsicherheit und Zerrissenheit der eigenen Leistungen
erklären lassen. Unsere Zeit will runde, scharfausgeprägte Geistes-
münzen nur wo eine ganze Manneskraft sich mit einer Idee,
;
bracht hätte.
Ein Zweigiein am Aste der Selbstüberschätzung heisst Un-
liebsamkeit und Unverträglichkeit; weil „das Schicksal bitter
ist", darum muss auch die „Stimmung dazu passen und von glei-
chem Geschmacke sein," und man hält es für seines Elendes Recht,
„schroff und knorrig, wie verwetterte Eichen" der Welt entgegen
zu stehen; die „Griesgrämigkeit" wird gehätschelt, weil sie als
Trauer über die versunkenen Jugendideale betrachtet wird: als
Festhalten an Idealen, die allein als solche anerkannt werden, weil
es eben die eigenen sind. —
Die zweite Form des Elendes sind jene Characteranlagen,
deren Wirkungen innerlich verbleiben; die Grenze gegen die erste
Formengruppe ist theilweis nur schwach markirt, anderentheils
findet sie in der nachfolgenden Form der pathologischen Zustände
ihre comparative und Superlative Steigerung. Sie tritt uns entgegen
als eine Gruppe von Specien des Genus „ich weiss nicht, was
ich will"; oder der Schulsprache gemässer ausgedrückt: als dop-
pelte Reactionsweise des Willens auf dasselbe Motiv; dieselbe Vor-
stellung wird in raschem Wechsel als Willenseinheit bejaht und
verneint.
Bahnsen schildert den Gefühlsreflex dieser Zwiespältigkeit
sehr gut, nachdem er die Eigenschaft seiner Natur zur Natur des
Weltgrundes verabsolutirt hat.
„Dass das innerste Grund- und Kernwesen der Welt ein Nicht-
wollen seiner selbst ist, begreift das ganze Mysterium der Uebel
in sich, und danach ist's weiter nicht zu verwundern, dass es den
gescheitesten seiner Kinder genau so geht, wie diesem gemeinsamen
Urvater: in ihrer Unzufriedenheit mit sich selber ärgern sie sich
an ihrer eigenen Existenz —
und ärgern sich unendlich, weil die
Pein dieses Seins unentrinnbar ist, und als solches das Urbild aller
lustigen wie tragischen Komik, ein gleich sehr nach der Ruhe des
Nichts wie nach der Unrast des Daseins sich sehnendes —nur
leider schwächer in seiner negativen, als in seiner positiven Rich-
tung und minder kräftig als Quietiv, denn als Motiv."
Ferner wird behauptet, „der Pessimismus hat die Ideale hinter
sich, nicht mehr vor sich, wie das nach Menschwerdung schmach-
tende Vieh", und doch pocht sein Stolz beständig auf seinen Idea-
lismus; „ihr Standpunct und Maassstab [der Optimisten, der „Ge-
sunden"] ist ja der des Durchschnittes, und danach will (und soll?)
ja doch Menschliches abgeschätzt werden, und an ihm gehalten,
werden wir als unheilbare Idealisten-Schwärmer befunden werden
müssen. An was aber wir selber uns halten? —
an jenes erhabene
Gefühl, ein Einziger gegen eine Welt zu stehen
."
—
J. Bahnsen. 169
ziehten. *) Das Urtlieil der Welt wird zwar verachtet, aber die
Ehre vor der Welt soll doch nicht mangeln, denn fremde Meinung
bleibt doch ein Spiegel des eigenen Werthes. **) Der Tod wird
als ein blosser Wechsel der Form des qualvollen Seins erkannt,
und doch auf ihn gehofft.***) Die Welt wird für unzerstörbar
erklärt und trotzdem die „Gedanken ans Ende der Erden" als
„Trost erkannt" (407), wenn „schöne Vertröstungen" sich wieder
einmal als illusorisch erwiesen hatten; in dem Gedanken an die
Nichtigkeit der Welt wird geschwelgt, und „triumphirt" dass ,
*) pp. 138; 32; 36—37; 134; 264; 357. **) 168. ***) 369. f) 407.
tt) 333; 351.
!
J. Bahnsen. 171
4. Ph. Mainländer.
Uebersein zu denken; die Empirie zeigt uns aber nur das unendlich
mannigfaltige, und zum mindesten als Letztes ein Zweifaches.
Folglich ist das Absolute, Gott, nicht mehr, sondern muss als ver-
gangen angenommen werden. Das absolute Eine Ueberseiende
hatte nur die Wahl, zu sein oder nicht zu sein; es wählte das
letztere. Seine Eigenschaft der Göttlichkeit verhinderte aber das
plötzliche Zunichtswerden; es zerfiel nur in die Vielheit des end-
lichen Seins. Der Kern jedes Individuums, deren jedes ein Stück-
chen Gottestrümmer ist, ist der Wille. Aber nicht der Wille zum
Leben, wie Schopenhauer meint, sondern seinem eigentlichen
Wesenskern nach Wille zum Tode.
Der Weltprocess ist nur der langsame, schmerzhafte, aber zu-
letzt doch mit dem Erfolg der absoluten Vernichtung gekrönte
Sterbeact des selbstmörderischen Gottes.
In den bewussten Naturwesen ist der Wille zum Tode rnas-
kirt in den Willen zum Leben, weil das organische Leben das
wirksamste Mittel zur allmähligen vollständigen Zerreibung der
Daseinskraft der Gottestrümmer ist. Im Philosophen endlich
kommt das Bewusstsein des wahren Sachverhaltes zum Durchbruch
und die Maske fällt: die zur Philosophie gereifte Menschheit weiss,
dass sie das Leben nur will als Durchgang und Mittel zum Nicht-
sein. —
*) Berlin, Th. Grieben, 1876.
174 Der philosophische Pessimismus.
pfehlen.*) Wir können hier von ihr Abschied nehmen, da sie be-
züglich des Pessimismus weder empirisches Material noch theore-
tische Erörterungen zu dessen Begründung und Rechtfertigung
aufbringt.
Werfen wir nun einen Blick zurück auf die vier pessimisti-
schen Philosophien, so zeigt sich der Pessimismus E. v. Hart-
manns als der Gipfel und die vollendetste Ausgestaltung der
pessimistischen Weltanschauung. Erstens, durch die erschöpfende
Durchforschung des empirischen Gebietes. Zweitens, durch die
scharfe Präcisirung der axiologischen Frage die saubere Ausein-
,
VI. Capitel.
(Sicherheit sagen kann, dass jemand, der sich in einer diesem Kreise
angehörigen Situation befindet, Lust oder Unlust empfinden müsse;
und zwar kann dies mit grösserer Sicherheit nach der Seite der
Unlust hin geschehen. Der Grad der Lust oder Unlust, die Inten-
sität des Gefühles, lässt sich freilich nicht von einem Dritten ab-
schätzen, und sogar vom Subject des Empfindens nur approxima-
tiv. Denn um ein positives Maass zu gewinnen, müsste es zwei
Gefühle gleichzeitig empfinden können; die Empfindung aber
ist immer einzeitig, auch einfach, d. h. es ist für ein Empfindungs-
zcentrum in einem Zeitmoment nur je eine Empfindungsreaction
möglich, und was man als gemischte Empfindung zu bezeichnen
pflegt, ist entweder der rapide Wechsel zweier oder mehrerer Em-
pfindungsmomente, oder eine Empfindung als Synthese von zweien
oder mehreren vorhergegangenen Empfindungen, welche nachträg-
lich wieder analytisch gewonnen werden können, wenn sich die
.Reflexion mit diesem Interesse auf die Empfindung richtet.
Man muss den Gegnern des Pessimismus zugestehen, dass die
Intensität von Lust und Unlust sich nicht durch irgend ein be-
stimmtes Maass ausdrücken lässt; man kann nur sagen: ich fühle
einen grossen Schmerz oder eine nur geringe Freude, aber wie
gross der Schmerz und die Freude ist, das auszudrücken, giebt es
weder Gefühlsmeter noch Empfindungskilo. Man kann auch nicht
sagen: der Schmerz einer Mutter über den Tod eines Kindes ist
grösser als über den Tod des Gatten (oder umgekehrt), oder der
Verlust der Braut wiegt schwerer als der der Gattin, oder das
Bewusstsein mangelnder künstlerischer Begabung ist minder un-
lustig als dasjenige über moralische Schwäche (oder umgekehrt).
Aber in allen Fällen, wo eine Mutter ihr Kind, ein Mann den
Gegenstand seiner Wahlverwandtschaft verliert, kann man mit Ge-
wissheit sagen: er oder sie sind im Zustand der Unlust, und ebenso
wenn sich jemand im Zustand der Selbstkritik befindet. Es bietet
aber schon die einfache psychische Zuständlichkeit der Lust resp.
Unlust schlechthin genügenden Anhalt, um eine Bilanz im Sinne
des modernen Pessimismus (speciell Hartmann's Pess.) zu recht-
fertigen.
Bei der axiologischen Frage handelt es sich in erster Linie um
die einfache Lust oder Unlust und deren zeitliche Verhältnisse zu
einander; erst in zweiter Linie steht die Frage nach den Variatio-
nen, welche dieses Verhältniss auf den verschiedenen Stufen der
geistigen und physischen Organisationen erleidet. Wenn nun auch
der Kreis ein enger ist, innerhalb dessen mit voller Gewissheit ein
Urtheil über das Vorhandensein von Unlust oder Lust gefällt
werden kann, so hat doch gerade die Beschränkung auch wieder
den Vortheil, dass die Fälle, welche er umschliesst, um so allge-
184 Die Bekämpfung d. P. v. Standp. d. naturalistischen Optim.
es ist daher fast erstaunlich, dass sie die Theorie einfach als Hart-
mann's Aufstellung kritisiren. Wahrscheinlich thun sie dies der
Einfachheit zu Liebe; dabei ist dem grossen Publicum, welches nicht
den Anspruch erhebt, sich in solchen Fragen eine eigene Meinung
zu gründen, sondern sich gerne belehren lässt, die eigene abwei-
chende Meinung der Herren Kritiker leichter plausibel zu machen,
als wenn die gegnerische Ansicht durch die Autorität eines Kant
verstärkt wird.
Die Opposition gegen die Maupertuis- Kant -Hartmann'sche
Theorie geht durch die ganze Pessimismus-Kritik hindurch, von
Haym (Preuss. Jahrbücher 1872) bis zu den neuesten Kund-
gebungen eines Hugo Sommer und A. Horwicz; und aus dem
Auslande tönt ein Echo zurück. Ja, einem J. Sully passirt sogar
das lächerliche Missgeschick, Hartmann dahin misszuverstehen:
Lust und Unlust unterschieden sich bloss quantitativ, was den
gelehrten Engländer veranlasst, diese Ansicht „extremely curous"
zu nennen.
Die vorgebrachten Gründe sind zum Theil noch dieselben,
wie zur Zeit als Maupertuis um seiner Theorie willen angegriffen
wurde:, man glaubt darin eine Hinunterwürdigung der höheren
geistigen Befriedigungen durch die sinnliche Lust zu sehen, und
meint, dadurch dass man die geistige Lust zu etwas unvergleichlich
Anderem als das unmittelbar sinnlich vermittelte Behagen erklärt,
eine optimistische Weltanschauung auf höherer, sozusagen über-
natürlicher Basis zu retten.
Maupertuis' Wort, dass die grösste Lust die edelste sei,
ist ein Ausspruch, der allerdings leicht zu Missverständnissen
führen kann, und seine Berechtigung nur innerhalb einer indivi-
dual-eudämonistischen Weltanschauung (wie solche Maupertuis mit
seinen Zeitgenossen theilt) findet, die aber nicht für Hartmann's
tragisch-ethischen Standpunct passt.
Hier ist die Lust, deren objective Ursache eine neue wissen-
schaftliche Entdeckung oder der Sieg über eine böse Neigung ist,
oder die Lust, die aus liebevoller Thätigkeit für seine Nächsten
u. s. w. resultirt, allerdings „edler" als die Lust, die ein guter
Bissen verursacht; aber bei der Frage, ob mehr Lust oder mehr
Unlust in der Welt sei, handelt es sich nicht um ethische oder
logische Qualitäten der Gefühle, sondern einfach um deren quanti-
tative Verhältnisse. Maupertuis und Hartmann sind darin aber
auch ganz gleicher Ansicht, dass innerhalb der auf höheren Cultur-
stufen stehenden Menschheit eine grössere Summe yon Lustmo-
menten aus geistigen Genüssen zu ziehen sein möchte als aus
primär sinnlichen, weil die ersteren dauerhafter sind und keine na-
türliche unlustige Reaction im Gefolge haben, ihre Erreichbarkeit
£8(3 Die Bekämpfung d. P. v. Standp. d. naturalistischen Optini.
fach als meine Objecte bezeichne, und so die Zahl der Objecte
feststellen kann.
Wer die Unvergleichlichkeit der verschiedenen Lustwerthe und
Unlustmomente vertheidigt, von dem könnte man vor allem eine
genaue Bestimmung der Grenze erwarten: wo sinnliche Lust auf-
hört und geistige Lust beginnt. Die Extreme zu bezeichnen, ist
nicht schwer; die Lust an einem guten Glas Wein ist sinnlich, die-
jenige über eine mit Selbstverleugnung vollzogene That geistiger
Art; aber wohin rangirt die Lust, die ich empfinde beim Anhören
der 9. Symphonie Beethovens, und wohin diejenige über einen Walzer
von Chopin und einen solchen von Strauss oder Lanner?
Da unsere Sinne alle und jede
Ideen, auch die abstractesten,
so ist eine saubere, un-
directer oder indirecter produciren helfen,
bestreitbare Unterscheidung unmöglich, und die einfache Unter-
scheidung des alten Maupertuis noch ganz genügend, schon des-
wegen genügend, weil sie für das axiologische Problem wenig zu bedeuten
1
Hier ist aber beides, die damalige Lust und die jetzige Unlust,
in die Bilanz einzustellen, unbekümmert um unsere jetzige Stellung
zu den in früheren Zeiten Lust, resp. Unlust verursachenden Ob-
jecten oder Geschehnissen. Es ist allerdings sehr schwer, einen
vergangenen Zustand nach seinem damaligen Werthe zu beur-
theilen;wenn auch Hartmann Recht hat, dass der Instinct im
Dienste des Erhaltungstriebes das Urtheil gerne optimistisch färbt,
so sind doch auch wieder die Fälle zahlreich, wo einem vergangene
Zustände schwerer erscheinen, als sie empfunden worden, weil ent-
weder unsere Lebensauffassung eine ernstere wurde, weil wir die
erleichternde Wirkung der Illusionen und der Hoffnung jener ver-
gangenen Zeit nicht mehr in Anschlag bringen, oder weil wir in-
zwischen verwöhnter und zugleich weniger lebenslustig geworden
sind. Darum hat Hartmann Recht, dass ein Anderer oft besser
als das Subject der fraglichen Empfindungswechsel die Bilanz zu
ziehen vermag.
Das meint auch J. Sully zu Gunsten des Optimismus: wenn
ein Mann in gewissen Zuständen und Verhältnissen lebe, so hätten
wir das Recht, ihn glücklich zu nennen, auch wenn er selber sein
Glück geringe schätze. So können auch wir mit noch grösserer
Gewissheit eine Menge Lebensverhältnisse als auf der negativen
Seite der Glücks- und Unglücks-Scala stehend bezeichnen, selbst
wenn sich ihre Träger in Folge der kurzen Momente der Contrast-
Lust, wie sie ein jeder Kampf, auch der mit den widrigsten Ge-
schicken, bietet, und im starken Lebensdrange über den eudämono-
logischen Gesammtwerth ihrer Existenz täuschen.
Es meint endlich Horwicz^ es sei die Einheit des Subjects
Bedingung für die Bilanz; diese Einheit komme aber nur Gott zu,
für den wir nicht urtheilen dürften. Die Einheit des Wesens aller
Creatur, welche die andere Seite davon ist, dass Gott das allge-
meine Subject sein könnte, ist die Bedingung, dass man innerhalb
jenes schon erwähnten engen Kreises mit Bestimmtheit den Zustand
des Andern taxiren kann, trotz der Mehrheit der Empfindungssub-
jecte. Es beruht ja alles sittliche Handeln nach dem Princip des
Social-Eudämonismus auf der Schätzung von fremder Lust und
Unlust, wie alles individual-eudämonistische Streben auf dem Ab-
schätzen und Vergleichen eigener gegenwärtiger und zukünftiger
Lust und Unlust beruht, obgleich das Bewusstseinssubject, welches
ich jetzt mein «Ich" nenne, nicht dasselbe ist, welches sich über einem
Jahr über diesem Organismus erheben wird, und ich keine positive Ga-
rantie habe, ob „Ich" in einem Jahr noch gleich empfinden werde wie
heute. Daher sind denn zwar allerlei Irrthümer über den Werth
eines künftigen Zustandes möglich, aber im Grossen und Ganzen
ist doch ein Urtheil möglich, und die totale Unmöglichkeit eines
190 Die Bekämpfung d. P. v. Standp. d. naturalistischen Optim.
Gesammtindividuums kommen.
Besonders der Engländer Sully hebt die Lust, die aus dem
„ Sport
44
resultirt, hervor. Ohne Zweifel erzeugt der Sport, da wo
er wirklich Sport bleibt und nicht eine besondere Form der
Speculation oder des Ehrgeizes wird, ein erhebliches Sümmchen
Lust. Nur schade, dass die Sportwelt ein sehr kleines Stückchen
der realen Welt ist, trotzdem, dass es gewöhnlich nur die „grosse
Welt" ist, aus der sich die Jünger des Sports rekrutiren.
Für die überwältigende Mehrzahl der Menschen wird das nor-
male Quantum Energie, welches activ werden muss, falls nicht
Unlust eintreten soll, und deren Activwerden schon als mehr oder
minder lustvoll percipirt wird, schon vollständig in Anspruch ge-
nommen durch die Gewinnung des Lebensunterhaltes oder der mit
den Verhältnissen seines natürlichen und civilen Standes aufge-
nöthigten Pflichten, der Gewinnung, Erhaltung und Ausfüllung
seiner socialen Stellung. Sobald einmal die ersten Jugendjahre
vorüber sind, fängt in der Regel die Lust an der Körperaction zu
schwinden an, und in den Jahren, wo sie am unver dunkelsten auf-
zutreten vermag, da gesellt sich ihr ergänzendes Gegen theil: die
Unlust der verhinderten Körperbewegung durch Schulsitzen,
häusliche Arbeiten, Kinderarbeit der Fabriken u. s. w. zu ihr, so
das Lustsaldo aus dieser Quelle erheblich herunterdrückend.
Am freisten von den Lebensverhältnissen und am unermüd-
barsten sind die Sinne im engern Sinne: die Organe des Hörens,
Sehens und Schmeckens; besonders das letztere, während das erstere
in unsern Cultur-Centren noch für vogelfrei erklärt und allen Un-
bilden ausgesetzt und häufig derart überanstrengt ist, dass nicht
mehr die Action, sondern die ermöglichte Passivität als Wohlthat
und Lust empfunden wird.*)
Man hat ferner die Lebensfreude, die blosse instinctive Da-
seinslust, dem Pessimismus gegenüber geltend gemacht und ein
€arl Möbius hielt eine Rede (1879) über das Goethe'sche Wort:
„Leben ist die schönste Erfindung der Natur, und der Tod ist ihr
Kunstgriff viel Leben zu haben; in dieser Rede wird auf die über-
44
*) „und starb das Leben weiter" sagt Graf Stadion in einer Welt-
schmerz-Novelle von dem Helden derselben. Man denke auch an In-
nocenz III.
Die angeblich falsche Gefühlstheorie etc. 195
des Gefühls." Das ist ein Irrthum, der das Verhältniss von Wille
und Vorstellung im absoluten Geiste verkennt und einen Dualis-
mus in Hartmann's Metaphysik hineindichtet, der dieser absolut
fremd ist. Aber auch beim Willensphilosophen Schopenhauer
bleiben die Gefühle —
von keiner Theorie angetastet was sie —
sind, da (wie von Hartmann klar nachgewiesen und von Andern
wiederholt anerkannt wurde) sein Wille stets wie mit unbewusster
Vorstellung gepaart erscheint.
Nicht auf den Pessimismus als solchen ist die Gefühlstheorie
von Einfluss, sondern erst für eine mit auf den Pessimismus be-
gründete Metaphysik, ein Thema, worauf wir in einem späteren
Capitel zu sprechen kommen.
Der empirische Beweis des Pessimismus ist unabhängig von
der psychologischen Theorie; wenn wir nun trotzdem in diesem
Capitel, wo wir es ausschliesslich mit der empirischen Begründung
des Pessimismus und deren Bestreitung zu thun haben, auf diesen
psychologischen Streitpunct eingehen, so ist es, weil die Gegner
des Pessimismus eine Beeinflussung der Erfahrung durch die
Theorie glaublich machen möchten, und weil sie glauben, durch
die Entfernung der Gefühlstheorie der Willensphilosophie die realen
Zustände und das unmittelbare Empfindungsmaterial in eine solche
Beleuchtung rücken zu können, dass nun auch ein anderes, ein
optimistisches Urtheil derselben möglich werde.
In diesem Sinne haben wir noch einer Anschauung zu ge-
denken, die gleichsam die Mitte zwischen der Theorie Hartmann's
und der ältern Psychologen einnimmt. Es meint nämlich .
die Pessimisten nur diejenige Lust als solche, welche aus indivi-
duellen Zuständen und Verhältnissen hervorgingen, nicht aber die
Lust die aus Objecten resultirte. Zwar sei die Lust stets etwas
individuelles und subjectives, aber damit sei nicht auch als alleinige
Quelle derselben wieder etwas Subjectives gefordert. Es gälte,
Objecte derjenigen Lust, die nicht aus Willensbefriedigung resul-
tirte, zu schaffen, da diese letztere die dauernde, gegenüber der
aus Willensbefriedigungen resultirenden sei; „während der durch
die Erreichung des Zweckes verwirklichte subjective Zustand des
Subjectes ein ephemerer ist, der als dieser Zustand des Subjectes
und damit in seiner Wirksamkeit durch andere Wünsche und
Die angeblich falsche Gefühlstheorie etc. 197
ist der positive Beweis für die Richtigkeit der Last und Unlust-
theorie im Sinne der Willenphilosophie schwieriger; die Thatsache,
dass ein Ding nicht Allen, und sogar demselben Subject gegen-
über nicht zu allen Zeiten, Lust erzeugt, spricht noch nicht unbe-
dingt für unsere Theorie; denn da jedes Ding nur dieses so und
so bestimmte Object für ein bestimmtes Subject ist, so ist es, wie
das Subject wechselt, auch nicht mehr ganz das gleiche Object,
sondern mit dem anders gewordenen Subjecte erscheint das Ding
als ein anderes Object. Mögen aber die Schwierigkeiten der Theorie
sein, welche sie wollen, sie berühren den empirischen Pessimis-
mus durchaus nicht. Für den und Pessimismus
Optimismus
kommt einzig in Betracht, dass Menge Gegen-
es allerdings eine
stände und Zustände giebt, welche den meisten Menschen und zu
Gefühl der Lust hervorrufen (gleichviel durch
fast allen Zeiten das
welchen psychischen Process) und zwar zum Theil solche Gegen-
,
und Zustände, die der Mensch erringen kann, insofern als sein be-
wuster Wille und seine verschiedenen Bethätigungsweisen Factoren
zu deren Erzeugung bilden. Es ist gar nicht nothwendig, dass
man, wie R. Seidel meint, das Experiment machen müsse, ob
glückliche Menschen zu produciren wären; der Pessimismus leugnet
nicht principiell, dass es nicht ausnahmsweise möglich wäre, dass
in einem Menschenleben die Summe der Lust die der Unlust über-
wiege. Aber die Möglichkeit solcher Existenzweisen unter künst-
lich geordneten und immer nur als Ausnahme realisirbaren Ver-
hältnissen vernichtet die Wahrheit des Pessimismus nicht, wie
J. Sully meint, denn es handelt sich um den Zustand der Mehr-
zahl der Existenzen und um die Verhältnisse, wie sich dieselben
aus den Naturverhältnissen und aus dem historischen Pro-
cess als normal ergeben. Für uns aber fragt es sich jetzt, wie
das Verhältniss derjenigen Fälle ist, wo das Individuum im Besitz
der lusterzeugenden Objecte ist, zu denjenigen, wo ihm dieselben
unerreichbar bleiben. Und da muss denn sicherlich jede vorurtheils-
lose Lebensbetrachtung erwidern: es sind unvergleichlich mehr In-
dividuen unvergleichlich mehrmal in Verhältnissen, wo unlust-
erzeugende Objecte auf sie einwirken, als Quellen der Lust; es
streben und ringen unvergleichlich mehr Individuen nach Ge-
winnung der objectiven Lustquellen, als solche erreicht werden;
in diesen Fällen gesellt sich also zu der mangelnden Lust aus
Mangel an lusterzeugenden Objecten noch die positive Unlust des
unerfüllt gebliebenen Strebens.
Der Sachverhalt ändert sich dadurch nicht, dass man ihn
durch die Brille einer anderen Theorie über die Ursache der Lust
ansieht. Was als lustschaffendes Object bezeichnet wird, ist nichts
anderes, als was uns die Erfahrung als das Ziel des principiell die
Der Pessimismus als angeblich patholog. Empfindungsweise. 199
Aber wenn wir hier zwei Pessimisten vor nns haben, die eine
besondere Gemüthsbeschaffenheit zwingt, ihre Aufmerksamkeit fast
ganz ausschliesslich nur auf das Leiden und auf jene Puncte des
Weltprocesses, wo das Alogische seine unheilvollen Siege feiert T
zu richten, so haben wir auch wieder Pessimisten, bei denen wir
nichts dergleichen wahrnehmen.
E. von Hartmann zeichnet sich in seiner Polemik, die ihm
als die Rückseite der Vertheidigung seiner eigenen vielbekämpften
Meinung aufgenöthigt wurde, durch die grösste Objectivität, Ge-
rechtigkeit und Milde aus; nirgends lässt ein gereizter Ton auf ein
verbittertes, finsteres Gemüth schliessen, und Autobiographie*) wie
Mittheilungen der Freunde zeigen uns eine durchaus harmonisch
veranlagte Natur.
Und jene Vielen, die im Laufe der Jahrhunderte das pessi-
mistische Bekenntniss von dem Ueberschuss des Leides über die
Lust ausgesprochen haben, und jene Zahllosen, die ihnen als Wahr-
heitskünder gelauscht und beigestimmt haben, diese Alle, denen die
Welt und das Leben das Gesicht unverschleiert gezeigt, und die
von dessen Medusenblicke nicht versteinerten, sondern muthig und
unentwegt ihre jeweilige Aufgabe zu lösen sich bemühten, sollten
es alles normale, mangelhaft beschaffene Seelen gewesen sein?
Sollten die Pessimisten denjenigen gegenüber, die sich nicht
scheuen, die mürrische Gemüthsart von Schopenhauer's Vater und
die Launen und Schrullen seiner Mutter ins Treffen zu führen, nicht
ebenso berechtigt sein, den Spiess umzudrehen und zu sagen: ihr
seid die Kurzsichtigen, ihr die Verblendeten; ihr die in der Ent-
wickehmg zurückgebliebenen, zur vollen Klarheit des Erkenntniss-
vermögens nicht Vorgedrungenen. „Nur der Stumpfsinnige kann
lachen auf dem Friedhof seiner Vergangenheit, der die Gräber
seiner Eltern, seiner nächsten Angehörigen und Freunde umschliesst;
nur der Leichtsinnige vermag lustig zu sein im Angesicht einer
Zukunft, die ihn selbst und sein Liebstes mit allen Schrecknissen
des erbarmungslosen Räderwerks der Natur und der Gesellschaft
bedroht. Ohne stumpfsinniges Vergessen und stumpfsinniges Dul-
den würden schon die erfahrenen Leiden unerträglich dünken, ohne
leichtsinniges in den Tag Hineinleben würde jedes Unternehmen
ein unberechenbares und furchtbares Wagniss scheinen. Erst die
Vermählung eines gewissen Grades von Stumpfsinn und Leicht-
als Theil des Ganzen weiss, als Moment in einem kosmischen Pro-
cess fühlt, der ihn hält und zum Licht emporhebt, gestaltet sich
der Vorgang in ihm, den ich soeben bezeichnet habe: er wendet
sich von der Individualität ab —
„oder man kann auch die um-
gekehrte Bezeichnung anwenden: die Individualität löst sich von
ihm ab."
Duboc nennt sich selbst einen Atheisten, aber ähnlich wie
Strauss seinem „Alten und neuen Glauben", vertritt er sozu-
in
sagen einen religiösen Atheismus; denn er will das Universum
mit solchen Gefühlen umfangen wissen, dass es in der Stellung
einer Gottheit dem Einzelnen gegenüber steht und von diesem re-
ligiös-ästhetisch verehrt wird.
Während von den ethischen Optimisten (siehe das folgende
Cap.) verlangt wird, dass das Individuum sich mit dem beseligen-
den Bewusstsein der Tugend begnügen und darin sein Glück fin-
den soll, so wird hier mehr die objective Seite des Stoicismus
hervorgehoben: Die Ehrfurcht vor der absoluten Weltvernunft und
die Resignation im Bewusstsein, Theil derselben zu sein und an
ihrer Würde zu participiren. Und nicht nur über das eigene Leid
soll man auf Weise hinweggesetzt werden, sondern auch über
diese
das nutzlose Mitleid mit Andern. „Fühle ich mich zur Trauer ge-
stimmt, verletzt mich an unzähligen Stellen, wohin ich blicke, ein
grenzenloses Lebensleid, dem ich rathlos gegenüberstehe, oder dem
ich durch mein Thun nur wenig Abhülfe gewähren kann, so ist es
doch immer die Menschheit im Ganzen, zu deren Schicksal auch
dies gehört, und wie ich mich Eins mit der Menschheit fühle und
untrennbar zu ihr gehöre, so fühle ich mich auch Eins und un-
trennbar mit diesem Leid verbunden. Es wird mein Schmerz,
mein Leid —
nicht im pathologischen Sinn, als welches es der
Praxis zufällt, und das ich durch practisches Gegenwirken zu be-
kämpfen suche, sondern im ästhetischen Sinne und wie ich kein —
Bedenken trage, gegen mich hart zu sein, so brauche ich auch kein
Widerstreben zu empfinden, ebenso mit diesem Leide abzurechnen
und mich von ihm abzulösen, weil es eben als dem Ganzen ange-
hörig, dem auch ich angehöre, mein Leid ist, meine Wesenheit
trifft." (p. 278.)
Es wird kaum nöthig sein, unsere Leser darauf aufmerksam
zu machen, dass hier der Realist, um den Optimismus zu retten,
das Gebiet der Unmittelbarkeit des natürlichen Empfindens verlässt
und als maassgebendes Moment eine Idee introducirt, welche nur
unter der Voraussetzung einer metaphysischen Einheit des empirisch
Getrennten einen Sinn hat. Abgesehen davon, dass das Gefühl der
Menschheitsliebe und der Solidarität selbst ein Factor des psychi-
schen Lebens ist, welcher auf seinen eudämonologischen Werth hier
Der Pessimismus als angeblich patholog. Empfindungsweise. 205
der Arbeit der Zweck ausserhalb der Bewegung liegt und ein
(relativ) dauernder ist. Wenn sich mir eine Fliege auf die Nase
setzt, so scheucht eine Bewegung der Hand sie hinweg und be-
seitigt gleichzeitig den Kitzel durch eine streichende Berührung
der Stelle, wo sie gesessen; wenn ich aber Hand, Arm und Kör-
per bewege, bis ich die Fliege gefangen, so habe ich in Wirklich-
keit eine Arbeit vollzogen, indem ich mich (und wohl auch meine
Zimmergenossen) von einer Unannehmlichkeit dauernd befreite,
obgleich wir nicht gewöhnt sind, dergleichen Manipulationen „Ar-
beit" zu nennen. Sofern die Arbeit einfach als Bewegung in Be-
tracht kommt, hat auf sie Anwendung, was wir schon oben be-
züglich der verschiedenen Actionsweisen sagten; sie befriedigt den
Bewegungstrieb und erzeugt so da, wo dieser als bewusster Wille
vorhanden war, Lust; wo letzteres nicht der Fall war, besteht die
Befriedigung in der Privation der Unlust, als dem normalen
Zustande des sich seinen specifischen Fähigkeiten nach auswirken
könnenden Organismus. Dabei ist natürlich vorausgesetzt, dass
das durch die Arbeit erforderliche Bewegungsmaass übereinstimme
mit dem, was der Organismus fordert. Das Maass oder Quantum
dieser geforderten Bewegung wird nun vielleicht von Hartmann
unterschätzt; aber zugegeben, dass hier und da eine persönliche
Eigenthümlichkeit durchschimmern möchte, so wird dadurch doch
wahrlich nicht gleich die ganze Lebensauffassung schief gezogen.
Kein Mensch wird leugnen, dass fast eine jede Art von
Arbeit entweder mehr Bewegung beansprucht, als der Orga-
nismus für sein Gedeihen nöthig hätte, oder aber die für letz-
teres nöthige oder doch wünschenswerthe Bewegung hindert oder
beschränkt, oder auch eine einseitige Form der Thätigkeit auf-
nöthigt, wodurch die einen Organe zu viel, die andern zu wenig
in Action kommen, mithin eine doppelte Quelle der Unlust erzeugt
ist. In annäherndster Uebereinstimmung mit dem physiologischen
Bedürfhiss nach Bewegung ist fast nur diejenige freigewählte Be-
schäftigung, der man häufig zögert, die Berechtigung auf den
Namen „Arbeit" zuzugestehen, weil sie eines Hauptcharacteristi-
cons der Arbeit ermangelt: erst die Bedingungen des gesicherten
Lebens als Mitglied der jeweiligen socialen Gestaltungen zu
schaffen.
Hartmann betrachtet in der „Philosophie des Unbewussten",
entsprechend der ganzen Anlage seines Werkes, die Arbeit vom
naturalistischen Standpunct aus, seine Gegner aber haben im blin-
den Eifer übersehen, dass wenn auch das Urtheil über den eudä-
monologischen Werth der Arbeit negativ ausfällt, damit doch noch
nichts gegen ihren Werth als Mittel für höhere Zwecke ausgesagt
ist, ihre „Würde" mithin nicht angetastet wird. Eine so eminent
14*
212 Die Bekämpfung d. P. v. Standp. d. naturalistischen Optim.
noch erwachst, da hat es ganz andere Wurzeln und fugt sich ge- .
Was schon Jean Paul vom Leben sagte: dass wir es nicht
liebten, weil wir es schön fänden, sondern dass wir es schön fan-
den, weil wir es liebten —
das lässt sich auch speeieil auf die
Liebe anwenden.
Wir lieben nicht, weil es uns Lust gewährt, sondern wir lieben,
weil wir müssen; und weil das Muss aus der innersten, metaphy-
sischen Wurzel unserer Seele stammt, darum fühlen wir Lust, wenn
unser Liebenmüssen, das als Liebenwollen erscheint, ein Lieben-
können wird.
Wie die Lebensfreude die Gefuhlsresonanz des befriedigten
Lebenswillens ist, so ist die Liebeslust die Gefühlsresonanz des be-
friedigten Liebeswillens. Es gilt dies von jeder Art der Liebe: so-
wohl von dem sinnlichen Naturtrieb, als von jenem Sehnsuchts-
zug der Geister, welcher das Hauptmoment der Freundschaft aus-
macht, wie endlich auch von der auf der Grenze des instinctiven Ge-
fühlsgebietes und demjenigen der Reflexion erblühenden Mensch-
heitsliebe.
Jeder, der recht intensiv geliebt hat, wird Momente gehabt
haben, wo er mit Goethe seufzte: „ Liebe, Liebe lass' mich los"; wo
er sein Lieben als einen Zwang, als eine sein egoistisches Wohl-
streben beeinträchtigende Bürde empfunden hat, und wird gedacht
haben: müsste ich doch diese nicht so liebhaben! —
freilich nur
um gleich im folgenden Moment aus tiefstem Seelengrunde mit
einem anderen Dichter zu sprechen:
aber nicht der Fall. Noch in einer der letzten und bedeutendsten
Kundgebungen gegen Hartmann und den Pessimismus (J. Rehmke,
„Der Pessimismus u. d. Sittenlehre") lesen wir, dass zwar für den
egoistischen Standpunct der Liebe das pessimistische Urtheil gelte;
die selbstlose Liebe aber ergebe ein eudämonistisch günstiges
Resultat.
Der Pessimismus bestreitet den teleologischen und ethischen
Werth der Liebe durchaus nicht. Auch wenn man mit Schopen-
hauer die Liebesleidenschaft als eine Kriegslist der Natur erachtet,
um das egoistische Individuum den Zwecken der Gattung und
damit der Weltentwickelung dienstbar zu machen, so liegt darin
keine Entwürdigung der Liebe, wie Hartmann mit Recht wieder-
holt hervorgehoben hat: noch weniger aber, wenn man zwar deren
eudämonologischen Werth verneint, aber ihre teleologische Bedeu-
tung innerhalb eines vernünftigen, zielvollen Weltprocesses
hervorhebt; denn die Liebe erscheint um so erhabener, je souve-
rainer ihre Macht über der individuellen Wohl- und Weh-Sphäre
steht. Die tragische Liebesleidenschaft, die mit Bewusstsein der
Gefahr des drohenden Unterganges entgegen geht, steht nach der
allgemeinen Schätzung höher da als die Lustspielliebe, welche die
Kraft ihrer Dauer aus dem Bewusstsein schöpft, zu einer lustigen
Hochzeit und einer reichen Mitgift zu führen. Diese Schätzung
wäre aber falsch, wenn der eudämonologische Werth der Liebe
maassgebend für deren Bedeutung und mithin deren Würde wäre.
An dieser Stelle aber haben wir es nicht mit der teleologi-
schen und ethischen Bedeutung der Liebe zu thun, die —
wir
wiederholen es — vom Pessimismus gar nicht angefochten wird,
sondern nur mit dem Yerhältniss von Lust und Unlust, welche
die Liebe, gleichviel welcher Art, ob von bloss naturalistischer oder
ethisch verklärter Beschaffenheit sie sein mag, erzeugt.
Natürlich gilt von der Liebe in ihrer untersten, naturgebunden-
sten Form dasselbe, was von jedem physiologisch-psychischen Vor-
gange: der Wechsel und die Stärkegrade ihrer lust- und unlust-
vollen Momente sind nicht objectiv messbar; ebenso würde auch —
das Unmögliche als möglich genommen —eine vollständige Stati-
stik sämmtlicher Liebesverhältnisse und ihrer Dauer und Ausgänge
nur ein approximatives Resultat liefern; denn dieselben Umstände,
die den Einen zum Selbstmord treiben, führen den Andern einfach
einem andern Mädchen zu; und was für das eine Individuum nur
Festtagsepisode ist, das ist für das andere Centrum der Lebens-
bethätigung. Aber was wir oben von dem zwar engen, aber dafür
um so allgemeiner gültigen Kreise aussagten, innerhalb dessen ein
Urtheil über das Empfinden eines Dritten durchaus zulässig und
sicher sei, das gilt auch für die Liebe. Es beruht ja alle poetische
Der Werth der Liebe. 219
Fähigkeiten sich erst dann völlig entfalten, wenn der Gipfel der
geschlechtlichen Reife bereits erreicht oder überschritten ist gleich- ;
Pessimismus auch die Lebensfactoren der Ehe, sowie die, das Mo-
ment der Erweiterung und Ausdehnung des „Ichs" auf das „Du"
mit der Liebe theilende Freundschaft, nicht von dem allumfassen-
den Urtheile ausnimmt. Es unterscheidet derselbe nur klar zwi-
schen relativen und absoluten Werthen und ist über den Irrthum
hinaus, aus der Stärke des instinctiven Wollens auf den eudämo-
nologischen Werth des Gewollten zu schliessen.
Auch dem Pessimisten ist die Liebe „die Krone des Lebens",
soweit das Individuum in natürlicher, aber vollbewusster Hingabe
an das Leben und seine directen und indirecten Zwecke sich in
sich selbst zum Selbstgenuss zusammenfasst. Aber diese bewusste
Zusammenfassung ist nicht abhängig vom positiv eudämonologi-
schen Werthe des so bejahten, sondern einzig von seinem relativ
unendlich reichen Inhalt, gegenüber der, der Selbstzersprengung
der Ichsphäre im Liebesgefühl ermangelnden anderen Formen der
Lebensbethätigung und Kraftauswirkung. Darum sind alle Decla-
mationen gegen den Pessimismus vermittelst der Lobpreisung der
Liebe wirkungslos, weil sie nur vertheidigen können, was der mo-
derne Pessimismus, d. h. der Pessimismus, wie er von E. von
Hartmann herausgearbeitet wurde, gar nicht anficht.
Bei weitem einfacher und durchsichtiger als bei der Liebe und
ihren Formen gestaltet sich das Verhältniss der ästhetischen
Empfindung zur Weltschätzung, welche ebenfalls gegen den
Pessimismus in's Treffen geführt wird.
Die Verwechselung von eudämonologischen und sittlichen oder
Werthe ist hier ausgeschlossen; denn wenn
evolutionell-kultur eilen
auch die ästhetische Empfindung ein mächtiges Moment der Cul-
turentwickelung darstellt, so ist sie doch dieses nicht im Gegen-
satze zu ihrer eudämonologischen Stellung, sondern wesentlich und
gerade als eudämonologischer Lebensfactor.
Die ästhetische Empfindungist etwas ganz einfaches und ganz
ursprüngliches; sie an sich schon, als Empfindung des Schönen
ist
Lustempfindung, gleichviel welcher Art ihr Object auch sei, ob
Naturgegenstand, realer Vorgang oder Kunstwerk; ja auch gleich-
viel, ob das Object als solches, abgesehen von der ästhetischen
Empfindung, die es auslöst, einen an sich lustvollen Zustand re-
präsentire oder nicht: auch die ästhetische Reaction, die das tra-
gische Object in der Seele erzeugt, ist eine Lustempfindung.
Aus diesem Grunde möchte der ästhetische Standpunct recht
Plümacher, Pessimismus. 15
226 Die Bekämpfimg d. P. v. Standp. d. naturalistischen Optim.
sein erstrebt wurde. Darum geht A. Taubert wohl über das Ziel
hinaus mit der Behauptung, ganze Racen, z. B. die Chinesen, Ja-
panesen seien von der Schönheit verlassen. Es ist unberechtigt,
Völkern, die innerhalb ihrer eigenthümlichen Formen ein so hoch-
entwickeltes Kunstgewerbe besitzen, den Schönheitssinn abzuspre-
chen, bloss weil das, was sie ästhetisch gemessen, von unsern ästhe-
tischen Theorien nicht gebilligt wird. Bezüglich des eudämono-
logischen Werthes des Schönen, resp. der Schönempfindung, han-
delt es sich ganz und gar nur um das subjectivste Empfindungs-
moment; wenn das Individuum nur irgend etwas als schön em-
pfindet, wenn es nur von jenem nicht in Worte zu fassenden, nicht
zu beschreibenden, sondern nur zu erfahrenden Gefühl überkommen
wird, so genügt es. „De gustibus non disputandum est" gilt un-
eingeschränkt, wo es sich um die eudämonologische Bedeutung des
Schönen in Kunst und Natur handelt.
Nicht die Enge des seelischen Gebietes, innerhalb dessen die
Lust des Schönempfindens blüht, ist es, welche nach unserer An-
sicht den ästhetischen Optimismus unfähig macht, den eudämono-
logischen Pessimismus zu überwältigen; denn dieses Gebiet ist immer-
hin ein sehr weites und breites, wenn auch seine Grenzen noch
lange nicht die der Schmerz empfindungsmöglichkeit erreichen:
vielmehr sind es die Bedingungen, unter denen die Schönempfin-
dung nur auftreten kann, worin die Beschränkung des eudämono-
logischen Werthes des Aesthetischen liegt.
Die Affection, welche das ästhetische Object auf das Subject
übt, ist eine partielle, eine Oberflächenwirkung; die Empfindung,
mit der das Subject reagirt, ist in erster Linie freilich nicht auch
eine partielle, denn es giebt keine partiellen primären Empfindun-
gen, sondern die Empfindung als solche ist immer ein ganzes, ein-
faches Moment, und was man „gemischte Empfindungen" nennt,
das ist der rasche Wechsel der einzelnen Empfindungsmomente
innerhalb einer willkürlich begrenzten Zeit, welche das reflexive
Bewusstein zum Rahmen für eine Summe von Eindrücken macht.
Nun zeigt aber die Erfahrung, dass die Schönempfindung bei
den gewöhnlichen Menschen eine schwache Empfindung ist. Da-
mit beabsichtigen wir nicht die Hartmann sehe Lehre: dass das
Bewusstsein keine Grade habe (Ph. d. Unb., Cap. III, pag. 52 u. f.)
zu verneinen; was wir als Schwäche bezeichnen müssen, weil es
sich in der Vorstellung als solche giebt, das mag vielleicht in der
Kürze der dem psychischen Vorgang correlativen Nervenreizaus-
lösung, oder auch in dem beschränkten Complex der reagirenden
Gehirnsubstanz seinen Grund haben, also die sogenannte Schwäche
nur zeitliche Eigentümlichkeit der Schönempfindung sein. Um
die Schwäche der ästhetischen Empfindung zu prüfen, gehe man
232 Die Bekämpfung d. P. v. Standp. d. naturalistischen Optim.
nur mit Zahnweh in's Concert oder mit Leibgrimmen in die Gemälde-
gallerie, oder versuche seekrank den Sonnenuntergang auf bewegter
See zu gemessen.
Wo aber die Befähigung zur ästhetischen Reaction ausnahms-
weise so stark vorhanden ist, dass sie sich noch in solchen Fällen,
wo bei den Dutzendmenschen die Gemüthlichkeit aufhört, sieg-
reich behauptet, da ist sie die Begleiterin einer so sensiblen Nerven-
organisation, dass nun auch die unangenehmen Empfindungen inten-
siver auftreten; dieses Verhältniss hebt bekanntlich Hartmann
hervor.
Die practische Interesselosigkeit, die man, damit die ästhetische
Wirkung eintreten kann, dem schön- wirkenden Objecte soll ent-
gegen stellen können, die muss auch nach den Hauptrichtungen
des Seelenlebens bezüglich anderweitiger Objecte vorhanden sein;
wo lebhaftes Sehnen, Fürchten, Bangen, Zürnen in der Seele
Wellen schlägt, da kann die ästhetische Empfindung nicht zu jener
dominirenden Stellung im Bewusstsein kommen, dass sie zu einem
positiven eudämonologischen Factor wird. Nun ist aber das Leben
so beschaffen, dass nur gar zu viele Menschen gar zu oft von
diesen lebhaften Affecten bewegt sind. Der ästhetische Optimis-
mus setzte also,damit er positive Bedeutung haben könne, schon
eine friedvollere Lebensbeschaffenheit voraus; stünde das Zünglein
der Lust- und Unlustwaage schon im Gleichgewichte, dann würde
allerdings das Vorhandensein des Schönen den Optimismus be-
gründen. Aber jene, das Zustandekommen der ästhetischen Em-
pfindung hemmenden Affecte sind nicht nur da, sondern so wie
die Welt einmal beschaffen ist, müssen wir bis zu einem gewissen
Grade unsere Seele von ihnen bewegen lassen; denn aus ihnen
heraus entwickeln sich die Motive desjenigen Thuns, womit wir
am Werk unserer Zeit und unseres Lebenskreises theilnehmen.
Nur wo ein ausgesprochenes Kunsttalent vorhanden ist und
deutlich als bestimmter Lebenszweck das Schaffen oder Fördern
des Schönen erkennen lässt, da ist das sich Einspinnen in die
Welt des schönen Scheins berechtigt; wer aber bloss zu dem
Zwecke, sich ein harmonisches, optimistisches Weltbild zu sichern,
sein Auge einseitig auf die interesselose Anschauung beschränken
und sein anderweitiges Gefühlsleben kühl setzen will, der verzichtet
auf zwei Drittheile des Reichthums seines Seelenlebens. Denn da-
mit er die schöne Welt schlechthin zur besten Welt erheben
kann, muss er sowohl gegen die sittlichen Einwände sein Ohr ver-
schliessen, sobald das vom sittlichen Standpunct aus Nichtseinsollende
nur eine ästhetische Seite hervorzukehren vermag*), als auch auf
*) Es ist eine gefährliche Kunst, die sich mit Vorliebe mit dem „schönen
Laster" beschäftigt; sobald das Nicht- sein- sollende mit zu glänzenden Far-
Der Werth der Illusion. 233
die philosophische Betrachtung des Lebens und auf das durch die
Reflexion vermittelte Mitleid verzichten, sobald das Leid seiner
Mitcreaturen keine ästhetische Seite hervorzukehren vermag.
Mit dem, was E. von Hartmann in der „Phän. d. sittl. Bewusst-
seins" (A. I. 6. pag. 148 —
162) über Geschmacks-Moral und ihre
Grenze sagt, ist auch das Gebiet bezeichnet, auf dem der ästheti-
sche Optimismus zu Recht besteht und die Grenze, wo er diese
Berechtigung verliert; zugleich aber auch diejenige Grenze, wo
überhaupt die ästhetische Empfindung die Macht verliert, sich zu
behaupten gegen die von allen Seiten andrängenden Unlustempfin-
dungen des ernsthaft mitgelebten nicht bloss mitangeschauten
Kampfes um die Existenz und die bewusst und unbewusst gesetzten
Lebensziele.
Wo der Wille, eine schöne Welt zu schauen und in der schönen
Welt sich schön zu geriren, nicht mehr hinreicht, um sich sittlich,
den Weltzwecken entsprechend zu bethätigen, da ist auch der Punct
erreicht, wo sich die Welt und das Leben als ein zu spröder, stach-
lichter Stoff erweisst, um sich bloss von seiner ästhetischen Seite
erfassen zu lassen, und wo derselbe auch demjenigen, der den Wunsch
hat, sich egoistisch in sein ästhetisches Schneckenhaus zurückzu-
ziehen, noch seine Tücken und Schmerzen fühlbar zu machen weiss.
hat in seinem reflectir enden Bewusstsein für das „Soll" der Selbst-
verleugnung der sittlichen That keine Begründung. Ihm genügt
sein Gefühl, dass das Allgemeine seinem Ich unendlich an
Werth überlegen sei; und da „das' Allgemeine" nicht als Abstrac-
tum", sondern als „seine Nächsten" mit ihm in Berührung kommt,
so handelt er diesen gegenüber so eudämonologisch correct, als er
es vermag (und wie er wünscht, in gleicher Lage behandelt zu
werden). Je nachdem hierbei jene psychischen Factoren, die man
Plümacher, Pessimismus. 16
242 Die Bekämpfung d. Pess. v. Standp. d. ethischen Optim.
a. Hartmann.
Sittliche darin besteht, dass der Wille einen solchen Inhalt hat, der
nicht mehr, wie beim unmittelbar natürlichen Wollen, die Lust
(das Wohl) des Trägers des Willens bezweckt, sondern ein ausser
der Sphäre des Subjectes gelegenes Wohl. Sittlichkeit ist die
16*
244 Die Bekämpfung d. Pess. v. Standp. d. ethischen Optim.
b. Schopenhauer.
Auch bei Schopenhauer ist der Pessimismus, wie er die
Achse des ganzen Systems bildet, auch das Alpha und Omega
der Ethik, welche letztere aber auch zweispaltig ist, wie seine Philo-
sophie überhaupt.
Die Ethik zerfällt bei ihm in eine exoterische und eine eso-
den Zustand der Willensbejahung, die
terische; die erstere gilt für
letztere ist der „Zustand der Gnade", wo die Individuen nicht nur
die absolute unheilbare Unseligkeit des Weltwollens zu erkennen
vermögen, sondern wo ihr Wille damit zu beginnen vermag, das
unselige Weltwollen zu verneinen. Die exoterische Moral hat als
ihr oberstes Princip, aus dem allein Schopenhauer vermeint alles
zur Aufstellung einer Sittlichkeits- und Rechtsordnung Nöthige
wie aus einer Zauberbüchse hervorholen zu können, das auf der
Erkenntniss des alldurchdringenden Leides gegründete Mitleid.
Die esoterische Moral dagegen ruht auf der Anschauung, dass das
246 Die Bekämpfung d. Pess. v. Standp. d. ethischen Optim.
Mitleids zum obersten Princip die Moral auf das Gefühl, und
tritt energisch gegen die, die Berechtigung und fundamentale Be-
deutung dieser letzteren verkennende Vernunft-Moral Kant's in
die Schranken. Für Schopenhauer ist das Gefühl des Mitleids,
woraus sich erst die andern sittlichen Triebfedern, sowie secundär
die vernunftgemässen Institutionen der Sitte und des Rechtes ent-
wickeln sollen, ebenso objectiv begründet, als es die Vernunftmoral
in einem rationalistischen System sein kann; nämlich es ist die
Wesenseinheit der bloss subjectiv - phänomenalen Creatur, welche
als Mitleid sich im Gefühl ins Bewusstsein drängt: im Mitleid
zerreisst momentan der „Schleier der Maja".
Der Widerspruch aber, welcher sich zwischen Schopenhauer's
Erkenntnisstheorie und dessen Willensmetaphysik einschiebt, wirkt
auch in seiner Ethik fort und zwar vermittelst des unvollendeten,
schwankenden Begriffs der Individuation. Raum und Zeit als
Principia individuationis sollen —
im Anschluss an Kant 's „trans-
cendentale Aesthetik" —nur Formen des Intellectes sein, nicht
aber dem „Ding an sich" zukommen, mithin die Vielheit nur ein
Schein, in welchem das Eine, in den „Trug der Maja" gerathene
Willens-Wesen sich selbst zur Erfahrung kommt. Aber dieser
Auffassung widerspricht der Willensrealismus der Naturphilosophie
und der Realidealismus der Aesthetik mit ihrer Welt der platoni-
schen Ideen, in deren ästhetischer Erfassung der Zustand der Ver-
neinung des Willens vorübergehend anticipirt sein soll. Schopen-
hauer's Bekenntniss: nicht entscheiden zu können „wie tief die
Wurzel der Individuation reichen könnte", gestattet auch innerhalb
seines Systems eine objective Basis für die Forderung der Sittlich-
keit zu suchen, indem man gegen seine Erkenntnisstheorie und für
seinen Willensrealismus sich entscheidet. Denn nur dann, wenn
das „du" und „die Andern" reale Existenzen sind und nicht nur
„meine Vorstellung", nur dann hat das Kriterion der Sittlichkeit
einen Sinn.
Die Begründung der Sittlichkeit. 247
Die vermittelst des Gefühls des Mitleids auf die Einheit des
Wesens gegründete Moral ist nun, wie schon bemerkt, nur die
Vorstufe zur esoterischen Ethik; auf dem Gipfel der pessimistischen
Erkenntniss angelangt, giebt es nur noch Ein Ziel: die einzelne
Erscheinung des sich zur Qual verurtheilenden Willens gleichsam
durch einen Seitensprung aus dem feurigen Kreislauf des Daseins
zu retten. Die Inconsequenz dieser obersten Lehre der Schopen-
hauer'schen practischen Philosophie springt in die Augen.
Entweder das Individuum ist nur Schein und befreit das Wesen
in keiner anderen Weise als jeder natürliche Todesfall, der ja auch
die Aufhebung (die Verneinung) des Scheins einer individuellen
Existenzform ist; oder aber, wenn die Vielheit in dem Sinne täu-
schender Schein wäre, dass im solipsistischen Ich das ganze Eine
Willenswesen sich erschöpfte (mithin die Willensverneinung nicht
wie in dem vorher angenommenen Falle in der Schein-Peripherie,
sondern im mährenhaften Seins-Centrum stattfände), so müsste eine,
vermittelst der auf die Spitze getriebenen Askese (freiwilliges Ver-
hungern) erreichte Lebensverneinung das Weltwesen selbst er-
lösen. Das letztere Verhältniss ist nun nicht anzunehmen, denn
Schopenhauer giebt selbst zu, dass unter den indischen Büssern
und christlichen Askesen solche Willensverneinungen merklich statt-
gefunden hätten; da die Welt nun thatsächlich noch besteht, so muss
hier ein Fehler stecken: entweder das Verhältniss der Askese zur
Welterlösung ist falsch gefasst oder der Solipsismus, der die un-
ausweichliche Consequenz des subjectiven Idealismus ist, und den
auch Schopenhauer nicht überwunden hat, obgleich er ihn ins
Narrenhaus verweist, muss falsch sein.*)
Wenn nun aber der erkenntnisstheoretische subjective Idealis-
mus falsch ist, wenn
die Individuen räumlich-zeitlich reale, deta-
chirte Thätigkeiten des Einen Wesens sind, unter welcher Be-
dingung ein sittliches Sollen erst möglich ist, dann wäre die indi-
viduelle Flucht aus der Existenz keine sittliche Handlungsweise,
weil sie dem von Schopenhauer bekannten Kriterion nicht ent-
spricht, sie wäre dann ein Act eines negativen Individual-Eudämo-
nismus. Schopenhauer übersieht dies, weil er Lebensbejahung
und Lebensverneinung unter den Begriff von Schuld und Sühne
befasst, sowohl für das Weltsein als Ganzes, wie auch da, wo er
zu Gunsten der Möglichkeit einer objectiven Grundlage der Sitt-
lichkeit seinen Monismus pluralistisch zersprengt, d. h. für die Indi-
viduen, deren Leben-wollen als freie That aufgefasst wird.
Den unhaltbaren Begriff der Freiheit im esse übernahm Scho-
penhauer bekanntlich von Kant, und als eine solche freie That 7
und damit toto genere verschieden von der exoterischen Sittlich-
keit (und deren Kriterion) innerhalb der determinirten Sphäre der
Willensbejahung,*) will er auch die Verneinung des Willens ver-
standen wissen.
Auf die Schwächen seiner exoterischen auf das Mitleid be-
gründeten Moral, sowie auf die Widersprüche der esoterischen
Moral mit ersterer kommen wir später zurück;, hier genügt vor-
läufig der Hinweis, dass diese Mängel nirgends dem Pessimismus
als solchem entspringen, sondern theils mangelhafter psychologischer
Induction, theils dem Steckenbleiben in den scholastischen Begriffen
von Freiheit, Schuld und Sühne. Aus dem Pessimismus ergiebt
sich im Gregentheil auch für Schopenhauer nur die von jeden
gesunden ethischen Standp unct zu erhebende Forderung: Aufgeben
des Egoismus und der Individual-Eudämonie und Unterstellung
des Handelns unter die Principien der theoretischen Erkenntniss.
c. Julius Bahnsen.
Ebenso wie Hartmann und Schopenhauer findet auch
J. Bahnsen das Merkmal der Sittlichkeit wie auch des „ Helden-
thumes " **) in der Abwesenheit des Egoismus, in der Drangabe des
Selbst an das Allgemeine oder an die Idee. Das rücksichtslose
Einsetzen der Person und deren Wohl und Weh in den Dienst all-
gemeiner Ideen —
gleichgiltig vor der Hand, welcher Art diese
sind — kennzeichnet die sittliche Handlungsweise; in dieser Hin-
gabe der Person an die Idee wurzelt die Würde des ersteren, und
aus dem nicht ausbleibenden Kampf der vom Willen getragenen
Ideen erwächst, dem sittlich strebenden Individuum der tragische
Conflict, wenn es, um der einen getreu zu bleiben, die andere ver-
rathen muss. Bahnsen ist also mit Schopenhauer und Hart-
mann in Uebereinstimmung bezüglich des Merkmales, welches
eine Handlung zur sittlichen macht, und ebenso energisch betont
er das „Sollen" derselben. Der objective Grund des Sollens
aber ist bei ihm ein ganz anderer als bei den Monisten
Schopenhauer und Hartmann, weil Bahnsen pluralisti-
scher Individualist ist. Ihm ist das Individuum nicht bloss eine
d. Philipp Mainländer.
Was hier nun den ersten Punct betrifft, nämlich den Vor-
wurf: der Pessimismus sei das Resultat eine» anti-sittlichen Indi-
vidual-Eudämonismus, resp. eines idealistischen Zielen entfremdeten
naturalistischen Hedonismus, so haben wir uns darum gar nicht
weiter mehr zu kümmern, indem diese Behauptung nach dem Er-
scheinen der „Phänomen, des sittlichen Bewusstseins" nicht mehr
haltbar ist. Es participiren aber an der von Hartmann gelie-
ferten Rechtfertigung des Pessimismus überhaupt alle pessi-
mistischen Philosophien, soweit sie sich zu Hartmann 's Kriterion
des Sittlichen bekennen. Die sorgfältigste Ausscheidung der indi-
vidual-eudämonologischen, mithin egoistischen Motive aus den ver-
schiedenen gefühl- und verstandesmässigen Principien geht als
rother Faden durch die ganze „Phänomen, des sittlichen Bewusst-
seins" hindurch, und zeigt zusammen mit der systematischen Ein-
theilung in egoistische Pseudo- und in echte Moral, wie fest Hart-
mann an der Gegensätzlichkeit von Individual-Eudämonismus und
Sittlichkeit festhält. Die älteren, ausschliesslich gegen die prac-
tisch - philosophischen Andeutungen der „Philosophie des Unbe-
wussten" gerichteten kritischen Ausfälle haben wir daher gar nicht
mehr zu behandeln, dagegen aber den zweiten Punct, der gleich-
sam die Kehrseite des erstem bildet; nämlich die Behauptung,
dass mit dem Individual-Eudämonismus als Ziel auch der Werth-
messer und mit dem Egoismus das Motiv verloren gehe —
eine
Behauptung, welche also einer Verwerfung unseres Kriterions
der Sittlichkeit gleichkommt. Der Streit über das Verhältniss
zwischen Sittlichkeit und Egoismus ist nur insofern mit der Pessi-
mismusfrage verknüpft, als der Pessimismus den Anspruch erhebt,
dadurch die Sittlichkeit zu fördern, dass durch seine Erkenntniss
der Egoismus gebrochen werde. Hätten nun die Vertheidiger des
Egoismus recht, so wäre die Schwächung desselben (wenn sie nicht
nur ein Wahn, sondern Realität wäre), die Schwächung einer Kraft,
die damit auch der Sittlichkeit entzogen wäre.
In diesem Sinne schreibt Hugo Sommer (Preussische Jahr-
bücher B. XLIII, Heft 4, „Die Ethik des Pessimismus"): „Egoistisch
nannte man nach der bisher üblichen Bedeutung dieses Wortes
einen Menschen, der auf Kosten Anderer sein eigenes Wohl
durchzusetzen sucht nicht denjenigen
, der unter sorgsamster
,
der stolzen Gefühle lauert, eher Zeit finden, sein Interesse auf
ausser ihm Liegendes zu richten, so dass nunmehr echt sittliche
Handlungen mit den pseudo-sittlichen abwechseln werden.
Darin liegt der grosse Fortschritt des transcendentalen Eu-
dämonismus über den empirischen, wie auch Hartmann wieder-
holt hervorhebt. Es muss aber auch anerkannt werden, dass sich
dem pseudo-ethischen Streben, welches die sittliche That nur thut,
um sich den Genuss zu verschaffen, sich im Bewusstsein seiner
Sittlichkeit zu sonnen, insofern ein echtes sittliches Moment bei-
mischt, als dieser eudämonologische Motivationspro cess schon die
Achtung vor der Sittlichkeit als solchen voraussetzt, hier also
ohne Zweifel die Brücke aus der Pseudo-Moral zur echten, der
Hingabe an die Idee, hinüberführt.
Was der gemeine Sprachgebrauch einen „Egoisten" nennt,
das muss nun weiter der Philosoph als unsittlichen Egoisten be-
zeichnen, in welchem Falle dann aber das „unsittlich" nicht bloss
im privativen Sinne als „nicht sittlich" (gleich einfach natürlich)
gemeint ist, sondern als positiver Gegensatz zur Sittlichkeit.
Wie der theoretische Egoist, entgegen seiner Theorie, im Drange
seiner gut veranlagten Natur im einzelnen Falle sittlich handeln kann,
so kann der, welcher den Egoismus theoretisch verurtheilt, momentan
seinen egoistischen Instincten unterliegen; die Reue wird nach-
folgen, wenn dieselben zu unlegalen oder sonst wie die Nächsten
schädigenden Handlungen geführt hatten, der Rückfall in's privativ
nicht-sittliche Gebiet wird sich aber in der Regel der Kritik des
sittlichen Bewusstseins entziehen, wenn sie sittlich indifferent ausfallen,
d. h. wenn sie keinerlei Pflichten verletzen, dem Nächsten harmlos
bleiben und keine üblen psychologischen Wirkungen erkennen lassen.
Diese innern Unterschiede des äusserlich sich gleich darstellen-
den und äusserlich verschiedenen bei innerer Gleichheit weist Hart-
mann an zahlreichen über die „Phän. d. sittl. Bew." zerstreuten
Beispielen aufs Feinste nach, was sich H. Sommer entgehen lässt,
welcher meint, er müsse das weite Gebiet des Natürlichen, des
Sittlich-Indifferenten retten, wo es gar nicht in Gefahr ist. „Unser
Philosoph" — meint Sommer — „vermischt alle die specifischen,
unter sich ganz incommensurablen himmelweiten Unterschiede,
welche das Streben nach eigenem Wohl in des Wortes umfassend-
ster Bedeutung in sich schliesst, und bezeichnet alles Streben
nach eigenem Wohl ohne Ausnahme als egoistisch: mag dasselbe
übrigens auf das Wohl im Diesseits oder in einem erträumten
Jenseits gerichtet sein." Gewiss und mit vollem Rechte. Wie es
das umfassende Merkmal des Sittlichen ist: nicht das Seine zu
suchen, so ist es das Merkmal des Nicht-Sittlichen, das Eigene zu
erstreben; aber dass das Nicht-Sittliche schon eo ipso das Unsitt-
Plümacher, Pessimismus. 17
258 Die Bekämpfung d. Pess. v. Ständp. d. ethischen Optim.
liehe sei, das behauptet nicht Hartmann, sondern nur eine aske-,
tische Moral verdammt das Natürliche als das Unsittliche.
Die Grenze zwischen einfach natürlichem Thun und solchem,
welches der sittlichen Beurtheilung unterliegt, muss strict aufrecht
erhalten werden, sonst verliert man für das ganze autonome Gebiet
das Kriterion des Sittlichen: denn entweder man hält daran fest,
dass Selbstverleugnung sittlich sei, und kommt dann ohne die An-
erkennung der Naturberechtigung zum asketischen Gebot „so
dir Jemand auf die rechte Backe schlägt, so halte ihm auch die
linke hin" (welche Forderung eine indirecte Unsittlichkeit enthält,
indem man den Nächsten zum Unrechtthun einladet); oder man
verwirft das obige Kriterion und seine unvernünftigen einseitigen
Consequenzen und ist dann genöthigt, alle unschädlichen Absurdi-
täten, welche zufällig Einer „als sein wahres Wohl" zu erkennen
vermeint, unter die Rubrik „sittliches Streben" aufzunehmen. Man
ist aber auch gezwungen, den klugen, alles erwägenden Egoismus
auf den höchsten Thron zu erheben, welcher kluge Egoismus zwar,
wie Hart mann*) sehr schön auseinandersetzt, unter hohen Cultur-
verhältnissen und in Zeiten, wo die Gesetze sich behaupten können
und die öffentliche allzu corrumpirt ist, zu legalem
Meinung nicht
Verhalten Ausnahmsfällen aber, unter gelockerten
hinreicht, in
Rechtsverhältnissen alle Gräuel sanetionirt. Wenn bei mangelnder
Auseinanderhaltung von rein natürlichem Nicht- Sittlichen und
Unsittlichen auch das Kriterion der Selbstlosigkeit für das Sitt-
liche verloren geht, dann muss zum Frincip der Heteronomie
Zuflucht genommen werden, dann muss, um nur überhaupt festen
Grund zu gewinnen, das Handeln nach dem Princip der Autori-
tät als das Wesentliche des Sittlichen declarirt werden.
Als Beispiel hierfür kann J. H. von Kirchmann dienen;
auch er vollzieht nicht die Trennung zwischen dem sittlich-indiffe-
renten natürlichen Egoismus und dem Egoismus als Moralprincip
und kommt daher zu folgendem Ausspruch: „Der Egoist ist ein
Mensch wie alle anderen; es ist also nicht abzusehen, weshalb er
als Mensch nur für die Andern sorgen solle, selbst wenn er
und sie im Wesen nur Eins sind. Offenbar müsste dann folge-
recht der Andere auch wieder für ihn sorgen. A muss die
Suppe für B kochen und B muss die Suppe für A kochen; sollte
dieses Ziel nicht einfacher erlangt werden, wenn jeder die Suppe
für sich selbst kocht?" Wenn jeder die Suppe kochen kann, so
soll es jeder für sich selbst thun; er handelt dann einfach natür-
lich unter natürlichen Verhältnissen, die immer noch ein weites
sind wir nun aber einmal nicht im Stande anders zu fassen als
eudämonologisch, gleichviel ob positiv oder negativ, ob in der Welt
oder ausser ihr in ihrem metaphysischen Grunde. Weil nun die
organische Welt das uns allein zugängliche Sensorium des Seins
ist, darum sind wir auch berechtigt, den W^erth oder Unwerth des
*) „Gern dien' ich dem Freunde, doch thu' ich es leider mit Neigung»
und so wurmt es mich oft, dass ich nicht tugendhaft bin."
Der Begriff „das Gute", 265
I
heraus kann; diese Wahrheit ist aber gewahrt im Monismus,
wo der Egoismus der vielen Iche in der sittlichen That überwun-
den werden kann, und doch dem Wesen das Actionsfeld seiner
eigenen Wesenheit (über welches es allerdings nicht hinauskönnte)
gewahrt bleibt.
An deu Irrthümern H. Sommers und A. Horwicz' partici-
pirt auch E. Kreyenbühl: „Mit der Verwerfung aller Lust, mit
der Aufhebung alles individuellen Wohlseins in jeder Gestalt ist
die Wirksamkeit der unser Handeln bestimmenden Motive sistirt,
und ein quietistisches „laissez faire, laissez aller" ist im günstigsten
Falle das Verhalten, welches der consequente Pessimist dem Welt-
lauf gegenüber einschlagen kann". Der Pessimismus behauptet
nicht, es gebe keine Lust in der Welt, sondern nur, es sei der
Unlust mehr als der Lust; er behauptet auch nicht schlechthin
das Wohl-Streben sei nicht sittlich, sondern nur, es beginne das
Sittliche erst da, wo ohne Rücksicht auf das eigene Wohl gehandelt
werde. W^enn daher Hart mann z. B. in dem Abschnitt, der das
Princip des Mitgefühls behandelt, das Freudeschaffen als sitt-
liches Thun bezeichnet, so setzt er sich auch von Ferne nicht in
Widerspruch mit seiner Theorie; weder dort, wo der Werth des
Freudeschaffens im engsten Kreise, noch wo die social-eudämoni-
stischen und culturellen Bestrebungen behandelt sind, verlässt
seine ethische Theorie den Boden des Pessimismus und die Be-
hauptung Kreyenbührs „dass Hartmanns Ethik nur so weit
eine solche sei, als sie dem Pessimismus untreu werde, und auf-
höre, Ethik zu sein, wo sie sich mit der pessimistischen Metaphysik
decke", ruht auf einem Gewebe von Missverständnissen.
Das „laissez faire, laissez aller" wird nur da Forderung des
Pessimismus, wo dieser auf einem erkennfnisstheoretischen Illusio-
nismus fusst, d. h. wenn die Welt wesentlich deswegen als mangel-
haft und das tiefste Sehnen unbefriedigt lassend erachtet wird, weil
die Welt nicht wahrhaftiges Sein, sondern nur Schein, subjectiv
täuschendes Phantasma ist (so wie es der Brahmaismus und der
Buddhaismus meint mit dem Welttrug der Maja), oder aber auch
aus der unberechtigten Hineinverlegung des Begriffes der Schuld
in die Weltsatzung, welche Idee Schopenhauer mit den Indiern
und gewissen Formen der christlichen Gnosis theilt. Der Pessi-
mismus als solcher hat mit diesen erkenntnisstheoretischen und
metaphysischen Theoremen nichts zu thun; er führt zwar letzten
Endes zur Aufstellung metaphysischer Hypothesen, nicht aber er-
wächst er aus solchen, sondern ruht auf dem empirischen Funda-
ment äusserer und innerer (psychologischer) Thatsachen. Wenn
das — eventuelle — letzte Ziel, die Verneinung des Weltseins,
sich auch als oberstes Vernunftsziel für den philosophischen Pessi-
268 Die Bekämpfung d. Pess. v. Standp. d. ethischen Optim.
mismus ergiebt, so ist damit keineswegs mit dem Begriff des Nicht-
sein-sollens desGanzen auch der Begriff des Nicht-sein-sollens für
jedes einzelne Moment des Seins (wenn das Sein als Ganzes doch
nun einmal ist) gegeben. Innerhalb des nun einmal real Vorhan-
denen bleibt der Begriff des Werthes auf die Momente anwend-
bar, und es bleibt sich auch gleich, ob man diese negativ oder
positiv ausdrückt, d. h. ob man etwas als „minder schlecht" oder
„besser" bezeichnet. In unserer Sehnsucht nach vollkommener
Befriedigung (welche die vollkommene Glückseligkeit wäre) tragen
wir einen Maassstab in uns, obgleich wir diesen ersehnten Ideal-
zustand nur vermittelst doppelter Negation ahnungsweise als Ge-
fühl in uns finden. Auf die Motivation hat aber die negative
oder positive Bezeichnung keinen Einfluss, weil das am ahnungs-
voll gewonnenen Maassstab Gemessene, um überhaupt Motiv zu sein,
immer „das Beste" (resp. bei negativer Bezeichnung das „mindest
Schlechte") sein muss; und gilt dies sowohl für die Motivation im
Gebiete des privativ-sittlichen, natürlich-egoistischen Strebens, wie
in dem des Sittlichen.
Gerade dann nur, wenn der Wille ein einfaches, der Psyche ein-
wohnendes Moment wäre, —
gleichsam „ein Mensch im Menschen %
um ein Bild Rehnikes zu wiederholen —
könnte dieser einfache
Wille constant auf Ziele werden, deren Erreichbarkeit
gerichtet
dadurch, dass sie im Weltplan liegen, garantirt ist, und die ihrem
Träger beständige Befriedigung und mithin Glückseligkeit ge-
währten.
Nun ist aber nicht ein einfacher Wille in uns, sondern wir sind
ganz und gar ein Strom, ein System von Willensacten, nach
unserer psychologischen wie nach unserer physiologischen Seite
hin. Indem sich das Individuum als sittlicher Mensch über die
Natur erhebt, hört er doch nicht auf in der Natur zu wurzeln;
nur mit den höchsten Spitzen seines Bewusstseins taucht er aus
dem Strom des Egoismus auf. Mit dem sittlich indifferenten Natur-
grund ist ein unerschöpfliches Feld primärer Unlust gegeben,
welches auch die höchste Sittlichkeit nicht zu bewältigen ver-
mag, obgleich es theilweise als Leidensfeld des Nächsten das erste
Object ihrer Thätigkeit bildet.
Gerade das wurzelhafte Einssein der als Individuen getrennten,,
•
deutung des Leids") die Versöhnung mit dem Leid innerhalb des
Lebens, vermittelt durch die Erkenntniss, dass es ein Mittel zur
Erziehung zur Sittlichkeit, die Sittlichkeit aber Mittel zur Ueber-
windung des Weltübels werde. Mithin bekämpft das Uebel sich
selbst, und der Glaube hieran bildet den logisch-ethischen Optimis-
mus innerhalb Hartmann 's Pessimismus, und ein ähnliches opti-
mistisches Element ist auch in dem Pessimismus Schopenhauer 's,
noch mehr bei dessen Jünger Deussen, sowie auch bei Main-
länder zu constatiren, indem es die pessimistische Erkenntniss ver-
bunden mit der sittlichen Bethätigung ist, welclie zum Erlösungs-
Wege werden soll. Aber so gut es ist, dass das Uebel selbst
wieder zum Mittel seiner Vernichtung wird (resp. innerhalb des
empirischen Seins: zur Minderung wird), so wäre es doch noch
besser, wenn solche Selbstbekämpfung nicht nöthig und nicht
möglich wäre, weil Object und Subject gleicherweise mangelten.
Man darf nicht vergessen, wenn man die Sittlichkeit zum Mittel
höherer Befriedigung und somit eines höheren Optimismus machen
will, dass die Uebung der Sittlichkeit einen Mangel, einen zur
Bekämpfung bestimmten Zustand voraussetzt, und Sittlichkeit mit
ihrer Voraussetzung der Selbstverleugnung hätte gar keine Objecte
in einer „besten Welt". Die Erhebung ins Reich der Ideale, als
Ersatz für den Mangel eines leidlosen Lebens, wie es sein sollte,
um seine Existenz zu rechtfertigen, hat schon die Stoa gelehrt,
und auch diese, wie nicht minder unsere letztcitirten Optimisten
sind nur Quasi-Opti misten, denn sie bringen die Ehrenrettung
des Seins erst auf den Trümmern aller Unmittelbarkeit zu
stände. Der volle ganze Mensch, als Repräsentant des allseitigen
Lebens kann in der künstlich verdünnten Luft der Stoa gar nicht
athmen, ja gerade die „höheren Instincte" der Sittlichkeit hindern
ihn an der Gewinnung der stoischen Ruhe. Die sittliche Bethäti-
gung verlangt ein innigstes Eingehen in die Gesammtheit; je selbst-
verläugnender das sittliche Individuum ist, um so mehr lebt es im
Nächsten, trägt dessen Sorgen und Leiden mit. Durch dieses Hinein-
leben in die Andern tritt es zwar gewissermaassen aus sich hinaus,
so dass die eigene Verletzlichkeit sich mindert: die zu grosse Reiz-
barkeit, Eitelkeit, Stolz legen sich; grössere Genügsamkeit in Bezug
auf die sinnlichen Bedürfnisse macht, dass pecuniäre Verluste
weniger zu fürchten sind, kurz es kann allen Ereignissen gleich-
müthiger entgegen gesehen werden.
Aber die Hingabe an das Allgemeine macht das Individuum
auch insofern wieder verletzlicher, macht es zu einem um so weniger
die GästeFrack und weisse Binde anlegen und sich der Ballordnung ge-
mäss benehmen." (Phil. d. sittl. Bew.) p. 661.
Die Sittlichkeit als Garantie des Glückes. 279
recht viel Leben! — sein volleres Genüge findet. Dass dieser Weg
zum Genügen der beste Weg ist, das wissen auch die Pessimi-
sten; Hartmann spricht es aus: es ist der Weg
nicht nur des
Lebens froh, sondern auch des Lebens satt zu werden, so dass
auch die Endlichkeit aufhört, ein gefürchtetes Leid zu sein, wie
letzteres in jedem echten, natürlichen Optimismus der Fall ist..
Es erhebt sich nun die Frage: wenn es für die Vergangen-
heit und Gegenwart sich so verhält, wird nicht doch die Zukunft
durch extensive und intensive Steigerung der Sittlichkeit (unge-
achtet der gleichbleibenden physischen und physiologischen Fac-
toren) das Leben für die Empfindung lustvoller gestalten können,
vermittelst der Ausmerzung der direct und indirect durch die Un-
—
sittlichkeit resp. Nicht-Sittlichkeit —erzeugten socialen Lebens-
formen? Was eine Vermehrung echter Sittlichkeit und die Zurück-
drängung des Egoismus vermittelt der Durchschauung seiner
Illusionen aus unsern irdischen Verhältnissen möglicherweise machen
könnte, haben wir bereits im Cap. VI. zu skizziren versucht. Es
bleibt uns hier nur noch ein Blick zu thun auf die Frage nach
der Wahrscheinlichkeit einer Vermehrung der Sittlichkeit; es
wird uns dies bequem gemacht, denn um unsere Antwort auf diese
Frage zu geben, brauchen wir nur die Ansichten zweier Optimi-
sten, und zwar eines ethischen und eines ethisch-religiösen vor-
zuführen.
E. Pfleiderer meint in „Die Idee des goldenen Zeitalters
tt
auffordert; aber wer in aller Welt soll zu dieser Arbeit Lust und
Liebe, Kraft und Muth gewinnen, der dahinter gekommen ist:
All dieser Culturfortschritt soll und kann nur dazu dienen, unser
Bewusstsein dahin zu steigern, dass es das Elend des Daseins, die
Thorheit alles Glückstrebens, das Erbärmliche des Lebens mit all'
seinen Gütern und Aufgaben immer völliger einsehe und der
284 Die Bekämpfung d. Pess. v. Standp. d. ethischen Optim.
nunft, des Gewissens und der religiösen Gefühle sind selbst das
höchste Wirkliche, welches wir kennen; sie sind das Maass der
Dinge, die obersten Kategorien aller Werthe und aller Wirklichkeit;
sie bilden das unverrückbare Centrum unseres Lebens und unseres
Erkennens, welches allem Leben und allem Erkennen erst Be-
deutung, Einheit und Zusammenhang giebt."
Die höchste Wirklichkeit der Vernunft, des Gewissens und
der religiösen Gefühle leugnet der Hartmann'sche Pessimismus
nicht. Die Vernunft ist ihm ebenfalls das Maass der Dinge, und
er ist philosophischer Pessimismus, d. h. die denkende Verar-
beitung und Entwickelung des Weltschmerzes dadurch, dass er
nicht bloss beim primären Empfindungsurtheil stehen bleibt. Er
sagt nicht: die Unlust ist unlustig, das Uebel ist übel; er sagt
die Unlust ist unvernünftig, und wenn er erkennen muss, dass
die Unlust eo ipso mit dem Sein gegeben ist, so sagt er: das
Sein ist unvernünftig. Die Vernunft wird auch nicht schlechthin
mit dem Logischen identificirt; Hartmann polemisirt im Gegen-
theil gegen den formalistischen Panlogismus,*) der das Empfinden
als ungerechtfertigt von der Weltbetrachtung ausschliessen möchte.
Eür Hart mann ist das teleologisch Vernünftige das Logische an-
gewandt auf ein Alogisches; dieses Vernünftige aber ist ihm das
Maass aller Dinge, das höchste Wirkliche deshalb, weil hier am
ehesten —
wenn überhaupt irgendwo —
das objectiv Seiende mit
dem Subject - Seienden Eins-und- dasselbe ist, nicht bloss
weset.
Aber auch das Gewissen, resp. die Stimme des religiös-sitt-
lichen Bewusstseins ist Hartmann ein Höchstes, denn es ist die
gefühlsmässige Resonanz der Vernunft im Dienste der sittlichen
Weltordnung. Und dass das religiöse Gefühl vom Pessimismus
nicht verkannt wird, sollte doch wohl hinlänglich daraus erhellen,
dass für Hartmann die letzten Principien der Sittlichkeit zu re-
ligiösen Principien werden.
Allerdings liegt das religiöse Gefühl und das religiös-sittliche
Princip des Gottes-Mitleids weit ab von der primitivsten Form der
Gottessehnsucht und Gottes -Vorstellung: als der Leben garan-
tirenden Macht. Aber der Gott, zu dem der Indianer betet: „Grosser
Geist, gieb Büffel, viele Büffel", ist ja auch nicht mehr der Gott,
den der ethische Optimist will; desshalb kann der Grad der Ab-
weichung der religiösen Formen, welche innerhalb des Pessimismus
noch möglich sind, von den bisher unter optimistischen Voraus-
setzungen conservirten wahrlich eben so wenig ein Grund sein,
den Pessimismus der Verkennung der religiösen Gefühle zu zeihen,
i:
)
Neu-Kantianismus, Schopenhauerianismus und Hegelianismus. C.
Drei Preisschriften etc. 287
als die Verschiedenheit der Motive und Ziele seiner Ethik ein
Grund sein können, dieser ihre Berechtigung abzustreiten.
Interessanter, weil origineller als die beiden prämiirten Ar-
beiten, ist die. unprämiirte von J. Rehmke.
Der empirische Pessimismus, der Eigenlust-Pessimismus —
meint Rehmke —
sei wahr; d. h. der Eigenlust- Wille erntet immer
den Ueberschuss der Unlust über die Lust; er dient der Sitten-
lehre als prophylactisches Mittel gegen den Egoismus. Aber er
selber führt nicht zur Sittlichkeit; die Selbstverleugnung, zu
der er führen kann, ist (wenn consequent durchgeführt) der Selbst-
mord; die Sittlichkeit erwächst nicht aus der Selbstverleugnung,
welche etwas durchaus negatives ist, sondern aus dem ethischen
Optimismus.
Der ethische Optimismus Rehmkes ist aber etwas ganz
anderes, als was gemeinlich darunter verstanden wird. Man ver-
steht darunter in der Regel, dass wenn auch zwar das natürlich-
egoistische Streben dem Menschen nicht einen Zustand zu ge-
währen vermöge, in welchem die Lust die Unlust überwiege, dieses
letztere Verhältniss doch resultire, sobald der Mensch sein Wollen
sittlich bestimme. In diesem Sinne hat es auch Rehmke noch
gemeint, als er die „ Glossen" schrieb.
Jetzt meint er freilich etwas anderes. Ethischer Optimismus
soll nun heissen: dass der Mensch als sittlich wollender schon
glückselig ist, und nur sofern er glückselig ist, sittlich wollen
kann.
„Glückseligkeit und menschliches Wollen sind also stets bei
einander, und wenn man das Wollen des Menschen eintheilen
wollte, so Hesse es sich zwanglos in diese zwei Unterabtheilungen
bringen, ]. Glückseligkeitswollen und 2. glückseliges Wollen. In
der ersteren würde unterzubringen sein alles Wollen, welches die
Glückseligkeit zum Zwecke hat, also vom glückseligkeitsüchtigen In-
viduum ausgeführt wird; in der zweiten alles Wollen, welches auf der
Basis der Glückseligkeit vor sich geht, also vom glückseligen
Individuum unternonmien wird; jene Abtheilung wird sich durch-
aus decken mit dem egoistischen, und diese mit dem sittlichen
—
Wollen", (p. 116 117.) „Darin hat Hartmann durchaus Recht,
wenn er behauptet, dass das sittliche Streben die Glückseligkeit
(des Individuums) nicht zum Ziele habe; er schiesst aber über das
Ziel hinaus, wenn er deshalb die Glückseligkeit auch für das sitt-
liche Individuum verneint und die Wahrheit des ethischen Opti-
mismus leugnet. Dieser Optimismus kann wahr sein, ohne dass
die Glückseligkeit das Resultat des sittlichen Wollens sein müsste,
und der sittlich Wollende kann in sich diese Glückseligkeit tragen,
ohne dass er als Zweck das Glückseligsein in sein Handeln auf-
288 Die Bekämpfung d. Pess. v. Standp. d. ethischen Optim.
Orkan zerstört die Hoffnungen einer Jahreszeit; ein Heus ehr ecken-
schwarm oder eineUeberschwemmung verwüstet einen Landstrich;
der geringe chemische Wechsel in einer essbaren Wurzel bringt
Millionen von Menschen dem Hungertode nahe." „Gleich den
Banditen rauben und eignen sich die Wogen der See den Reich-
thum des Reichen und die ärmliche Habe des Armen mit den-
selben Zuthaten von Ausplünderung, Verwundung und Tödtung
an, wie ihre menschlichen Gegenbilder." „Selbst die Liebe zur
Ordnung, welche man für eine Nachfolge der Wege der Natur
hält, steht thatsächlich im Widerspruch mit derselben. Alles was
man gewöhnlich als Unordnung und ihre Folgen anklagt, ist ein
genaues Gegenstück der Wege der Natur. Anarchie und Schreckens-
herrschaft werden durch einen Orkan und eine Pest an Unge-
rechtigkeit,Ruin und Tod übertroffen."
Mill möchte Natur im weitern und engeren Sinne unter-
scheiden. Im weitern bedeutet sie alle in uns oder ausser uns
bestehenden Kräfte und alles was durch diese Kräfte geschieht.
Im engeren Sinne bezeichnet Natur dasjenige, was ohne das frei-
willige und absichtliche Wirken des Menschen vor sich geht. Im
erster en Sinne haben wir gar keine Macht, etwas wider die Natur
zu thun, als was Natur will; es ist überflüssig, einem anzuempfehlen,
man solle der Natur gemäss leben und handeln. „Jede Thätig-
keit ist die Ausübung irgend einer natürlichen Kraft, und ihre
Wirkungen sind ebenso viele Naturphänomene, hervorgerufen durch
die Kräfte und Eigenschaften irgend eines Naturobjectes, bei pünet-
lichem Gehorsam gegen irgend ein Gesetz der Natur. Wenn ich
meine Organe dazu benütze, um Nahrung zu mir zu nehmen, so
geht dieser Act und seine Folgen gemäss den Naturgesetzen vor
sich; wenn ich aber statt der Nahrung Grift verschlucke, so ist
der Fall genau derselbe."
Bezüglich der zweiten Definition der Natur heisst es von der-
selben: „Alles Lob der Civilisation, der Kunst, der Erfmdsamkeit,
ist ebensoviel Tadel* der Natur, ist ein Zugeständniss, dass dieselbe
Unvollkommenheiten enthalte, an welchen einen bessernden und
mildernden Versuch zu machen, des Menschen Pflicht und Ver-
dienst ist."
Mill vergisst hier, dass die, die Natur im zweiten engeren
Sinne bekämpfenden sog. freien Kräfte des Menschen nach der
Natur definition im weitern Sinne ja auch Naturkräfte sind, dass
also, wenn die Natur unmittelbar mangelhaft ist, sie doch dafür
das Maass und Mittel zu ihrer Correctur auch in sich selber trägt.
Wie man also sagen kann: das Lob der Natur schliesst einen Tadel
der Culturhandlungen und willkürlichen Thätigkeiten der Menschen
in sich, so kann man auch sagen: das Lob der Cultur schliesst ein
Der Pessimismus als irreligiös verurtheilt. 295
Lob der Natur ein, weil die Kräfte, die sich zu Culturformen ob-
jectiviren, auch Kräfte der Natur im weitern Sinne sind.
Aber trotz mangelhaften Bestimmung des Begriffes
dieser
„Natur" kann auch der eifrigste Naturschwärmer die
gewiss
Correctheit des von Mill gegebenen Bildes nicht bestreiten; und
ebenso unbestreitbar richtig ist von einem Standpuncte aus, der
die eudämonologischen Zwecke mit in die Teleologie eingeschaltet
sehen möchte (wie der Optimismus, der seinem Namen entsprechen
will, es muss), die weitere Behauptung Mills: dass die Natur
1
*) Schon David Hume formulirte das Dilemma: Will Gott das Uebel
hindern und kann es nicht, so ist er nicht allmächtig; vermöchte er es aber
und will es nicht, so ist er übelwollend; besitzt er aber Allmacht und All-
gütigkeit, woher dann das Uebel?
296 Die Bekämpfung d. Pess. v. Standp. d. religiösen Optim.
Cultur und durch die Cultur und zu Gunsten der Cultur, in einen
Zustand gerathen ist, der insofern zunxStand des Wilden auf dessen
untersten Stufe eine Parallele bildet, als sich der Inhalt seines
ganzen Lebens und Strebens, mit Aufgebot seiner sämmtlichen
Kräfte im Gewinnen der nothwendigsten Nahrung und dem noth-
dürftigsten Schutze vor den Extremen der Witterung erschöpft.
Es ist aber auch nicht der Pessimismus die Ursache für die
Irreligiosität im Proletariat.
Der mehr oder minderem Bewusst-
Proletarier, so weit er mit
sein Socialdemocrat ist und auf die Kirche und die Religion
schimpft, ist bloss „Entrüstungspessimist". Wir haben bereits
früher auseinander gesetzt, wie der „ Entrüstungspessimismus
einen eudämonologischen Optimismus voraussetzt, Und können uns
daher hier ohne allgemeine Erörterungen an den speciellen Fall
halten.
In seiner gedrückten Lage, in seinem aufreibenden Kampfe
gegen die auf ihn eindringende Noth kann der Proletarier gar
nicht zu einem hinlänglich weiten Ueberblick über das Leben ge-
langen, um zu einem objectiv-ruhigen Urtheil über den eudämono-
logischen Werth der verschiedenen Lebensstellungen und Lebens-
factoren befähigt zusein. Der Unterschied zwischen der Gefährdetheit
seines eigenen Lebens, dessen nothwendigsten Bedingungen er nur
durch den aufreibendsten Arbeitskampf —
der nur zu oft wieder
das Leben direct bedroht —
sich gewinnen kann, und dem wirk-
lichen oder scheinbaren kampflosen Besitze aller Naturbedingungen
von Seite der höhern Stände ist so gross, dass es ihm wahrlich
nicht verübelt werden kann, wenn er den Unterschied des eudä-
monologischen Werthes als einen positiven statt nur relativen an-
sieht; denn der Grad des relativen Unterschiedes ist ja unleugbar
so gross, dass er die Lebensgestaltung bis in die tiefsten Gründe
geistiger Entwicklung hinein beeinflusst.
Die Bekenner des modernen philosophischen Pessimismus stam-
men nicht deswegen der überwiegenden Mehrzahl nach aus den be-
güristigteren oder begünstigsten Classen der Gesellschaft, weil die
Blasirtheit in Folge Uebergenusses Vorschub des Pessimismus ist,
sondern weil man erst auf einer gewissen Höhe über der rein
natürlichen vegetativ-animalischen Sicherstellung des Lebens sich
befinden muss, um dieses letztere abwägen und abschätzen zu
können.*)
20*
308 Die Bekämpfung d. Pess. v. Standp. d. religiösen Optirn.
grund seiner Urnatur vor, war der Durchgang durch die Welt-
setzung eine Nottrwendigkeit für sein Gottwerden (das Entlassen
des An-sich-seienden in das Anders-sein zum Zwecke des Für-sich-
seins und Sich - Gott - Wissens, mit Hegel'scher Terminologie zu
sprechen), so ist bei der realen Beschaffenheit des Anders - seins
diese Nothwendigkeit eine tragische, weil sie, was gerade
den Begriff des Tragischen ausmacht, eine von innen heraus zum
Leiden determinirte ist, mag immerhin das nachweltliche, ausser-
weltliche, Jenseits des Weltprocesses als ein Zustand der Glück-
seligkeit gedacht werden; denn Pessimismus und Optimismus
haben es nur mit dem Process, mit der Immanenz, nicht mit der
— allfälligen — weltzeitlichen Transcendenz zu thun. Die Ver-
teidigung des Leides und des Uebels und damit die Rechtferti-
gung Gottes für Schaffung, resp. Zulassung desselben, stellt daher
*) Gott kann die Menschen nicht geschaffen haben, damit er sie lieben
könnte, und um mit dem Liebesgefühl seine Leere, seine Ergänzungsbe-
dürftigkeit auszufüllen, weil er —
nach theistischer Lehre —
ausser der
Welt kein leidender Gott, sondern ein Gott der Herrlichkeit sein soll aus;
Das Nichtsein der Welt wäre dem Sein vorzuziehen. Gegen diesen
Folgesatz des philosophischen Pessimismus kommt man auf philoso-
phischem Gebiete, wo es sich um Wissen und Denken, nicht um
Glauben und Hoffnung handelt, einfach nicht auf. Wenn die Welt
nicht wäre, so brauchte keine mit Unlust erkaufte Sittlichkeit zu
sein; wenn Gott nicht aus sich die Welt gesetzt hätte, so brauchte
die wiedervereinigende Rückkehr des Aussersich - gesetzten nicht
unter Leid und Uebel und unter Gefahr des Verlorengehens eines
Theiles erkämpft zu werden.*) Diesen ganz einfachen, klaren Satz
kann man zwar „trivial", „platt" (Melzer) nennen, aber widerlegen
kann man ihn doch nicht. Alle denkbare Seligkeit ist dies nur,
weil sie ein besser gedachtes Sein ist, als das real vorhandene, und
weil das Sein schlechthin gewollt wird. Wäre kein Sein,
so brauchte es nicht „besser" zu sein; wäre das Sein-wollen nicht,
so wäre das Nicht-sein kein Mangel. Ein seliges Sein ist nur unter
der Voraussetzung werthvoll,- dass Sein überhaupt sein müsse oder
gewollt werde; wird es nicht gewollt und muss es nicht sein, so
hat es nichts voraus vor dem Nicht-sein.
Somit ist die Wurzel alles und jedes Optimismus die That-
sache: dass Leben Wille zum Leben, Wille zum Sein ist. Nur
immer unter der Voraussetzung, dass man das Sein wolle, ist das
Weltsein auch dann zu rechtfertigen, wenn Seligkeit minus Un-
seligkeit ist. Das Wollen des Seins weggedacht, ist reines Nicht-
sein besser als Seligkeit minus Unseligkeit, ja sogar Seligkeit minus
Möglichkeit der Unseligkeit.
an dem sich der Trieb anranken kann, es fehlt an Etwas, das als
Object des religiösen Bewusstseins Gott ist.
Mangelt bei Schopenhauer der Gott, weil das Absolute als
Unerkennbares hinter den Coulissen der Empirie verborgen bleibt,
^so ist bei Bahnsen und Mainländer ein Absolutes ganz negirt;
bei ersterem durch den schlechthin seienden, bei letzterem durch
den gewordenen Pluralismus, und der religiöse Trieb ist wesent-
lich als eine Prellerei der Natur zu erachten, da er eine durchaus
einseitige, in's Wesenlose hinaus zielende Action ist.
Ganz anders bei Hartmann. Das oberste Princip seiner
theoretischen Philosophie theilt mit dem Princip des Theismus die
Rein-Geistigkeit, die Absolutheit und das Ineinander von Imma-
nenz und Transcendenz. Damit ist es fähig, vom religiösen Be-
wusstsein unmittelbar als Gott erfasst zu werden, während es
in Folge, der Abwesenheit anthropopathischer Attribute in der
Sphäre seiner Erhabenheit unberührt bleibt durch die eudämono-
logischen Mängel des Weltseins. Die Gefahr, die einem fixirten
Gottesbegriff droht, entspringt stets aus eudämonologischen Be-
denken; d. h. aus der Unfähigkeit, die pessimistischen Erfahrungen
bei Aufrechthaltung eudämonologischer Ansprüche mit der Vor-
stellung von Gott, wie man sie historisch übernommen hat, in
Einklang zu bringen. (Man denke an Hume, Mill u. s. w.)
Das Hartmann'sche Absolute, auch wenn es im Spiegel des
religiösen Bewusstseins zum Gotte geworden ist, bedarf keiner
Theodicee wegen des Leids in der Welt und wegen der Zulassung
des Uebels, weil durch Abstreifung der Persönlichkeit dasselbe
nicht mehr das Leidenverhängende ist, sondern das immanent Selbst-
leidende. Gerade die von der theistischen Kritik so viel getadelten
Bestimmungen der Unbewusstheit und Unpersönlichkeit werden
das Mittel, dem Pessimismus die Möglichkeit zu sichern, das Ab-
solute zum Object religiöser Betrachtung zu machen und die Re-
ligiosität zu wahren, wenn auch die Religion dabei eine andere
wird.
Resume. 319
7. Resume.
Der Optimismus der religiösen, theistischen Weltanschauung
besteht nicht darin, dass er dem Pessimismus beweisen kann: an
dieser oder jener Stelle eueres Weltbildes ist die Farbe zu dunkel
aufgetragen, die Linien zu tief gegraben; wenn der Eine oder
Andere der Partei vielleicht vermeint, solches zu vermögen, so
mag dies für ihn von individueller Bedeutung sein, nicht aber fin-
den principiellen Standpunct. Für diesen besteht der Optimismus
in dem Bewusstsein der Erlösung und Freiheit in Gott; das Leid
wird idealiter überwunden durch die Bejahung desselben als eines
teleologisch berechtigten Moments am Endlichen und Vergäng-
lichen; die Sünde und Schuld wird idealiter überwunden durch die
willige,mit Bewusstsein vollzogene und im frommen Gemüthe ge-
nossene Unterordnung unter den Willen Gottes, den man als seinen
eigenen Willen im Sittengesetz erfasst und zu realisiren strebt.
Die Erhebung über Leid und Sünde findet aber statt durch die
Abdankung des individuell-egoistischen Eudämonismus, durch das
Aufgeben des eigenen für-sich und in-sich Lebens und das hin-
gebende Leben in Gott. Hierzu kommt noch die Hoffnung, dass
diesem zeithchen, idealen Ueberwinden der Welt und des Bösen
ein Jenseits der Vollendung, d. h. der realen Ueberwindung des
Uebels, dem idealen Aufgehen des Ich's in Gott ein wirkliches
Aufgehen in Gott folgen werde: als ein Zustand der Seligkeit,
welche dem an sinnliche Vorstellung gebundenen Geiste als mehr
oder minder materiell-seelisches Leben vorschwebt, von einem
Paulus aber als ein Zustand „wo keine Zeit mehr sein wird" ge-
dacht wird.*) Damit ist denn eine Weltanschauung gegeben, welche
und die Idee bildet nur den Inhalt desselben. Alles was real ist,
und dass etwas real ist, hat seinen Grund in der Willensaction
des Absoluten; aber wie etwas ist, das bestimmt das Idealattribut
und bestimmt es aus seiner eigensten logischen Natur heraus; den
realen Fluss des Werdens und' das ewige drängende Sein setzt das
rastlose Streben des Willens, aber das Wie des Fortganges be-
stimmt die logische Idee.
So ist jedes Moment des Seins inhaltlich ganz logisch, es enthält
keinen Widerspruch, denn die Idee ist einfach, was sie ist; indem
aber der Wille die verschiedenen Momente der Idee festhält als
seinen Inhalt, treten sie sich als reale Gegensätze entgegen und
es entsteht der Kampf der Seinsmomente unter einander und die
Unlust als Reflex dieses Aufeinderstossens der real sich gegenüber
stehenden Willensacte. —
Das „reine Denken" ist nun unter diesem
Gesichtspunct erstens der Inhalt des Denkens rein als solcher und
dessen logische Bewegung ohne Reflexion auf die Kraft, welche
die Ursache ist, dass überhaupt eine Bewegung statt hat; denn nur
die Form, in der die Bewegung des Geistes vor sich geht, hängt
vom Idealprincip allein ab —
dass aber die Denkbewegung ist, hat
seinen Grund im Geist, als vorstellender und wollender; zweitens
ist das reine Denken das Denken ohne Rücksicht darauf, wie der
Geist als empfindender und wollender auf reales Geschehen
hinwirkt oder vice-versa durch Reales und dessen Perception affi-
cirt wird.
Der Theismus theilt mit der Hartmann'schen Willensphilo-
sophie die Bestimmung des absoluten weltschöpferischen Geistes
als Idee (Denken des Weltinhaltes) und realisirenden Willens; der
ebenbildliche Geist umfasst ebenfalls Denken und Wollen, wozu
326 Die Opposition vom Standp. d. panlogistischen Optimismus.
kommt es allerdings gar nicht darauf an, was erkannt wird. Auch
die Erkenntniss der pessimistischen Weltbeschaffenheit kann auf
diese Weise dem Philosophen Momente reiner intellectueller Be-
friedigung gewähren, solange nämlich sich seine Seelenkräfte je-
weilen ganz im theoretischen Triebe concentriren*) deswegen
;
Denken, ergo ist das Weltsein gut" — so stehen wir vor der
Frage: warum mein logisches Denken gut? Das Logische ist
ist
einfach, was es ist, a = a; wäre das reine Denken, als endliches
Moment des absoluten Denkens, alogisch, so könnte das dem in
der Action des reinen Denkens aufgehenden Geiste ganz gleich
sein, und fände er dann auch das objective äussere Sein alogisch be-
stimmt, und so seinem Denken adäquat, so müsste er die alogische,
wie jetzt die logische Welt, bejahen und ihr seinen Beifall spenden.
So wie aber der Begriff des „gut" oder „besser" mit dem Logi-
schen verknüpft wird, wird auch die Grenze zwischen der rein
logistischen und der eudämonistischen Weltbeurtheilung aufgehoben,
und damit die Anerkennung ausgesprochen, dass es nicht nur für
den noch in den Banden des Naturseins und seiner Zwecke be-
fangenen Intellect und dessen practisches Calculiren, sondern auch
für das theoretische Denken ein zu berücksichtigendes, ausser
ihm selbst stehendes Etwas giebt.
In der That begnügt sich niemand mit der bloss formalistischen
Seite des Logischen, um dasselbe zu bejahen; sondern das Logische
wird bejaht als das Vernünftige, d. h. als das Logische ange-
wandt auf das Unvernünftige. Das relativ Unlogische des Wider-
spruchsmoments in der diabetischen Selbstbewegung der Idee aber
kann dieses Unvernünftige nicht sein, denn wie sollte es als ein
Fremdes empfunden werden, inmitten des allgemeinen Fliessens
des Logischen, wenn es nur eine Form dieses letztern selbst wäre?
So wenig die empirische Welt erklärt werden kann aus dem
einen Princip des blinden alogischen Willens, ebensowenig kann
die von dem Denken nicht construirbare, einzig zu erfahrende Rea-
lität aus dem Princip des Logischen erklärt werden. Der über-
zeugende Nachweis der Nothwendigkeit, die Idee als die Ideal-
thätigkeit eines Wesens, dessen anderes Attribut der realitätsetzende
Wille ist, anzunehmen, ist nach Schelling's Vorgang von E. von
Hartmann erbracht worden.*)
Wie die Naturphilosophie und die Psychologie die Annahme
eines solchen Attributes fordern, welches für die der begrifflichen
Erfassung transcendenten Realität (die bloss negativ - richtig be-
zeichnet wird als „ Anderssein der Idee"), so wie für die von dem
reinen Denken nur zu oft als unüberwindlich empfundene Gefühls-
opposition den Grund abgiebt, so sehen wir auch das reine Den-
ken da, wo es die Weltschätzung vornehmen möchte, auf ein
überhaupt ein Sein sein soll, in dem solche Mittel gefordert sind
zu einem letzten Endzwecke, der selbst nicht mehr bietet, als was
das Nichtsein auch gewährt, das ist das absolut Unvernünftige.
Das Logische ist nur deswegen das „Gute", das „Bessere"
einem imaginirten Alogischen gegenüber, weil es im Dienste des
absoluten Eudämonismus steht, wobei es — als ein recht bitteres
Mittel gegen ein bitteres Uebel — auf Schritt und Tritt die Auf-
330 Die Opposition vom Standp. d. panlogrstischen Optimismus.
keine Welt wäre, wäre auch das Nichtsein des Logischen kein
so
Mangel. Was gegen den Vergleich des Seins mit dem Nicht-
sich
sein sträuht, das ist gar nicht das logische Princip in uns, da
dieses sich nur hejaht unter der Bedingung, dass es ist, nicht
aher sich erstrebt; sondern der blinde Wille zum Sein. Auch
der eifrigste Weltbejaher geht jede Nacht zu Bette mit dem
Wunsche: möglichst schnell in die Bewusstlosigkeit des gesunden,
traumlosen Schlafes zu versinken; und doch ist diese Schlaf bewusst-
losigkeit für das reine Denken des endlichen Geistes gleich dem
Nichtsein. Wäre der Wille quiescirt, so wäre das Nichts gleich-
werthig mit dem Etwas, das Nichtsein so berechtigt wie das Sein.
Man muss nur eine saubere Scheidung vornehmen zwischen dem
Inhaltgebenden, denkenden, und zwischen dem Realitätsetzenden,
Bewegungverursachenden, das Beharren und den Widerstand her-
vorbringenden Willen, um darüber klar zu werden, dass nicht die
Einsicht, dass die Welt logische Entwickelung sei, sich gegen das
Nichtsein sträuben kann, sondern einzig der Wille, der das Sein
auch dann wollte, wenn sein Inhalt alogisch wäre, was der Wille
beständig durch die Zähigkeit beweist, mit der er logisch über-
wundene und zum Untergang in ihrem Gegensatz bestimmte Posi-
tionen festhält.
Am reinsten findet die panlogis tische Opposition in J. Volkelts
Schrift „Das Unbewusste und der Pessimismus" *) ihren Ausdruck.
Volke lt dem Welt-
leugnet nicht die erheblichen Unlustquanta in
sein (obgleich auch er gegen den Hartmann'schen Nachweis des
empirischen Pessimismus zu Felde zieht), er zeigt sogar auf, wie
auch die Hegel'sche Philosophie, vermittelst des Bewegungs-
principes des Widerspruchs, der Thatsache des Weltleides gerecht
werde. Der Widerspruch ist „der Pfahl im Fleische der Idee",
und wenn die Unlust der Gefühlsreflex des real gewordenen, re-
lativ unlogischen Widerspruchsmoments, die Lust aber der Reflex,
der die Widersprüche aufhebenden höheren Synthese ist, so sieht
Volkelt sich doch genöthigt, einzugestehen, dass „das Versöhnte,
Harmonische in viel schwächerem Grade, als ihm objectiv zukäme,
ins Bewusstsein falle"; ein Zugeständniss, welches also ganz mit
Hartmanns Lust- und Unlust -Theorie übereinstimmt, und trotz
der Annahme, dass jedem Entzweiungsmoment sein Versöhnungs-
moment nachfolge, doch allein hinreichte, die pessimistische Be-
hauptung von dem Ueberschuss der Unlust über die Lust zu recht-
fertigen.
ihr Standpunct nur je um eine geringe Stufe über den des elementar-natür-
lichen Augenblicks-Zwecks erhaben ist.
*) Berlin, Henschel, 1873.
332 Die Opposition vom Standp. d. panlogistischen Optimismus.
Nun auch kein Ungedanke, wenn man sich die Unlust des
ist es
ewig unerfüllt bleibenden Willens als „gleichzeitig" (das „Gleich-
zeitig" als auf die Zeitlichkeit angewandtes Gegenstück zum Be-
griff„Neben" gefasst) mit der Zeit des Weltseins begreiflich zu
machen sucht. Das „Gleichzeitig" ist ebenfalls nur ein Begren-
zungsbegriff für das Yerhältniss des Seienden und Nichtseienden —
resp. Ueberseienden. —
Borries stösst sich ebenfalls an der Ueberlegenheit der Exten-
sion des leeren Wollen- wollens über die erfüllende, inhaltgebende
Idee. Er meint der Unendlichkeit des Willens stände ja die un-
endlich reiche Idee gegenüber; der Wille brauche sich nur ganz
in sie zu ergiessen, um volle Befriedigung im Weltprocess zu er-
langen. Es ist bei dieser Meinung (die Borries mit so manchen
Gegnern Hartmann's theilt) übersehen, dass der unendliche Reich-
thum der Idee, solange die Idee nur als attributives Moment im
Absoluten subsistirt, nur in der Möglichkeit gegeben ist; sobald
die Idee aber, durch den zum Wollen sich erhebenden Willen, aus
der Möglichkeit des Seins in das Wirklich-Sein erhoben wird,
wird auch mit ihrer Concretheit ihre räumlich-zeitliche Begrenzt-
heit gesetzt, die eben so ihr Wesentliches ist, wie die Unbe-
grenztheit das Wesentliche des Willens. Als wirklich-wollender
hat sich der Wille verendlicht, indem er selbst in begrenzende
Concretheit eingegangen ist; diese partielle Verendlichung der Con-
cretheit ist der Preis, den der Wille dafür zahlt, dass er vom
Wollen-wollen zum wirklichen Wollen übergehen konnte. Er rea-
girt nun freilich gegen diese Beschränkung durch die Energie,
mit welcher er alle Maassbestimmungen zu nichte zu machen strebt,
und welcher die Idee nur durch die Vervielfältigung ihrer Momente
Rechnung tragen kann; eine Vervielfältigung, der ihrerseits die
Schranke nur secundär durch den Kampf der vielen Willeusacte
mit gegensätzlichen Inhalte gesetzt wird.
Aber ob der Wille im Drange der eigenen Unendlichkeit
Milliarden über Milliarden concreter Momente der, inhaltlich un-
begrenzt reichen Idee realisire, oder nur eines, immer setzt er
damit, dass er einen Inhalt realisirt, sich selbst die Endlichkeit, die
er als bloss Strebender überragt, wie —
um ein Bild zu gebrauchen
— die Zelle den Zellkern oder der kosmische Nebel den aus sich
abgesonderten Kometkern. Der Wille ist überschiessend über die
Realität, weil der Wille alles Maass ebenso ausschliesst, wie die
Idee oder die unbewusste Vorstellung der Urquell aller Begrenzt-
heit, und damit der raum-zeitlichen Concretheit des Seins, ist. Der
unendliche Reichthum der Idee ist nur als Möglichkeit der actuell
werden-könnenden Idee der Unendlichkeit des Willens adäquat;
dagegen könnte der unendliche Reichthum der Idee in der Wirk-
Der metaphysische Optimismus etc. 339
der Monismus, wie wir ihn verstehen, eine Täuschung, und zwischen
Gott und Welt eine Schranke bestände, welche, wie sie Gott vor
dem empfindungsvollen Erfassen des Weltgeschehens schützte,
viceversa unser sympathisches Versenken in Gott verhinderte. Es —
erhebt sich nun aber die Frage für uns, wie es denn mit der
Hoffnung auf eine Welterlösung beschaffen sei, wenn wir
durch kritische Bedenken gezwungen wären, den metaphysischen
Pessimismus fallen zu lassen.
An die Hartmann'sche Hypothese von der vor- und ausser-
weltlichen Unlust, in Verbindung mit der Bestimmung des Form
und Inhalt gebenden Idealprincips als des absolut Logischen, knüpft
sich nämlich unmittelbar die Folgerung, dass in dem ewigen Welt-
plane die Bedingungen schon mitgesetzt seien, die unserem Denk-
und Gemüthspostulat: dem Ende des unlustvollen Weltseins, Er-
füllung verheissen. Wäre aber der Weltprocess für das überseiende
Absolute ein bloss mit Denkbefriedigung Gewusstes, so wäre die
Dauer der Welt wohl mit in dem ewigen Plane gesetzt. Das Po-
stulat des Weltendes wäre dann nur eine pessimistisch - negative
Umgestaltung des auf naiv-optimistischem Boden gesprossten Po-
stulates irgendwie zu realisirender, dies- oder jenseitiger Seligkeit,
welches trotz seiner Unzerstörbarkeit als Postulat, doch in einer
philosophischen Weltanschauung keine berechtigte Stelle mehr
fände.
Es ist ganz klar, dass man schon eine empirische Form des
Optimismus voraussetzen muss, um zu glauben, dass die Ablehnung
eines metaphysischen Pessimismus die pessimistische Verurtheilung
des Seins erschüttern könnte. Denn wenn der immanente Pessi-
mismus fest steht, so würde im Gegentheil der Wegfall des meta-
physischen Pessimismus, dadurch dass er dem Weltende-Postulat
den Wurzelgrund der Hoffnung auf Realisirung entzieht, den
empirischen Pessimismus nur vertiefen. Der Pessimismus
Bahnsens bietet das Beispiel hierfür. Zwar ist Bahnsens Pessi-
mismus ebenfalls ein metaphysischer, denn die Ursache des Welt-
elendes ist die letzte fundamentale Beschaffenheit der, als absolut
gedachten Henaden; aber in diesen Henaden liegt kein Moment,
welches durch die Erfahrung in der Welt modificirt werden könnte;
daher nennt denn auch Bahnsen die Erlösungstheorien Schopen-
hauers, Hartmann's und Mainländer's: „das vierte Stadium
der Illusion." Die Ueberwindung jeder der vorhergehenden Sta-
dien der Illusion: des egoistisch - irdisch - eudämonistischen, des
himmlisch -jenseitigen und des evolutionellen Optimismus führte
immer zu einer Erweiterung des dem pessimistischen CJrtheil ver-
fallenden Gebietes. Die nothgedrungene Aufgabe der Hoffnung auf
ein dereinstiges Ende des Weltprocesses wäre daher, da das Ge-
Die Erlösung vom Sein etc. 345
der Idee des Monismus haben; zweitens müsste er aber sebr wenig
Menscbenkenntniss besitzen und nichts von psychologischen Vor-
gängen verstehen, um an eine solche Möglichkeit glauben zu können.
Der Selbstmord ist immer von aussen motivirt; auch da, wo er,
vielleicht sogar als ererbte, Gehirnkrankheit auftritt, ist der
pathologische Reiz des erkrankten Gehirnes der Seele gegenüber
ein Aeusseres; daher ist das Gebiet des Selbstmordes stets ein
enges. Es ist gar kein Umstand denkbar, welcher, während er —
sagen wir sogar für die Hälfte der Menschheit — zum
Motiv des gemeinschaftlich unternommenen Selbstmordes werden
möchte, sich nicht für eine Minderheit zum Motiv erneuter, inten-
siver Lebensbejahung gestalten könnte; ja der Selbstmord Vieler
möchte selbst wieder zum Stachel zum Weiterleben für Manche
werden, weil sie einen weitern Spielraum für ihren Willen auf der
entvölkerten Erde fänden, oder zu finden wähnten.
Der Impuls des Endes muss aus dem Centrum kommen, wenn
das Ende ein umfassendes sein soll. Ein Vertreter der Idee des
Massenselbstmordes müsste seine Freude daran haben, wenn Natur-
katastrophen, wie die Erdbeben von Lissabon, auf Ischia, in Nica-
ragua und auf Java Tausende in den Tod reissen: denn* wenn ein-
mal das Sterben erfolgt ist, so ist das Resultat des sich Tödtens
oder Getödtetwordenseins dasselbe; es sind aber gerade solche
furchtbare Naturmorde, welche die Sehnsucht nach dem Nicht-
leben-wollen, nicht bloss nach dem Sterben-können was —
ein gewaltiger Unterschied ist —zu lebhafterer Flamme anfachen.
Dabei ist es für Aufrechterhaltung des Weltend - Postulats kein
Hinderniss, dass das „Wie" des Endes nicht vorstellbar ist; man
muss sich nur klar machen, wie eng in Wirklichkeit der Kreis
ist, innerhalb dessen wir das Werden und das Geschehen der Wirk-
lichkeit adäquat vorstellen können, und wie oft wir uns mit selbst-
geschaffenen Bildern behelfen, die als Gleichniss und als Symbol
gesetzt, später reflexionslos für das, was sie bezeichnen sollen, selbst
genommen werden.
Ob man sich mit Hartmann, als letztes Moment vor dem
Ende, die lebensmüde, todesfreudige Menschheit denken kann,
oder ob man mehr naturwissenschaftlich phantasiren und sich einen
allgemeinen Weltenerstarrungsprocess durch Paralysirung der Wel-
tenenergie vorstellen muss (wobei einem aber die Theorie von der
Erhaltung der Energie im Wechsel zwischen Potenzirung und
Actualisirung hinderlich in den Weg tritt), das ist ziemlich gleich-
gültig; Hauptsache ist, dass man sich vermittelst und auf Grund
der Weltprincipien entweder einen unmittelbaren, spontan vom
Centrum des Wesens nach der Peripherie der Erscheinung aus-
gehenden Impuls, oder aber eine allgemeine kosmisch-logische Mo-
348 Die Opposition vom Sfandp. d. panlogistischen Optimismus.
und nie erreicht wird (und gemeinhin „Glück" genannt wird, ob-
gleich gerade in sogenannten „glücklichen Stunden", falls diese
uns zugleich Raum zur Selbstbesinnung lassen, die undefinirbare
Sehnsucht erst recht empfunden wird), ein Denkmal setzt; aber er
hebt den Weltschmerz auf, sofern dieser sich durch sein Unbefrie-
digtsein berechtigt glaubt, sich dem activen Leben schneller zu
entziehen und aus der Klage und der Constatirung des Welt-
elendes Beruf zu machen.
Er umfasst endlich den theoretischen Pessimismus des
Skepticismus, sofern dieser auf der Thatsache der Abhängigkeit
unserer Erkenntniss von unserer psychisch-physischen Beschaffen-
heit und dem absoluten Mangel eines Kriterion für die Frage: ob
das sogenannte Erkennen wirklich transcendent oder bloss trans-
cendentale Bedeutung habe, fusst und diesen Mangel an Ge-
wissheit beklagt; aber er hebt ihn auf, sofern derselbe in dem
Mangel an positiver Gewissheit die Aufforderung zum Verzicht
auf die Nährung des theoretischen Triebes und zu der Versenkung
in das naturalistische Genussleben finden möchte.
Und während der moderne philosophische Pessimismus sich
in dem Wechsel von Bejahung und Verneinung der verschiedenen
Stufen des pessimistischen Bewusstseins herangebildet hat, tritt er
auch auf jeder der Stufen seiner Bejahung und Verneinung in
Connex zu den verschiedenen Formen der optimistischen Welt-
anschauung, wie sie zu den jeweiligen pessimistischen Formen den
jeweiligen Gegensatz bildet; hierbei ergiebt sich aber ebenso
manche relative Affirmation des optimistischen Credos, als pessi-
mistische Formulirungen zu verneinen sind.
Es ist der moderne philosophische Pessimismus als abso-
luter eudämonologischer Pessimismus ethischer Optimis-
mus, gegenüber dem an sich selbst verzweifelnden Individual-Eu-
dämonismus; indem er die Sittlichkeit als relativen Selbstzweck,
gegenüber jener Pseudo - Moral, welche die Sittlichkeit in den
Dienst der Individual-Eudämonik stellt, auf seine Fahne schreibt.
Es ist der eudämonologische Pessimismus religiöser Opti-
mismus gegenüber dem Skepticismus, welcher in dem religiösen
Trieb einen Wahn erblickt, der ferne davon, die Menschheit ihrem
wahren Ziele näher zu bringen, sie nur auf dornenbewachsene
Nebenwege leiten soll, die teleologische Bedeutung der reli-
giösen Bethätigung festhält und in den verschiedenen religiösen
Formen mehr oder minder der Wahrheit adäquate Abbilder des
objectiven Verhältnisses der Welt zu ihrem Grunde erachtet. —
Es ist eudämonologische Pessimismus ästhetischer
der
Optimismus, gegenüber jener religiösen Weltverachtung, die da
•
Schlusswort. 351
so kann ich mir nun auch das So-Sein gefallen lassen und versöhnt
mein Leben leben, obgleich ich weiss, dass ich es nur lebe, um
es sterben zu können.
Wäre der Mensch in seinem Wesenskern nicht Wille zum
Sein, wäre er ohne seinen Willen in's Sein gestellt, dann wäre
es allerdings unbegreiflich, dass er als absoluter Pessimist um
seiner selbst willen noch leben könnte und leben wollte, und die
von einigen Gegnern erhobenen Zweifel der Ehrlichkeit des Be-
kenntnisses des absoluten Pessimismus gewännen einige Berechtigung;
da aber sein Wesens- Kern ebenso blinder Lebenswille ist, wie logi-
sche Idee und Vernunft, und weil dieser blinde Wille als
Action des Absoluten denn doch wohl auch sein grund-
loses Ur-Recht beanspruchen darf, so wird es begreiflich,
dass er den Gegensatz in seinem Bewusstsein zur Einheit erheben
kann: das leidvolle Leben zu wollen, trotzdem dass es als das
„ verleidete Sein als nicht-zu- wollendes zu wünschen und zu er-
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streben ist.
Eine Versöhnung in letzterem Sinne als die natürliche, sub-
jective des Individuums, sofern dieses als in seiner Besonderheit
Einziges zur Welt Stellung nimmt, schliesst natürlich jene er-
habenere, rein sittliche des Selbstvergessens und Selbstverleugnens
nicht aus; vielmehr zieht sie aus dem Wissen von der Bedeutung
des Sittlichen ihre Lebenskraft, und umgekehrt gewährt sie jener
Stütze und Schutz: sie ist der derbere, naturwüchsige Stecken
neben die zartere Culturpflanze gesteckt. Endlich sprosst aus dieser
monistisch-individualistischen Weltversöhnung auch eine der preis-
werthesten Blumen des irdischen Jammerthaies: der Humor.
zweiung mit der Welt drohen und den Streit und den Kampf des
Daseins nur hitziger anfachen, der, die Versöhnung in sich tra-
gende, absolute eudämonologische Pessimismus zur Herrschaft ge-
lange, mit der practische Zweck vorstehender Blätter.
ist
Dass es dazu komme, dass wir leben lernen, „als ob es kein
Leid gäbe", d. h. aber: wie ein im Drachenblut gehärteter Sieg-
fried die Bahn der Pflicht wandern, ohne Rücksicht auf die hin-
dernden Dornen am Wege, das walte der das Kreuz des Seins
tragende Gott!
Druck von Gressner & Schramm in Leipzig.