Derpessimismusi 00 Plma

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Der

Pessimismus

Vergangenheit und Gegenwart.

Geschichtliches und Kritisches

von

O. Plümacher.

Zweite Ausgabe.

Heidelberg.

Georg Weiss, Verlag,


1888.
Capt. E. H. Plumacher

der Vereinigten Staaten von N.-Amerika

Consul
zu Maracaibo, Venezuela,

zugeeignet.
Vorwort.

Die vorliegende Schrift will nichts sein als ein vorläufiger


Ersatz der noch nicht geschriebenen „Geschichte des Pessimismus",
welche eine Geschichte der Philosophie, eine Geschichte der Reli-
gionen, eine Cultur- und Literaturgeschichte umspannen müsste,
wenn sie einerseits die zahlreichen Factoren der Entstehung des
Pessimismus und andrerseits die Einwirkungen der pessimistischen
Anschauungen auf die gesammten Culturverhältnisse erschöpfend
behandeln wollte. Ein solches Werk dürfte einer Zeit vorbehalten
sein, wo die jetzt gerade so hochgehenden Wogen des Streits sich
beruhigt haben. Dagegen scheint ein vorläufiger Ersatz eines
solchen Werkes durchaus nicht überflüssig und zwar nicht trotz
der in den letzten Jahren so zahlreich erschienenen Schriften über
den Pessimismus, sondern gerade wegen derselben. Denn gerade
diese Fluth der Pessimismusliteratur verdunkelt die geschichtliche
Continuität des modernen philosophischen Pessimismus mit den
] essimistischen Geistesströmungen der Vergangenheit, und bekämpft
dasjenige wie etwas subjectiv Willkürliches oder pathologisch Zu-
fälliges, was folgerichtiges Product eines geschichtlichen Entwicke-
lungsganges im Geistesleben der Menschheit ist. Diesen histo-
rischen Zusammenhang klar zu stellen und nachzuweisen, dass
die letzterreichte Entwickelungsstufe des Pessimismus zugleich die
höchste Gestalt desselben ist, welche die Mängel und Einseitig-
keiten der bisherigen Stadien überwunden hat, ist die Aufgabe
meines Buches.
Während früher der Pessimismus kaum einer wissenschaftlichen
Beachtung gewürdigt wurde, bezeugt die massenhafte Pessimismus-
Literatur der letzten 13 Jahre und die Heftigkeit, mit welcher der
Streit geführt wird, dass die neueste Gestalt des philosophischen
Pessimismus auch von den Gegnern desselben als eine Erscheinung
von historischer Bedeutung erkannt worden ist; die neueste Re-
- VI -
action gegen den Pessimismus ist selbst ein wichtiges Blatt in der
Geschichte des Pessimismus, in welcher sie sichtlich einen kritischen
Punct bezeichnet. Der zweite Theil meiner Arbeit dient dem
Zweck, eine sachlich geordnete Uebersicht aller der von den ver-
schiedenstenGesichtspunkten aus geführten Angriffe gegen den
Pessimismus zu gewähren und den Werth derselben zu prüfen.
Es wird sich dabei ergeben, dass die Gegner des philosophischen
Pessimismus wie seine historische Genesis, so auch seine Unter-
schiede von den früheren unvollkommenen Stufen bald in diesem
bald in jenem Punkte verkennen. Die kritische Revue der neuesten
um den Pessimismus geführten Streitigkeiten dürfte daher am besten
geeignet sein, das wahre Wesen des modernen philosophischen
Pessimismus sowohl in seinem historischen Zusammenhange mit,
wie auch in seinen specifischen Differenzen von allen früheren
Entwickelungsphasen klar zu stellen. Zugleich dürfte sie manchem
Leser zur bibliographischen Orientirung über einen mehr und mehr
anwachsenden Zweig der philosophischen Literatur der Gegenwart
willkommen sein.
Stein a. Rh., im November 1883.

0. Plümacher.

Zur zweiten Ausgabe.


Der Verleger hielt die Feier der 100. Wiederkehr von Arthur
Schopenhauers Geburtstag für einen geeigneten Zeitpunkt, das
vorliegende Werk der Lesewelt noch einmal vorzuführen. Es hat
sich bei seinem ersten Erscheinen den reichen Beifall der Freunde
erworben, während ihm die Gegner die Anerkennung einer achtungs-
werthen tüchtigen Leistung zollten; so möge es denn noch ein-
mal ausgehen.
d. o.
Inhalts - Verzeichniss.

Einleitung. Seite
1. „Pessimistisch" und „Pessimismus" 1

Die pessimistische Seinsbetrachtung und ihre Wirkung auf die religiöse


und culturelle Entwickelung 7

Erster Theil.
Der geschichtliche Entwickelungsgang des Pessimismus.
I. Cap. Der Pessimismus im Alterthum 18
1. Der Pessimismus im Brahmanismus und Buddhais-

mus. S. 18.
a. Brahmanismus. S. 18.

h. Buddhaismus. S. 23.

2. Der Pessimismus im Griechenthum. S. 27.


a. Die pessimistischen Elemente in der Keligion. S. 27.
b. Die pessimistischen Elemente in der Philosophie. S. 32. •

3. Der Pessimismus im Judenthum. S. 37.


a. Der Tod und die Straftheorie. S. 37.
b. Das Buch Hiob und der Prediger Salomonis. S. 39.

II. Cap. Der Pessimismus im Christeilthum 48


1. Weltmüdigkeit. S. 48.

2. Der Gnosticismus und der Pessimismus. S. 50, i/"

3. Verachtung der Schönheit. S. 54.

4. Die Prädestination bei den Kirchenvätern und den

Eeformatoren. S. 54.
5. Ketzergerichte und Hexenglaube. S. 57.

6. Der Tod. S. 61.


7. Die optimistischen Elemente: die Willensfreiheit.
S. 62.
8. Der Tractat: de contemptu mundi des Innocenz III.

S. 66.
9. Die Weltverachtung als officielle Weltanschauung
der christlichen Kirche. S. 70.
III. Cap. Der Pessimismus in der Wissenschaft 73
t. Der Optimismus der wiedererwachten Wissen-
schaften. S. 7.5.
VIII

Seite
2. Der Skepticismus als .Pessimismus der Wissen-
schaft. S. 78.

3. Maupertuis. S. 85.
4. Kant und der Pessimismus und die Sittenlehre.
S. 90.

IV. Cap. Der Weltschmer/ und die Poesie des Pessimismus .... 101
1. Der Weltschmerzler und seine Welt. S. 101.

2. Der Weltschmerz in den Faust-Dichtungen. S. 108.


3. Drei Weltschmerz-Dichter. S. 114.

4. Pessimistisches im Sprichwort. S. 121.

V. Cap. Der philosophische Pessimismus 124


1. Schopenhauer. S. 124.

a. Schopenhauer' s Weltschmerz. S. 124.


b. Schopenhauers Weltverachtung. S. Iii 9.

2. E. von Hartmann. S. 134.


a. Hartmann's Weltprincip als Princip des Pt-ssimismus.
S. 134.
b. Die Lebensfactoren und die drei Stadien der Illusion.
S. 140.
c. Die Welterlösung. S. 156.
3. Bahnsen. S. 161.
a. Das Princip. S. 161.
b. Extra ctum vitae. S. 165.
4. Ph. Mainländer. S. 173.
5. Pessimisten ohne selbständige Systeme. S. 175.

Zweiter Tlieil.

Die neueste Reaction gegen den Pessimismus.

VI. Cap. Die Bekämpfung des Pessimismus vom Standpuncte des na-
turalistischen Optimismus 179
1. Individuelle Verschiedenheit als angeblicher Grund
der Unmöglichkeit einer Lust- und Unlust-Bilance.
S. 179.
2. Die angebliche Unvergleichbarkeit der aus ver-
schiedenen Quellen stammenden Gefühle. S. 184.
3. Die angebliche Unwissenschaftlichkeit der Hart-
mannschen Lust- und Unlust-Bilance. S. 190.
4. Die angeblich falsche Gefühlstheorie als Ver-
fälscherin des empirischen Pessimismus-Beweises.
S. 195.
IX

Seite
5. Der Pessimismus angeblich eine pathologische
Empfindungs weise. S. 199.
6. Der Werth der Arbeit. S. 210.

7. Der Werth der Liebe. S. 210.

8. Der Werth des Schönen. S. 225.

9. Der Werth der Illusion. S. 233.

VII. Cap. Die Bekämpfung des Pessimismus vom Standpunet des


ethischen Optimismus 237
1. Das Kriterion der Sittlichkeit. S. 237.
2. Die Begründung der Sittlichkeit. S. 241.
a. Hartmann. S. 243.
b. Schopenhauer. S. 245.
c. Bahnsen. S. 248.
d. Mainländer. S. 251.
3. Die angebliche Unmöglichkeit einer pessimisti-
schen Ethik. S. 252.
4. Die Sittlichkeit als Werthmesser der Welt. S. 259.
5. Der Begriff des Guten. S. 262.
6. Das angebliche „schwache Motiv." S. 268.
7. Die Sittlichkeit als Garantie des Glücks. S. 273.
8. Drei Preisschriften: „Der Pessimismus und die
Sittenlehre." S. 283.
VIII. Cap. Die Bekämpfung des Pessimismus vom Standpunet des
religiösen Optimismus 291
1. Der Pessimismus als irreligiös verurtheilt. S. 291.

2. Die religiöse Apathie der untersten Volksklassen


als angebliche Folge des Pessimismus. S. 299.
3. Pessimistische Zugeständnisse des religiösen Opti-

mismus. S. 305.
4. Die Kechtfertigung des Übels. S. 308.
5. Weder die Kechtfertigung des Übels, noch die
Theodicee leisten, was sie sollen. S. 312.
6. Die Metaphysik des Pessimismus. S. 315.
7. Kesüme. S. 319.
IX. Cap. Die Opposition vom Standpunet des p anlogist ischen Opti-
mismus 323
1. Der Optimismus des reinen Denkens. S. 323.
2. Der metaphysische Optimismus contra metaphysi-
schen Pessimismus. S. 333.
3. Die Erlösung vom Sein und die Bedingung ihrer
Möglichkeit. S. 343.
Schlusswort 349
Namens -Verzeickniss.
(Die mit iSternchen versehenen Zahlen beziehen sich auf Fussnoten.)

Abälard. 84. Ebrard, A. 305.


Ambrosius. 54. Emerson, Kalph Waldo. 303*.
Amyntor, G. v. 228. ,
Epicur. 12.
Anhut, E. 0. 292. Erasmus. 56.
Augustinus. 55. 84.
Fechner, Prof. 296.
Fischer, E. L. 291.
Bacmeister. 312.
Frederichs, Dr. 234.
Baco von Verulam. 76.
248—254.
Fromme 1, Max. 307.
Bahnsen, J. 6. 161—173. 199.
344. Gätschenberger, St. -213.

Baur. J. Ch. 52. Gautama Buddha, siehe Cakyamuni.


Biedermann, A. E. 341*. Glanville, J. 60.
Böhme, J. J. 125. 297. Goethe 109—110.
Borries. 336—342. Golther, L. v. 210*.
Bullinger. 56. Goltz, Bogumil. 221.
Byron, Lord. 1. 4. 115. 119. 202. Grabbe. 109. 112. 114.

Calvin. 56. Harnisch, Pastor. 308, 311.


Cakyamuni, Gautama Buddha. 24. 26. Hartmann, E. v. 1. 6. 19*. 27*. 32*.

Caro. 234. 34. 61. 85. 93*. 100*. 131*. 133.

Cartesius. 76. 79. 134-160. 161 — 164. 169. 172.

Christ, Paul. 283—285. 177—180. 184. 185. 190*. 194-197.


Condillac. 81. 200. 201*. 202. 206. 207. 209.

Cyrillus v. Alexandrien. 54. 211—212. 217. 218. 222. 228. 225.


Cyrionus 54. 226—229. 232—234. 239. 240.
243—245. 247*. 248. 252 - 254. 257.
Dahn, Felix. 282*. 261—262. 263. 266. 269. 271*. 272.
Darwin. 76. 273. 277. 280. 281—286. 287. 291.
Deussen, E. 6. 175. 177. 278. 305. 314. 316. 318. 320. 321. 328*.
Dühring, E. 119*. 201. 206. 233. 332. 334. 339. 342. 343. 344. 346.
Duboc, J. 203. 204—207. 228. 347. 348. 353—354.
n
Hegel. 65. 77. 108. 162. 163. Maupertius. 85—91. 94. 128. 184. 185.
Herne. 114. 115. 119. 188.
Heilenbach, L. B. 224. 268—269. Melzer, E. 310.
Helvetius. 81. 82. Meyer, J. Bona. 207.
Herwegh, G. 120. Michelet, F. 308. 321*.
Heymons, C. 200*. Möbius, Carl. 193.
Hieronymus. 54. Müller, Max. 7.

Horwicz, A. 185—189. 192. 263—267.


Huber, J. 210*. 276—277. [Nagelsbach. 29*. 30. 31*.

Hume, David. 285*. 296. Nietzsche, F. 176.

Jacobi. 153. Origines. 54. 57. 70.

Jankowski, E. 297-298.
Paulus. 55.
Jean Paul. 216.
Pelagius. 55.
Innocenz III. 66—70.
Pfleiderer, Edmund. 240. 280—281
Justinus, Märtyrer. 54.
— , Otto. 30.
Xant. 64. 85. 90—98. 106. 131. 184. — ,
Rudolph. 306.
248. 261. 340. Plato. 10.

Kapila. 25. Plümacher, O. 316*. 353*.


Kirchmann, J. H. v. 257—258. 351.
Ree, Paul. 175.
Knox, John. 72.
Rehmke, J. 196—197. 210*. 223. 262.
Koeber, E. 133*. 176. 177. 320*.
273—276. 283. 286—290. 335—337.
Kreyenbühl, J. 267.
Krummacher, G. 320*. Schädlin, K. F. E. 292.

Laban, F. 119*. 175—176. Schaarschmidt, Prof. 276—277.


Schiller. 264.
La Mettrie. 81.
Lasson. 180. 321*. Schleiermacher, Fr. 153.

82—84. 90—91.
Leibniz. 23. 78. 129. Schölling. 125. 197.

Lenau. 109—111. Schneidewin. 200*.


Schopenhauer. 1. 6. 34. 64. 119*.
Lessing. 102.
Lichtenberg. 298—299*. 124—133. 136. 139. 149. 159.

Liebmann. 293*. 180. 196. 197. 199. 202. 206. 209.

Lindau, Rud. 63*. 217. 218. 226. 227. 229. 245—248.


Locke. 78—79. 264. 271. 272. 317. 318. 320. 344.

Lorm, H. 120. 326. 346. 348. 352.

Lubbock. 175. Schütze, C. 200*.

Luthardt, H. 306. Schweizer, A. 330*.

Luther. 56. 60. 61. Scotus Erigena. 84.


Seidel. R. 190. 198.
Mainländer, Ph. 6. 173—175. 251—252. Sommer, H. 185. 192. 195. 210*.
259. 278. 344. Stadion, Graf. 194*.
Marcion. 52. Strauss, D. Fr. 204. 228.
Martensen. Bischof. 281. 305. Spinoza 76-77. 79. 82.
xn

Sully, J. 185. 189. 190. 192—193. 198. Veeri, Conte di. 98*.
202. 228. Venetianer, M. 177.
Visclier, Tli Fr. 234. 235.
Taubert, A. 177. 207. 217. -228-230.
: Volkelt, J. 234. 235. 247*. 331—33
Tertullianus. 54.
Voltaire 82. 85.
Trautz, Th. 312
Wagner, E. 16. 230.
Ulrici. 312. Weis, L. 207.
; Weygoldt. 200*. 210*. 307.
Yaihinger, J. 234.
Wolf. 90.
Valentinus. 53.
T^ivassar. 54. Zwingli. 5'?. 72*.

Verzeichniss der Druckfehler:

S. 200 Zeile 21 lies: „anormal" statt „normal"'.


S. 266 „ 20 „ „werden" statt „worden".
S. 308 „ 16 „ „Michelet" statt „Michelis".
Einleitung.

i. „Pessimistisch" und „Pessimismus".

Der moderne philosophische Pessimismus , wie er zuerst von


Arthur Schopenhauer als unausscheidbares organisches Glied
,

eines geschlossenen philosophischen Systems hingestellt wurde und


dessen hervorragendster Vertreter in der Gegenwart Eduard von
Hartmann ist, bedeutet das axiologische Urtheil: die Summe
der Unlust überwiegt die Summe der Lust; folglich wäre
das Nichtsein der Welt besser als deren Sein.
In dieser Form ist der Pessimismus innerhalb der occidenta-
lischen Philosophie eine neue Idee, die in der Folge zum Aus-
gangspunct einer bisher nicht dagewesenen Richtung, sowohl der
speculativen Philosophie (Metaphysik), als der Ethik wird.
Das wesentlich neue Moment ist aber das, dass sich an das
erste Urtheil über das Bilance-Verhältniss von Unlust und Lust, die
Verurtheilung des Seins überhaupt knüpft, fussend auf einer Auf-
fassung des Seins, der Existenz, wonach diese selbst die Wurzel
und der letzte Grund des Uebels ist, und zweitens der Auffassung,
welche den Begriff „Welt" als die Summe der Existenz (im Gegen-
satz zur Subsistenz) versteht. .

Betrachtet man dagegen die „Welt" als einen das Sein, die
Existenz nicht erschöpfenden Begriff, versteht man also den Ter-
minus „Pessimismus" nur als Repräsentant des einfachen Satzes
„es ist mehr Unlust als Lust in dieser, unserer Welt", so ist
der Pessimismus in diesem Sinne nichts Neues; vielmehr bildet er
recht eigentlich den einen Pol der Geistesreligionen, also auch des
Christenthums. Ausserdem bilden diejenigen Betrachtungen und
Erfahrungen, aus deren Synthese das eudämonologisch negative
Werthurtheil der Welt resultirt, den Untergrund, aus welchem die
Plümacher Pessimismus. 1
2 Einleitung.

höheren Entwickelungsformen des Geisteslebens und dessen cultu-


rielle Niederschläge überhaupt hervorsprossen, und finden wir die
Denkmäler des pessimistischen Bewusstseins so weit zurückreichend»
als wir überhaupt das Geistesleben zu verfolgen im Stande sind.
Bevor wir aber einen orientirenden Blick auf das Gebiet und
die Wirkung der pessimistischen Seins- und Lebensbetrachtung
werfen, ist eine Verbaldefination der Termini „Pessimismus" und

pessimistisch" geboten.
„Pessimismus" ist eine willkürliche Nachbildung zur Bezeich-
nung des Gegensatzes zum Optimismus, wie derselbe durch Leib-
niz in die Philosophie eingeführt wurde. Die Behauptung der
Welt als der besten der möglichen Welten, hängt an dem
brüchigen Faden des religiösen Dogmas von der Allweisheit und
Allmacht eines persönlichen Gott -Schöpfers; die angebliche philo-
sophische Begründung des Leibniz durch den versuchten Nach-
weis der reinen Negativität der Unlust, ist so fadenscheinige
so sophistisch, dass sie wohl kaum noch viele Anhänger zählen
Avird. Auch die eifrigsten Optimisten versuchen heutzutage nicht
mehr die Realität der Unlust anzutasten und ihr Lob der Welt
ist vielmehr nur das „trotz alledem und alledem" u. s. w. Der
Superlativ des Terminismus „Optimismus" würde daher eigentlich
correcter durch den Comparativ (Meliorismus) ersetzt, indem doch
weiter nichts als die Meinung ausgesprochen wird: dass die Welt-
existenz eine zu Bejahende, das Sein dem Nichtsein vorzu-
ziehende sei.
Dass nachdem die Existenz als solche bejaht wird, nun auch
diese Existenzweise, die Welt mit ihren empirischen, physika-
lischen und psychologischen Gesetzen als die bestmögliche betont
wird, enthält aber einen innern Widerspruch.
Die Behauptung, dass unsere mit Uebeln behaftete Welt, trotz
dieser Uebel die Bestmögliche sei, setzt voraus, dass das Princip
der Realität ein so geartetes sei, dass es mit seiner Wirksamkeit
(seiner Activität) eo ipso auch das Uebel (als objectives Correlat
der Unlust) setzt, vermittelst der Beharrungstendenz der einzelnen
Momente, wodurch der Kampf die recht eigentliche Urform der
Existenz wird. Also nur, wenn erstens das Sein überhaupt be-
jaht und zweitens die Unvermeidlichkeit der Unlust zugestanden
wird , nur dann kann die Welt ungeachtet der zugestandenen eu-
dämonologischen Mängel als die „Beste der möglichen Welten"
bezeichnet werden, weil trotz der Nothwendigkeit der Unlust noch
schliesslich ein überwiegend werthvolles Resultat heraus zu kommen
scheint.
Das Prädicat der „Bestmöglichkeit" in Verbindung mit dem
nothgedrungenen Zugeständniss des Uebels, wird aber zu einem
Einleitung. 3

Armuthszeugniss für die Phantasie des Weltschöpfers. Einmal


die Möglichkeit vorausgesetzt, dass eine Welt -Realität etwas
anderes sein könnte als Willenserscheinung — der Wille ist das
eigentliche Welt-Kampf-Princip —
so ist nicht abzusehen, warum
einer göttlichen Phantasie nicht eine Welt zu construiren einge-
fallen sein sollte, in welcher der positive Werth nicht nur trotz
dessen Gegensatzes, sondern absolut ohne Abzug und Schmälefung
durch das Uebel und die Unlust erreicht worden wäre.
Durch dieses Bedenken erst wird das erfolglose Bemühen des
Leibniz, das Uebel als etwas unreales darzustellen, entschuldbar.
So complicirt der Begriff des Optimismus sich gestaltet, mit
dem des Pessimismus steht es noch schlimmer. Beim Optimismus
liegt wenigstens die Absicht vor, dass der Terminus verbal
wahr sei; dagegen meinen die Pessimisten nicht eigentlich was
sie mit dem Superlativ „Pessimismus" aussagen.
Die Pessimisten bekennen sich nämlich zum Willen als
Princip der Realität. Das Willensprincip aber, obgleich es auch
Princip der Unlust ist, garantirt auch die unmittelbare relative
Berechtigung der Welt; denn die Welt ist erfüllter Wille zur
Existenz. Mag sie so schlecht sein wie sie will, sie hat doch die
relative Berechtigung, der einen Seite der ewigen Natur des in ihr
Wesenden genug zu thun; sie ist mit all ihrem Elend die Er-
füllung des Willens, der wollen will um jeden Preis. Schopen-
hauer ist zwar geneigt den Terminus verbal zu nehmen: als
Pendant zu Leibniz, der die Unlust als blosse Negation der Lust
darstellt, macht er den eben so verfehlten Versuch, die Unlust für
das allein Positive, und die Lust für deren Negation zu erklären.
Die Erfahrung eines Jeden widerspricht dieser Theorie ebenso-
sehr, wie ihrem optimistischen Antipoden, ebenso widerspricht ihr
die Reflexion über die Natur der ästhetischen Lust, und es liegt auf
der Hand, dass, wenn man die Bezeichnung „negativ" und „positiv"
für Gemüthszuständlichkeiten der Lust und Unlust anwenden will,
dies nur in dem Sinne geschehen kann, wie Hartmann*) sie ge-
braucht: nämlich so, dass beiden im gleichen Maasse Realität
zukommt, und die Bezeichnung nur benützt wird, um ihre Stellung
im Verhältniss zum „Nullpunct der Empfindung" (Schmerz- und
Lustfreiheit) zu fixiren.
Schopenhauer nimmt zwar auch einen Anlauf den Wortsinn
des Standart- Wortes auf diese Weise zu retten, dass er aufzuzeigen
versucht, dass das Naturdasein dieser Welt nur eben nothdürftig
zusammenhalte, und dass wenn die Welt noch ein Bischen schlechter
wäre, sie ganz in die Brüche ginge.

*) Phil. d. Unb. 7. u. 8. Aufl. II B XIV. Cap.


1*
4 Einleitung.

Das Natursein ist aber das sich immer wieder herstellende


Gleichgewicht der gesammten Naturkräfte; die Welt schwebt auf
dem Gleichgewichtspunct der jeweiligen Anpassung ihrer consti-
tuirenden Elementarkräfte und der Begriff des Gleichgewichts hat
keinen Comparativ. — Die betreffende Stelle ist übrigens auch bei
Schopenhauer im Gegensatz zu seiner sonstigen Naturanschauung,
die durchaus teleologisch ist, und die, auch über die Anerkennung
der Zweckmässigkeit hinaus, durch die ästhetische Betrachtungs-
weise verklärt wird.
So bedeutet denn auch bei Schopenhauer „Pessimismus"
nichts anderes als „die Welt ist etwas, Avas vernünftiger Weise
besser nicht wäre, weil sie dem Empfindungssubject mehr Unlust als
Lust verursacht."
Bei Hartmann kommt es nun zur vollen Explication dieser
unterschiedenen pessimistischen Momente, die sich ergeben aus dem
der Welt einerseits zum empfindenden, anderseits
Verhältniss
zum logisch und ästhetisch beurtheilenden Subject.
Hartmann nennt seinen Pessimismus den eudämonologi-
schen, in welchem noch Raum ist für einen evolutionellen
Optimismus, d. h. für die Anschauung, dass vermöge der Logi-
cität des reinen Formalprincipes gewisse natürliche und sociale
Verhältnisse sich zu wer th volleren entwickeln können; gegen-
sätzlich zu Schopenhauer, dessen Weltanschauung eine durchaus
unhistorische, alle Entwickelung nur für Schein erklärende ist.
Es ist nun leicht zu erkennen, wie die beiden Termini „Opti-
mismus" und „Pessimismus" im Zeitbewusstsein ihrer ursprüng-
lichen Bedeutung entfremdet worden sind. Besonders sind es die
adverbialen und adjecti vischen Formen, in welchen der Begriff
verflacht wurde.
Während der philosophische Pessimismus Schopenhauers
und Hartmanns und einiger aus der Schopenhauerschen Schule
stammender Denker noch immer erst die Gesinnung einer relativ
kleinen Zahl der Gebildeten darstellt und noch beständig von den
Vertretern optimistischer Weltanschauungen angefochten wird, ist
das Adverb und Adjectiv „pessimistisch" in Jedermanns Munde und
wird auf alle möglichen culturiellen Zustände angewandt. In der
nichtphilosophischen Sprache des allgemeinen Verkehrs, im Zeitungs-
jargon und in der Salonsprache bezeichnet „pessimistische An-
schauungsweise oder Auffassung" nichts anderes, als entweder eine
persönliche Neigung sich vorzugsweise mit den Mängeln und
Schattenseiten irgend welcher Zustände und Geschehnisse zu be-
fassen, oder auch den Mangel des Glaubens an die Verbesserungs-
fähigheit gewisser Gestaltungen innerhalb des socialen oder natür-
lichen localen Lebens. Im ersten Sinne ist es nur eine Veran-
Einleitung. 5

lagung und eine Bethätigungsweise, die zwar zum philosophischen


Pessimismus disponirt macht, aber noch nicht nothwendig dazu
führt; im zweiten Sinne ist es ein untergeordnetes Moment ge-
wisser Formen des Pessimismus. Indem nun secundär aus dem
Adverb und Adjectiv wieder ein Substantiv gebildet wird, ist damit
die Gelegenheit zu jenen variantenreichenVerwechselungen zwischen
letzteren mangelhaft construirten Begriffen und dem Begriff des
philosophischen Pessimismus geschaffen. Diese Verwechse-
lungen werden nicht nur von Laien, sondern von Philosophen und
Kritikern vom Fach geübt, und die Inconsequenzen des zum philo-
sophischen Pessimismus bloss die Vor- und Neben Station bil-
denden Standpuncten des Pseudo-Pessimismus dem ersteren in die
Schuhe geschoben.
Solcher Vor- und Nebenstationen des philosophischen Pessi-
mismus sind vor allem der Weltschmerz und der „ Entrüstungs-
pessimismus " des Socialismus.
Der Weltschmerz ist ein Pessimismus der das eigene Ich als
Weltcentrum setzt und als solches beklagt, oder seinen Jammer als
W^eltjammer empfindet; er ist lyrisch -poetisch und nicht philoso-
phisch. Denn der philosophischen Betrachtungsweise ist das eigene
Ich nur ein Object unter andern Objecten; die Philosophie führt aus
dem Ich heraus, während der lyrischen Poesie sich alles ins Empfin-
dungssubject, als dem poetischen Weltspiegel, concentrirt.
Der Entrüstungspessimismus dagegen ist nicht philosophisch,
weil die Philosophie, als das reine Streben nach Objectivität, keinen
Raum für die Entrüstung hat. Der „ Philosoph" kann sich aller-
dings entrüstet fühlen, aber nicht als Philosoph, sondern als
Mensch in seiner Eigenschaft als moralisch, ästhetisch, religiös,
human, patriotisch u. s. w. empfindendes und anschauendes Subject,
welche Empfindungen und Anschauungen ihm aber erst das Material
bieten, an dem er sich nunmehr als Philosoph bethätigen kann.
Der Entrüstungspessimismus setzt ausserhalb seiner Sphäre
und dieselbe umschliessend einen Optimismus voraus; denn nur über
dasjenige kann man sich entrüsten, was man als ein relativ Zu-
fälliges und Willkürliches, und mithin Corrigibles erachtet, wie es
sich deutlich beim Entrüstungspessimismus der Socialdemokratie
zeigt. Derselbe ist materieller Optimismus, denn er schreibt den
materiellen Gütern positiven und eudämonologischen Werth zu, und
er ist anthropologischer Optimismus, denn er sieht in dem mensch-
lichen Leben als solchem ein eudämonologisch Werthvolles, dessen
Werth nur dadurch geschmälert wird, dass durch willkürliche Kraft-
äusserungen die gleichmässige Vertheilung der materiellen Wierthe
gestört ist.

Der Entrüstungspessimismus hält sich an einen begrenzten


ö Einleitung.

Complex von Weltelends-Syniptomen, und weil er dessen einzelne,


isolirte Momente innerhalb begrenzter Zeit- und Raumabschnitte
heben kann, so glaubt er, dass der ganze Complex auch auf die
Dauer gehoben werden könne, und entrüstet sich, dass es nicht
geschieht. Der sociale Entrüstungspessimismus ist also eine Ab-
zweigung des sittlichen Entrüstungspessimismiis denn er sieht
,

mit letzterem die Ursache dazu, dass er sich gezwungen findet


Pessimismus zu sein, in der Unterlassung und dem Mangel gewisser
JBethätigungen und organisatorischen Schöpfungen, die er für sitt-
lich geboten erachtet. Der sittliche Entrüstungspessimismus end-
lich tritt seinerseits wieder in Berührung mit dem religiösen
Pessimismus, der ebenfalls in der creatürlichen Willkür der Sünde
die Wurzel und Ursache des Weltleides sieht. Jedoch gilt dem
letzteren die Sünde als idealiter überwunden, nämlich im „Glauben",
und demgemäss auch das noch vorhandene Naturübel als relativ
nicht mehr vorhanden, d. h. machtlos gegen die „Glückseligkeit
in der Hoffnung." Alle diese verschiedenen Formen eines partiellen
Pessimismus haben die Opposition gegen den philosophischen
Pessimismus gemein: natürlich nicht sofern dieser ihre eigenen
Entrüstungsobjecte als Inductions- Material in Betracht zieht, son-
dern sofern er den ihren Hintergrund bildenden Optimismus
untergräbt, indem er die, Ursachen des allseitig zugestandenen
Uebels als in solchen Tiefen des Seins wurzelnde nachweist, dass
sie allen Reformbestrebungen unzugänglich erscheinen und die letzten
Principien der jeweiligen gegnerischen Weltanschauung über den
Haufen werfen.
In den folgenden Blättern werden die verschiedenen Gestal-
tungen der pessimistischen Betrachtungsweise zur detaillirten Er-
örterung kommen, so dass die hier vorläufig nur nach den Haupt-
merkmalen skizzirten Unterscheidungen ihre Begründung finden
und hoffentlich vollkommen zur Klarheit gelangen werden. Vor-
läufig dürfte das Gesagte genügen, um unseren Gebrauch der Ter-
mini „pessimistisch" und „Pessimismus" vor irrthümlicher Auf-
fassung zu schützen.
Den modernen Pessimismus also, wie er von Schopenhauer
als begründet aufgestellt wurde, und von Eduard
philosophisch
von Hart mann, sowie, zwar mit wesentlichen Modificationen aber
ebenfalls im Anschluss an Schopenhauer, von J. Bahnsen, Phil.
Mainländer, E. Deussen u. A. vertreten wird, nennen wir in der
Folge stets den „philosophischen Pessimismus", und wollen
damit das Doppel-Urtheil verstanden wissen: Die Summe der
Unlust überwiegt im Sein die Summe der Lust, daher das
Sein besser nicht wäre.
„Pessimistisch" (adverbial und adjectivisch) gebrauchen wir im
Einleitung.

landläufigen Sinne der modernen Sprachweise: als Bezeichnung


für die Reflexion auf das Leid und das Uebel schlechthin.
Wo die Reflexion sich zu einem synthetischen Urtheil gestaltet,
mithin zu einem ideell-objektiven Gebilde verdichtet, welches als
Motiv des praktischen natürlichen und sittlichen Handelns, der
theoretischen Gestaltung und der religösen Postulirung zu wirken
vermag, da müssen auch wir das Substantivum „Pessimismus" ge-
brauchen (wenn wir nämlich nicht für solche pessimistische Formen
bereits specielle Bezeichnungen vorfinden, wie „Weltschmerz",
„contemtus mundi", u. s. w.); wir werden dabei aber dem Leser
mit einem Adjectiv zu Hülfe kommen, das sich auf diejenigen Ob-
jecte bezieht, welche im vorliegenden Falle der pessimistischen
Reflexion besonders unterliegen. Dadurch mag es dem Leser
leichter werden, sich stets gegenwärtig zu halten, dass wir an dem
Wort „Pessimismus" nur eine Schaale, ein Zeichen haben, welches
wir nur aus Noth gebrauchen, weil es uns an einem positiven,
dem damit zu deckenden Begriffe angemessenen verbalen Gebilde
mangelt. —

2. Die pessimistische Seinsbetrachtung und ihre


Wirkung auf die religiöse und culturielle Entwickelung.

Das Wesen der Religiosität ist einerseits Abwendung von der


empirischen Welt und dem natürlichen Leben auf Grund der pessi-
mistischen Beschaffenheit der Welt und der Schwäche des Indivi-
duums, und andererseits Hingabe an die als real geglaubte
Ideal- Welt, die als Correlat dieser „unserer Welt" gefordert wird.
So ist die pessimistische Erkenntniss von der Unsicherheit des
menschlichen Lebens und der Unfähigkeit, dieses und die Güter in
dessen Diensten zu sichern und festzuhalten, das beängstigende Ge-
fühl der „schlechthinigen Abhängigkeit" (Schleiermacher), der „Druck
der Unendlichkeit" (Max Müller) die Bedingung und der Wurzel-
grund aller religiösen Entwickelung. Aber die pessimistische Er-
kenntniss ist das Sprungbrett, das, indem es zum Sprunge hilft,
gleichzeitig zurück geschleudert wird. Indem die im „Dienste"
des religiösen Bedürfnisses thätige Phantasie die Götter producirte
und zwar entsprechend dem Urwollen des Menschen, als die Lebens-
sichern- und Glück gewähren -Könnenden, sobald der Wille
im Glauben Besitz genommen hat von diesen selbstgeschaffenen
Wesen, so gewinnt die Welt ein anderes Ansehen. Ihr Haupt-
und Urschrecken: die Unbeherrschbarkeit der in ihr wahrnehm-
baren Kräfte ist dahin, oder doch ganz erheblich gemindert. In-
8 Einleitung.

dem der Mensch es in seine Hand gegeben glaubt, die Götter zu


bestimmen ihm „das Beste" zu gewähren, so ist die Welt nun das
sein Wollen Erfüllende, und es wird vom frommen Gemüthe nur
der mangelnden Einsicht in den Rathschluss der Götter zuge-
schrieben, wenn es Andern, oder in schwacher Stunde ihm selbst,
nicht immer so erscheinen will. Jede Religion ist daher als solche
optimistisch, aber um so optimistischer als Religion, je ener-
gischer die Weltverachtung in ihr betont ist. Denn je mehr
die Schatten der Welt erkannt und gescheut werden, um so rück-
haltsloser wird die Hingabe an die transcendenten Ergänzungen
sein, um so energischer wirkt deren mythologische Gestaltung an
der Umgestaltung der empirischen Welt mit.
Wir müssen eben wohl unterscheiden zwischen Religiosität
und Religion. Die erstere ist wesentlich Sehnsucht nach voll-
kommenster und ungehindertster Auswirkung des Lebens, damit
Abwendung von der empirischen Welt, als einer diese Sehnsucht
nicht erfüllenden, und die Forderung und ideelle Hervorbringung der
Abhilfe vermittelst ausserempirischer Mächte.
Hierbei ist es gleichgültig, ob das empfundene Ungenügen
für den Menschen auf den unteren Stufen der Entwicklung die
materielle Lebensgefährdung sei, oder auf höherer und höchster
Culturstufe jene unstillbare, undefinirbare Sehnsucht, die Sehnsucht
des Endlichen zum Unendlichen, des Einzelnen in der Vielheit zur
Einheit, welche erst dann klar und unverhüllt hervorzutreten ver-
mag, wenn die äussere, materielle Noth durch ein günstiges Zu-
sammenwirken der Naturverhältnisse und der Cultur (dieser Natur
in zweiter Potenz) zurückgedämmt ist.
Die Religion dagegen ist der objectivirte Niederschlag des
religiösen Vorganges; sie ist die erfolgte Antwort auf das Po-
stulat. Im weitesten Sinne des Begriffes T Erlösung * ist jede
wirkliche Religion, d. h. jede Religion, die Niederschlag einer
religiösen Gefühlsentwickelung und nicht bloss Product der im
Dienste des theoretischen Bedürfniss stehenden mythologisirenden
Phantasie ist, Erlösungsreligion, und als solche optimistisch;
weil sie das geglaubte Wissen ist von denjenigen Mächten, welche
das Uebel, das zur religiösen Weltentfremdung führt, aufzuheben
vermögen, sammt dem Wissen von den Mitteln, um diese Mächte
in die gewünschte Action zu bringen. Sobald die religiöse Be-
thätigung durch die Fixirung eines Dogmas ihre jeweilige Be-
friedigung gefunden hat, also zur Religion geworden ist, so schliesst
sie also nunmehr trotz ihres pessimistischen Wurzelgrundes den
Pessimismus vorläufig aus, und das Beharren bei demselben muss als
Ketzerei erscheinen. So ergiebt sich aus der Natur der Religion
heraus erstens der eigenthümliche Kampf zwischen Optimismus und
Einleitung. 9

Pessimismus innerhalb ihrer Entwickelungsgeschichte, und zweitens


die von den modernen Optimisten im Streite gegen den modernen
Pessimismus geltend gemachte Thatsache: dass die Denkmäler
pessimistischer Weltbetrachtung innerhalb der Religions-Litteratur
verhältnissmassig so selten sind.
Die pessimistische Betrachtung wird aber, ausser dass sie den
ersten Impuls zur anhebenden religiösen Bethätigung giebt, auch
die Triebkraft zur Weiterentwickelung der Dogmen, indem
sie entweder das empirische Gebiet, das ihrer Betrachtung unter-
liegt, erweitert, so dass es von den bestehenden Religionsgebilden
nicht mehr gedeckt wird, oder indem sie sich zersetzend auf
die Gestaltungen und Charaktere des Mythos selbst wirft.
Mit dem erweiterten und vertieften pessimistischen Bewusst-
sein tritt der Zweifel an das vorgefundene Object des Glaubens
und der religiösen Hingabe, und die Unlust des Zweifels treibt
nun wieder an zum Versuch der Ueberwindung des Widerspruchs
zwischen dem Geforderten und dem Vorgefundenen. Wenn also
manche zeitgenössische Bekämpfer des modernen Pessimismus diesen
als den Untergrab er der Religion denunciren, so hat dies nur dann
einen Sinn, wenn sie die Religiosität identificiren mit einer be-
stimmten Religionsform, in unserem Falle dem Christenthume.
Des Letzteren fundamentale Dogmen halten allerdings nicht
Stand gegen die Positionen des modernen Pessimismus, sondern
es zeigen sich Widersprüche, deren Lösung nur durch Sprengung
des Dogmensystems möglich ist. Dagegen ist die Religiosität nicht
nur nicht gefährdet, sondern die Bedingung zur Besitzergreifung
derselben durchs Individuum ist damit erst recht gegeben, sobald
man unterscheidet zwischen Religiosität als Sehnsucht nach
dem Unendlichen und den unter dieser Anregung entstandenen
Glaubensobjecten.
Eine Illustration zu der Ansicht, dass die erweiterte Sphäre
des pessimistischen Bewusstseins zur Triebfeder der Erweiterung
der religiösen Formation wird, bietet das Buch Hiob; dann aber
auch die christliche Gnosis, nach der Seite hin, wo die moni-
stischen ihrer Systeme sich mühen, das Uebel aus dem Einen,
obersten Princip heraus zu erklären, wobei in erster Linie die Po-
sition des jüdischen und christlichen Gottesbegriffs erschüttert wird.
Es ist aber die Religion nicht allein das Product der Sehn-
sucht des beschränkten Einzelnen nach dem Unbeschränkten und
Unendlichen, sowie der auf das Verlangen mit ihren Gebilden ant-
wortenden Phantasie, sondern auch das einer gewissen Stufe der
geistigen Entwickelung entsprechende Resultat des theoretischen
Verlangens nach Erkenntniss des üb er- empirischen Zusammen-
hanges der Welterscheinungen.
10 Einleitung.

Das theoretische Moment fehlt in keinem die Norm seiner


Gattung erreichenden Menschen gänzlich, so gewaltig auch der
Spielraum ist zwischen seinen niedrigsten und höchsten Graden.
Man könnte den theoretischen Trieb vielleicht eine Weiter-
entwickelung des Causalitätsgesetzes unseres Intellects nennen:
emporgewachsen aus den unbewussten Tiefen der Seele, in der
jenes sich bethätigt, hinauf in die beleuchtete Sphäre des Intellectes,
wo dieser nun mit bewusstem Willen des Erkennens, die von
jenem instinctiv ergriffene Aussenwelt zu umfassen strebt.
Schon Plato nannte die Verwunderung die Mutter der Philo-
sophie. Die Objecte aber, welche den jugendlichen Menschengeist
zur theoretischen Verwunderung hinreissen, sind zum Theil die-
selben, die auch die religiöse Gemüthsbewegung erregen. Nicht
das Object unterscheidet uranfänglich die keimende Philosophie
und Religionsthätigkeit, sondern die Facultäten der Psyche, die an
ihm zur Bethätigung kommen. In einem Falle folgt der Sensation
eine Abschätzung derselben fürs Ich; die Reflexion bleibt wesent-
lich unter der Herrschaft des Gefühls-Ich; das Subject bleibt in
sich, setzt sich in's Centrum der Anschauung. Im anderen Falle
bleibt die primäre, mit jedem Bewusstseinsact eo ipso gegebene
Innerlichkeit unreflectirt; die Reflexion geht unmittelbar aufs Ob-
ject, das Subject giebt sich auf in der Aussenwelt, die Vorgänge
sind für sich selbst da. Die Philosophie in ihren ersten An-
fängen ist aber auch noch die Einheit von den sich später specia-
lisirenden Wissenschaften der Natur einerseits und andererseits der
Metaphysik im weitesten Sinne, als dem Wissen von dem dem
empirischen Sein transcendent Existirenden. Der theoretische Trieb,
das Verlangen nach Wissen um des Wissens willen, gesellt sich nun
insofern wieder secundär zum religiösen Triebe, als es mit der den
Mythos schaffenden Phantasie zusammenarbeitet; und zwar ist das
Verhältniss ein doppeltes. Zum einen bietet die wirkliche oder ver-
meintliche Weltkenntniss der Phantasie einzelne Form-Elemente zu
ihren in die Transcendenz hinausprojicirten Gebilden; zum andern
aber ist es auch wieder die Phantasie, die, wo das theoretische
Erkennen-wollen das jeweilige Gebiet der Empirie überschreiten
möchte, eintreten muss, um auf Grund der apriorischen Denk-
formen aus den empirischen Momenten ein transcendent ergänztes,
abgerundetes Weltbild zu schaffen.
Jede einigermaassen ausgebildete Religion enthält auch eine
theoretische Weltanschauung im Umriss, welche bei erst lückenhaft
entwickelter Wissenschaft gleichzeitig den einzelnen Disciplinen der-
selben zum Rahmen dient. Bei selbstständiger Höherbildung der
rein theoretischen Forschung tritt dann ein Moment ein, wo der
Rahmen der religiösen Weltanschauung die Wissenschaft nicht mehr
Einleitung. 11

zu halten vermag, sondern von dieser zersprengt wird. Mit diesem


Kampf zwischen theoretischem Wissen und dem religiösen Dogma
ist nun wieder vom Standpunkt des letzteren ein pessimistisches
Moment gegeben, denn ohne ein Einschleichen des Zweifels in die
Glaubenskreise geht es dabei nicht ab. Damit aber wird der In-
halt der Dogmen selbst Object pessimistisch-zersetzender Be-
trachtung und das religiöse Gefühl muss neue Glaubensgebilde
postuliren, welche mit den jeweiligen Errungenschaften des theo-
retischen Wissens wenigstens nicht in so offenem Widerspruch
stehen, wie die durch den Zweifel zersetzten.

In den Göttergestalten wie in den Götter- und Weltmythen


ist derEinfluss des Pessimismus deutlich erkennbar. Die Schwäche
der Creatur ist der erste pessimistische Einheitsbegriff. Im Gegen-
satz hiezu ist es die über Leben und Tod, Werden und Vergehen
herrschende Macht (gleichviel, wie roh und verderblich erfunden),
welche die sehnsuchtsvolle Bewunderung und Ehrfurcht erweckt.*)
Ein Moloch, eine Aschera mit ihren blutigen, gräuelvollen
Culten wäre unverständlich, wenn nicht die ältesten Götter dies
nicht eben nur wären als die überwältigende Macht. Erst später
wurde die Gottheit das (anthropomorphisch-formulirte und durch
doppelte Negation gewonnene) Ideal weiterer Eigenschaften, nach-
dem sich der Begriff des Guten in die Vielheit seiner Formen aus-
einander zu legen begann, während es anfänglich nichts war als
die das Leben frei beherrschen und garantiren könnende Macht.
Im Götter- und Welt -Mythos aber ist es die Kampf-Natur
alles Seins, welches als nächst bedeutsames Moment der pessimi-
stischen Einsicht formgebend wurde.
Das pessimistische Bewusstsein erkannte das Leben als einen
Kampf, und es projicirte die Phantasie diesen auch in die Trans-
cendenz der Götterexistenz hinaus. Dabei ist es für den Grad des
pessimistischen Bewusstseins nicht gleichgültig, welche Stellung
der Götterkampf zur Zeit einnimmt.
In der griechischen Mythologie sind die Titanen geschlagen;

Wir können auf anderem Gebiet noch heute analoge Vorgänge be-
*)
obachten. Die rohe Kraft, die im selben Grade nützlich erscheint als sie
einem Gegner zugewandt gefährlich und verderblich werden kann, findet
noch immer die volle Bewunderung der rohen Massen und erwirbt leicht
„Ehrfurcht", d. h. die Ehre der Furcht. Und die Bewunderung^ die der Pöbel
stets dem Reichthum (selbst wo dieser durch zweifelhafte Mittel erworben
ist)nicht umhin kann entgegen zu bringen (so lange sein Neid durch dio^
Verhältnisse zum blossen Zähneknirschen verurtheilt ist), beruht eben auf
dem Bewusstsein, dass Reichthum Macht, für ihn unantastbare, unter Um-
ständen vernichtende Macht ist. —
12 Einleitung.

die intelligenten Mächte haben gesiegt über die im blinden Drang


und brutaler Ueberkraft existirenden Elementarwesen. Die ältesten
pelasgischen Cultusgötter sind bereits die siegreichen Götter und
somit ist der griechischen Religion zu dem allgemeinen optimisti-
schen Charakter, der einer jeden naturwüchsigen Religion eigen
ist, noch ein besonderes optimistisches Merkmal zugesellt. Das in
die Götter hinein gedachte Siegesgefühl ist der Reflex des sieges-
gewissen Gestaltungstriebes, des sich allmälig zur nationalen Ein-
heit und nationalen Cultur entwickelnden Volksgeistes. Man über-
sieht die Mangel seiner Welt, im Glauben sie zu beherrschen; weil
vieles gelingt, scheint alles erreichbar.
In den iranischen Mythen und der aus der iranischen Natur-
religion sich entwickelnden Lehre des Zarathustra ist der Kampf
zwischen guten und bösen Mächten ein bestehender. Die Götter
stehen nicht, wie die der Griechen, in heiterer, siegesfroher Ruhe
über der Welt (so wenigstens dem anschauenden Geiste einen
erquicklichen Ausruhepunct gewährend), sondern der irdische Kampf
in Natur und Menschenleben ist nur der Widerschein und die
secundäre Wirkung desjenigen im Götterreiche. Diese Anschauung
entspricht und entspringt einer düsterem Welt- und Lebensbetrach-
tung. Während aber die griechischen Götter dadurch, dass sie in
ihrer Siegesruhe der Menschen nicht bedürfen, in einem so welt-
abgelösten Zustand zu denken sind, dass die Menschen einsehen
lernen, dass auch sie ihrerseits von den Göttern nichts zu hoffen
haben, diese sie folglich sehr wenig angehen und kümmern (prin-
cipiell von Epikur ausgesprochen, natürlich aber lange vor ihm
schon von Vielen empfunden), so ist hingegen die iranische Idee
des Kampfes zwischen den guten und bösen Mächten unendlich
viel günstiger, sowohl der Intensität des religiösen Gefühls, als
besonders auch der Kräftigung des ethischen Bewusstseins. Der
Mensch ist nicht allein das Object der Tücke der bösen Mächte,
die ihn als Geschöpf der Lichtmacht verfolgen, sondern er ist auch
Kämpfer im Dienste des guten Princips, und wo er dem Bösen
etwas abringt, indem er etwas Schlimmes zum Guten wendet,
gleichviel ob es in der Natur geschehe durch arbeitkrönenden Sieg
über ungünstige Bodenverhältnisse (über Dürre, Versandung u. s. w.),
oder im eigenen Herzen durch Besiegung der bösen Lust, immer
dient er damit nicht nur sich selbst, sondern seinem guten Gotte.
Durch diese Einheit der Interessen von Gott und Mensch wird der
selbstsüchtige Charakter der Naturreligion veredelt zum Ethicismus.
Jeder auf egoistischen, eudämonologischen Postulaten fussende
Götterglaube, der seine Götter ausser die Sphäre der die Sehn-
sucht und das Bedürfniss nach ihnen und ihrem Schutze gebühren-
den Noth setzt, wird, wie er durch das pessimistische Bewusstsein
Einleitung. 13

geschaffen wurde, auch wieder durch dasselbe gefährdet, sobald


letzteres seineSphäre erweitert; nicht so ein Glaube, der die Götter
(oder die Gottheit) für mit in die Noth des Lebens und den Kampf
gegen das Böse verwickelt erachtet; da wird die Einsicht über die
Grösse des drohenden Unheils dazu beitragen, dass der Mensch
sich um so enger an seine Kampfführer anschliesst, ähnlich wie
auch ein Volk, welches sich von einem Feinde von aussen bedroht
sieht, sich um so fester mit seinem Herrscherhaus verbunden fühlt.
Auch in den alten indischen Mythen, bevor diese vom philo-
sophischen Brahmanismus absorbirt wurden, ist die Welt ein Kampf-
platz der guten und verderblichen Naturgötter. Dabei wird aber
die Lebensanschauung immer düsterer, bis endlich die brahma-
nische Speculation das ganze Sein inclusive die Götter (das un-
persönliche überseiende Brahm ausgenommen) alsdas Nichtsein-
sollende verurtheilte wodurch
, die Religiosität nicht nur
also
partielle Weltverneinung zum Zwecke der Gewinnung einer
„besseren Welt", sondern positive Daseinsverneinung wurde.
In der nordischen Mythologie endlich sehen wir den Kampf
in der Zukunft; die Götter finden mit sammt der Welt ihren
Untergang.
Nur aus einer tief pessimistischen Stimmung konnte jene
Lebens- und Todesverachtung und Kampffreudigkeit erwachsen, die
Kampf und Wunden auch noch in das Jenseits hinaussetzt; nur
aus schmerzlichster Ueberzeugung heraus, dass Dasein und Leben
unvermeidlich nicht nur mit der Noth, sondern auch mit der
Schuld verknüpft sind, konnte der Mythos von der Götterdämme-
rung hervorgehen. Nur auf Grund einer das Leben in seiner unaus-
weichbaren Schmerzhaftigkeit erkennenden Weltanschauung konnte
sich das tragische Genügen an einer Walhalla entwickeln, deren
Herrlichkeit darin gipfelt, dass ihre Bewohner mit den Göttern am
letzten Kampfe theilnehmen dürfen, mit ihnen kämpfen dürfen, um
mit ihnen unterzugehen.*) In der nordischen Mythologie hat also
bereits der fundamentale Umschlag stattgefunden: von der eudä-
monologischen Religiosität zum tragischen Verzicht auf die ego-

*) Der Gedanke eines dereinstigen neuen Himmels und neuer Erde kann
nicht als eine „Hoffnung", nicht als ein optimistisches, eudämonologisches
Moment gelten; denn das neue Sein wurde als ein durchaus Anderes, nicht
als eine blosse Metamorphose des bestehenden vorgestellt. Es möchte
diese Idee vielleicht entstanden sein durch die Ungeneigtheit, sich das der
Götterdämmerung folgende Nichts als reine Negation zu denken und durch
die Unmöglichkeit sich das Nichts vorzustellen. Freilich ist auch die Mög-
lichkeit nicht ausgeschlossen, dass der Gedanke einer anderen Götter- und
Weltexistenz durch die Bekanntschaft mit anderen Religionen entstund,
sowie der Ahnung, dass deren Göttervorstellung der eigenen überlegen
sein könnte.
14 Einleitung.

Gunsten der vergöttlichten Idee der Erhabenheit


istischen Instincte zu
und des (in diesem speciellen Falle nur relativen) sittlichen Ideals.

Was nun die Rolle des pessimistischen Bewusstseins bei der


Entwickelung des sittlichen Bewusstseins anbelangt, so ist die-
selbe eine sehr complicirte, und in ihren Hin- und Herzügen
schwierig zu verfolgende und nachzuweisende, aber unzweifelhaft
wirksame. Es sind ja gerade die Optimisten, welche die tadel-
lose Beschaffenheit der Welt auch dadurch nachzuweisen suchen,
dass sie auf die Notwendigkeit der Uebel hinweisen, ohne
deren Gegensätzlichkeit das sittlich Gute nicht wäre. Es ist aber
das Uebel in diesem Sinne und in dieser Function nur vorhanden,
so fern auf die Mängel des Daseins reflectirt wird; unmittelbar
empfundene Unlust, verursacht durch Naturwirkungen oder Ueber-
griffe des Selbstunterhaltungstriebes des Nächsten ist sittlich un-
fruchtbar; erst durch die zusammenfassende Reflexion und ab-
strakte Verallgemeinerung derselben wird sie (in Verbindung mit
den zu der Natur des Menschen gehörenden sittlichen Trieben) zum
Motiv, durch die Negation des Uebels und des Bösen hindurch zu
der gegensätzlichen Position des sittlich Guten fort zu schreiten.
Was das Leben erhält und seine Sicherung und Förderung
begünstigt ist das natürlich Gute, und was das Leben gefährdet ist
das natürlich Böse. Indem die dem primitiven und eudämonolo-
gischen Verlangen entsprechenden Naturgottheiten ihrem Verehrer
gnädig gesinnt sind, so erscheint die diesen letztern fördernde
Handlung seines Nächsten auch in den Augen der Gottheit als gut,
während die ihn schädigende auch dem Willen des ihm günstigen
Gottes zuwider ist; so wird das Böse zur Sünde. Das heisst also:
Der Mensch setzt sich dem ihm aufgehenden Begriff von Gut und
Böse zu weiterer Reflexion dadurch gegenüber, dass er das Urtheil
über eine That oder einen Vorgang in das Bewusstsein seiner
Gottheit hinausprojicirt.
Nun ist aber die Gottheit nicht nur seine Gottheit —
wenn
auch dies in erster Linie*) —
sondern auch der seiner Angehörigen
und Stammesgenossen, mithin wird auch seine That, wenn sie den
von der Gottheit protegirten Nächsten schädigt, zur Sünde, und
dieser Begriff, den nunmehr ein Jeder auf sein übergreifendes Thun
anwenden muss, wird zum Schutz seines Mitmenschen, da wo dieser
zu entfernt steht, um unmittelbar durch die Action der zu Trieb-
federn der Sittlichkeit bestimmten Instincte des Gattungswohles vor
den egoistischen Ausschreitungen geschützt zu sein.

*) Im Canton Zürich kann man noch von alten Leuten auf dem Lande
den Stoseseufzer hören: „0 myn Gott und alle Lüte Gott aber myne z'erste"
(meiner zuerst).
Einleitung. 15

Was dem Menschen Gutes geschieht durch den Menschen,


geschieht ihm in erster Linie durch das Activwerden der sittlichen
Instincte: der Liebe, des Mitleides, der thatkräftig werdenden Dank-
barkeit und Pietät. Diese Triebe sind also recht eigentlich das
Gute, ihr Mangel das Böse. Mit der religiösen Gestaltung der
Begriffe gut und bös, als „ gerecht" und „sündig", entwickelt sich
nun auch der sittliche Begriff. Gut ist, was mir selbst oder
einem Andern, dem ich mitfühlend nahe trete, wohl thut, bös ist,
was schädigt. Die Handlung, welche die Wirkung beabsichtigt,
wird nun selbst gut oder böse, und zwar abgesehen von der realen
Wirkung, und auch wenn diese durch äussere Umstände einzutreten
behindert ist. Wird nun bloss auf den Begriff gut und böse in
diesem letzteren Sinne, d. h. ohne die reale eudäm onologisch posi-
tive oder negative Wirkung der That zu berücksichtigen, reflectirt,
so erscheint diese gute That zugleich als ein selbsständiger Werth,
und der Begriff des „gut* und des „Werthes" in sittlichem Sinne
ist gefunden.
Es ist nunmehr etwas vorhanden, was gewollt werden kann
(eben weil es an und für sich ein Werthvolles ist), ohne eudä-
monologische Rücksichten, ungeachtet des eudämonologischen
Fundamentes, auf welchem das Sittliche erwachsen ist, und nicht
ohne, dass die Selbstsucht sich unter Umständen auch wieder auf
das Idealgebilde stürzte und das sittlich Gute aus individual-eudä-
monistischen Absichten zu kultiviren versuchte.
Es beginnt nun ein kaum zu entwirrendes Hin- und Her-
weben zwischen dem sittlichen und religiösen Bewusstsein. Eines-
theils werden die sittlichen Begriffe und Postulate in das Bewusst-
sein der Götter hinausprojicirt, deren Begriff und Vorstellung sich
von der auss ersittlichen Naturmacht zur anthropomorphisch vorge-
stellten sittlichen Persönlichkeit umwandelte; zum andern werden
die in die Gottheit hineingedachten Willensrichtungen maassgebend
für Ziel und Inhalt der selbstlosen Willensacte des Menschen. So
hebt und erweitert sich die Sphäre des sittlichen Bewusstseins in
demselben Maasse, als sich das Gefühl für das Uebel schärft, und
das willkürlich geschaffene Uebel, die Sünde, wird um so dunkler,
je heller das Licht der Sittlichkeit zu leuchten beginnt. Es bauen
die Postulate des sittlichen Bewusstseins die Himmel und es gebärt
die von Furcht und Schrecken befruchtete Phantasie die Hölle; und
wenn auch diese letzteren Vorstellungen im Dienste des Guten
wirken, indem sie zu einem engeren sich Schaaren um das Panier
des Guten und Göttlichen anregen, so zeugt die Phantasie doch
auch wieder neue Leiden und Uebel, indem sie zu den realen
Mängeln des Lebens noch ihre Schreckensphantome hinzufügt.
16 Einleitung.

Aller Fortschritt wird durch die pessimistische Auf-


lösung des ideal oder real Bestehenden eingeleitet.
Im Gebiete der Kunst nennt Richard Wagner das Genie
„den nie zufriedenen Geist, der stets auf Neues sinnt." Dies gilt
nicht nur innerhalb der Kunst, sondern für alle Gebiete der
allgemeinen Entwickelung durch das Vehikel des Men-
schengeistes und der Menschenkraft. Aber die Wahrheit ist
nur halb ausgesprochen, denn das Genie ist mehr als der unzu-
friedene Geist; es ist auch die schöpferische Kraft, positive Ant-
wort zu geben auf die Frage: Giebt's nichts Besseres als dies
Ungenügende? Wagner sagt also mit diesem Worte dasselbe,
was wir darzulegen versuchen: dass der Pessimismus die Triebfeder
zur Entwickelung ist, und dass die selbstzufriedene Genügsamkeit
die unfruchtbaren Zweige, die tauben Blüthen am Baume der Welt-
natur darstellen.
Wenn daher die Gegner des modernen philosophischen Pessi-
mismus gegen diesen vorbringen: es sei der Pessimismus stets die
Gefühls- und Denkweise einer sich überlebt habenden Culturperiode
gewesen, so ist dies allerdings richtig. Solche Perioden aber
folgen sich leider ununterbrochen; ihre Begrenzungen lassen
sich immer erst erkennen, wenn sie Vergangenheit geworden sind,
und jeder Schritt vorwärts ist ein Schritt über und auf Ueber-
wundenem. (Ist es aber nicht selbst ein Stück Pessimismus-Material,
dass gerade im Gebiete der Culturformen das Wort des Mephisto
gilt: dass Alles was besteht, werth ist, dass es zu Grunde geht?)
Die Constatirung obiger Thatsache kann daher auch kein Tadel,
keine Minderung der Berechtigung des philosophisch formulirten
Pessimismus sein; denn zugestanden, dass gewisse Culturformen
ungenügend sind, so ist die Erkenntniss dieses Zustandes, welches
die Erstrebung neuer Formen einleitet, einer verblendeten Conser-
virungstendenz doch gewiss vorzuziehen. Was aber die Berech-
tigung der Ueberwindung alles einst Bestandenen anbelangt, so
fragen wir jeden Optimisten, ob er eine Zeit und eine Cultur-
periode zu nennen weiss, in welcher er mit seinem jetzigen mo-
dernen Bewusstsein zu leben vorziehen würde — nota bene: wenn
er alle Seiten einer jeweiligen Epoche in Betracht zieht. Bei
bloss einseitiger Betrachtung allerdings könnte ein Christ viel-
leicht die ersten Zeiten des Christenthums, der Aesthetiker die Zeit
des Perikles, ein Politiker vielleicht die Zeiten der römischen Republik
u. s. w. u. s. w. als seinen Wünschen vollständig entsprechend
ansehen. Wenn aber sämmtliche Lebensformen einer Culturepoche
berücksichtigt werden, so scheint uns die negative Beantwortung
der Frage ausser Zweifel zu stehen.
Nun könnte man aber vielleicht einwenden, der Pessimismus
Einleitung. 17

sei nur der Todtengräber jener überwundenen Periode gewesen,


es sei aber der optimistische Glaube an das „Bessere* gewesen,
der das Neue hervorgebracht. Dieser Einwand stützte sich jedoch
auf eine Verwechselung zwischen dem partiellen Pessimismus, wie
wir ihn hier verstehen (und dessen verschiedene Stadien wir in
den folgenden Blättern zu zeichnen versuchen wollen) mit dem
quietistischen Verzweifelungspessimismus, welcher das se-
cundäre Product besonderer metaphysischer Theorien und religiöser
Anschauungen ist, und als solcher allerdings unfähig ist, als trei-
bendes Glied im Weltorganismus zu functioniren. Mit diesem
Quietismus haben wir es aber hier nicht zu thun, sondern eben
nur mit der pessimistischen Betrachtungsweise der verschie-
denen Lebensfactoren und Culturgestaltungen; diese schliesst aber
den Begriff des „Besseren" nicht aus, sondern, wenn sie das
„Bessere" nicht ideell zu anticipiren vermöchte, so könnte sie
gar nicht zur Verurtheilung ihrer empirischen Existenzformen
gelangen. Das „Besser" ist ein relativer, comparativer Begriff, der
auf jeder Stufe des pessimistischen Bewusstseins Bestand hat, und
wie er Maass der Beurtheilung ist, auch Motiv wird; und zwar
ist das „Besser" auch absolut wirksam und wird, so gering auch
sein positiver eudämonologischer Werth sei, als Motiv wirken, weil
in der Regel das „Bessere" vorläufig auch das „Beste", was er-
reichbar, ist, ohne dass das Prädikat „Best" irgend etwas über
seinen wirklichen Werth enthält.
Freilich kommt dass bei jugendlichen Menschen und
hiezu,
jugendlichen Völkern comparative Werthe zu eudämonologisch
positiven verwandelt werden.

Wenn der „niezufriedene Geist" sich auf diese seine Eigen-


schaft besinnt und die Gründe und die Rechtfertigung seines
So-Seins aufstellt, so krystallisirt sich die pessimistische Be-
trachtung zum Pessimismus.
Mit den der Geschichte angehörigen Formen des Pessimismus
hat es die erste Hälfte unserer vorliegenden Schrift zu thun.

Plümacher, Pessimismus. 2
Erster Theil.

I. Capitel.

Der Pessimismus im Alterthum.


i. Der Pessimismus des Brahmanismus und
Buddhaismus.

a. Brahmanismus.

Zum systematischen Aufbau als Pessimismus ist die pessinii- '

stische Lebens- und Weltbetrachtung zuerst in Indien gelangt.


Der Brahmanismus ist Religion, aber er hat sich unter starker
Beeinflussung des speciüativ-philosophischen Geistes zu dem ent-
wickelt, was er war und ist. Er ist empor gewachsen aus einer
Naturreligion, welche in henotheistischem Sinne Idas Göttliche
schlechthin in eben so vielen Formen verehrte, als die Naturmacht
dem religiös empfänglichen Individuum als die Verehrung fordernde
Ueberlegenheit entgegentrat.
Dem religiösen Bewusstsein, welches nicht umhin konnte in
jedem Gotte die göttliche Wesenheit überhaupt zu sehen, kam das
theoretische Bewusstsein mit seinem abstracten Begriff des abso-
luten Seins, dem in allem Dasein Wesenden, in allem Leben athmen-
den, auf halbem Wege entgegen. So entstand ein Pantheismus,
der die Vielformigkeit der Gottesvorstellung in doppelter Weise in
sich duldet. Erstens indem er sich aus einem Polytheismus ent-
wickelte und diesen, mit der der religiösen Entwickelung überhaupt
eigenen conservativen Tendenz, als die dem minder speculativen und
an die sinnlichere Vorstellung gebundeneren Geiste der Massen
angemessene Hülle und Form aufrecht erhält. Zweitens aber als
Resultat des philosophischen Bestrebens die vielgestaltete empirische
a. Brahmanismus. 19

Welt aus der abstracten Einheit des aller concreten Bestimmungen


entleerten absoluten Seins zu begreifen.
Indem das empirische Dasein als Erscheinung des absoluten
Ueberseins begriffen und erklärt werden sollte, aber weder in seiner
zu unendlicher Formenvielheit zerfaserten Beschaffenheit aus der
leeren Einfachheit erklärbar schien, noch seiner eudämonologisch
mangelhaften Beschaffenheit nach der Qualität der Göttlichkeit ent-
sprechend erachtet wurde, so mussten Zwischenglieder zwischen das
absolute einfache Göttliche und die empirische Erscheinung ge-
schoben werden. Diese Zwischenglieder sind nun die Götterge-
stalten des Volksglaubens, denen so eine gewisse Realität und Be-
deutung gewahrt wurde.
Nun hat aber der Brahmanismus zwei Kosmologien. Die
eine ist die Emanationstheorie, nach welcher das absolute Wesen,
das unpersönliche Brahm sich seiner eigenen göttlichen Uebernatur
theilweise entäussert, indem es aus seiner Unendlichkeit heraus
endliche, aber reale Erscheinungen hervorgehen lässt, in deren ab-
geleiteten Wesenheit der Entlassungsprocess sich wiederholt und
so fort durch die Welt der Götter hindurch bis hinunter in die
untersten Daseinsformen des Pflanzen- und Thierlebens und der
ebenfalls (nachbildlich) abgestuften Menschheit.
Die andere kosmogonische Theorie ist die illusionistische.
Dieser entsprechend ist die ganze vielgestaltige Erscheinungswelt
nur ein wesenloser Schein, ein täuschender quälender Traum der
Weltseele, woran nichts real ist als die Unlust, welche das abso-
lute Wesen in dem geträumten Scheindasein der Vielheit erduldet.
Auch nach dieser Auffassung des Daseins sind die Götter des
naturalistischen Volksglaubens vorhanden, aber sie sind nur, wie
und was auch die irdische Welt und die Menschen sind: sie sind
als Trugbild, als wesenlose Erscheinung des in den Trug der Maja
befangenen Absoluten.
Diese Weltanschaung ist natürlich philosophischer als die
Emanationslehre; nicht dass sie nicht auch wie jene unlösliche
Widersprüche enthalte,*) aber sie fusst auf erkenntnisstheoretischen
Forschungen, welche bereits mit dem naiven Realismus gebrochen
haben. Sie ist auch vom religiösen Standpunkt aus die höhere,
weil sie nicht nur fähig ist, die Emanationstheorie in sich zu
absorbiren, resp. deren Constructionen als relative, phänomenale
Wahrheit innerhalb des allumfassenden Weltscheines anzuerkennen,
sondern auch in dem Sinne das höhere, als die Emanationstheorie
da, wo es sich um die Erreichung des letzten religiösen Sehn-

*) "Heber den Widerspruch der Lehre von der Maja vergl. E von Hart-
mann: D. relig. Bewusstsein. B. I. d. Monismus pp. 283-2^7.
2*
20 Der Pessimismus des Brahmanismus und Buddhaismus.

suchts zieles: der endgültigen Rückkehr zum Absoluten handelt,


sich doch selbst aufgeben muss, um vermittelst der Idee der Wesen-
losigkeit und blossen Trug-Natur der Existenz den letzten Schritt
vom Sein zum potentiellen Uebersein machen zu können.
So stehen denn die beiden kosmologischen Theorien als exo-
terischeund esoterische neben einander, um als Grundlagen einer
eben so zweitheiligen weltlichen und religiösen Ethik zu dienen.
Wir haben es hier nicht mit dem in seinen Hauptfiguren nach-
gerade als allgemein bekannt anzunehmenden Götterhimmel zu
thun, weder nach seiner volksthümlichen, noch nach seiner philo-
sophisch-theologischen Seite hin, wonach die Götter bloss phanta-
stische Hypostasen abstracter Begriffsentwickelungen zum Verständ-
niss des Ueberganges eines Einfach - Eines zur räum - zeitlichen,
quantitativ-qualitativen Vielheit sind. Auch die unendlich zahl-
reichen und unendlich verwickelten Mythen interessiren uns hier
nur insofern, als sie zum grössten Theil auch Kampfesmythen sind,
oder die Bemühungen gütiger Gottheiten den Sterblichen Erlösung
oder Erleichterung von einem Uebel oder auch Belehrung zu
bringen, darstellen; mithin mehr oder minder die Mitwirkung
pessimistischer Reflexion bei ihrer Conception erkennen lassen. Für
uns liegt das Interesse des Brahmanismus darin: dass hier nicht
nur wie in jeder höheren Religion das durch bestimmte Mängel
so und so verunstaltete empirische Leben, oder wie im Christen-
thum und in der alexandrinischen Philosophie diese unsere Welt
mit dieser dualistischen materiell-geistigen Daseinsweise verneint
wird, sondern dass das Sein überhaupt, die Existenz als
solche, als das Nichtseinsollende im Gegensatz zu der an
sich in einfacher Potentialität verharrenden Substanz aufgefasst wird.
Die Emanationstheorie zeigt uns erst ein Gemisch von opti-
mistischen und pessimistischen Ideen. Zu dem theoretischen Staunen
und dem ästhetischen Bewunderungsgefühl über die Grösse und
den Reichthum der hervorbringenden Natur und ihrer verschieden-
artigen heilsamen und verderblichen Erscheinungsformen, musste
sich die instinctive Lebensbejahung, die das Leben als das selbst-
verständlich Werthvolle voraussetzt, gesellen, um diese Naturkräfte
personificirt zu Cultusgöttern zu machen, deren Ausgang aus dem
unpersönlichen indifferenten Brahm in dem Grade als etwas Ver-
ehrungswerthes erschien, als auch die in der Folge stattfindende
Weltschaffungsthätigkeit der Götter von dem das Dasein wollenden
Individuum als Bewunderung und Dank fordernde Wohlthat er-
achtet wird.
Sofern nur auf die Götter als die Erschaffer und Regierer der
Welt und als der Herrn über die Güter des Lebens reflectirt
wird, ist der vielformige Götterglaube der Indier eben so optimi-
a. Brahmanismus. 21

stisch wie jede naturalistische Religion; aber die Erfahrungen des


Lebens stehen im Gegensatz zu den eudämonologischen Anforde-
rungen und den optimistischen Hoffnungen. So erscheint denn
einer tiefern Einsicht das Leben als etwas hinuntergekommenes,
schwach und schlecht gewordenes. Je ferner das Sein seinem
Ausfluss aus dem Absoluten ist, um so mangelhafter, leidvoller
und elender wird es; am elendesten also in dieser empirischen
Welt und innerhalb dieser in dem Thierleben und der untersten
Menschenkaste.
Nunmehr erscheint die Emanation nicht mehr als eine preis-
werthe That des Absoluten, sondern eher als ein Fehltritt oder als
eine Schuld, und damit ergiebt sich die Rückkehr zur Einheit
als oberstes religiöses Ziel. Der Drang des Absoluten, sich in die
Vielheit zu entlassen, ist eine Schuld, an der ein jeder theilnimmt,
der das irdische Leben und dessen Genüsse und Güter um ihrer
selbst willen sucht und erstrebt. Letztes religiöses Ziel und damit
Princip des zum Verständniss des wirklichen Sachverhaltes der
Emanation und damit zur Erkenntniss seines wahren Wohles
gekommenen Menschen kann also nur das Aufgeben der Existenz
sein. Aber wie der Weltgang von oben nach unten ein viel-
stufiger war, so ist auch die Rückkehr in's Brahm nur ein all-
mähliches Aufsteigen.
Die Götter sind nicht nur die Herren über Leben und Tod
und über die irdischen Güter, sondern auch die Hüter einer sitt-
lichen Weltordnung und die Wegweiser zum Heile der Rückkehr,
und das Individuum einer niedrigeren Kaste kann nichts weiter zu
erreichen hoffen, als eine Wiedergeburt als Glied einer höheren
Kaste, also eine Stufe dem Brahm näher, um endlich aus dem
Stand der Brahmanen in die Götterwelt versetzt zu werden. Da-
mit ist die Möglichkeit gegeben, dass innerhalb eines auf pessimi-
stischen Prämissen fussenden und von dem negativen Ziel der In-
dividual- Vernichtung gekrönten Systems doch ein eudämonistisch-
optimistischer Götterkultus Raum findet.
Aber er hat nur Bedeutung für die grosse Masse der zur
wahren Erkenntniss noch nicht Vorgedrungenen. Der Brahmane,
dem der Weisheit letzter Schluss aufgegangen ist, der die Welt
der Individuation als blossen Trug der Maja erkannt hat, verehrt
keine Götter mehr, denn diese gehören ja auch nur der Schein-
welt an. Dies drückt sich bildlich in der exoterischen Lehre so
aus, dass der alte Brahmane, der Tapas, der sich zur direkten Er-
reichung des obersten Zieles der Askese ergeben hat und durch
ungewöhnlich grosse Bussübungen durchgegangen ist, sich über
die Götter erhebt und diesen an magischer Macht überlegen wird.
Der esoterische Kern derartiger Mythen aber ist der Gedanke*
22 Der Pessimismus des ßrahmanismus und Buddhaismus.

dass auch die relativen Lebenswerthe und die relativ erhabensten


Formen innerhalb des Seins vernichtet werden durch die pessimi-
stische Einsicht. Dass das Dasein als solches, gleichviel ob als
Sudra oder als Gott, vom Uebel ist, weshalb es sich für den Er-
kennenden nicht mehr um Wiedergeburt im Götterreich, sondern
nur um Vernichtung der Individualität durch Untertauchen in das
Absolute handeln kann.
Für den noch im Trug der Maja verstrickten, dem die Viel-
heit noch wesenhafte Realität ist, für den verknüpft sich mit den
Begriffen „gut" und „böse" auch der Begriff von individuellem
Verdienst und Schuld. Wer aber den Schleier der Maja zerrissen,
wer weiss, dass er als Individuum nur eine Truggestalt ist, für den
giebt es nur noch eine Schuld, und das ist die Schuld des Ab-
soluten.
Die indische Askese mit ihren tollen Quälereien bis zum lang-
samen Selbstmord wird daher mit dem im Deutschen gebräuch-
lichen Wort „Busse" nicht gut bezeichnet. Denn obgleich die
äussere Erscheinung derjenigen der syrischen und arabischen
Büsser des Urchristenthums sehr ähnlich ist, so ist doch der Zweck
und der Sinn der indischen Askese nur theilweise derselbe. Die
Selbstquälerei wird nicht geübt, um an sich selbst eine Strafe zu
vollziehen, sondern nur als Beweis von der Unabhängigkeit von
dem Trug der Welt.
Nichts ist ja so real als die Schmerzen und die Unlust; indem
man diesen zu trotzen vermag, beweist man damit, dass auch sie
nur Schein sind, und man selber dieser Trugwelt abzusterben be^
ginnt. Nur insofern hat die indische Askese einerlei Sinn mit der-
jenigen der Urchristen, der gnostischen und mancher jüdischen
Secten (Essäer) und der mohammedanischen Ssufis, als es sich im
Beginn derselben um eine Schwächung der sinnlichen Triebe, um
Mortification des physischen Lebens handelt, im Glauben, dadurch
den Geist zu entlasten und fähiger zur Erkenntniss der Wahrheit
zu machen.
Wie vielAntheil an der Lehre von der Maja eine subjectivische
Erkenntnisstheorie haben mag, darüber steht uns ein Urtheil nicht
zu; auch interessirt uns hier diese Lehre nur als Ergebniss eines
allumfassenden Pessimismus, als Ausdruck trostloser Trauer über
die Flüchtigkeit des Schönsten, Besten, Höchsten, was der Mensch
zu denken und zu erringen vermag; als Ergebniss der stupificirenden
Wahrnehmung Wechsel des Seins, des bestän-
des ewig rastlosen
digen Sich-selbst-verschlingens Werdenden.
alles
Aber freilich, wer dem Problem des beständigen Wechsels
und der Vergänglichkeit gegenüber diesen gordischen Knoten, statt
ihn zu lösen, einfach durchhaut, indem er das Sein für Schein
b. Buddhaismus. 23

erklärt, der vergisst, dass seiner Trauer über den Wechsel ein
Wille des Beharrens zu Grunde liegt, der ja selber als solcher
grundlos ist und zum Nicht-sein-sollenden gehört.
Den Willen des Beharrens, das Wollen des Conservirens ge-
wisser instinctiv als positiv werthvoll angenommener Daseinsmo-
mente hinweggedacht, ist die Flüchtigkeit der Werde- und Seins-
f'ormen durchaus Es ist daher zum mindesten so
gleichgültig.
correct vom Standpunkt des Illusionismus und Akosmismus aus,
wenn man, statt sich als Asket zwischen vier Feuer zu stellen, sich
mit dem Dichter der folgenden Zeilen auf die luftige Warte rein
indifferenter Beschaulichkeit aufschwingt:

Acht Urgebirge nebst den sieben Meeren, Sonne, wie


die
die Götter selbst, die hehren, dich, Welt,
mich, die
die —
Zeit wird's all' zertrümmern; warum denn hier sich noch um
irgend etwas kümmern?
Denn nicht darum handelt es sich letzten Endes: so oder so
zu handeln, sondern gerade darum: nicht zu handeln, nicht zu
wollen, nicht zu fühlen, nicht zu denken; denn in all diesem
liegt ja die Besonderung und damit die Trennung vom Brahm,
dem in seiner begrifflichen Leere einheitlich Subsistir enden.

b. Buddhaismus.

Der Brahmanismus ist ein allmählich Gewordenes; er üat sich


im Laufe vieler Jahrhunderte aus dem Zusammentreffen philoso-
phischer Reflexion und Speculation mit einer schon ausgebildeten
Naturreligion entwickelt, beeinflusst während seiner Ausbildung
durch von aussen ihm zukommende Ideen (z. B. die Seelenwande-
rungs-Idee) und in seiner praktischen Gestaltung als Kirche durch
politische Verhältnisse bestimmt. Darum ist er ein vielseitiges,
man möchte sagen zackiges, zerklüftetes Gebilde, ein Conglomerat
verschiedener sich zum Theil widersprechender Ideen, nur nach
der Spitze zu einheitlich zusammengefasst durch die pessimistische
Idee von der Unwahrheit des Seins und der Notwendigkeit, dessen
trugvolle Beschaffenheit aufzuheben.
Der Buddhaismus hingegen ist die Geistesthat eines Einzelnen
und ein secundäres Extractionsproduct auf breiter historischer Basis.
In dem religiösen Genie des Gautama Buddha schössen die wich-
tigsten Ideen des Brahmanismus krystallinisch zu einer Einheit
zusammen, die Masse der naturalistischen Reminiscenzen und der
politisch-hierarchischen Convenienzen gleichsam als Bodensatz zu-
rücklassend.
24 Der Pessimismus des Brahmanismus und Buddhaismus.

Der Pessimismus, der im Brahmanismus ein Product ist,


welches sich wie ein Keil in die ursprünglich naiv optimistische
Naturreligion hineingeschoben und diese principiell auseinander
gesprengt hat, ist hier das Erste, das treibende Moment, und daher
der Buddhaismus nicht nur in dem weitesten Sinne Erlösungs-
religion, wie das jede Religion ist, insofern sie lehrt die Hülfe der
Götter zu gewinnen gegen die Noth des Lebens, sondern in dem
eminenten Sinne, wie ausser demselben nur noch das Christenthum
es ist; indem die Erlösung nicht in einer Verbesserung der Welt-
verhältnisse, sondern in der Ueberwindung der Welt und des Seins
gesucht wird.
Gautama Buddha zog kühn die letzte Consequenz des ab-
stracten Monismus des Brahmanismus und erklärte das absolut
einfache, bestimmungslos Absolute für das reine Nichts. Wenn
das Sein mit seinem unendlichen Reichthum an Formen nur Schein
ist, alle Bestimmtheiten, alle Qualitäten, Quantitäten, mit einem
Wort: alle Kategorien der Anschauung und des unterscheidenden
Denkens, die uns ja nur mit dem Sein gegeben sind, eben dadurch
als blosser Schein hinwegzudenken sind, so ist das was hinter dem
vielheitlichen Sein ist, das reine Nichts, so ist die Maja, die Illusion
aus dem Nichts geboren; sie ist das einzige, was wirklich ist,
und ist das, was sie ist, nur als Welt, als welche sie sich selbst
anschaut.
Das Nichts ist natürlich so wenig göttlich wie die Maja; da-
her ist der Buddhaismus eine Religion, die eben so Atheismus
wie Akosmismus ist. Zwar wird das Sein der vielen Götter des
Volksglaubens nicht geläugnet, aber diese sind nur Gestaltungen
des Seins, etwas günstiger gestellt zwar als die Menschen, aber
dennoch ebenso erlösungsbedürftig wie diese, daher Buddha ferne
davon, von ihnen der Menschheit gesandt zu sein, vielmehr
auch für sie der Wegweiser zur Erlösung im seligenNichts, Nirvana,
dem Ort des Verlöschens ist. Das Nirvana aber ist das selige nur
per negationem, sofern die Welt, die Sansara, die unselige ist;
dass sich diese einfache Negation der Unseligkeit für die des
Denkens von Abstractionen weniger fähige Menge zu etwas positiv
lustvollen, wenn auch von unbestimmbarem, unsagbarem Charakter
gestaltet, ist ganz natürlich, hat aber mit der ursprünglichen
Lehre des Buddha nichts zu thun.
Dass eine solche Weltanschauung nur das Resultat eines voll-
ständigsten, allumfassendsten Pessimismus sein konnte, ist klar;
hier sind alle Lebenswerthe zersetzt, alle Grössen mitsammt den
Göttern, als deren Repräsentanten, von ihrem Throne gestossen.
Jede eudämonistische Illusion ist zerstoben, auch jene des
Brahmanismus, welcher das Uebersein des Brahms als positiv lust-
b. Buddhaismus. 25

vollen —
freilich durch empirische Kategorien nicht zu bestimmen-
den Zustand —
dadurch festhielt, dass er im Widerspruch zu der
Maja-Lehre die höchsten Geisteszustände, intuitives Erkennen und
Wissen, im Brahm verabsolutirt.
Für den Buddhaismus giebt es ausser dem irdischen kein Er-
kennen und Wissen, denn ausser der Welt ist nicht ein Geist, son-
dern das Nichts, und das irdische Wissen ist ja nur Wissen vom
Elend und vom Mangel. So fällt auch aller Wissensstolz und alle
Erkenntnissfreude hinweg, denn nicht dem Göttlichen kommt man
im Wissen näher, sondern nur dem Nichts. Nicht wie im Brah-
manismus ist die Welt deswegen ein trugvolles Gebilde, weil sie
das ewige Eine in der Vielheit der Individuen erscheinen lässt,
sondern die Welt ist das Nichtsein-sollende, weil sie wirklich dem
Nichts entsprossen ist, welche Abstammung sich in der Todes-
verfallenheit kund thut.
Die Trauer über die Vergänglichkeit alles Irdischen, welche
in den verschiedenen historischen Formen des Pessimismus eine
so hervorragende Rolle spielt, hat im Buddhaismus ihr eigentüm-
lichstes, gewaltigstes Denkmal erhalten.
Da nun das Nichts wohl als Hintergrund, nicht aber als Ur-
sache des Seins vorgestellt werden kann, so tritt die Illusion an
diese Stelle. Die Illusion wird schöpferisches Weltprincip; aber da
sie nur als Welt ist, und die Welt erfahrungsgemäss vom Uebel ist,
so findet die Ethik keine Begründung, weder für das Sollen noch
für ihr oberstes Princip: das Mitleid, dieses Moral -Princip par
excellence des Pessimismus.
Das Mitleid mit seinem Hofstaat von stützenden Triebfedern
sittlichen Thuns, wie Liebe, Freundschaft, Dankbarkeit findet sich
einfach im Bewusstsein vor; eine Erklärung für sein Dasein wie
das Brahmanische tat Twam asi (das Wort von der Wesenseinheit
des als Vielheit erscheinenden) fehlt dem Buddhaismus. Das Nichts
ist nämlich so wenig ein Band zwischen den Individuen als der
Trug der Maja es sein kann; denn diese letztere ist ja eben nur,
was sie als Welt ist, wo die Individuen ja gerade das Getrennte sind.
Wenn nun trotzdem der Buddhaismus zum Begriff einer sitt-
lichen Weltordnung gelangt, in deren Dienste sich zu stellen, unter
die sich zu beugen und seinen Eigenwillen unterzuordnen als die
Pflicht des Individuums erscheint, und der zu folgen auch die Klug-
heit antreibt, weil an die Pflichterfüllung die Möglichkeit der Er-
lösung von dem Unheil der Existenz geknüpft ist, so zeigt sich
die Thatsache als Wirkung jenes „ dunklen Dranges", der den
„ guten Menschen den rechten Weg
leitet", mag auch immerhin die
äussere Vermittelung dieses ethischen Processes die Anlehnung an
die Sankhya-Philosophie des Kapila sein, welche Gautama
26 Der Pessimismus des Brahmanismus und Buddhaismus.

Buddha aus dem Brahmanismus, wo sie als ein wildes Wurzel-


schoss emporgewachsen war, in sein System hinübernahm. Das
religiöse Bewusstsein des Volkes, vor welchem Qakyamuni als
Reformator trat, besass bereits die Vorstellung, dass die Schuld,
falls dieselbe nicht gesühnt ist, nicht vergeht, wenn auch ihr Träger
stirbt; und ebenso fand er schon als uraltes Besitzthum jene Idee
vor, dass das Uebel die Folge der Schuld sei.
Im Brahmanismus so gut wie im Buddhaismus hat aber diese
Idee durchaus keine principielle Berechtigung. Wenn entsprechend
dem Brahmanismus die Vielheit nur Schein ist und das Eine Wesen
Alles in Allem ist, so ist die Schuld des Einzelnen nur die par-
tielle Erscheinungsform der Schuld des Einen. Wie soll aber das
Eine eine Schuld tragen können, da man in Schuld nur im Ver-
hältniss zu einem Andern kommen kann? Noch weniger aber kann
das Nichts Träger der Schuld sein und ebensowenig die Illusion
oder die Maja.
.Consequenterweise müsste im Buddhaismus das Uebel das Erste,
und die Schuld nur als eine Species des Uebels, als ein Uebel in
einer durch menschliche Willkür gemodelten Form angesehen
werden. Die Schuld wäre alsdann nur ein juridischer Begriff und
sein Gegensatz wäre nur eine Rechtsordnung im Interesse Aller,
während eine sittliche Weltordnung so wenig möglich wäre, wie
eine sittliche Verantwortlichkeit über die conventioneil rechtliche
hinaus. Denn so wenig die Welt nach der Illusionstheorie real ist,
so wenig ist die Schuld real; diese wie jene ist nur für den im
Wahn Befangenen, und wie das wahre Wissen von der Angst des
Daseins befreit, so muss es auch von allem Schuldgefühl entbinden.
Wäre Qakyamuni ein speculativer Philosoph gewesen, dem
es um die Geschlossenheit seines Systems zu thun gewesen wäre,
so hätte er wahrscheinlich diese Consequenz gezogen und der Bud-
dhaismus bezeichnete dann nicht eine Religion, sondern nur eine
kosmologische Theorie, die, wie sie Atheismus ist, auch jede Ethik
ausschliessen würde und innerhalb ihres reinen Intellectualismus Raum
böte, sowohl für den Selbstmord als für den materiellsten Hedo-
nismus der idealistischen Verzweiflung. Aber Gautama Buddha
war religiöser Genius und opferte die Geschlossenheit seines Systems
der Thatsache des religiösen und sittlichen Bewusstseins in wel- ,

chem sich der Mensch nicht nur als unglücklich, sondern als schuld-
beladen empfand. So adoptirte er denn die Seelenwanderungslehre,
die er vorfand, und die Theorie einer sittlichen Weltordnung, nach
welcher das Uebel die Folge und Sühne der Schuld ist. Die Schuld
als solche ist natürlich der Drang nach dem nicht-sein-sollenden
Sein und die Strafe das nun innerhalb der sittlichen Weltordnung
gerechtfertigte Leid. Das Heil ist die Rückkehr ins Nichts, der
Der Pessimismus im Griechenthum. 27

Weg dazu aber die Selbstverleugnung sämmt-


als Collectivbegriff
licher sittlicher, d. h. selbstloser Thaten, im Gegensatz zu der natür-
lichen und der bösen Bethätigung des Egoismus, als dem indivi-
duellen Repräsentanten der Urscnuld des falschen Seins.*)
Nicht als Religion und nicht in ihrem Verhältniss zur Ethik
haben wir es hier mit dem Brahmanismus und Buddhaismus zu
thun, sondern nur mit der Thatsache, dass der absolute eudämo-
nologische Pessimismus —
d. h. die Anschauung, dass das Leben
als solches, wie immer die Form seines Daseins sich gestalte,
schlechter sei, als das Nichtsein —
bei ersterem die Achse, bei
letzterem aber der Grund und das Alpha und Omega ist. Einen
Punct aber möchten wir ganz besonders hervorheben und
unseren Lesern zum Bedenken empfehlen (obgleich er eigentlich
aus dieser Skizze ohne weiteres hervorgehen sollte): dass nämlich
an der Unfähigkeit des Buddhaismus ohne Aufnahme seinem obersten
Princip widersprechender Ideen eine Ethik zu begründen nicht der
Pessimismus schuld ist, sondern allein der Illusionismus. Dies
sich gegenwärtig zu halten ist deswegen von Wichtigkeit, weil die
Behauptung, der Pessimismus schliesse die Ethik aus, als Haupt-
trumpf gegen die modernen Pessimisten ausgespielt wurde, wäh-
rend es so wenig als bei den indischen Religionen die Schuld des
Pessimismus ist, wenn der Eine und Andere unserer modernen
pessimistischen Philosophen nur vermittelst Inconsequenzen gegen
sein Princip sich mit den ethischen Anforderungen unseres Zeit-
geistes in Einklang zu setzen vermag.

2. Der Pessimismus im Griechenthum.



a. Die pessimistischen Elemente in der Religion.

Man ist gewohnt von dem Griechenthum als dem „ heitern * zu


sprechen, und gewiss ist man berechtigt, den Optimismus als das
Charakteristiken der griechischen Weltanschauung und der von
dieser durchdrungenen und getragenen Cultur zu bezeichnen. Es

*) Ueber die Unvereinbarkeit der Seelenwanderungsidee sowohl mit dem


abstracten Monismus des Brahmanismus als mit dem Illusionismus des Bud-
dhaismus, sowie ihres Verhältnisses zu dem dualistischen Transcendental-
Realismus der Sankhya-Philosophie; ferner über den Begriff der Schuld im
Illusionismus und die Unmöglichkeit aus der Theorie des letztern heraus
der Ethik Rechnung zu tragen, verweisen wir auf E. von Hartmann's
lichtvolle, erschöpfende Darstellung des Brahmanismus und Buddhaismus
in „d. rel. Bewusst. der Menschheit" B. I. I und 2. —
28 Der Pessimismus im Griechenthum.

steht die heitere ,nicht nur Glück verlangende sondern an die


,

Erreichbarkeit desselben glaubende Veranlagung des Volkes im


engsten Zusammenhang mit seiner Fähigkeit das Concrete vorzugs-
weise von seiner ästhetischen und poetischen Seite zu be-
trachten. Eine Betrachtungsweise, die dem Optimismus schon darum
günstig ist, weil durch tragisch-ästhetische Verklärung auch das
Leidvollste und Unseligste seines die pessimistische Reflexion er-
weckenden Stachels verlustig geht. Es wäre jedoch eine Einseitig-
keit würde man über dem schimmernden Strom der Culturfreudig-
keit die pessimistische Unterströmung übersehen und ihre
Bedeutung für die spätere Geistesentwickelung übersehen. Gerade
die eifrigste Lebensausbeutung bringt ganz neue Leiden im Gefolge,
und je bewusster das Leben bejaht wird, um so drohender erhebt
der Tod sein Haupt. Dazu kommt, dass wo das Diesseits im opti-
mistischen Sinne aufgefasst wird mit dem minder energischen Postu-
lat des Jenseits, dieses auch nur schattenhaft schwankende Gestalt
besitzt. So wird die Folge des Optimismus selbst zu einem Object
für pessimistische Betrachtung.
Nur auf pessimistischer Grundlage kann sich der Tod zur
Rückkehr, zum Aufgehen in die Gottheit —
sei es als geistiges
Leben in Gott wie im Christenthum, sei es als Auslöschen der
Persönlichkeit und friedvolles Ruhen im Weltwesen (Brahmanismus)
— verklären. In der als optimistisch zu bezeichnenden Cultur-
epoche der Homerischen Epik bildet der Tod, der Hades und das
Schicksal (die Moira) ein abschreckend düsteres Kleeblatt.
Schon der Homerische Mensch weiss trotz seines übersprudeln-
den Lebensdranges, dass das Leben ein schmerzbringender Kampf
ist, und ein Kampf um so wundenschlagender, je höher das Indi-
viduum auf der Stufenreihe der Menschheit steht. Unzählig sind
die Mühen und Plagen des Helden; denn nicht nur mit seines-
gleichen, sofern diese und er selbst sich frei bestimmen, hat er um
seine Selbstbehauptung zu streiten, sondern auf der Höhe der Exi-
stenz, auf der Stufe des Heldenthums hat er auch den Neid und
die Leidenschaften der Götter zu fürchten. Zwar erfreut ihn auch
der Kampf als solcher; denn gerade in der Kampfesthätigkeit be-
stätigt er sich selbst, ist er seinem Charakter gemäss, findet er also
seine vollste Befriedigung: der zu sein, der er ist. Auch ist er
noch hinlänglich Naturkind, um in den Pausen des Kampfes die
Genüsse der Natur mit vollen Zügen zu schlürfen, woraus ihm
keine Unlust sprosst, weil er noch ganz in der Natur drinnen steht.
Er wiegt das, was diese ihm bietet, noch nicht auf der Goldwage
axiologischer Kritik nach, und daher ist ihm noch alles voll-
gewichtig.
Aber Kampfesfreude und Genusslust bilden doch nur eine
a. Die pessimistischen Elemente in der Religion. 29

schwankende Insel, die auf düsterer Fluth schwimmt, immer bedroht,


von ihr verschlungen zu werden. Den Mühen des Kampfes folgt
der Tod, gegen diesen schützt kein Heldenthum. Die Seele, das
Leben (ipvy ri) verlässt durch die Wunde oder durch den Mund beim
v

Sterben den Körper und wird im Hades zum eldwlov, zum wesen-
losen Scheinbild und Schatten des gewesenen Menschen. Der Geist
ist an die Function des Leibes gebunden; das Zwerchfell (cpgeveg)
ist das rein körperliche Princip des Lebens, der Sitz des Gedächt-
nisses und der Intellegenz. Trennt sich die Psyche vom Sorna, so
hört der Geist auf zu sein; Intelligenz, Gedächtniss, mit einem
Wort: Bewusstsein schwindet und die Persönlichkeit hört auf.
Es ist aber die Bewusstlosigkeit des noch übrig bleibenden
Schattens, die der natürliche Mensch in nicht erkanntem Wider-
spruch zu empfinden fürchtet. Darin liegt der eigentliche Schrecken
des Todes für die homerischen Menschen; denn kein Leiden, keine
Strafen birgt noch der Hades. Aber das blosse Nicht -Leben ist
der Gipfel des Schrecklichen für den, der noch ganz und voll in
dem natürlichen Lebensdrange steht und eben deshalb auch die
Negation des Lebens nicht rein zu denken vermag, sondern nur so,
dass noch immer ein Rest gespenstigen Seins zurückbleibt. Es
ist kein Leben, und doch auch nicht der Friede des Verblasenseins
im Nirvana. Denn der Mensch jener machtvoll treibenden Zeit
kann, wenn er auch den Farbenreichthum seines kämpf bewegten
Lebens wegdenkt, doch nicht den Trieb fortdenken, und so wird
ihm der Schatten im Hades zum hoffnungslos sich sehnenden, nach
Stimme und Laut drängenden Leidensbild seiner selbst. Darum
ist der lebende Schweinehirt glücklicher zu preisen, als der König im
Reiche der Schatten.*) Der Tod will mit Resignation getragen sein,
im ebenso düstern Glauben an das Schicksal, die Moiqa. Diese
ist die unpersönliche, blinde Macht hinter und über den Göttern.
Auch deren Geschick ist Schicksal, aber die Menschen sind doch
noch viel ungünstiger gestellt, denn ausser ihrer Abhängigkeit von
der blinden Moira, sind sie auch noch —
natürlich im Widerspruch
mit der Moira-Idee —
von den Launen und der Willkür der Götter
abhängig. **)
Nur die überschwängliche Lebenskraft eines jugendlichen, für.
hohe Culturstufen und besonders für ästhetische Lebensgestaltung
prädestinirten Volkes konnte es ermöglichen, dass bei dieser An-
schauung von Abhängigkeit und Tod das Leben doch mit solcher

*) Die Schatten möchten Blut trinken, um sich den Lebenden verständ-


lich machen zu können. Hier möchte vielleicht der Keim gegeben sein zu
dem Glauben an Vampyre bei den Neu-Griechen und Slaven.
**) Vergleiche hiezu: Nägelsbach, Homerische Theologie. Nürnberg
1844, 7. Abschn.: „Das Leben und der Tod."
30 Der Pessimismus im Griechenthum.

Innigkeit bejaht wurde. Der zuweilen von den Helden freiwillig


gewählte Tod ist gegen dies keine Instanz: denn die Verzweiflung,
die zu ihm fuhrt, geht immer hervor aus der überschwänglichen
Hochschätzung gewisser Daseinsformen, gegen deren bewusstes Ent-
behren selbst die Schrecken des Sichselbstverlierens im Hades gering
erschienen.
Doch bei diesem Glauben Hess sich auf die Dauer nicht be-
harren. Nägelsbach ist der Ansicht, der Glaube an die Moira
sei als anfängliches Resultat des Strebens nach monistischer
Vereinheitlichung der Götterwelt zu denken, also als Vorläufer
des spätem Monotheismus der Philosophen. Dagegen wendet
0. Pf leider er*) ein, wenn das Schicksal das Höhere gegenüber
den Göttern und der Schicksalsglaube ein Fortschritt über den
Polytheismus hinaus in der Richtung des Monotheismus wäre, so
wäre die Thatsache unerklärlich, dass der Schicksalsglaube gerade
bei den niedrigsten Religionen (z. B. dem Fetischismus) am schroff-
sten auftrete und bei höherer Entwickelung der Religion sich
mildere. Entsprechend Nägelbachs Ansicht müsste der Schick-
salsglaube um so mehr hervorgetreten sein, je mehr sich das
griechische Gottesbewusstsein dem Monotheismus näherte. Das
aber —
sagt Pfleiderer —
sei nicht der Fall, sondern je mono-
theistischer die Gottesidee bei Dichtern und Philosophen mit der
Zeit wurde, desto mehr absorbirte sie die Schicksalsidee, und nicht
aus der unpersönlichen Moira, sondern aus dem persönlichen Zeus
bildete sich der Monotheismus griechischer Weisen. Letztere An-
sicht scheint uns die richtigere. Die Moira ist eher ein Zersetzungs-
moment, eine negative Instanz im religiösen Process; sie ist eher
das Product der theoretischen Reflexion auf Grund der Zersetzung
der ältesten naturalistischen Göttervorstellungen. Eine negative
Instanz gegen den alten Glauben, wurde sie ein fruchtbarer Keim
für die junge Wissenschaft, welche aus ihr die Gesetzmässigkeit,
aber auch die Unerbittlichkeit der Naturvorgänge entwickelte.
Dem religiösen Bewusstsein aber wurde sie zur Vorsehung im
Geiste des Obersten der Götter.
Nun erhob sich aber allmählich die Idee eines jenseitigen
Lebens, die erst nur der Besitz einer verhältnissmässig kleinen
Zahl der in die Mysterien Eingeweihten, bald auch zum Glauben
der Gesammtheit wurde.
Der Tod ist der Wendepunkt, wo der rein immanente Opti-
mismus in sein Gegentheil umspringen muss. Je mehr das Leben
geschätzt wird, um so mehr muss das Gefühl gegen den Tod sich
sträuben; ein lückenloser, abgerundeter Optimismus ist gar nicht

*) Die Religion, ihr Wesen und ihre Geschichte. 2. Band


a. Die pessimistischen Elemente in der Religion. 31

anders möglich als vermittelst der im religiösen Glauben vorge-


nommenen Erweiterung der Existenz durch deren vermeintlich
besseres Stück im „Jenseits". Die Bewegung bildet eine Spirale:
die Liebe zum Leben scheut den Tod und postulirt das jenseitige
Leben; das geglaubte jenseitige Leben ohne Tod und Ende schärft
den Blick für die Mängel des empirischen Lebens und lässt schliess-
lich den Tod in dieser Welt als ersehnten Befreier willkommen
heissen. Die Hoffnung, der Glaube an die Wonnen des künftigen
Lebens werfen ihre Lichtstrahlen aber wieder auf das reale Leben
zurück, sofern dieses gleichsam nur als der Vorhof des wirklichen,
des ewigen Lebens erscheint. So ist wieder der „Optimismus"
vorhanden, aber nicht mehr der naive der unmittelbaren Empfindung,
sondern der reflectirten religiösen Spekulation.
In den spätem Zeiten eines Sophokles, Euripides u. s. w., als
das specifische Griechenthum auf der Höhe seiner künstlerischen,
staatlichen und culturiellen Entwickelung stand, hat der Tod auf-
gehört das wesentliche pessimistische Moment zu sein. Die Ansicht
vom Tode war eine andere geworden, die Anschauung des Lebens
insofern eine veränderte, als nicht sowohl mehr das Leben als
solches, sondern erst mit einem bestimmten (national -culturiellen)
Inhalt hochgeschätzt wurde. Das höchste Gut ist nun der Genuss,
Die Macht, welche den Genuss in allen Richtungen erst ermög-
licht und erweitert, auch Bildung, besonders rednerische Begabung
(als Mittel der Beherrschung der Menge), Freundschaft, Gelegenheit
zur Bethätigung der (besonders vom ästhetischen Standpunct be-
trachteten) Sittlichkeit, alles wird vom eudämonologischen Stand-?
punct aus betrachtet. Aber das höchste Gut, der dauernde Genuss-
zustand, das Glück, ist doch nie vollkommen seiner Idee ent*
sprechend. Es ist vergänglich, ringsum droht ihm die Gefahr des
Verlustes.*)
Wie war diesen Gefahren vorzubeugen? Die religiöse Frucht-
barkeit der Volksseele war erloschen; die fremden neueingeführten
Götterkulte vermochten nicht, die denkfaule Menge länger zu fesseln,
als der Reiz der Neuheit währte. Dagegen erhob sich um so mäch-
tiger der theoretische Trieb und stellte sich als Philosophie an
Stelle der Religion, die Objecte bietend, an denen das ideale Be-

*) Das Wort des Chores im „Oedipos in Colonos": „Das Beste ist nicht
geboren zu sein, oder wenn schon geboren, dann ba'd wieder von hinnen
zu gehen", ist nicht nur der Ausdruck individueller Anschauung des
Sophokles; das Wort ist älter, es stammt schon von Hesiod, der bereits
die Unmöglichkeit vollkommenen Glückes lehrte; und durch alle Jahr-
hunderte griechischen Lebens hindurch möchte es so geläufig gewesen sein,
wie innerhalb der christlichen Welt das Wort „vom irdischen Jammerthal."
Vergl. auch Nägelsbach „Nachhomerische Theologie und der Volksglaube
bis Alexander." Nürnberg 1857.
32 Der Pessimismus im Griechenthum.

dürfniss nicht minder als das eudä monologische des Einzelnen


sich emporranken konnte. Es entstand die von der Stoa und von
Epikur zum System erhobenen Anschauungen und praktischen
Verhaltungsanweisungen zum sittlich vernünftigen Leben, welche
insofern optimistisch sind, als sie nicht nur der Forderung nach
eudämonologisch sind, sondern an die Möglichkeit einer Glücks-
conservirung glauben. Trotzdem aber ihre Ethik Glückseligkeits-
lehre ist, so ist sie doch auf pessimistischen Voraussetzungen
erbaut, denn der „ Abgrund zwischen Wunsch und Wonne" (wie
ein moderner Dichter das Missverhältniss zwischen dem Glücks -
verlangen und dem Glückgewinnen nennt) war jenen Philo-
sophen wohl bekannt.

b. Die pessimistischen Elemente der Philosophie.

Im Epikur ei smus soll der Hedonismus gewahrt bleiben, d. h.


Lust bleibt höchstes Gut; aber diese Lust herabgemindert zur
ist
Negativität der Unlust. Die friedvolle Freiheit von Schmerz
und Unlust soll erreicht werden durch Entfernung der Furcht,
welche verursacht wird durch abergläubische Vorstellungen über
Götter, Schicksal und Natur; durch Freierhaltung von illuso-
rischen Hoffnungen, von Eitelkeit, Ruhm- und Herrschsucht mit
ihrem unvermeidlichem Gefolge von Aerger und Enttäuschungen;
durch Vermeidung aller Excesse des Geniessens; endlich durch
kühle Selbstgenügsamkeit, verschönt zwar durch den Cultus
der Freundschaft und der heitern Künste, aber ohne höheres Pathos
für beide.
Dieses epikureische Glückseligkeitsrecept ist nun erstens nur
für eine kleine Minderheit solcher, die den äussern Verhältnissen
nach bereits vom Geschick begünstigt sind; zweitens passt es durch-
aus nicht für alle Charaktere, denn es erfordert eine Gemüt Ii s-
entleerung von allen höher temperirten Gefühlen, die von kraft-
voller veranlagten Naturen selbst schon als entschieden unlustvoll
empfunden werden muss.*)
Ganz bedeutend höher als die Lehre Epikurs steht diejenige
der Stoa. Hier wird mit dem Hedonismus entschieden gebrochen,
und die Glückseligkeit, die noch immer oberstes Ziel der Ethik
bleibt, auf einem ganz anderen Gebiete gesucht.

*) Was der Epikureisraus als ästhetisch veredelte Klugheitsmoral für


die moralische Weltordnung geleistet hat und noch leistet, geht uns hier
nichts an; in dieser Beziehung verweisen wir auf E. von Hartmann, „Phä-
nomenologie des sittlichen Bewusstseins." pp. 4 u. folg.
Die pessimistischen Elemente der Philosophie. 33

Die theoretische Philosophie der Stoa kennt zwei Princi-


pien des Seins: die Vernunft, welche die Gottheit repräsentirt, und
die Materie. Die Vernunft geht in die Materie ein und ist Welt-
seele, wie sie Individual-Seele ist; beide Principien werden körper-
lich gedacht, die Seele von feuerartiger Beschaffenheit. Die Ver-
nunft, die Seele ist an und für sich frei, wird aber in der Natur
theilweise den materiellen Gesetzen unterthan, obgleich sie auch
wieder Lenkerin und Formspenderin ist. Aus dieser Theorie er-
giebt sich die praktische Forderung, dass der Mensch sich den
Geboten der Vernunft, seines eigenen bessern Selbst unterordne,
auch da, wo es seiner bloss materiellen Natürlichkeit wider-
strebt. Er ist dann in Harmonie mit der göttlichen Weltvernunft,
von der er ja nur ein Theil ist und in die seine Seele nach
dem Tode mit Hingabe der Persönlichkeit wieder zurückfliesst.
Durch äussere Einflüsse der bloss physikalischen Natur oder der
bösen Handlungen Anderer kann nur das Sinnliche am Menschen
leiden, der Geist aber kann deswegen doch in seiner inneren
Harmonie verbleiben; denn er ist als Vernunft frei und unan-
fechtbar, und nur aus sich selbst konnten ihm Leiden erwachsen
dadurch, dass er sich durch Hingabe an die Sinnlichkeit selbst
untreu wird.
Der Stoicismus rettet sich die optimistische Weltanschauung
dadurch, dass er bezüglich des Allgemeinen nur auf die Vernünftigkeit
des Seins (resp. seines Formal-Principes) blickt, bezüglich des Indi-
viduellen aber sich mit dem Selbstgenügen des Philosophen,
sich mit sich selbst im Einklang zu wissen, bescheidet, und
auf eine weitere eudämonologische Schätzung des Lebens ver-
zichtet, dabei die Vernunft in ihrer reflectiven Sphäre über- und
ihre Wirksamkeit im Reiche des Gefühlslebens unterschätzend.
Das höchste Gut ist die Tugend, die Tugend aber ist die Vernünftig-
keit; alle Leidenschaften sind als in der Sinnlichkeit wurzelnd zu
unterdrücken, der Geist frei zu erhalten von Furcht und Hoffnung
in reinem nichts als-sich-selbst Wollen. Diese Selbstgenüg-
samkeit ist das Glück, welches nicht gestört werden kann durch
die Leiden des Körpers oder die Kümmernisse der Welt; wo aber
ausnahmsweise die durch die Materie des Leibes verursachten Leiden
eine solche Form annehmen, dass sie die Klarheit des Geistes zu
trüben, ihn seiner Herrschaft über sich selbst zu berauben drohen,
da hat der Mensch das Recht sich rechtzeitig dem Einfluss der
Sinnlichkeit durch den Selbstmord zu entziehen —und auf diese
Weise wieder, wenn auch nur negativ, der Vernunft den Sieg zu
sichern. Die Tugend braucht keinen Lohn, weil sie Glückseligkeit,
mithin sich selbst Lohn ist; die Sünde ist Sünde gegen die Ver-
nunft, gegen die wahre Natur des Menschen, und ist ihr daher
Plümacher, Pessimismus. 3
34 Der Pessimismus im Griechenthum.

die Strafe gewiss, wenn auch für die kurzsichtige Menge dieses
Verhältniss nicht immer erkennbar hervortritt.
Der Stoicismus ist ohne Zweifel die höchste Form der Welt-
anschauung des klassischen Alterthums und übt bis heute noch
ihren Zauber auf kräftige Charaktere, bei denen das nüchterne,
reflexive Raisonnement bedeutend über Gefühl und Phantasie vor-
herrscht und bei denen die Vernunft sich mehr durch die punctuelle
Energie als durch die Weite ihres Horizontes auszeichnet.
Diese höchste Spitze ist aber auch der Abschluss des bisherigen
Standpunctes und U ebergang zu einem andern; die stoische Ethik
bricht nach zwei Seiten hin mit dem Princip des klassischen Zeit-
alters: erstens erhebt sich ihr Intellectualismus auf einer pessi-
mistischen Anschauung des gesammten sinnlichen, un-
mittelbar gegebenen Lebens, und zweitens fängt die Idee der
Eudämonologie des Absoluten an neben dem Individual-
Eudämonismus Raum zu gewinnen, dadurch, dass es die Welt-
vernanft ist, der im Individuum zum siegreichen Sichselbst-
behaupten verholfen werden soll.
Die Stoa fand zahlreiche Jünger und erlebte später in Rom
eine Nachblüthe; ihre Verherrlichung des Selbstbewusstseins , der
ausgesprochen männliche Charakter ihres Tugendideales entsprach
den besten Seiten des römischen Nationalcharakters, begünstigte
gleichermassen seine Vorzüge wie seine Mängel. Zu den Stoikern
zählt auch der Philosoph auf dem Caesarenthrone: Markus Au-
relius bei dessen „Selbstgesprächen" (Meditationes) wir etwas ver-
weilen wollen; denn in ihrer subjectiven Unmittelbarkeit und Un-
gekünsteltheit und in dem Verzicht auf Systematisirung der An-
schauungen und Empfindungen sind sie besonders geeignet, die
Eigentümlichkeit der Stellung des Stoicismus zu der axiologischen
Frage zu zeigen. Diese besteht darin dass obgleich das Leben
,
,

bereits im pessimistischen Sinne aufgefasst wird, dasselbe dennoch


als werthvoll behauptet werden soll, und zwar nicht (wie ja auch
nach der modernsten Form des phil. Pess.) im Hinblick auf trans-
cendentale Zwecke, sondern im immanenten Sinne; nicht der Welt-
process als Mittel eines ausser ihm liegenden Endzweckes, sondern
der W'eltprocess als solcher soll als berechtigt verziehen werden.
Markus Aurelius klagt nur ausnahmsweise und nur in leichter
Andeutung über des Lebens Unlust; nicht weil er diese nur selten
empfindet, sondern weil etwas so Selbstverständliches, Allgemein-
zugestandenes, etwas von dem man so vollkommen durchdrungen
ist, gar keines besonderen Ausspruches oder Nachweises bedarf.
Er weiss einfürallemal dass das Leben leidvoll ist, er will aber
,

eben darum nicht klagen (VIII, ^>), denn wenn man sich mit dem
blossen Bewusstsein der Vernünftigkeit genügen lässt, so kann man
Die pessimistischen Elemente der Philosophie. 35

sich auch in dieser leidendurchstürmten Welt noch ein windstilles-


Plätzchen retten; nur weil er sich nicht immer an dieser nackten
Vernünftigkeit wollte genügen lassen, nur deswegen muss er sich
selbst bekennen „du hast unendlich gelitten" (IX, 2(5). Nun weiss
er es besser: Da „kein Schicksal hindern kann gerecht, hochherzig,
besonnen, verständig, vorsichtig im Urtheil, truglos, bescheiden,
freimüthig zu sein", so sind „Widerwärtigkeiten kein Uebel", im
Gegentheil, wenn man sie würdig zu ertragen vermag, sind sie ein
Grund zur Freude; „erinnere dich also, bei jeder Veranlassung zur
Unlust die Wahrheit geltend zu machen: dies ist kein Unglück,
vielmehr, es mit edlem Muthe zu tragen, ein Glück". (IV, 40).
Er fragt: „wo ist das Glück"? „Du hast manches versucht, bist
unter so vielen Gegenständen herumgeirrt und hast doch nirgends
das Glück des Lebens gefunden"; wie findet sich dieses? Er giebt
sich selbst die Antwort: „indem man nichts für ein Gut hält, als
was einen gerecht, besonnen, mannhaft, freigesinnt macht, und
ebenso nichts für ein Uebel, was nicht das Gegentheil von dem
Gesagten hervorbringt". (XII, 29, VIII, 1 ferner III, 6, 12, IV, 7, 8).
Alles Ueble wird der Sinnlichkeit zur Last gelegt, sie als die
Quelle alles Bösen erachtet, die Seele aber, die mit der Vernunft
identificirt, und bloss als Bewusstsein und Reflexion verstanden wird,
in demselben Maasse überschätzt, so dass die Leiblichkeit bloss als
Ballast erscheint: „ein Seelchen bist du, von einem Leichnam be-
lastet", citirt Markus Aurelius den Epiktet; drum sind auch Sinnes-
freuden nicht nur werthlos, sondern verächtlich: „wie viel Sinnen-
freuden haben Räuber, Unzüchtige, Vatermörder, Tyrannen ge-
nossen!" (VI, 34 ferner VIII, 37 Endzeile 45; IX, 1-1, 15).
Eigentümlich und für den Stoicismus bezeichnend ist die
Stellung, die Markus Aurelius zum Tode nimmt. Beständig
kommt er wieder auf denselben zurück, sagt sich immer und immer
wieder vor, derselbe sei kein Uebel, denn er sei ja das Natur-
gemässe, und ob er etwas früher oder später komme, mache keinen
Unterschied, „kurz sei ohnedies die Zwischenzeit (zwischen Geburt
und Tod) und unter wie vielen Mühseligkeiten und in welcher
Gesellschaft und in was für einem Körper werde sie ausgelebt!"
(IV, 50. Im gleichen Sinne IV, 47, 48). „ Wer sich vor dem Tode
fürchtet, fürchtet sich entweder vor dem Aufhören jeglicher Em-
pfindung oder vor einem Wechsel des Empfindens. Allein wenn
man gar nichts fühlt: so wird man auch kein Uebel mehr fühlen;
erhalten wir aber eine andere Art des Fühlens, so werden wir auch
zu anderen Wesen, und hören mithin nicht auf zu leben." (VIII, 5f>).
Aber trotz dieser Reflexion scheint unserem Stoiker der Tod denn
doch etwas unbequem zu sein; wenn es nicht so wäre, so käme
er nicht immer wieder auf die Flüchtigkeit des Lebens zurück, sähe
3*
36 Der Pessimismus im Griechenthum.

nicht in der Flüchtigkeit das Merkmal seiner Wertlosigkeit; nnd


diese Anschauung ist ja auf seinem Standpunkt, wo das blosse
vernünftige Bewusstsein so hochgeschätzt wird, ganz begreiflich.
Wenn der Tod nur deswegen zu preisen wäre, weil das Leben so
vergänglich ist, so wäre ja ebenso correct der Tod zu beklagen,
weil er es ist, der das Leben so vergänglich macht. Es ist daher
die Consequenz des Widerspruches zwischen dem willkürlichen
optimistischen Credo und der pessimistischen Lebenserkenntniss,
dass er immer wieder Todesverachtung predigen muss, wobei all
diese Stellen ein Ineinander von Bedauern über die Lebensflüchtig-
keit einerseits (VIII, 31) und Verachtung des Lebens (V, 3o) ander-
seits bilden. Denn wie sehr er auch die Vernunft preist, wie sehr
er von der Berechtigung des Seins sich durchdrungen vermeint, er
fühlt eben doch, dass das Leben schlecht ist, und dass dies der
Grund ist, den Tod nicht zu scheuen, nicht aber weil er zur Natur-
ordnung gehört; denn all' die Erbärmlichkeiten im Leben, die
Schwächen der Menschen u. s. w. gehören schliesslich auch zur
Natur und doch erachtet er sie als das Nicht-sein-sollende. Der
vernünftige Grund, den Tod nicht zu scheuen, giebt nur die pessi-
mistische Erkenntniss und jeder wirkliche Optimismus muss den
Tod beklagen; im echt pessimistischen Sinne citirt Markus Aure-
lius auch Plato: VII, 35.
Die Befriedigung über das Selbstbewusstsein der Vernunft ver-
mag unseren Philosophen nur stille zu machen, nicht aber den
tiefen, satten Ton der Trauer zu lichten, der über den Selbst-
gesprächen liegt; Frieden und Resignation athmen sie, — aber
die Ueberzeugung, dass es gut sei, dass die Welt bestehe, bringen
sie wohl bei keinem hervor, bei dem sich schon der Zweifel hieran
geregt hat.
Werfen wir hingegen noch einen Blick auf Markus Aurelius'
Stellung zur Sittlichkeit, so tritt uns jener bereits erwähnte Gewinn
der pessimistischen Lebensanschauung entgegen.
Durchschaut ist die illusorische Beschaffenheit von Lob und
Ruhm, sie locken nicht mehr zur Ausübung der Tugend (IV, 19,
20, 33); nur um ihrer selbstwillen soll die Tugend gesucht und
geübt werden, denn sie ist das wahre Wohl, der wahre Nutzen,
„den zu suchen niemand müde wird". (VII, 74.) Und nicht ist
sie das wahre Wohl, weil sie Lust bringt, denn dies ist nicht
der Fall, sondern: weil das Leben eine Aufgabe darstellt, die
glücklich zu lösen die Hauptsache ist. Im Dienste des Ganzen
soll der Einzelne sie lösen, denn im Interesse des Ganzen ist sie
gestellt; geduldig soll der Mensch alles hinnehmen, denn was das
Geschick ihm bringt, das ist ihm zum Wohle der Gesammtheit
verhängt. (V, 8, 33.)
-

Der Pessimismus im Judenthum. 37

Zum Schlüsse des Abschnittes sei noch der alexandrinischen


Nachblüthe griechischer Philosophie gedacht. Insbesondere im
Neu -Piatonismus bildet die pessimistische Lebenserfahrung ein
wesentliches Motiv für die begriffliche Zerspaltung des Seins jm
göttlichen Geist und gottentfremdete materielle und Sinneswelt als
der schlechthin nicht-sein-sollenden, welche von dem, der nach,
der Wahrheit und dem wahrhaften Leben strebt, durch As-
kese zu überwinden ist. In noch im Stoicis-
höherem Grade als
mus wird die Sinnlichkeit gegen den abstract genommenen Intellect
zurückgesetzt und (wie im Judaismus) das „Fleisch" verachtet und
in seinen natürlichen Rechten möglichst zu schmälern gesucht.
Der Gedankengang, welchem zu Folge ein Plotin sich für seine
ihn darum bittenden Schüler nicht wollte portraitiren lassen: weil
er sich schäme, einen Leib zu haben, liegt weit ab von der Denk-
weise des natur- und lebensfreudigen Griechenthums der klassischen
Zeit und steht der pessimistischen Weltanschauung näher, die in den
indischen Religionen und Philosophemen ihr Denkmal gefunden hat.

3. Der Pessimismus im Judenthum.


a. Der Tod und die Straftheorie.

Wie die griechischen Götter die siegreichen Mächte sind, so


ist Jaho, Jahve, Mosis Gott der siegreiche Gott; nicht nur ist er
für das Volk, dessen Stammgott er ist, der Siegbringer über die
Gewalt der Egypter, sondern auch für sich selbst, indem er über
die Concurrenz der anderen Götter gesiegt hat. Für den Mosais-
mus als bereits endgültig herauskrystallisirten Monotheismus, dem
Jaho nicht mehr der mächtigste unter Vielen, sondern der Eine
Gott ymt ^oyj\v ist, kommt nur die erstere, die historische Seite
in Betracht. Im Griechenthum war es der Sieg über die elemen-
tare Natur, die Culturfreudigkeit, die sich in der Idee der sieg-
reichen Götter widerspiegelte; im Mosaismus ist es das Stamm es
gefühl, welches in dem Stammesgott verherrlicht wird. Die in-
stinctive Lebensfreudigkeit des Individuums findet in der Stärke
des nationalen Selbstgefühls, in der Zuversicht, das ausgewählte
Volk Gottes zu sein, seine Ergänzung und Begründung. *)
Mit vollem Behagen wird das durch die Stärke des Gottes ge-
sicherte Leben umfasst und ist an und für sich das Höchste der

*) Diese r Nationalstolz bildet eine Parallele zu dem der Griechen gegen-


über den Barbaren.
38 Der Pessimismus im Judentbum.

Güter, wie der Tod an und für sich das grösste Uebel ist. Nicht dass
man blind wäre für die Mängel des natürlichen Lebens; so fern es
das Endliche ist, wird es als das niedrige, unreine dem Herrn des
Himmels, dem reinen, heiligen entgegen gesetzt. Aber in dem
historischen Verhältniss des Volkes zu seinem Grotte wird dieses
Unreine, Hinfällige regiert. Sofern das Individuum dem Gesetze
gemäss lebt, nimmt es Theil am Bunde, den Gott mit dem Volke
gemacht hat, und lebt dadurch im reinen und berechtigten Dasein
zur Ehre Gottes, der mit seiner geschaffenen Welt im Ganzen wohl
zufrieden ist. Durch die zahlreichen, den Gebrauch der Natur-
dinge einschränkenden Gesetze und Verordnungen soll die Natur
nicht unterdrückt, sondern nur geheiligt werden durch bewusste
Unterstellung in jedem einzelnen Falle unter Gottes Willen.
Aber in dieses selbstzufriedene Leben fällt derselbe Schatten,
der auch über die Lebensfreudigkeit der griechischen National-
jugend eine Trübung bereitete. Der Tod ist der Gegensatz zum
lebendigen Gott und der Punct, wo der Mensch der Natur, dem
Irdischen im Gegensatz zum Göttlichen verfällt.
Der Scheol ist das Analogon des Hades; kein Ort der Qual,
nur unvollkommen vollzogene Negation des Lebens. Der Tod ent-
fremdet nicht nur dem Leben, sondern auch Gott. Der Scheol
ist die naive Vorstellung eines Unvorstellbaren: des Nicht-seins,
und daher ist der lebendige Gott nicht auch der Gott der Todten.
Der Tod ist das Unreine, mit ihm verfällt der Mensch gleich dem
Thiere, mit dem er „einerlei Odem" hat, der Natur schlechthin.
Dem Optimismus des Volkes als solchem konnte diese düstere
Todesauffassung nichts anhaben; denn dem Volk als solchem war
das Leben vorläufig sicher, wohl aber war es dem natürlichen
lebensfreudigen Individuum ein mächtiger Dämpfer, wie es denn
im „Prediger Salomonis" besonders die Todesverfallenheit auch des
Herrlichsten ist, welche besonders beklagt wird.
Aber einen eminent optimistischen Characterzug hat der
.

Mosaismus und der Judaismus vor dem Griechenthum voraus: er


kennt kein blindes Schicksal, sondern sobald das Uebel nicht
mehr unreflectirt unvermeidliches Natur-Uebel hingenommen
als
wird, so erscheint es
als von Gott verhängte Strafe für ver-
säumte Bundestreue, sowohl des Einzelnen als des Volkes im
Ganzen. Das zu tragende Uebel und Leid bleibt freilich was
es ist, aber es verliert seinen Stachel für die Reflexion, indem
es für das sittliche Bewusstsein fruchtbar zu werden beginnt.
Die Strenge von Gottes Regiment ist nur ein neues Moment in
der Reihe der Vorzüge der von Gott zu seiner Ehre erschaffenen
Welt; der gestrenge, der racheeifrige Gott war eben das Ideal
eines Volkes, dem mit dem Instinct der Gesellschafts-, Staats- und
Das Buch Hiob und der Prediger Salomonis. 39

Hierarchie-Gründung, der Gerechtigkeits- und Vergeltungs-Trieb in


der ersten Reihe der sittlichen Triebfedern stand. Aber freilich
setzt es einen ungewöhnlich hohen Grad des Solidaritätsgefühls
voraus, soll sich der Einzelne damit zufrieden geben, dass er leidet

um der Vergehen des Volkes als solchem willen, Vergehen an denen
er selbst vielleicht nur minimal oder gar nicht participirt.
Die Idee eines Gottes, der die Missethaten der Väter an Kindern
und Kindeskindern heimsucht, ist für den Glauben, für das religiöse
Postulat eines Volkes als solchem, für eine historische Ge-
meinschaft immer noch erträglich; die Lehre auch eine ethisch
heilsame, sofern die Furcht vor einem solchen Bundesherrn ein kräf-
tiger Zügel war gegen die Neigung einer Lostrennung von der
mannigfache Opfer fordernden Bundesgemeinschaft. Auf den Ein-
zelnen angewandt aber machte die Lehre, dass Glück und Unglück
als Lohn und Strafe von Gott zugemessen worden, fast jeden
Lebenslauf zum unlösbaren Räthsel, vor welchem nothwendig die
tiefer veranlagten Köpfe stutzig werden mussten. Die Unmöglich-
keit, die Theorie mit den Thatsachen in Einklang zu bringen, droht
die religiöse Sehnsucht des Einzelnen nach dem gerechten Richter
und Führer des Individuums (nicht bloss des „Volkes", welches
doch schliesslich nur eine Abstraction ist) zu erdrücken. Es ist
ein Widerspruch zwischen dem, was der israelitische und jüdische
Gott dem Volke und was er dem Individuum bietet, und es möchte
hierin vielleicht einer der Gründe zu suchen sein, warum sich
immer wieder die religiöse Phantasie der Massen (als der Vielheit
der Einzelnen) von den Göttern der Nachbarvölker locken Hess.

b. Das Buch Hiob und der Prediger Salomonis.

Im Hiob uns ein literarisches Denkmal erhalten, wie ein


ist
dichterischer Geist mit den Widersprüchen ringt, welche erstens
zwischen der wirklichen Lage des Volkes Gottes und dessen
stolzen Verheissungen, zweitens aber zwischen dem Lohn- und
Straf-Dogma und der individuellen Erfahrung bestehen; die
letztere Incongruenz bildet das eigentlicheThema der Dichtung. Da
dieselbe und der „Prediger" die einzigen zugestandenen pessimisti-
schen Kundgebungen unter den religiösen Schriften des Mosaismus und
Judaismus sind, so betrachten wir sie nunmehr etwas eingehender.
Bekanntlich zeigt uns das Gedicht am Helden Hiob die pessi-
mistische Verzweiflung im Kampfe mit dem landläufigen dogma-
tischen Optimismus und die Ueberwindung der Verzweiflung durch
religiöse Resignation, ermöglicht durch eine Vertiefung des Gottes-
4-0 Der Pessimismus im Judenthum.

begriffe, welchen Hiob bisan mit der Masse seines Volkes theilte.
Durch von Hiob errungene erhabenere Auffassung Gottes, ent-
die
sprechend welcher Gott als der dem menschlichen Kalkuliren Un-
durchdringliche sowie von dessen Begriffen von Recht und Ge-
rechtigkeit durchaus Unabhängige verstanden wird, geschieht
aber nur der Verzweiflung der Ungewissheit Einhalt, welche
letztere das Resultat des Erwachens aus der bisan mit der grossen
Menge getheilten Illusion war, als ob die Fügungen Gottes ganz
nach menschlichen Rechtsbegriffen und dem Menschenverstand
durchschaubar eingerichtet seien.
Letztere Ansicht möchten Hiobs drei Freunde gerne noch
retten; nach ihnen ist das Unglück gleichsam der Kettenhund
Gottes, den dieser nach Willkür loslässt, um zwischen diejenigen
zu fahren, die seine Gebote verletzen. Indem Hiob überzeugt ist,
dass er dem Gesetz gemäss gelebt hat*), muss er nun, wo er sich
von allem ihm denkbaren Unglück überhäuft sieht und wo gleich-
zeitig auch sein A.uge geschärft wird für das allenthalben sich
breit machende Unheil, entweder irre werden am Glauben an Gott,
dem Geschickelenker, oder aber ihn in dieser letzteren Eigenschaft
in anderem Sinne auffassen, als er bisan gewohnt war.
Dies letztere gelingt ihm; er rettet seinen Jaho-Glauben und
erhebt seinen Gott nur um so höher, indem er ihn in eine dem
Rechtsverhaltniss unnahbare Transcendenz versetzt. Das Leid
der Welt soll als Gottes unerforschbarer Wille aufgefasst werden,
und soll nicht Gegenstand der Klage sein, denn der Mensch ist zu
klein, dieWege des grossen Gottes zu durchschauen.**)
Möglich ist es immerhin, dass dem Dichter die Erkenntniss
aufdämmerte, dass des Lebens Uebel und Leiden noth wendig mit
dem Dasein selbst gesetzt seien, ihre nothwendige Stellung in dem
Zusammenhang der Weltbewegung haben und darin ihre (relative)
Berechtigung finden. Zum Ausdruck kommt diese der Zeit des
Dichters jedenfalls ganz ungeläufige Auffassung aber nicht; das

*) Der Dichter giebt uns


die Versicherung, dass es wirklich so sei, dass
nicht nur Hiob sich in Selbsttäuschung befand, indem er in dem
eitler
„Vorspiel im Himmel" Gott selbst dem Hiob das Zugeständniss der Ge-
rechtigkeit machen lässt (I, 8).
**) Dem raisonirenden Geiste ist dies freilich kein Trost, nicht einmal
ein endgültiger Ruhepunkt für das Denken, sondern bestimmt, später wieder
ein Object der pessimistischen Betrachtung zu werden. Dagegen kann sich
allerdings ein schon vorher zu mystischer Gottinnigkeit neigendes Ge-
müth damit beruhigen. Die Befriedigung gebenden Momente sind aber
erstens, die grössere Erhabenheit seines Gottes, zweitens das Bewusstsein
aus eigenster Einsicht zu dieser Erkenntniss gekommen zu sein, welches
für den mystisch Erregbaren ein tieferes Eindringen in die Gottheit selbst
darstellt. —
Das Euch Hiob und der Prediger Salomonis. 41

einzige ist, dass die Worte, die er seinen Helden, sowie Gott bei

der jenem zuletzt zu Theil werdenden Offenbarung, sprechen laset,


diese Deutung nicht direct ausschliessen.
Was dagegen der Dichter als das Auszeichnende an Hiobs
Gotteserkenntniss anerkennt, das ist eben diese Heraushebung Gottes
aus dem Abhängigkeitsverhältniss von der menschlichen Anschauung
von Recht und Gerechtigkeit; dies legt er wieder Gott selbst in
den Mund als Anerkennung von Hiobs gutem Bestehen der Prü-
fung. Dann aber ganz besonders in dem pessimistischen Wahr-
heitsmuthe, welcher furchtlos auf sein gutes Gewissen baut und
es wagt, unbewegt sowohl von dem landläufigen Glauben, als von
der subtileren Auslegung des jungen Elihu (der das Unglück des
Tugendhaften als Warnung, nicht übermüthig zu werden, verstanden
wissen will*), es auszusprechen: dass Gott zwar allerdings den Sünder
straft, auch über den Gerechten Leid schickt; warum? das
aber
mensch-
bleibt verborgen, Gott steht nicht Rede, weil er über jeden
lichen Maasstab erhaben ist.
Die pessimistische Erkenntniss bleibt bestehen, auch wenn
Hiob, nachdem ihm Gott selber seine Grösse vor Augen gestellt
hat, sein Hadern bereut; und wenn nun zum Schluss der Dichter
Gott erklären lässt: die drei Freunde Eliphas, Biddad und Zaphor
hätten „nicht recht von ihm geredet" wie Hiob, so ist mit des
letzteren „ recht reden" doch wohl Hiobs pessimistisches Bekennt-
niss gemeint, denn an Lobeserhebungen Hessen es die andern, be-
sonders auch der junge Theologe Elihu, wahrlich nicht fehlen.
Eine Inconsequenz ist es nun aber, wenn der Dichter am
Ende sich doch wieder dadurch zur Lohn- und Straf-Theori e be-
kennt, dass er dem Hiob zur Belohnung seiner Treue zu Gott von
diesem wieder mit neuen Gütern und Kindern beschenkt werden
lässt, statt seine vertiefte Gott-Innigkeit als hinlänglichen Gewinn
seiner Heimsuchung darzustellen, ähnlich jener Gesinnung des
Sängers des 73. Psalm, wo es heisst: „Wenn ich nur Dich habe,
so frage ich nichts nach Himmel und Erde; ob mir gleich Leib
und Seele verschmachtet, so bist Du doch, Gott, meines Herzens
Trost und Theil."
Vielleicht möchte uns hier der Einwand gemacht werden, der
Gewinn der pessimistischen Erkenntniss des Hiobs sei die ge-
wonnene Hoffnung auf eine Zukunft nach dem Tode. Aber
die betreffende Stelle (XIX, 25, 26*, 27) steht nicht im Einklang
mit der ganz aufs Immanente beschränkten Weltanschauung alles
Uebrigen und im stricten Gegensatz zu verschiedenen ganz un-
zweideutigen Stellen, welche ganz im Sinne des Mosaismus nichts

*) XXXIII, 16 u. folg.
42 Der Pessimismus im Judenthum.

von einer lebendigen Fortdauer nach dem Tode wissen (VII, 9 und
XIV, 10, 11, 12), so dass hier ohne Zweifel eine nachträgliche
Einschaltung stattgefunden hat. Die Zeit, wo allmählich — und
wahrscheinlich durch asiatische Einflüsse beschleunigt und historisch
vermittelt — der eudämonologische Trieb sich vor der aufdrängen-
den pessimistischen Erfahrung in die Hoffnung transcendenter Herr-
lichkeit flüchtete, mag derjenigen der Entstehung des Baches Hiob
nicht ferne liegen; Hiob jedoch hat noch nicht in dem Grade mit
dem Optimismus seines Väterglaubens gebrochen, um einer solchen
Rückzugsposition zu bedürfen.
Seine Weltanschauung ist nämlich nur insofern pessimistisch
gefärbt, als er die Ohnmacht und Rechtlosigkeit gegenüber der
göttlichen Schicksalsfügung erkennt; nicht aber in dem Sinne, dass
er an dem eudämonologischen Werthe der sogenannten „ Lebens-
güter " zweifelte. Gesundheit, Reichthum, Ehre vor den Menschen,
Bevorzugung vor andern, Armen, deren Existenz gleichsam als
Folie gefordert erscheint, Liebesbefriedigung und sinnliche Genüsse
aller Art, werden bis zu Ende als vollgültig anerkannt. Kein
Ahnen drängt sich ein, dass auch ihr Werth nur ein relativer sei,
dass auch diese Güter das tiefste Sehnen des Herzens nie voll-
ständig und auf die Dauer zu stillen vermögen. Dabei werden
die, die Lebensgüter vorstellenden Objecte ganz entsprechend dem
uns im Mosaismus so unangenehm berührenden Egoismus nur allein
danach geschätzt, wie sie auf das redende Subject, dem sie Object
sind, wirken, nicht wie sie für sich selbst Subjecte sind: Hiobs
Heerden werden fortgetrieben, die Hüter, seine Diener und Sklaven
werden erschlagen — kein Mitleid mit deren Loos erschüttert
ihn, denn er schätzt deren Leben nur nach seiner Relation zu
ihm. Erst als Krankheit und Schmerzen ihn selber packen, erst
als sein Stolz durch seine ihm an Roheit des Gefühls und Selbst-
sucht gleiche Umgebung gekränkt wird, erst da gehen ihm die
Augen auf über die Beschaffenheit des Lebens und er giebt sich
an's Klagen.
Bedeutend näher dem modernen Bewusstsein steht die pessi-
mistische Lebensanschauung des „Prediger Salomonis".
Der Prediger theilt mit dem Hiob die dem Mosaismus und
orthodoxen jüdischen Dogma fremde Einsicht: dass Glück und
Unglück nicht im Verhältniss von Gerechtigkeit oder Sünd-
haftigkeit vertheilt sind, sondern dass andere, unerkennbare Gründe
für die Vertheilung der Geschicke vorhanden sein müssen. (IX, 1, 2.
11); aber er ist weitaus pessimistischer gesinnt als Hiob, denn die-
jenigen Zustände und Objecte, die letzteren noch als eudämono-
logisch vollgewichtig gelten, erscheinen dem Prediger als „eitel"
und nichtig, nicht ein Armer, Kranker, Verachteter klagt im
Das Buch Hiob und c'er Prediger Salomonis. 43

„Prediger" die Welt an, sondern Einer, über den das „Glück"
sein Füllhorn ausgeschüttet hat, erkennt, dass dasjenige, was man
eben „Glück" nennt und als Güter erachtet, doch nicht das Herz
zu befriedigen im Stande ist. Der Prediger besitzt Reichthum,
Macht und das Wissen seiner Zeit;*) was die Kunst zu bieten hat,
kann er sich aneignen,**) jedem Gelüste seiner Sinne kann er Ge-
nüge thun, und er geniesst es auch im Bewusstsein, dass es sich
so gehöre, als Lohn seiner Arbeit.***) Denn er will nicht nur
passiv empfangen, er greift kräftig an, um die Lustquellen zu
mehren: baut Häuser, pflanzt Weingärten, legt Teiche an, daraus
zu wässern die Haine und die Fruchtbäume, f) Aber all dies
Streben und Gewinnen befriedigt il n nicht, sein tiefstes Sehnen
bleibt ungestillt. Er, der Wissende, der Reiche und Mächtige fühlt
sich in seinem Herzen nicht besser gestellt als „der Narr"; er,
der „im Lichte" ging, fand mit Mühen und Sorgen nicht mehr
„als der Narr, der im Dunkeln ging", d. h. wie der, welcher sich
von der Forderung des Augenblicks lenken lässt, ohne um die
Zukunft zu sorgen. Wie dieser gewinnt er nichts als eben die
Existenz ff), und diese ist eitel, „ganz eitel" (ich sah Alles, das
unter der Sonne geschiehet und siehe es war alles Eitel und
Jammer, I, 4). Das Wissen zu mehren ist erst recht eitel; denn
nicht nur macht die Arbeit des Erringens Mühe, sondern man
bringt sich dadurch um die Hoffnung.
Aber selbst wenn die Lebensgüter Behagen erzeugen, so tritt
nun ein anderer Feind auf, ein Feind, der so recht aus der Mitte
der Festungen des Optimismus hervorwächst: die allem anhaftende
Vergänglichkeit, ff f) Die Vergänglichkeit wird aber dem Prediger
noch dadurch ganz besonders fatal, dass wenn er selber ihr zum
Opfer gefallen sein wird, dann e'in Anderer benutzen soll, was er
mit Mühe und Arbeit errungen hat.*f)
So ist denn das Leben schlimm und fast möchte man die
Todten für die Begünstigteren halten, den Tag des Todes für preis-
werter als den Tag der Geburt. Die Todten sind der Last des
Lebens enthoben, aber freilich auch des Lebens Macht und da-
her ist eigentlich „ein lebender Hund mehr als ein todterLöwe" **f);
am besten daran aber ist jedenfalls der, der noch nicht ist.f*)
Martens en in seiner „christlichen Ethik" nennt den Prediger
das klassische Beispiel des zum religiösen Optimismus verklärten
Skepticismus. Diese Ansicht können wir nicht theilen. Der Prediger
hält allerdings fest am Glauben seiner Väter, indem er trotz der
Beobachtung, dass auch der Gerechte leidet, schliesslich doch an

*) II, 7, 8, 9. **) II, 3. ***) II, 10. f) II, 4, 5, 6. ft) H, 4.


ttt) HI, 19, 20, 21, 22. *t) II, 18, 21. **f) IX, 4, 6. f*) IV, 2, 3.
)

44 Der Pessimismus im Judenthum.

der Meinung festhält, dass der Gottlose erst recht übel wegkomme,,
und dass das kleine Restchen Lebensgenuss, den er, wie wir gleich
sehen werden, sich doch noch zu retten hofft, durchaus nichts so
selbstverständliches, sondern immerhin noch ein besonderes gnädiges
Geschick ist. Er empfiehlt daher als das immerhin lohnendste:
den Wandel in der Furcht Gottes und im Gesetz. Aber nicht um
der Gottseligkeit selber willen, nicht aus gottliebender Sehnsucht
nach dem Unendlichen; denn obgleich er die pessimistische Er-
kenntniss als solche für relativ werthvoll erachtet, indem „Trauern
das Herz bessert",*) so will er für seinen Theil sich doch nicht
bei dieser Erkenntniss resigniren, sondern ein positives eudämono-
logisches Resultat schliesslich doch noch retten. Das Ziel, welches
er sich nach Verzicht auf sein bisheriges Ideal des allseitigen sich
Auslebens und Auswirkens setzt, ist ein sehr bescheidenes und dein
religiösen Standpunkt schnurstracks zuwiderlaufendes. Der Prediger
will sich mit den primitiven sinnlichen Genüssen, mit Essen und
Trinken und der Freude mit seinem Weibe begnügen, um (ganz
im Widerspruch mit dem oben angeführten Lob der pessimistischen
Erkenntniss) des Lebens Jammer im Naturgeniessen zu ver-
gessen.**) Arbeiten stärkt den Appetit und macht die Ruhe süss T
daher will er auch arbeiten, aber nicht zu viel, denn eine Handvoll
mit Ruhe ist besser als zwei mit Mühe,***) und mitnehmen, wenn
er stirbt, kann er ja doch nichts, —
diejenigen aber, die nach ihm
kommen, die kümmern ihn nicht.
Es erhebt sich also zwar der Prediger zur genügenden Klar-
heit, um überall die das Leben begleitende Unlust zu erkennen,,
aber er vermag sich nicht zu einem andern Standpunct aufzu-
schwingen, einen andern Maassstab und Werthmesser des Lebens,
Thuns und Strebens zu finden als den individual-eudamonistischen.
Er hat keine Zukunftsideale, denn er kennt keine Entwicklung:
das Morgen ist wie das Heute und es giebt nichts Neues unter der
Sonne, f
Die pessimistische Weltbetrachtung ist in den beiden behan-

*) VII, 4, 5. **) III, 12, 13. V, 17, 18, 19. VII, 15. VIII, 15. IX, 9.
***) V, 6.
t) Man
könnte den Prediger Salomonis als Illustration zu Abschnitt I, 3
und des ersten Theiles der „Phän. d. sittl. Bewusstseins" von E. von
II, 1
Hartmann benutzen, bezüglich des Ueberganges vom (Pseuclo-) Moral-
Prinzip des Individual-Eudämonismus zum heteronomen Princip des
göttlichen Willens; derart, dass beim Prediger das erste Princip noch fest-
gehalten, der Egoismus dem heteronomen Princip noch nicht rücksichtslos
geopfert wird, sondern im Hintergunde bestehen bleibt, da,s heteronome
Princip in der Form des „Gesetzes" aber der Handlungsweise als Richt-
schnur dienen muss; und. zwar auf Grund der Verzweiflung an der
directen Realisationsmöglichkeit des ersten eudämonologischen Princips. —
Das Buch Hiob und der Prediger Salomonis. 45

delten Fällen eine rein empiristische. Beim Hiob liegt der Schwer-
punct des pessimistischen Bewusstseins darin, dass das Verhältniss
von Wohlergehen und Unglück kein dem menschlichen Begriff' von
Gerechtigkeit entsprechendes ist; beim Prediger gesellt sich die
weitere Einsicht hinzu, dass auch das gute Geschick, die verhält-
nissmässig mit hohen Glücksgütern gesegnete Existenz nicht das
letzte, tiefste Sehnen des Menschen zu befriedigen vermöge. Nach
beiden Seiten hin aber wird dieser neue Bewusstseinsinhalt nicht
Ausgangspunct neuer Ideengänge, weder über die Natur des Seins,
noch über das Verhältniss des Menschen zum Gotte des Dogmas.
Dem Judaismus wie dem Mosaismus ist die Welt von
Gott zu seiner Ehre und seinem Vergnügen geschaffen und das
jüdische Volk ganz speciell das Volk Gottes. Kein politisches
Missgeschick, kein sociales Elend vermochte den gewaltigen Opti-
mismus-Instinct dieses Volkes zu Boden zu drücken, und wo die
Wirklichkeit in zu grellem, hohnvollen Gegensatze stand zu
diesem stolzen Glauben, da ergriff man mit den Fangarmen der
Sehnsucht das verheissene zukünftige Gottesreich. Dieses wurde
um so jenseitig -luftiger, je weniger Anhaltspuncte die Gegenwart
zum Anknüpfen realistischer Hoffhungen bot, und es wurde um so
glanzvoller, um so seligkeitsreicher von der Phantasie ausgebaut,
je transcendenter es sich gestaltete: der Schein schien um so glän-
zender je mehr ihm das Sein abhanden kam.
Dass das Buch Hiob und der Prediger unter die heiligen
Schriften aufgenommen wurde, zeigt, dass ihre pessimistischen Be-
kenntnisse von der geistigen Macht des jüdischen Volkes als W
ahrheit
anerkannt wurden, aber man schloss die Augen vor demjenigen, was
sich logischer Weise für die Theologie hätte daraus ergeben sollen.
Nicht im speculativen Sinne wurde der neue Bewusstseins-
inhalt verwerthet, sondern nur im Interesse der Klugheitsmoral.
Der im Prediger Laut gewinnende empirische Pessimismus hat
jene Lebensweisheit gezeitigt, wie sie Jesus Sir ach lehrt.
Man kann dieselbe ein Anologon zum Epikureismus nennen;
die Unterschiede wachsen unmittelbar aus den Verschiedenheiten
des Volkscharacters der Juden und Griechen hervor: dort der
Idealismus der Religiosität, hier Idealismus des Kunststrebens und
der Cultus des Schönen; dort ein starkes Solidaritätsgefühl ge-
gründet auf den gemeinsamen Gottesglauben und auf die Illusion
einer besondern göttlichen Bevorzugung, hier der Stolz auf eine
specifische Civilisation und höchste Cultur. Gemeinschaftlich aber
ist der jüdischen Klugheitsmoral und dem Epikureismus das Fest-
halten des Eudämonismus und das ängstliche Bemühen durch sorg-
fältige Sicherung relativer „Werthe" und „ Güter" dem natürlichen
Leben einen selbstständigen Werth für das Individuum zu
46 Der Pessimismus im Judenthum.

retten. Das „Wie" des eudämonologischen Rettungsversuches ist


nun freilieh wieder bestimmt durch die nationale Verschiedenheit:
bei den Juden ist es das genügsame sich Versenken in das sinnliche
Geniessen,*) bei den Griechen wird das Natürliche künstlerisch
verklärt; beide fügen sich klug in die Sitte, nicht aus Ehrfurcht
vor derselben, sondern weil dieselbe dem individuellen Zweck eines
von den Menschen wie von den Göttern unangefochtenen Lebens
dienlich erkannt wird.
Hat sich das Judenthum als solches nun zwar auch durch
das Zusammentreffen eines starken religiösen Pietätgefühls gegen
seinen Gott-Liberator und durch eine gesunde Genussfähigkeit des
primitiv Natürlichen den Optimismus durch alle Anfechtungen
hindurch zu wahren gewusst, so hat es doch auch ein eigenthüm-
liches pessimistisches Dogma vom Christen-
in sich gezeitigt, welches
thum adoptirt bis zur Stunde innerhalb des letzteren noch ge-
glaubt und bestritten und zum Object theologischer Spitzfindig-
keiten gemacht wird.
Wir meinen die Lehre vom Sündenfall. Nach der indischen
Religion das absolute Göttliche selbst, welches die Schuld des
ist es
Seins als die Ursache des Uebels der Welt begangen hat; nach
dem persischen Glauben ist das Uebel nach rückwärts gleich ewig
wie die weltschaffende Gottheit; nach der egyptischen Kosmologie
ging der Weltschöpfung ein Abfall der Geister von der obersten
Gottheit voraus und die Schöpfung ist der Ort ihrer Reinigung
und Sühne. Nach dem Mosaismus und Judenthum aber ist die
Welt das wohlgerathene Product Gottes und die Uebel sind durch
menschliche Verschuldung nachträglich hineingekommen.
Diese Lehre ist ursprünglich optimistisch, da sie der in-
stinctiven Werthschätzung des Daseins Rechnung trägt, eine
Werthschätzung, welche wiederum insofern ihre natürliche Be-
rechtigung hat, als der urtheilende Mensch eben selbst zur Welt
gehört und im allgemeinen Seinswillen sein individueller Wille
mit eingeschlossen ist. Aber während sie den relativen Werthen
des Lebens und dem Lebenswillen sein natürliches Recht sichert,
wird sie für das religiöse Bewusstsein unvergleichlich be-
lastender als eine Theorie des Uebels, welche dessen Ursprung
vor die Entstehung der Menschen setzt und somit die Menschheit
nur zum partiellen Mitträger der Schuld macht.
Das Dogma, so fatal es sich in der Folge für den Theismus
vor dem Richterstuhl der Kritik erweist, ist doch für den anfäng-
ichen naiven, dualistischen Monotheismus (wo die Schöpfung als
von Gottes Wesen verschieden und getrennt erscheint) ganz natür-

*) XIV, 11-21. XXXI, 24-27. XXXVIII, 16 -22.


Das Buch Hiob und der Prediger Salomonis. 47

lieh und begreiflich: einerseits gegenüber der Thatsache des reli-


giösen Phänomens, dass der zum Begriff von gut und böse ge-
langte Mensch sich schuldbeladen fühlt; und zum andern aus der
Nüchternheit, dem gänzlichen Mangel an metaphysischer Gestal-
tungskraft des israelitisch-jüdischen Volkes. Dass die orientalische
und egyptische Idee vom Fall der Geister schon bei ihrer primi-
tivsten Gestaltung mitgewirkt hat, geht aus der späteren künst-
licheren Entwickelung des Dogmas hervor; der Sündenfall wie er
Mosis I, 3. Cap. erzählt wird, ist aber nur die nüchternste,
poesielose und zum kindischen abgeblasste Wiedergabe des tief-
sinnigen Mythos vom Abfall der Geister von ihrem ewigen in
sich selbst Ruhen im göttlichen Urgründe.
Das Dogma hat im Mosaismus und Judaismus ziemlich latent
gelegen. Es hat mehr nach seiner optimistischen Seite hin ge-
wirkt, indem es Gott in seiner vollen Erhabenheit Hess, ohne dazu
zu nöthigen, diese dadurch zu conserviren, dass man ihn zu sehr
und zu vorzeitig für die religiöse Entwickelung der Massen der
empirischen Welt entfremdete. Seine deprimirende Wirkung,
wodurch das, was anfänglich ein Product der pessimistischen Er-
kenntniss war, nun selber zu einem ideellen Object wurde, welches
Leid, Trauer und Schreck gebar und mannigfach zum Hemmschuh
der geistigen Entwickelung wurde, trat erst nach seiner Aufnahme
und Verwerthung im Christenthum hervor. Allerdings nicht ohne
dass auch seine das religiöse Leben befördernde Eigenschaft in
Action trat, indem es die Innerlichkeit des Menschenwesens in's
Centrum der Weltnatur setzte und dem Menschen mit der Ver-
stärkung des Schuldgefühls auch die Erlösungssehnsucht steigerte,
und zwar transcendirt aus der jüdischen Aeusserlichkeit eines
irdischen Gottesreiches in den Begriff einer seelischen Wiederver-
einigung mit dem absoluten Geiste.
IL Capitel.

Der Pessimismus innerhalb des


Christenthums.
i. Weltmüdigkeit.

Als Jesus zu lehren begann, war unter dem Volke der Glaube
schon sehr verbreitet, dass die Welt alt und zum Untergang bereit
sei und nicht mehr lange bestehen könne. Die socialen Verhält-
nisse waren gespannt und unerquicklich, sowohl in Folge der poli-
tischen Zustände , als auch durch die religiöse Ausgestaltung des
Judenthums, welches mit seiner Verknöcherung im Ceremonialdienst
dem nach Trost und Erhebung hungrigen Volke nur einen Stein
statt des Brodes zu bieten hatte. Pessimistische Anschauungen
waren allgemein und die Aufforderung zur Busse, die Johannes
predigte, zeigt, dass das irdische Leben als durchaus gegensätzlich
zu dem zu kommenden Himmelreiche erachtet wurde. Bei Jesus
und seinen unmittelbaren Jüngern und Bekennern war das Ver-
hältniss zwischen der Welt und dem Himmelreich noch ganz das
gefühlsmässige des wirklichen, ursprünglichen, religiösen Erzeugungs-
actes: die W'eltmüdigkeit erzeugte die Himmelssehnsucht, die sich
Genüge schaffte in einem Glauben, der die Welt mehr durch Ver-
gessen negirte, als dass er sie ohne weiteres zu einem Gegenstand
des Schreckens und Abscheus machte. Das junge Christenthum
ist pessimistisch, weil es die Welt (so wie seine Bekenner sie er-
fahren haben) als werthlos, als das tiefe Sehnen des Herzens und
das Hungern und Dürsten der Seele nicht stillend erkannt haben.
Die junge Glaubensgenossenschaft missachtet die Welt, sie
fürchtet sie aber nicht. Jesus und seine Jünger hatten nicht
nöthig zu fasten und sich zu kasteien, um Pessimisten zu sein; sie
assen und tranken normal, und der Wein zu Kanaan zeigt, dass
auch die Unterschiede zwischen den Producten nicht übersehen
Weltmüdigkeit 49

wurden; aber die relativ guten Momente hinderten nicht das Welt-
verdammungsurtheil.
Dies änderte sich aber rasch genug; sobald der Glaube an die
Botschaft vom nahen Himmelreich nicht mehr ein Werdeprocess,
sondern ein Gewordenes war, wurde er auch Object der Reflexion
und nun wurde die den Urbekennern gleichgültige und unschäd-
liche Welt ein feindliches Object, sobald es galt, das für sich
Gewonnene Andern. mitzutheilen. Nicht Allen schien es so selbst-
verständlich der Welt praktisch zu entsagen, selbst wenn man sie
der Theorie nach gering schätzte; insbesonders der römischen Cultur
war es eigen, Weltverachtung mit Weltgenuss zu verbinden;
der Gebrauch der Weltgüter war zur andern Natur geworden und
das als eudämonologisch werthlos Erkannte war doch durch die
Gewohnheit eine Macht geworden, von der loszukommen schwer war.
Sobald innerhalb der jungen Glaubensgenossenschaft damit be-
gonnen wurde, die Errungenschaften des zu neuer Stufe vorge-
schrittenen religiösen Bewusstseins zu sichten und zu ordnen, so-
bald die einzelnen Momente der Lehre Jesu und der Apostel in
Verbindung gesetzt wurden, d. h. also: sobald sich die Dogmen zu
krystallisiren begannen, sammelte sich in dem Christenthum, wie
in einem Brennspiegel, alles was jüdische Dogmatik und alexandri-
nische Philosophie zur Discreditirung der Welt, der Natur im
engern Sinne und der plrysischen Natur des Menschen aufgebracht
hatten. Das Resultat war eine absolut unausfüllbare Kluft zwischen
allem Natürlichen einerseits und der Religion und deren Organi-
sationen andererseits. Die Welt, die bloss missachtet worden war,
wurde nun gefürchtet, nachdem sie geradezu zum Reich des Bösen
gemacht worden, in welchem nun auch diejenigen Factor en, welche
bisan als relative Güter erachtet wurden, zu erst recht gefähr-
lichen Fallstricken und Angelhaken des Widersachers Christi ge-
stempelt worden waren. Erst einer spätem Entwickelungsstufe des
Dogmas wurde es wieder möglich, zwischen der zwar in Folge des
Sündenfalls corrumpirten Natur und der eigentlichen Sündenbethä-
tigung des Menschen zu unterscheiden, wodurch dann natürlich
auch wieder ein günstigeres, milderes Licht auf die Natur als
solche fiel.

Dieser Pessimismus nun, der sich nicht begnügte, das Er-


fahrene zu constatiren, sondern metaphysische Erklärungen für das-
selbe aufstellte, hatte die Eigenschaft, selbst einen neuen Factor
in der leidvollen Beschaffenheit des Seins zu bilden; zuerst nur
des inneren, des gedanklichen Lebens, dann aber selbstverständlich
auch des äusseren Thatlebens, wie ersteres es motivirte. Es wurden
die Lehren von der Verderbniss der Natur durch den Sündenfall,
von der Erbsünde, vom Tode als der Sünde Lohn, vom Gegensatz
Plümacher, Pessimismus. 4
50 Der Pessimismus innerhalb des Christenthums.

der fleischlichen und geistigen Natur des Menschen und endlich


vom Satan und den Dänionen zu ideal -realen Factoren des
Lebens, und sonnt wurden Gebilde des Denkens und der Phantasie,
die sich ursprünglich aus vereinzelten pessimistischen Betrachtungen
des inneren und äusseren Lebens entwickelt hatten, secundär nun
selbst zu einer schier unerschöpflichen Quelle seelischer Leiden und
vernunftwidriger Lebensgestaltungen. Natürlich war damit auch
ein pessimistischer Multiplications-Process eingeleitet: Die durch
solche Phantasiegebilde verunzierte Welt war nun erst recht zu
fürchten und zu verdammen, und weil es nun so war, so wurde
auch der Teufel immer schwärzer, bis es endlich auch hier zur
glücklichen Wahrheit wurde: dass all zu scharf schartig macht.

2. Der Gnosticismus und der Pessimismus.

Die Gnosis ist Religionsphilosphie; sie geht vom Glauben


aus, dass die Grunddogmen des primären Christenthums : die
Messianität Jesu Christi und die durch seine Lehre und seinen
Tod vermittelte Erlösung der Welt in dem stricten Sinne Wahr-
heit seien, dass diesen Ideen und Vorstellungen objective, trans-
cendent-reale historische Vorgänge und Verhältnisse des Absoluten
zur Welt entsprechen; es ist aber das Ziel der Gnosis, diesen
christlichen Glauben auf dem Wege der Philosophie zum Wissen
zu erheben. Die Vertreter der Gnosis sind aus dem Ideenkreis der
alexandrinischen Religionsphilosophie hervorgegangen; in ihrem
religiösen Empfinden von der christlichen Erlösungslehre subjectiv
ergriffen, können sie doch nicht mit ihrer philosophischen Methode
der Speculation brechen, sondern bemühen sich die Ideen der letztern
mit den Vorstellungen des Christenthumes zu verschmelzen, dieses
durch jene zu begreifen.
Die Gnosis setzt die drei Religionsformen, die in dem Lande,
wo sie sich entwickelte, beständig zu Collisionen führte: Das Heiden-
thum, Judenthum und Christenthum derart in Verbindung, dass jede
als Repräsentant eines Theiles des Objectivseienden — resp. gewesenen
— gehalten wird; sie fasst das Absolute und das religiöse Wissen und
Glauben derart in Wechselwirkung, dass die letzteren das nöthige Er-
gänzungsmoment der Entwickelung des Göttlichen, als des sich in der
Welt selbstgebärenden Absoluten ist. Jeder Stufe des religiösen
Bewusstseins entspricht ein Moment im absoluten Sein, welches ein
innerhalb der Einheit vielgliedriges ist. Die verschiedenen Religionen
sind also alle relativ wahr, jedoch das Heidenthum und das Juden-
thum auch relativ unwahr, insofern als sie niedrige, untergeordnete
Der Gnosticismus und der Pessimismus. 51

Momente des göttlichen Seins zu dem Absoluten machen. Die


Gnostiker sind, wie ihre christlichen Zeitgenossen alle, und der aller-
grösste Theil der Bildungsträger ihrer Zeit überhaupt, durchdrungen
von der pessimistischen Empfindung der Grösse des Unterschiedes
zwischen der empirischen Welt und dem im Sehnen und Glauben er-
griffenen göttlichen An-Sich, und bemühen sich, die das Begreifen er-
möglichenden Mittelglieder zwischen dem ewig in sich ruhenden
Uebersein und der Erscheinungswelt und dem menschlichen Be-
wusstsein zu finden. Sie theilen mit den Christen die Weltver-
achtung und die Sehnsucht nach einem sowohl allmächtigen als
auch allgütigen Gotte, sowie nach der Erlösung der Welt; aber
ihr philosophisch geschulter Geist vermag sich nicht über den
Widerspruch hinwegzusetzen, dass der allmächtige und allgütige
Gott eine so mangelhafte, des Sündenfalles fähige Welt hervor-
bringen konnte.
So bildet der Pessimismus die Achse ihrer Speculationen, in-
dem es gilt Sünde und Leid in Einklang zu bringen mit der be-
grifflich dasselbe ausschliessenden Natur Gottes. Der Gnostiker
kann nicht wie der naive Christ, der Mann aus dem Volke, die
Sünde und das Uebel einfach auf die Erbsünde, diese auf die Frei-
heit des Menschen einerseits und die Verlockung des Bösen ander-
seits zurückführen, sondern es handelt sich für ihn um die Mög-
lichkeit der freien Entschliessung zum Bösen und um das böse
Princip selbst. Das ist nun nichts anderes als die Aufgabe der
Theologie überhaupt, das besondere aber ist: die Lösung vermittelst
einer Vertiefung und Erweiterung des Begriffes vom gött-
lichen Sein zu mit welcher Erweiterung aber einerseits
finden,
eine inhaltliche Entleerung stattfand, andererseits aber eine üppig
ins Kraut schiessende Begriffs-Hypostasirung —
im Sinn der
orientalischen Religionsphilosophie —
möglich wurde*)

*) „Alle diese Systeme (der Gnostiker) ihrem allgemeinen Charakter


nach betrachtet .... tragen im allgemeinen denselben Charakter an sich,
ihr Princip ist dasselbe und die Momente, durch die sie sich in ihrer Ent-
wickelung hindurchbewegen, sind dieselben. An der Spitze der Systeme
steht der absolute Geist, wie er an sich ist, in seiner reinen Abstractheit
und Objectivität. Die Aeonen in welchen im valentinischen System der
,

eine Uraeon sich selbst reflectirt, sind nichts anderes, als die reinen Ge-
danken, die reinen Wesenheiten, in welchem der Geist sein eigenes Wesen
denkt, die reine Selbstbewegung des an sich seienden geistigen Lebens. Im
pseudoclementinischen System ist wenigstens die Sophia, die als die mit Gott
selbst identische Seele mit ihm verbunden gedacht wird, und dasMarcionitische
charakterisirt seine Eigenthümlieheit eben dadurch, dass es den höchsten un-
sichtbaren Gott ohne allen objectiven Inhalt setzt, als eine blosse Abstract-
heit desBewusstseins. In den Aeonen des Valentinianischen Systems manifestirt
sich zwar in der Einheit auch schon die Verschiedenheit, der Unterschied des
Geistes an sich, alsüebergang zum Anderssein und zur Verendlichung, aber es
3*
52 Der Pessimismus innerhalb des Christenthums.

Bezüglich der Materie, als dem Substrat der empirisch-sinn-


lichen Welt und dem Träger der Leiblichkeit, gehen die verschie-
denen Systeme der tonangebenden Gnostiker auseinander: nach den
einen ist die Materie gleich ewig wie Gott (Marcion), nach andern
ist sie von Gott geschaffen; sie ist aber auch in diesem Falle nicht
sowohl ein bezweckter, berechtigter Träger gewisser Lebensformen,
als ein dem Lebensprocess Gottes nothwendiger Ausscheidungsact
eines im Absoluten enthaltenen negativen, das heisst zum Geist im
Gegensatz stehenden Momentes.
Der Unterschied in der Stellung der Materie —
diese ein-
mal gegeben —
in der empirischen Welt ist daher nicht so gross
als es scheinen möchte. In beiden Fällen ist die Materie (besonders
als „Fleisch") der Gegensatz zum Geistigen und somit der Träger
und Vermittler immer weiterer Abkehr vom Urquell des Göttlichen.
Das in die Augen fallendste Unterscheidungsmoment der ver-
schiedenen Richtungen der Gnosis ist deren Stellung zum Heiden-
thum und Judenthum. (Dieses Merkmal benützt Baur
in seinem
Werk über die Gnosis.)
Die erste Gruppe bildet die valentinische Gnosis (Valentin,
seine Schüler Ptolomeus, Markus; ausserdem als selbstständige
Systeme gleicher Richtung Basilides, Saturnin und Bardesanes),
in dieser wird ganz besonders dem Heidenthum —
d. h. der griech.
religiösen Philosopie — Rechnung
getragen. Das System Marcions
ist von unserem Standpunct aus besonders interessant, indem darin die
pessimistische Weltbetrachtung ihre eigenthümlichste Blüthe trieb.
Marcion trennt das Christenthum nicht nur strenge vom Heiden-
thume, sondern auch vom Judenthume. Nach Marcion ist es des
letztern Irrthum, dass es den Demiurgos, den Weltordner und
Weltregierer, als den höchsten Gott, als das Absolute glaubt,
während er doch nur einer der letzten Aeonen ist, dessen Eigen-
schaften so tief unter Gott stehen, dass er denselben nicht einmal
zu erkennen vermag. Der Demiurgos ist der Gerechte, Gott
aber der Allgütige. Die Propheten sind daher falsche Pro-
ist
pheten, d. h. sie sind eben die Gesandten des Demiurgos; es wird
die Opposition gegen das Judenthum so scharf, dass die von dessen
Standpunct aus Gerechten, als die von Gott Entfremdeten, die aber
dem „Gesetze" Ungetreuen als die, der Offenbarung des wahren

gilt hier was Hegel von Gott sagt, sofern er in seiner ewigen Idee
ganz,
an und für im Element des Gedankens betrachtet, so zu sagen vor
sich,
oder ausser der Erschaffung der Welt ist, in seiner Ewigkeit, als die ab-
stracte Idee, dass Gott zwar ewig sich unterscheidet, was aber sich so von
sich unterscheidet,doch nicht die Gestalt eines Anderseins hat, sondern
das Unterscheidende nur das ist, von dem es geschieden worden ist."
Baur; „"Die christliche Gnosis" p. 675.
Der Gnosticismus und der Pessimismus.

Gottes näher Stehendeii erachtet werden. Der Gott des Christen-


thums ist der Gott des alten Bundes, sondern das
nicht
Absolute, welches in Christo, einem der ersten Aeonen, sich selbst
offenbarte, indem es sich mit dem Menschen Jesu vereinigte. Ent-
sprechend dem Glauben an den niedrigen Stand des Weltschöpfers
und an die Identität der Materie mit Satan (dem Urbösen) ist der
Marcianismus in der Praxis absolute Weltflüchtigkeit.
Hiegegen polemisiren die pseudo-clementinischen Homi-
lien, die aber selbst zur Gnosis zu rechnen sind. Hiernach ist
der gerechte Gott des Judenthums und der allliebende des Christen-
thums nur Einer, und dieser ist der Weltschöpfer, der auch die
Materie erschuf. Aber es sind verschiedene Seiten des Ab-
soluten, welche in den verschiedenen Religionen zum Ausdruck
gelangen. Die Welt ist freilich das Ausser-göttliche, aber nicht
das schlechthin Böse, und daher ist nicht Weltflucht, Askese, Ehe-
losigkeit u. s. w., wie Marcion lehrte, sondern Verethisirung
des Natürlichen, wie auch schon das Judenthum es erstrebt, das
Richtige. Es repräsentiren hiermit diese Homilien einen wohlbe-
rechtigten relativen Optimismus. Aller Gnosis ist die Emanations-
Idee eigen; das Absolute, die höchste, rein in sich seiende (über-
seiende) Gottheit, ausser der nichts ist (ausser nach einigen Systemen
die Negationen desselben, die Materie vhq), entlässt aus sich eine
Reihe von Personen (Aeonen), in denen allen sie zwar weset, aber
nicht mehr als es selbst, sondern als ein sich selbst fremd gewordenes.
Am meisten solcher Aeonen führt der Alexandriner Valentinus
ein, andie sechzig, männliche und weibliche; doch sind es eben
nur hypostasirte Begriffe als Prädicate der Gottheit gedacht, und
die eigenthümlichen Phantasiespiele, denen sie als Figuren dienen,
verlieren zum Theil ihr Abstossendes, wenn man bedenkt, dass das
Bestreben zu Grunde lag: es begreifbar zu machen, wie das Uebel,
die Sünde, der Schmerz, die Schwäche u. s. w. u. s. w. aus der
Potenz der reinen Vollkommenheit ihren Ausgang finden konnten.
Die Valentin'sche Richtung der Gnosis hielt nicht viel über
ein Jahrhundert (bis ins 3te Jahr p. Ch.) an; die Marcianische
erhielt sich als Lehre einiger religiösen Genossenschaften bis ins
5. Jahrhundert und erlosch dann, nicht sowohl deswegen, weil die
Nichtigkeit ihrer Phantastik durchschaut wurde, als weil die Zeit der
blindesten Naturverachtung und -Verkennung zum Ende kam, als das
Christenthum anfing als Kirche, die Welt als ihr Eroberungs- und
Beherrschungs-Object zu berücksichtigen, und als durch den Eintritt
jugendlicher Völker in die alten Culturstätten und die griechisch-
jüdisch-christlichen Ideenkreise ein animirterer, lebenswarmerer
Pulsschlag in das Christenthum kam.
54 Der Pessimismus innerhalb des Christenthums.

3. Die Verachtung der Schönheit.

In jener Zeit der finstersten Naturverachtung und Missachtung


des Fleisches ergab sich auch ganz logischer Weise die Verach-
tung der Schönheit; denn in der Schönheit feiert die Natur
ihren Triumph, die Schönheit des Fleisches ist also auch Repräsen-
tant des Sieges der bösen Macht. Ganz consequent erklärten daher
griechische Theologen, darunter Justin us der Märtyrer, Ter-
tullianus und Cyrillus v. Alexandrien, Christus für den
hässlichsten der Menschen. In Folge dessen fing man an,
die Heiligen als abgezehrte Jammergestalten abzubilden und vor-
zustellen, und Religiöse, die sich bemühten, selbst Heilige zu werden,
thaten ihr Möglichstes, diesen Idealen der Fleischlosigkeit gleich
zu werden durch Fasten und allgemeine Vernachlässigung des
Körpers, und die abscheulichste Unreinlichkeit galt als gottgefälliges
Verdienst. Bedenkt man, wie verrohend eine solche Unterdrückung
des, dem edelsten Theile unserer Natur entspringenden Instinctes
der Schönheitsliebe wirken musste, so möchte man es fast einen
verdienstlichen Betrug nennen, dass aus dem Kreise der Gegner
dieser Ansicht (Hieronymus, Ambrosius u. And.) ein Brief hervor-»
ging, den angeblich ein Judäischer Proconsul Lentulus an den
römischen Senat geschrieben haben sollte, welcher Brief eine
Personalbeschreibung Jesu Christi enthielt, und diesem alles das
zuschreibt, was einem aesthetisch reagirendem Menschen als Ideal
jugendlicher Mannesschöne vorschwebt. Damit war aber der Streit
nicht beschlossen, weil das Dogma von der Gegensätzlichkeit des
Fleisches zum Geiste bis zur Stunde im Christenthume besteht,
wenn es auch noch so sehr abgeschliffen und seiner schneidenden
Kanten beraubt wurde.
Eine im Jahre 1649 einem Jesuiten Vavassar in
von
Paris herausgegebene Schrift forma Christi" bezeichnet den
„de
Streit als noch bestehend, und die ganze byzantinische Kunst hat
dem Dogma mehr oder minder Rechnung getragen mit ihren aller
Fülle ermangelnden Figuren.

4. Die Prädestination bei den Kirchenvätern und


Reformatoren.

Schon zu den Zeiten der älteren Kirchenväter (Tertullian,


Origenes, Cyrionus, Ende des 2. und Beginn des 3. Jahrh.)
war das Gleichniss geläufig, dass die christliche Gemeinschaft die
Arche Noae sei, die auf der Fluth der zeitlichen und ewigen
Die Prädestination bei den Kirchenvätern und Reformatoren. 55

Yerdammniss schwimme. Diese Anschauung war für die Christen,


sofern sie kühle Egoisten waren, ja ganz beruhigend, für alle ge-
fühlvollem, feinern, selbstlosem Naturen aber gewiss Grund genug,
um ungeachtet des Gefühles der eigenen Sicherheit die Welt nur
durch einen Trauerschleier zu sehen. Sehr viel schlimmer aber
wurde es, als sich mehr and mehr die Reflexion auf das Verhältniss
von Erbsünde und Gnadenwahl zu werfen begann und die insbe-
sondere von Augustinus gegen Pelagius vertretene Lehre von der
absoluten Prädestination zur Verdammniss oder zur Gnade, so wie
der gänzlichen Unfähigkeit des Menschen diese letztere durch sein
eigenes Streben zu gewinnen, zur vorherrschend geltenden wurde.
Während nach Pelagius (starb 420) die Gnade vermittelst
der Heilsordnungen der Kirche zwar nöthig ist zur Seligkeit, diese
Gnade aber durch den reinen Wandel erworben wird, ist nach
August in der Mensch aus sich heraus nur frei zur Sünde,
gegenüber der Gnade aber gänzlich unvermögend, mithin seine
Yerdammniss oder seine Erlösung durchaus determinirt. Es kann
gar kein Zweifel sein, dass Augustinus das Evangelienwort und
die Lehre des Paulus für sich hat, wie denn auch die philosophische
Erkenntniss von der Notwendigkeit der Determination alles Ge-
schehens innerhalb einer geordneten, nicht im Chaos zerstäubenden
Welt bei der Formulirung dieser verzweiflungsvoll pessimistischen
Lehre mitwirksam gewesen sein wird. Des Pelagius Meinung
wurde auf der Kirchenvers ammlung zu Ephesus 431 förmlich ver-
dammt und die Augus tinische als die gültige erklärt.
Aber nicht nur wer als denk- und actionsfähiger Mensch
ausserhalb der Kirche —als dem Leibe Christi —
stand, war un-
geachtet eines auch sonst noch so menschlich unschuldigen Lebens
verdammt, sondern auch die Kinder, welche die Erbsünde noch
nicht zur Bethätigung gebracht hatten, fielen, sofern sie nicht durch
die Taufe zu Gliedern der Kirche gemacht worden waren, der Yer-
dammniss anheim, vor allem auch die Todtgeborenen. Griechische
Theologen meinten zwar, es möchte in der Hölle wohl einen Ort
geben, wo weder Qual noch Lust sei, für die ohne eigene Sünde
abgeschiedenen, nur an der Erbsünde participirenden Kinderseelen,
aber Augustinus wollte davon nichts wissen.*)

*) In „de fide", einem Tractat, der lange dem Augustinus zugeschrieben


wurde, heisst es „seid versichert und zweifelt nicht dass nicht bloss die
: ,

Menschen, welche den Gebrauch der Vernunft erlangt haben, sondern auch
kleine Kinder, die in ihrer Mutter Leibe zu leben anfingen und dort ge-
storben, oder die unmittelbar nach der Geburt aus der Welt geschieden
sind, ohne das Sacrament der h. Taufe empfangen zu haben, die ewige
Qual des unauslöschlichen Feuers zu ertragen haben; denn obgleich
sie mit ihrem eigenen Willen keine Sünde begangen haben, haben sie sich
56 Der Pessimismus innerhalb des Christenthums.

Diese furchtbare Lehre wurde geglaubt und füllte während


Jahrhunderte und Jahrhunderte die Herzen mit Angst und Leid;
duldete die katholische Kirche, obgleich wiederholt die
freilich
im entgegengesetzten Sinne aussprachen, doch die
Concilien sich
mildere Lehre vom „dritten Platze", dem Ort ohne Lust und
ohne Qual für die Kinder. An diesem religiösen Pessimismus
participirten zum grösseren Theil auch die Reformatoren.
Luther bekannte sich bekanntlich zur Lehre des Augustinus.
Er meint: Des Menschen Wille gleiche einem Lastthiere; wenn Gott
es reite, so wolle es und gehe es wie Gott wolle, wenn aber der
Satan es reite, so wolle es und gehe
es wie Satan es wolle; dabei
wähle sondern die Reiter stritten sich um
es nicht seinen Reiter,
seinen Besitz (de servä arbitrio pars I. sec. 23.) Bezüglich der
Schwierigkeit, gleichzeitig an die Güte Gottes und die Prädesti-
nation zur Verdammniss zu glauben, meint er: es sei gerade der
höchste Grad des Glaubens, zu glauben, dass derjenige, der Wenige
rette und Viele verdamme, gnädig sei; dass derjenige gerecht
sei, der nach seinem eigenen Belieben die einen nothwendig zu
Verdammten mache, so dass, wie Erasmus*) sage, „er sich an
den Martern der Unglücklichen zu ergötzen scheine und mehr
Hass als Liebe verdiente"; wenn man aber durch die Vernunft be-
greifen könnte, wie der Gott gnädig und gerecht sein könne,
welcher so viel Zorn und Bosheit zeige, so brauchte man den
Glauben ja nicht!
Calvin theilt mit Luther den Glauben an die Augustinische
Lehre; nur in Bezug der Kinder ohne eigene Thatsünde meint er,
die Absicht, sie zu taufen, würde ihnen zu Gute kommen. Die
englischen Reformatoren sind schwankend und nur Zwingli hat
einen hinlänglich freien Geist, um Verstand und Herz die Ehre zu
geben gegenüber dem Dogma und der Autorität des Augustinus.
Ihm ist die Erbsünde eine Krankheit, die keine Schuld in sich
schliesst. In seinem Glaubensbekenntniss, nicht lange vor seinem
Tode verfasst, spricht er von einer Versammlung der Heiligen,
Heroen, Gläubigen und Tugendhaften; wo die Erzväter mit den
Weisen Griechenlands und "Roms sich finden werden und jeder auf-
richtig nach dem Rechten und Guten strebende Mensch, der jemals
lebte, in Gottesgegenwart selig sein werde. (Von Bullinger mit
Vorw. publicirt 1536).

doch die Verdammniss der Ursünde durch die fleischliche Empfängniss


und die Geburt zugezogen." Ein solcher Glaube musste es allerdings
einem gemüthvollen weiblichen Wesen leichter machen, in's Kloster zu
gehen uud die Virginität zu wählen!
*) Erasmus vertheidigte die Willensfreiheit, um gleichzeitig die ewige
Verdammniss uud die Güte Gottes retten zu können.
Die Prädestination bei den Kirchenvätern und Reformatoren. 57

Diese Ansicht war auch innerhalb der katholischen Kirche


nicht unbedingt ausgeschlossen. Or igen es hatte die Lehre aufge-
stellt von der dereinstigen Wiederbringung aller Dinge in Gott,
aber diese Lehre wurde immer bekämpft, freilich aber eben nur deshalb,
weil sie niemals vollkommen besiegt werden konnte; sie fand eben
an jedem liebe- und mitleidsreichen Herzen einen fruchtbaren
Wurzelgrund, denn diesem musste der Gedanke an die Ewig-
verdammten, durch Vorherbestimmung Verdammten, einen tiefen
Schatten über die ganze zeitliche and ewige Seligkeit werfen,
welche der Glaube an die eigene Geborgenheit und die glänzend-
sten Phantasiebilder der himmlischen Herrlichkeit nicht zu ver-
bannen vermochte.
Nur ein Mittel erweist sich wirksam, wenigstens den schwächeren
Seelen gegenüber — die ja leider immer die Mehrzahl bilden —
wirksam, um das Mitleid zurückzudrängen: die Furcht und Angst
vor dem, dem eigenen Selbst drohendem Unheil; hiefür sind die
Schreckensscenen bei Schiffbrüchen, Theater- und Kirchenbränden
u. s. w. schreiende Beispiele; diese besinnungsraubende Angst ums
eigene Seelenheil war Schutz für die furchtbaren Dogmen, und
wurde künstlich erhalten und neuproducirt, durch die beständigen,
von einer erhitzten Phantasie ins ungeheuerlichste getriebenen
Phantasiebilder der Qualen der Verdammten.

5. Ketzergerichte und Hexengaube.

Einen schrecklichen Schatten werfen für unser modernes Em-


pfinden und Denken die Ketzerverfolgungen und Ketzergerichte
auf die Kirche. Und doch sind sie unter der Voraussetzung der
Lehren von der Corruption der menschlichen Natur und der Macht
Satans in der Welt, von der niedrigen Stellung der Vernunft, die
ohne besondere supra-naturale Erleuchtung durch die Gnade in
geistlichen Dingen nichts zu erkennen vermöge (ja erst recht die
Stelle sei, wo der Teufel die höher veranlagten Menschen, denen
er von sinnlicher Seite nicht beikommen könne, zu angeln pflege),
durchaus consequente Acte der Selbstbehauptung der
Kirche. Es ist keine Ursache vorhanden, bei den Ketzerverfol-
gungen kurzweg Habsucht der Kirche oder gar Privathass und
Ausschreitung der Herrschsucht ihrer machtbegabten Repräsen-
tanten anzunehmen; gewiss war solches oft der Fall, aber im
Princip sind die Ketzergerichte vermittelst des Begriffes von der
Natur und der Bestimmung der Kirche berechtigt und gefordert.
Da nur in der Kirche das Heil war, so war es Pflicht der Kirche,
ihre Macht und ihre Segen und Heil gewährende Sphäre zu be-
58 Der Pessimismus innerhalb des Christenthums.

festigen und zu erweitern; es war die liebevolle Sorge für Tau-


sende, die möglicherweise von Irrlehren der wahren Lehre ent-
fremdet werden konnten, welche mitleidslose Vertilgung eines von
Gott verlassenen Ketzers forderte. Auch waren die Versuche, den
Widerruf zu erpressen, und wenn auch nur durch die grausamsten
Martern des Leibes, immerhin als Wohlthaten für die Seele zu be-
trachten, denn es war ja die Möglichkeit der Umkehr einer Seele
vorhanden, da nicht voraus zu bestimmen war, unter welchen Be-
dingungen eine Seele prädestinirt sei, und die schlimmsten irdischen
Leiden plus etliche tausend Jahre Fegefeuer noch immer ein rela-
tiv glückliches Loos waren, gegenüber der ewigen Verdammung
der von der Gnade des Glaubens Ausgeschlossenen.
Es gab eine Zeit, wo zu den nichtmangeln dürfenden, pro-
grammmässigen Festlichkeiten einer königlichen Hochzeit in Spanien
ein Autodafee gehörte! Man kann sich über die hiermit bezeugte
Gefühls Verhärtung kaum mehr wundern, wenn man bedenkt, dass
man es mit Leuten zu thun hat, denen seit vielen Generationen
eingeprägt worden war, dass nur einer Minderheit der Creatur die
Seligkeit, der Mehrzahl aber der ewige Tod nebst Höllenqualen
bestimmt sei. Indem man den Ketzer verbrannte, kam man Gott
auf halbem Wege entgegen, und ob einer, der ohnedies zum ewigen
Feuer Bestimmten hier schon eine Stunde oder etwas länger bei
langsamen Feuer briet, konnte kaum noch stark in Betracht
kommen.*)
Enge mit dem Ketzerwesen hing der Hexenglaube zusammen
und die Hexenverfolgungen mit ihren Gräueln aller Art und ihren
secundären Folgen der Volksverdummung und Verrohung.
Der Glaube an Hexerei, Dämonenspuk, Besessenheit u. s. w.
ist die ganz folgerichtige Ausgeburt der Annahme der Persönlich-
keit des bösen Princips als Gegensatz zur ebenfalls persönlich ge-
dachten Gottheit; sei es, dass dieser Gegensatz als ein ewiger* und
wesentlicher gedacht werde (wie im Parsismus und einigen Formen
der Gnosis), sei es, dass darunter blosser Abfall und Rebellion
geschaffener Geister (wie im Juden- und Christenthum) verstanden
werde. Auch die Griechen und Börner hatten ihre Magie und ihre
Magier, aber diese waren nur ausnahmsweise und im engsten Kreise !

Gegenstand der Furcht und nur ausnahmsweise verfolgt, letzteres


gewöhnlich nur aus politischen Gründen. Aus dem Judenthum hatte
das Christenthum mit der Lehre von Sündenfall und der Verderbniss

Unter dieser Gefühlsverhärtung litt auch die Thierwelt. Es war die


*)
Zeit der Ketzer- und Hexengerichte, als man sich bemühte zu festlichen
Gastmälern Gänse lebendig zu braten, damit sie, wenn auf der Tafel an-
geschnitten, noch zuckten und schrien — was „gewaltig schön anzusehen
sei", wie ein Kochbuch aus jener „guten alten Zeit" sich ausdrückt.
Ketzergerichte und Hexenglaube. 59

des Fleisches auch den Teufel bei sich aufgenommen und zwar in
doppelter Eigenschaft: als Beherrscher aller derjenigen, die ihr
Herz an die Welt ketteten, und dann auch mit Gottes besonderer
Zulassung als Prüfer und Versucher.
Und wie eine sinnlich productive religiöse Gestaltungskraft den
Henotheismus erzeugt, in welchem die getrennten Momente des gött-
lichen Seins als besondere Gottheiten verehrt werden, so, dass doch
immer in allen Einzelnen das Eine Göttliche voll und ganz empfunden
wird, so wurde auch unter dem Einfluss der Dämonologie des an-
tiken Volksglaubens und einer sich in Phantasiespiele verlierenden
Philosophie das eine böse Princip zu einer Vielheit zerfasert, ent-
sprechend den vielfachen Formen, in denen es sich bemerklich
macht; der Teufel erscheint als hundertfältig und bleibt doch immer
ganz und gar „das Böse"*).
Wie die Hebräer nicht an die Realität der Götter der Egypter
und der ihnen feindlichen nomadischen Stämme zweifelten, so
waren auch den Ungebildeten unter den Christen der ersten Jahr-
hunderte die römischen und griechischen Göttergestalten lauter
Teufel und Teufelinnen, ein Glaube, der sich ja auch später in
Deutschland wiederholte und einigen der nordischen Götter eine
schattenhafte Fortdauer in Localsagen gewann.
In einer dem Teufel preisgegebenen Welt sind aber die Hexen,
die Heiligen und Priesterinnen des Bösen, eine ganz selbstverständ-
liche Sache, und nichts ist natürlicher, als ihre rücksichtsloseste
Verfolgung. Wie die Christenverfolgungen als Anstiftungen des
Satans erachtet wurden, so waren auch seine Bekennerinnen die
Feinde Gottes und seines Reiches, und der Kampf gegen sie Pflicht
und Verdienst, sobald die Möglichkeit dazu gegeben war. Und
wie das Mitleid mit den Ketzern schon verdächtig und anrüchig
war für die eigene Rechtgläubigkeit und somit Wohlgeborgenheit
in der Arche der Kirche, so war anderseits eine Mitbethätigung
an der Hexenjagd gleichsam eine beruhigende Versicherung, die
man sich selbst gab, dass man zu den Begnadigten, zu den Streitern
des Gottesreiches gehöre.
Der furchtbare Wahn suchte und fand am meisten Opfer in
den Zeiten, wo die Kirche bereits den Gipfel ihrer Macht erreicht
hatte — aber auf Kosten der, in der Theorie natürlich stets ver-
neinten, Verweltlichung und Weltfreudigkeit — und von äussern
Feinden unbehelligt, diese sich nun in ihrem eigenen Kreise zu er-
heben begannen. Die jungen Christengemeinden hatten den Teufel

*) Interessant ist der dumme Teufel der Volkssage und Klosterlegende,


denn er weist auf den Gedanken hin, dass das Böse das Alogische,
das vernunftgemäss Nichtseinsollende ist.
60 Der Pessimismus innerhalb des Christenthums.

und seine Genossen weniger gefürchtet, ihre Siegesgewissheit


war hiezu zu gross, und wiederum war ein Luther und die ihm
Gleichgesinnten so zuversichtlich, dass sie den bösen Feind mit
einigem Humor behandeln konnten. Den Hexenprocessen wurde
dadurch freilich der Boden nicht entzogen; der schreckliche Aber-
glaube hatte seine Herzwurzel in einem der Grunddogmen des
Christenthums, und der Wind, der diese lebensverdüsternden Nebel
zerriss und zerstreute, kam aus einem ganz .anderen Weltgebiete,
wenn es gleich einige Geistliche sind, denen die Ehre zukommt,
unter den Ersten genannt zu werden, die gegen das Hexenwesen
Protest erhoben; aber sie waren zu ihrem Thun eben nicht vom
Geiste ihrer Kirche inspirirt gewesen.
In England und Schottland blühte die Hexenverfolgung erst
recht nach der Reformation und die Processe wurden mit der
schauderhaftesten Grausamkeit geführt. Sie waren in vollem Flor
bis in das dritte Viertel des siebzehnten Jahrhunderts, zu welcher
Zeit ein Geistlicher (J. Glanvill) in Opposition zu der allmählich,
anbrechenden Aufklärung eine Schrift veröffentlichte, welche den
Unglauben an Hexen und Teufelsmanifestationen als dem Glauben
an Gott gefährlich verurtheilte, welche Schrift wesentlich dazu bei-
trug, den Aberglauben noch länger zu conserviren. In Deutsch-
land war es nicht besser; bekanntlich wurden in den fünfziger
Jahren des vorigen Jahrhunderts in Landshut (Bayern) noch zwei
Hexen verbrannt, und die letzte Hexe wurde 1782 im protestan-
tischen Glarus (Schweiz) geköpft.
Wir haben nicht nöthig, uns eingehender mit dieser schauer-
lichsten Partie der Geschichte innerhalb der christlichen Welt zu
befassen; sie ist jedem Gebildeten hinlänglich bekannt und Jedem
wird sich bei etwelchen ins Detail gehenden Schilderungen ihrer
Vorgänge schon das Herz zusammengekrampft haben; nicht allein
in Mitleid mit den Hunderttausenden directen Opfern eines Wahnes,
sowie mit der unübersehbaren Summe der indirecten Leiden im
Kreise der Angehörigen jener, sondern ganz besonders auch im
Allgemeinen mit einem Zeitalter, welches zu dem real gegebenen
und natürlich vermittelten Unlustquantum noch dasjenige aus
Ideen stammende hinzufügte —
aus Ideen, die auch noch die-
jenigen Factoren des Lebens zu vernichten strebten, die bei einer
die Natur nicht missverkennenden Lebens ans chauung noch am
ehesten eine recht erhebliche Summe von Lustmomenten zu er-
zeugen im Stande sind.
Eine Natur, bei der nur das die unabwendbare Regel bildet,
dass sie uns zum Hinderniss und Hemmschuh unserer ethisch und
religiös gebotenen Entwickelung vom fleischlichen zum geistliehen
Menschen wird, die aber sonst unberechenbar ist, weil ihre Gesetze
Der Tod. 61

inur eingeschränkt solche sind, soweit sie nicht der Einwirkung


I böser Geister und der magischen Macht unterliegen, eine solche —
Natur bildet eine ungünstige Unterlage für eine denkende, über-
wiegende Lebensführung, und der Hartmannsche Ausspruch: dass
nur der Leichtsinn und der Stumpfsinn das Leben in optimistischem
.;Sinne zu preisen vermöge,*) findet noch in viel höherem Grade
als für unsere, für jene Zeiten seine Anwendung.
J
Uns ist die
Natur nur der schlummernde Geist, auf dem die Kategorie von
i

Bös und Gut noch keine Anwendung findet, wodurch sie gerade
|

zu einer Stätte des Ausruhens für die sich in sie Versenkenden


i

wird, und deren unbeschränkte Gesetzmässigkeit unbewusster Logik


gegenüber den —
allerdings nur scheinbaren —
Willkürlichkeiten
der Menschengeschichte uns das Behagen der Sicherheit und der
Ruhe gewährt.

6. Der Tod.

Hand in Hand mit der Verdüsterung des Lebens durch die


I
Naturauffassung ging auch der Verlust der eudämonologisch werth-
vollsten Errungenschaften des pessimistischen Alterthums: Der
Versöhnung mit dem Tode als dem Ruhebringer. Der Tod
war dem Dogma entsprechend als Strafe für den Sündenfall erst
secundäres Naturgesetz geworden. Nur immer für die Minderzahl
derer, bei denen das religiöse Bewustsein von bedeutender spontaner
Kraft war, bildete der Tod die ersehnte Befreiung vom Fleische
nnd den Heimgang zu Gott; die Mehrzahl kam nicht über den
Strafbegriff hinweg, wofür sogar ein Luther Zeuge ist, wenn er
(in den Tischreden) es ausspricht: die Heiden hätten gut ruhig
sterben, weil sie nicht fühlten und sähen, dass der Tod Gottes
Zorn sei, sondern ihn für das natürliche Ende hielten; nicht so
aber der Christ.
Minder* pessimistisch als das Dogma von der Prädestination
und daher minder beängstigend, aber immerhin noch schaurig und
das liebevolle, wie das ums eigene Wohl besorgte Herz noch genug
bedrückend, war die Lehre vom Fegefeuer, in welchem die zwar
nicht zur Verdammniss bestimmten, aber von Sünden schwer be-
lasteten Seelen für schier endlose Zeiten zu schmachten hatten,
i
Gab es auf die Frage, ob man wohl zur Seligkeit oder zur Ver-
dammniss bestimmt sei, keine andere Antwort als die eigene Ueber-
zeugung, gestützt durch die Wahrscheinlichkeitsgründe: innerhalb

*) Autographen-Beitrag zu Deutschlands Dichterhelden", herausg. von


Xarl Bötticher.
62 Der Pessimismus innerhalb des Christenthums.

der christlichen Gemeinschaft geboren und erzogen zu sein, so bot


dagegen allerdings die Kirche in den von ihr verwalteten Gnaden-
mitteln eine Trostquelle für die besorgten Gemüther.
Bot nun das Sacrament der letzten Oelung, die Seelenmessen
und der Ablass zwar Vielen eine wohlthätige Tröstung, so wurde
doch auch wieder besonders das erstere da, wo es durch jähen
Todesfall nicht benutzt werden konnte, eine reiche Quelle der
Angst sowohl für den Sterbenden
, als auch für die liebenden
,

Hinterlassenen und führte (wie auch der Glaube an die Nothwen-


digkeit der Taufe für die Rettung der Kinderseelen) zu allerlei
wohlgemeintem Betrug von Seite mitleidiger (und nur zu oft wohl
auch habsüchtiger) Seelsorger. *)

7. Die optimistischen Elemente des Christenthums.


Die Willensfreiheit.

Wh* sind ferne davon uns gegen die optimistische Seite des
Christenthumes zu verblenden. Jede Religion ist optimistisch, so-
fern man diesen Begriff nur in dem landläufigen Sinne (adverbial
und adjectivisch) versteht, wo er eine tröstliche, befriedigende, ver-
söhnliche Anschauung gewisser Zustände bezeichnet. Es ist
dem Wesen der Religion eigen Glaube daran zu sein
, dass auf
,

die eine oder andere Weise des Zusammenwirkens von Gottheit


und Creatur die Mängel des empirischen Seins aufgehoben oder
ausgeglichen werden könnten. Der Christ glaubt, er habe in
Christo und in dem Glauben an diesen die Garantie, nicht nur un-
beschädigt durch dieses Jammer- und Sündenthal hindurch gehen
zu können, sondern auch dafür, dass ihm dereinst in einem ausser-
weltlichen Leben Entschädigung für die hier erlittene Trübsal
werde. Das ist das gemeine, eudämonologische, optimistische Ele-
ment, welches das Christenthum mit jeder (auch naturalistischen)

*) Eine hierauf bezügliche Sage sei, da sie wenig bekannt scheint, bei-
gefügt. In Schottland stürzte ein Ritter auf der Jagd und blieb auf dem
Flecke todt. Da er ein wildes Leben geführt hatte, war seine fromme Ge-
mahlin in grosser Sorge um sein Seelenheil und grämte sich so sehr, dass
ihr eigen Leben in Gefahr kam. Da sprosste auf dem Grabe eine Pflanze,
die niemand kannte und deren Blätter merkwürdige, schriftähnliche Linien
zeigte. Ein Geistlicher entzifferte dieselben endlich und übersetzte sie
wie folgt:
Betwixt the stirrup and the grouncl
Pity was saught and pity found.
(Zwischen dem Steigbügel und dem Boden wurde Erbarmen gesucht und
gefunden.) Die Wittwe stiftete eine Capelle und war getröstet.
Die optimistischen Elemente des Christenthums. Die Willensfreiheit. 63

ein Jenseits lehrenden Religion theilt. Es enthält aber auch einen


höheren, idealistischen optimistischen Bestandtheil an der
Innigkeit seines Kindschaftsverhältnisses der Menschen zu Gott,
welches fortführt zu einem mystischen sich Einswissen mit Gott,
wobei der Gläubige der jenseitigen Seligkeit kaum mehr gedenkt,
weil er seinen immanenten Himmel bereits besitzt; welcher Himmel
aber nur in der Selbstvergessenheit der liebenden und sehn-
süchtigen Hingabe an das Göttliche besteht.
Das Christenthum ist um so optimistischer, d. h. um so über-
schwänglicher in der Prädicirung seiner „anderen Welt", als es
überschwänglich pessimistisch für diese wirkliche Welt ist. Es
verneint pessimistisch diese Welt und verneint in seinem Lebens-
drange wieder diese Negation; diese doppelte Negation schnellt es
dann hinüber in den Himmel und zwar um so höher hinauf in
die Seligkeit, je kräftiger die Verneinung war.*) Es entwickelte
sich aber auch ferner innerhalb des christlichen Dogmenkreises
eine optimistischere Strömung, als man nothgedrungen anfing, die
ursprüngliche Weltverachtung und Weltfluchtslehre zu beschränken.
Die Welt wollte nicht untergehen, wie die ersten Christen (bis
gegen das Ende des 3. Jahrhunderts) immer erwarteten, und so
musste man anfangen, sie sich zu unterwerfen. Man unterschied
mehr und mehr zwischen der Natur im weiteren Sinne und der
Fleischlichkeit, als der bewussten Natürlichkeit der Menschen. Die
Natur und die Welt errang sich in sofern wieder einen gewissen
Werth, als sie eben doch eine geeignete Prüfungsstätte der Men-
schen war; man konnte sie nicht absolut fliehen, also rang man
mit ihr und machte sie seinen Zwecken dienstbar, womit man sich
die Arbeitsfreude gewann.
Auch der Freiheitsbegriff, der sich mit der Augustinischen
Lehre der reinen Gnadenwirkung nur in beschränktem Maasse ver-
binden Hess, und daher diesen mehr und mehr in den Hintergrund
zu drängen suchen musste, repräsentirt einen optimistischen Zug.
Der Semipelagianismus der Katholiken brachte ein fröhliches Leben
in das Christenthum hinein, welches zwar die echte innere Herzens-
frömmigkeit vielleicht schädigen mochte, der Culturentwickelung

*) Erinnern sich unsere Leser an eine Novelle von Rudolf Lindau,


„Das Glückspendel* ? Dort setzt der Held auseinander, dass es sich mit dem
Glücke verhalte wie mit einem Pendel: je höher es auf der einen Seite
emporgehoben sei, um so weiter hinauf schnelle es nach der Unlust-Seite.
Ganz ähnlich mit der rel. Erhebung; wo man behaglich und selbstzufrieden
sich mit dem Leben abfindet, da ist auch die religiöse Beseligung kaum
erheblich und die Betheiligung am Cultus bleibt leicht eine bloss conven-
tionelle Aeusserlichkeit, auch dann, wenn durchaus nicht an der objectiven
Wahrheit der Kirchenlehre gezweifelt wird.
64 Der Pessimismus innerhalb des Christenthum?.

aber förderlich war; in einer Zeit, wo die Culturarbeit nicht durch


autonome ethische und theoretische Erkenntniss hinlänglich moti-
virt wurde, darf eine kirchliche Lehre nicht unterschätzt werden,
welche dieselben vernünftigen Wirkungen erzeugt, wenn auch zum
Theil durch minder hochstehende Motive, oder auch in Fällen, wo
das Motiv das reine ethisch-religiöse der Gottesliebe ist, auf Kosten
der Consequenz des Prädestinationsdogmas. Die Lehre von den
verdienstlichen Werken und der Möglichkeit eines Ueberschusses
solcher zu Gunsten der schwächeren Glieder der Kirche hat uns
die gothischen Dome erbaut und deren Altäre mit den Perlen der
Künste geschmückt und hat Spitäler und Asyle gegründet zu einer
Zeit, wo die Staaten im Kampfe um den politischen Bestand und
die Feststellung der Völkergrenzen keine Kräfte übrig hatten, um
sich des hülfsbe dürftigen Nothstandes anzunehmen.
Der Determinismus des Johannes-Evangeliums, der Pauluslehre
und des Augustinischen Dogmas kam in Conflict mit dem unmittel-
baren Schein der Willensfreiheit und mit der die letztere vertreten-
den Traditionen der antiken Philosophie, die nie gänzlich aufge-
hört hatte, ihren Einfluss auf die geistig Regsamsten und durch
diese auf die religiösen Gestaltungen auszuüben, so getrübt und
spärlich auch ihr halbverschütteter Quell sickerte. Die Kirchen-
väter hatten sich zwar damit geholfen, dass sie die Freiheit für
das empirische Leben festhielten, die Determination aber für das
Erlangen der Gnade oder der Verdammniss behaupteten, mit der
Einschränkung, dass der Mensch, wenn er auch der Erlangung der
Gnade gegenüber kraftlos sei, doch frei sei, dieselbe zu verwerfen,
resp. durch die Freiheit zum Bösen zu verlieren. *) Nun hat es
zu allen Zeiten Geister gegeben, denen die Idee der Determination
zum ewigen Tode unvereinbar schien nicht nur mit der Liebe, son-
dern auch mit der Gerechtigkeit Gottes; da lag denn der Gedanke
nahe, dass Allen die Gnade bestimmt sei, so fern sie dieselbe nicht
freiwillig verschmähten; damit war dann auch der für den Ver-
stand so anstössige Begriff der einseitigen Freiheit zur Verwerfung
bei Unfreiheit des Ergreifens und Aneignens in sofern beseitigt, als
nun überhaupt nur eine Wahlmöglichkeit bestand.
In jeder Weltanschauung, welche nicht strict monistisch ist,
sondern wo auch nur die leichteste essentielle Schranke zwischen
den endlichen Individuen und dem Absoluten bestehen bleibt, da
ist die Idee der Determination oder die der Indetermination von

*) Hiezu zeigt die neuere Philosophie das Gegenstück; nach Kant,


Schopenhauer u. A. ist zwar das empirische Thun naturalistisch deter-
minirt, jedoch der Charakter im esse frei.
;

Die optimistischen Elemente des Christenthums. Die Willensfreiheit. 65

grosser Bedeutung für die Entscheidung der axiologischen Frage


erst im modernen Monismus des Geistes (Hegel u. s. Schule,
Hartmann) wird das Eine wie das Andere eudämonologisch in-
different.
Die Kirche —
sowohl die katholische wie die protestantische
— errang sich die vom Urchristenthum verschmähte Möglichkeit
einer kraftfreudigen Weltthätigkeit und die Befriedigung einer —
relativ als autonom zu betrachtenden —
ethischen Bethätigung im
Culturstreben; aber dies alles nur soweit diese vielartige Weltbe-
arbeitung und Dienstbarmachung der Natur dafür dienlich erachtet
wurde, die Welt um so vollständiger und rascher als Welt zu
überwältigen, sie als Welt aufzuheben und zum blossen Weg und
Thor des ausserweltlichen Gottesreiches zu machen. Nicht die
Welt als Welt ist für die aus dem echten, unverfälschten Geiste
des Christenthums hervorgegangene Thätigkeit Object, sondern nur
die Weltüberwindung. Wo die Beherrschung und Entwickelung
der Welt durch Cultur und intellectuelle und ästhetische Hebung
zum Selbstzweck wurde, da fiel solches Streben aus der Tendenz
des Christenthums heraus, mochten die Träger der Thätigkeit der
Kirche noch so nahe stehen, ja sogar mit ihrer Empfindungsseite
an der Himmelssehnsucht des Christenthums participiren. Dass
derjenige, dem so „zwei Seelen in der Brust" lebten, von denen
die eine ihn nach der Ruhe der Weltverneinung, die andere (der
autonome Intellectualtrieb) zur Theilnahme an der Weltentwicke-
lung anspornte, sehr leicht in schmerzliche Kämpfe verwickelt
werden konnte, ist klar; daher ist es denn so wenig weit vom
Schlosse zur Klosterzelle, oder —
um einen bestimmten Fall zu
nennen — vom Throne eines Reiches in dem „die Sonne nicht
unterging" bis zur Stille von St. Just.
Seit Jesus von Nazareth mit der Busspredigt in die Fuss-
stapfen Johannes des Täufers trat, ist es bis zu dieser Stunde
das dem Christenthum Wesentliche: die Weltüberwindung zu
lehren; wie verschieden auch die Form sei, in der es geschehe,
und wie abweichend auch die Welt- und die Himmels-Vorstellungen
unserer Zeit von denen der Vergangenheit sein mögen. Immer
steht die Welt als das Werthlose, dem Untergang Verfallene, dem
Gottesreiche gegenüber, wenn auch dieses Gottesreich (wenn aller
anthropologischen Ausschmückungen entkleidet) in nichts anderem
bestehen sollte, als in potentieller Wieder-Aufgehobenheit der, aus
einer potentiellen Qualität Gottes in die Actualität gesetzten In-
dividuen zu einer Ewigkeit der Ruhe, wo „keine Zeit und Gott
Alles in Allem sein wird." Woimmer der christlich Religiöse
sich über die Welt und das Leben auslässt, da ist es erstens
Klage über die Nichtigkeit des Lebens und über die Thorheit der
Plümacher Pessimismus. 5
66 Der Pessimismus innerhalb des Christenthums.

Menschen, ihr Herz daran zn hängen, und zweitens Sehnsucht


nach Gott und Versenkung in die himmlische Herrlichkeit ver-
mittelst eines mystischen Enthusiasmus.

8. Der Tractat: de contemptu mundi.

Als ein Beispiel ersterer Form, die allein uns hier etwas
angeht, nennen wir des nachmaligen Papstes Innocenz III.
Schrift „de contemptu mundi". Da, so viel uns bekannt ist,
keine deutsche Uebersetzung dieser Schrift existirt, so geben wir
in knappster Form den hauptsächlichen Inhalt des ersten Theiles,
der uns hier ausschliesslich interessirt, mit Weglassung der zahl-
reichen Wiederholungen, in freier Uebersetung. Die römischen
Zahlen bezeichnen die Capitel.
„Wehe mir, dass ich geboren wurde, dass meiner Mutter Leib
nicht zugleich mein Grab wurde! Wo fände ich Thränen genug,
den verabscheuungswürdigen Ausgang, Fortgang und das bedauerns-
werthe Ende zu beweinen! Unter Thränen habe ich bedacht, aus
was der Mensch gemacht ist, was er macht und was er machen
wird. Aus Erde ist er gemacht, in Sünde empfangen, geboren
zum Schmerz zum Leid zum Tode zur Strafe. Er thut das
, , ,

Schändliche, was nicht sein soll, das Eitle, was nichts nützt; das
Böse, womit er sich und den Nächsten schädigt und Gott beleidigt.
Er wird eine Beute des Feuers, Futter für die Würmer und Stoff
für die Fäulniss." (I.)

„Der Mensch ist weder aus dem Feuer gemacht, wie die Ge-
stirne, noch aus dem Wasser, wie die Pflanzen. Er ist von dem-
selben Stoffe wie das Vieh und geht zu Grunde wie dieses." (II.)
„Adam war zum wenigsten noch aus unschuldigem Lehm ge-
formt, aber wir sind aus unreinem Samen hervorgegangen. In
meiner eigenen Sünde nicht allein, auch in der Sünde anderer bin
ich gezeugt." (III.)
Vermögen (vires naturales) hat die Seele: die
„Drei natürliche
Vernunft, um zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, Zorn,
das Böse zu verabscheuen,, und das Streben nach dem Guten.
Aber wie ein unreines Gefäss die Flüssigkeit verdirbt, welche man
in dasselbe giesst, so leidet die Seele durch ihren Eingang in den
Leib." (IV.)
„Ekelhaft ist die Ernährung des Kindes im Mutterleibe, und
mit dem Samen aus dem sie erzeugt ist, nimmt die Frucht ekel-
hafte Krankheit und körperliche Mängel in sich auf." (V.) „Warum
Der Tractat: de comtemptu mundi. 67

müssen oft solche geboren werden, die eher einem Scheusal als
einem Menschen ähnlich sehen? Viele kommen zum Jammer der
Eltern und Angehörigen mit mangelhaften Gliedern und Sinnen
zur Welt, Alle aber heulend, schwach, verstandlos, kaum sich von
den Thieren unterscheidend, ja in mancher Hinsicht unter den
Thieren stehend: Diese können wenigstens gleich laufen, jene aber
nicht eben kriechen." (VI.) „Und die Mutter! Sie empfängt in
Unreinigkeit ,
gebärt mit Schmerzen, die keinen andern zu ver-
gleichen sind, und pflegt das Kind in grossen Sorgen."
. (VII.)
„Arm kommt der Mensen zur Welt, arm geht er wieder aus der-
selben; aber wenn er auch nackt in das Leben tritt, so möge er
zusehen, was die Bekleidung sei, die er mit sich hinaus nehme:
scheusslich zu sagen, scheusslicher zu hören, am scheusslichsten
anzusehen: eine von Blut unterlaufene Haut!" (VHI.) „0, der em-
pörenden Niedrigkeit des menschlichen Daseins! Befrage die Gräser
und die Bäume: sie bringen aus sich hervor Blüthen, Laub und
Früchte; du aber —
weh' dir! —
du bringst hervor: Läuse, Un-
geziefer und Eingeweidewürmer! Jene scheiden Oel, Wein, Balsam
aus, du aber scheidest Urin, Speichel und Koth aus; jene hauchen
süsse Düfte, du aber giebst abscheulichen Gestank von dir!" (IX.)
„Kurz ist unser Leben und doch viel Elend und Mühsal erleben
wir; wenige nur kommen auf 40 Jahre (!?) heutzutage, sehr wenige
auf 60; wenn aber jemand alt wird, so wird sein Leib gebrechlich,
schwach, hässlich und ekelhaft; der Greis wird leicht gereizt, mit
Mühe nur versöhnt; er ist halsstarrig und begehrlich, schwatzhaft,
ungeschickt im Zuhören, leicht in Zorn zu bringen, er lobt das
Alte, verachtet das Neue, tadelt die Gegenwart, er verdumpft und
versiegt." (X u. XI.)
„Wie verschieden auch immer die Bestrebungen der Menschen
seien, wie verschieden auch ihre Beschäftigungen, eine und die-
selbe Wirkung haben sie doch alle: Mühsal und Betrübniss des
Geistes. Grosse Arbeit ist allen Menschen zugetheilt, ein schweres
Joch tragen alle Söhne Adams." (XII.)
„Auch das Studium bringt Noth. Ich habe mein Herz daran
gesetzt, Weisheit und Wissenschaft zu gewinnen, und weiss nun,
dass es Mühsal und Betrübniss des Geistes ist; denn bei grosser
Erkenntniss ist auch grosse Entrüstung und wer in die Erkennt-
niss eingeht, der geht auch in den Schmerz ein. Wie sehr der
Forscher auch in Mühe die Nächte durchwacht, so giebt es doch
kaum etwas, es sei noch so gering, welches der Mensen zur völligen
Durchsichtigkeit durchdränge, es sei denn die Erkenntniss:
dass er nichts vollständig erkennen könne, und dies ist ein
Widerspruch. Und das kommt daher, weil sterblicher Leib die
Seele beschwert und irdische Hülle den Geist niederdrückt." (XIII.)
5*
Der Pessimismus innerhalb des Christenthums.

„Rastlos durchstreichen und durchsuchen die Menschen die Erde


und die Meere, die Höhen und Tiefen, suchen Reichthum, Ehre
1

und Macht zu gewinnen, und finden nur Mühe, Angst, Sorg und
Schrecken; keiner, er sei reich oder arm, Herr oder Knecht, bleibt
hievon frei. Weh' mir, wenn ich ungerecht bin, denn mich trifft
Strafe, und bin ich gerecht, so kann ich doch vor Betrübniss nicht
mein Haupt erheben." (XIV u. XV.)
„Wie unselig ist der Arme. Die Noth zwingt ihn zu betteln,
aber wenn er bettelt, so verwirrt ihn die Scham; er wagt mit
Gott zu rechten und ihn ungerechter Gütervertheilung anzuklagen.
Seine Freunde verlassen ihn, denn —
schmählich ist es zu sagen
— man Werth der Person nach dem äusseren Glück,
schätzt den
statt das Glück nach dem Werthe der Person zu schätzen. Leidet
der Arme Noth, so geht der Reiche im Ueberfluss zu Grunde und
indem er seinen Gelüsten nachgeht, stürzt er sich in's Unerlaubte;
so wird,was Ergötzen war, zum Mittel seiner Strafe. Mühe beim
Erwerb, Sorge beim Besitz, Schmerz beim Verlust, das plagt die
Seele des Reichen." (XVI.)
„Elend und auf alle Weise geplagt ist derjenige, der dienen
muss, und von Sorge belastet der Herr; gegen allerlei Unheil
muss er immer gewappnet sein und nicht genug, dass jeder Tag
seine eigene Sorge hat, so erzeugt auch jeder Tag die Plage des
nächsten und jede Nacht kündet die Angst der folgenden an."
(XVII.)
„Den Ehelosen quält die Fleischeslust, den Verehelichten sein
Weib. Es will Schmuck und Tand ohne Rücksicht auf des Mannes
Einkünfte, sonst schmollt und brummt es; es ist eifersüchtig, selbst-
süchtig und herrschsüchtig. Ist das Weib schön, so verlieben sich
andere in sie und es muss mühsam gehütet werden, ist es häss-
lich, so freut einen ein Besitz, den Niemand begehrt, auch nicht."
(XVIII.)
„Der Gute wie der Böse sind gleich geplagt. Das Leben ist
ein Kampf. Der Mensch kämpft gegen den Menschen, gegen die
Natur, gegen sein Fleisch und gegen den Teufel. Die Ruchlosen
richten feurige Geschosse und der Tod sucht ihn zu erfassen. Erde,
Luft, Wasser und Feuer bedrohen uns und wir werden sogar zur
Beute der Thiere." (XXI.)
„Der Körper ist das Gefängniss der Seele; wer hätte je einen
Tag reines Vergnügen genossen, wer hätte nicht an jedem Tage
den Stachel des Gewissens, den Impuls des Zornes, die Regung
der Begehrlichkeit empfunden; wo ist der Tag, den weder Neid,
Geiz, Hochmuth berührt hätte, noch eine Kränkung gebracht hätte?
Aber auch wo Lust ist, da folgt ihr rasch die Trauer, und die
irdische Lust selbst ist mit Bitternissen versetzt." (XXII u. XXHI.)
Der Tractat: de contemptu mundi. 69

„Wir sterben so lange wir leben, und nur wenn wir zu leben
aufhören, hören wir auf zu sterben; es ist also besser lebendig
zu sterben, als todt zu leben. Denn das Leben ist nichts anderes
als ein lebendiger Tod.' (XXIV.)
„Die Zeit, die der Ruhe gewidmet ist, findet die Ruhe nicht;
denn die Schlafenden werden von Träumen verwirrt, die oft quälen
und beunruhigen, —
ist aber der Traum angenehm, so ist das
Aufwachen gleichsam ein Verlust. Und nicht am eigenen Leide
isf s genug, wir leiden iin Mitgefühl noch für die Andern mit, so
dass also sogar die Liebe Leid und Schmerz mit sich bringt."
(XXV u. XXVI.)
„Nie ist man desmorgigen Tages sicher; unerwartet tritt
das Unglück heran. Was soll man von der Krankheit sagen? Soll
man die Unerträglichkeit der Krankheit erträglich nennen, oder
die Erträglichkeit derselben unerträglich? Am
besten wird beides
verbunden. Immer schlechter wird die Welt, es hat der Makro-
kosmos wie der Mikrokosmos gealtert, und was in früheren Zeiten
noch zuträglich war, das wird heutzutage schädlich." (XXVIII.)
„Wie zahlreich und schrecklich sind die Strafen, mit denen
der Verbrecher gestraft wird,*) und furchtbares Maass kann die
Noth annehmen, so dass eine Mutter ihr eigen Kind verzehren
mag." (XXIX u. XXX.)
„Oft wird auch der Unschuldige gestraft und der Schuldige
geht frei aus, und der Tugendhafte wird verkannt. Dreierlei be-
sonders plagt den Menschen: Reichthum, Ueppigkeit und Ehre;
aus dem Reichthum ergiebt sich das Verkehrte, aus der Ueppig-
keit das Schmähliche, aus der Ehre das Eitle." (XXX u. XXXI.)
Soweit der erste vom Leben im Allgemeinen handelnde Theil.
Der zweite Theil geisselt die socialen Mängel zur Zeit des
Verfassers; die Eitelkeit, Prunksucht und Schlemmerei der Grossen,
die Verweltlichung und Ausschweifangen der Geistlichkeit, die
Mangelhaftigkeit des Gerichtswesen (wo das Recht für Geld feil
sei). Es ist dieser Theil von etwelchem culturhistorischen Inter-
esse, geht uns aber hier nichts an, da es blosser „Entrüstungs-
pessimismus" ist, welch letzterer durchaus nicht nothwendig mit
allgemeiner Weltverachtung verbunden zu sein braucht. Ebenso
können wir den dritten Theil übergehen, wo Innocenz die Leiden
der Verdammten schildert und beklagt. „Vergeblich wollen die
Verdammten Busse thun; mannigfaltig sind ihre Strafen, unaus-
sprechlich ihre Angst. Sage nicht „„Gott wird nicht ewig zürnen,
seine Barmherzigkeit geht über alles. Der Mensch hat in der Zeit
gesündigt, darum wird Gott nicht ewig strafen"" —
(bekanntlich

*) Es folgt eine stattliche Reihe Hinrichtungsweisen.


70 Der Pessimismus innerhalb des Christenthums.

die Ansicht des Origenes). Thörichte Hoffnung, falscher Wahn!


Es giebt keine Erlösung aus der Hölle, denn fortan wird das Böse
als Neigung stehen bleiben, auch wenn es die That nicht mehr
vollbringen kann. Sie werden den Ewigen lästern und immerfort
wird sich so Schuld und Strafe erneuen."
Innocenz ist sich der Schrecklichkeit dessen, was er als guter
Christ zu glauben sich verbunden sieht, wohl bewusst, und so
illustrirt seine Schrift nach dieser Seite hin auch unsere Behaup-
tung: dass das religiöse Dogma selbst wieder zu einem
ideell - realen Factor der Unlust werden kann. Ebenso ist
sein — uns naturwissenschaftlich disciplinirten Modernen fast ko-
misch vorkommender — Ekel vor den Natürlichkeiten des Menschen
ein Beleg, wie der Glaube an das naturverkennende Dogma die
unmittelbare Wahrnehmung zu beeinflussen vermag.
Während die Klage über die „Eitelkeit" des Strebens und
alles im Leben zu Gewinnenden wesentlich wortreiche Recapitula-
tion der Betrachtungen des „Predigers" und der Lamentationen
Hiobs sind, ist die ästhetische Unzufriedenheit so recht sein
Eigenstes, welches man doch wohl auch nicht so schlechtweg als
unberechtigt bezeichnen darf. Vom Standpunct einer Weltanschau-
ung aus zum Beispiel, welche die Welt als aus Liebe und zum
Glücke der Menschen von einem bewussten, persönlichen Schöpfer
geschaffen annehmen möchte, müsste es doch wohl als räthselhaft
erscheinen, warum der Mensch Ausscheidungen haben muss, die
ihm selbst ekelhaft sind, warum diese so fern den „Balsamsäften"
der Bäume sein müssen, warum so manches „Natürliche" von ihm
.

als unästhetisch verhüllt werden muss, das bei allen mehr religiös
als wissenschaftlich veranlagten Völkern, sobald sie eine gewisse
Culturstufe erreicht hatten, als „unrein" beachtet wurde, warum
endlich die Natur des Menschen eine solche ist, dass mit steigen-
der Cultur der Individuen ein zusammengedrängtes Wohnen, ja
sogar schon ein längerer Aufenthalt im Gedränge zur Quelle grossen
Unbehagens wird, während das üppigste Zusammendrängen pflanz-
lich-vegetativen Lebens nicht nur nicht unangenehm empfunden,
sondern sogar genossen wird.

9. Die Weltverachtung, die officielle Weltanschauung


der christlichen Kirche.

Die Klage des für seine Zeit hochgebildeten, scharfsinnigen


und feinfühligen Kirchenfürsten klingt nun durch die Jahrhunderte
hindurch in den mannigfaltigsten Variationen, je nachdem die eine
Die Weltverachtung, d. offizielle Weltanschauung d. christl. Kirche. 71

oder die andere Seite derselben (mehr der Mangel und das Leiden
oder mehr das Schuldgefühl) sich in den Vordergrund drängt. Als
moralischer Entrüstungspessimismus donnert sie in Buss- und Er-
weckungs - Predigten von der Kanzel, als demüthig - zerknirschtes
Sünder-Bewusstsein reflectirt, wird sie In Bussliedern laut und pro-
ducirt „Beichtspiegel" und allerlei heilsame „ Betrachtungen " und ;

auch der weltliche, aber fromme Dichter weiss zu singen und zu


sagen von der Eitelkeit der „Frau Welte" und ihrer Treulosigkeit.
Die Kunst aber mahnt an die Vergänglichkeit alles Irdischen und
die Nichtigkeit weltlicher Macht und Grösse durch die, besonders
im 14. und 15. Jahrhundert beliebten „Todtentänze". Die Klage
über die Flüchtigkeit der weltlichen Güter und Annehmlichkeiten
fand in diesem Vorwurf eben so gut ihren Ausdruck wie die
fromme Reflexion von der Notwendigkeit, stets auf das Ende ge-
rüstet zu sein; daneben aber mochte sich auch ein durch den—
Schauder nur um so piquanter gemachtes —
Gefühl der Befrie-
digung ergeben, über die Unverfrorenheit, mit der Gevatter Tod
ebenso unbefangen und ungehindert an die sich nur zu oft
drückend genug bemerklich machenden Hoheiten von Fürsten, Papst
und Kaiser heran tritt, wie an den in jenen Zeiten rasch zum Be-
wusstsein seiner Bedeutung heranwachsenden Bürgersmann.
So lange die Kirche die erste Stelle im Culturleben einnahm,
so lange war der Pessimismus in der Form des contemptus mundi
die officielle Weltanschauung; in praxi zwar unterdrückt und üppig
überwuchert von der Lebenslust und instinctiver Lebensbejahung,
welche mit der wieder höher sich hebenden Cultur und Bildung
auch zu höherem Selbstbewusstsein aufloderte, ja sogar bis in die
abgelegensten Klosterzellen hineindrang und dort, wo sie so ganz
und gar im Gegensatze stand zur ausgesprochensten Tendenz, auch
die widerlichsten Früchte zeugte; aber in der Theorie immer als
das Höhere, das Weisere, das Wahrere anerkannt, und auch im
Volksbewusstsein immer wieder siegreich durchdringend, sobald ein
eudämonologisch besonders fatales Ereigniss, Krieg, Pest oder
Hungersnoth es wieder einmal recht lebhaft zum Bewusstsein
brachte, welch' grimmer Vulkan unter der scheinbar so sicheren,
mit zahlreichen Lustblüthen gleissnerisch geschmückten Matte eines
relativ behaglich dahin fliessenden Lebens in der im Emporkommen
begriffenen Gesellschaft verborgen lag.
Auch die Reformatoren, wie sie dem geduldeten Semipela-
gianismus des Katholicismus des Mittelalters und ihrer Zeit gegen-
über die strengeren Sünde- und Prädestinations-Dogmen des Au-
gustinus vertheidigten, waren im Puncte der axiologischen Frage
ganz mit dem grossen Papste des 12. Jahrhunderts einig. Das eine
eonservative, resp. reconstructive Moment der reformatorischen Be-
72 Der Pessimismus innerhalb des Christenthums.

wegimg ging gegen die Verweltlichung der Kirche


ja besonders
und und den genusssüchtigen Leichtsinn der Gemeinde.
die Eitelkeit
In mannigfaltigen, zum Theil kleinen, ja kleinlichsten Zügen zeigte
sich z. B. bei den schweizerischen Reformatoren die Weltverach-
tung in den Zucht- und Sitten-Geboten und den Kleiderordnungen,*)
und dieselbe düstere weltfeindliche Gesinnung theilten auch die
,

brittischen Reformatoren, ein John Knox und die Presbyterianer.


Die andere — wichtigere —Seite der Reformation: die Geistes-
befreiung von der Tradition freilich entfesselte auch eine Ge-
dankenströmung, welche nicht nur bestimmt war, jene Weltver-
achtung, so weit sie überspannt war, durch vorurtheilslose Kritik
zu corrigiren, sondern die auch im Drange ihres aus anderen als
religiösen Quellen sprudelnden Jugendmuthes das vollberechtigte
Element der pessimistischen Weltanschauung überschwemmten und
versandeten, so dass doch auch wieder aus der so ernsten refor-
mirten Kirche heraus, wenn auch nicht von ihr gezeugt, ein Feind
gemüthsinniger, d. h. echter Religiosität geboren wurde.
Auf diese lebensfreudige Reaction gegen die christlich-religiöse
Weltverachtung haben wir im nächsten Capitel einen Blick zu
werfen, bevor wir uns denjenigen Formen des Pessimismus zu-
wenden können, welche sich innerhalb des weltlichen Lebens und
vermittelst wissenschaftlicher, sei es empiristischer, sei es specula-
tiver Betrachtung der Welt und des Lebens zu entwickeln be-
gannen.

*) Besonders Zwingli nahm es mit letzterer genau, und bis zur Stunde
deutet noch mancher Gebrauch auf jene ernste Lebensanschauung hin; so
werden jetzt noch in manchen Dörfern des Cantons Zürich die Kinder in
schwarzem „Taufgerust" zur Taufe gebracht."

Js
III. Capitel.

Der Pessimismus der Wissenschaft


t. Der Optimismus der wiedererwachenden Wissen-
schaft und das Ende des Contemptu Mundi.

Neben dem Pessimismus des Christenthums und neben der


und Sinneslust, worin die Menschen
unreflectirten Weltfreudigkeit
zu allen Zeiten herumtaumelten (in ganz besonders rohen und ab-
stossenden Formen aber gerade zu Ausgang des Mittelalters), gegen
welche die Kirche immer wieder ihre Busspredigt zu richten hatte,
entwickelte sich die optimistische Richtung des sich auf sich selbst
wieder besinnenden Geistes der Wissenschaften.
Die Wissenschaft und die auf ihrem Grunde sich erhebende
Philosophie ist insofern dem Optimismus günstig, als sie die Blüthe
des theoretischen Betrachtungstriebes ist, der die Dinge als solche
und an und für sich in Betracht zieht, ohne unmittelbar auf deren
Wirkung auf das Subject zu reflectiren. Der theoretische Trieb
will nur erkennen; das „Was" ist ihm in erster Linie gleichgültig;
mit der Ueberzeugung, dass er die Wahrheit ergriffen, d. h. dass
seine Vorstellungen dem Seienden adäquat seien, ist sein Wollen
befriedigt. Damit die rein Weltanschauung optimi-
theoretische
stisch sein kann, ist anderes nöthig als die Ueber-
also nichts
zeugung, es sei die Welt so beschaffen, dass es dem denkenden
Geiste möglich werde sie zu erkennen, ihre Formen und den Zu-
sammenhang ihrer Lebenserscheinungen zu begreifen.
Die Erfüllung dieses Postulates des theoretischen Triebes er-
scheint anfanglich auf zwei Arten möglich: entweder indem das
Reale indifferenter, vom Geiste in seine Formen und zu seinen
Zwecken gemodelter Stoff ist; oder aber, indem das Realseiende
(die Natur im engern Sinne: als das Angeschaute im Gegensatze
zum Anschauenden) selbst ein schlummernd Geistiges ist, welches
als Anschauendes zum Bewusstsein erwacht.
74 Der Pessimismus der Wissenschaft.

Die jung aufblühende Wissenschaft hielt sich an die erste


Voraussetzung; als sie aber fortschritt auf ihrem Erkenntnisswege,
so entwickelte sich aus ihren Naturerkenntnissen der Zweifel an
sich selbst, d. h. an der Möglichkeit der Erkenntniss unter der
bisherigen Voraussetzung, die sich als zu Widersprüchen führend
erwies. Die Philosophie gebar den Skepticismus, der zur Zer-
setzung der dualistischen Natur ans chauung führte, und durch den
Kriticismus und erkenntnisstheoretischen Idealismus hindurch zur
zweiten Form der Bedingung der möglichen Erkenntniss: dem
Monismus hintrieb. Der Skepticismus in seinen verschiedenen
Formen ist aber der Pessimismus der theoretischen
Philosophie.
Bevor jedoch die aus mehr als tausendjährigem Schlafe wie-
dererwachte freie Wissenschaft aus sich heraus den Zweifel an
ihrer Fähigkeit, Immanenz und Transcendenz zu umfassen, erzeugte,
ging der belebende Hauch frischer Natur- und Lebensfreudigkeit
von ihr aus, der alle Gebiete und Gestaltungen des Lebens durch-
drang und die Weltanschauung durchaus modificirte; denn mit
den neuen Objecten, die dem Geiste sich boten, entstanden dem
Handeln neue Motive, dem Gefühle und dem practischen Urteils-
vermögen neue Postulate.
Derjenige Pessimismus zu dem sich die pessimistischen An-
,

schauungen und Erfahrungen *) des Alterthums und des Christen-


thums krystallisirt hatten, war theils ein zu engbegrenzter, theils
war er ein Wurf über das Ziel hinaus. Zu eng begrenzt war
der alte Pessimismus (contemptus mundi), weil er als die Wurzel
alles Uebels die Natur im engeren Sinne erachtete, statt tiefer zu
graben und die Ursache und Bedingung der Uebel jeder Form
im individualisirten Sein als solchem zu erkennen. Ein Wurf
über 's Ziel hinaus aber war es, den Begriff der Verschuldung
über die Sphäre des bewussten Wollens auf das Natursein zu über-
tragen, und so das einfache Uebel des Seins zu „der Uebel gröss-
tem,
44
der Schuld, zu stempeln.
Die Entwickelung der Begriffe gut und böse, Tugend und
Sünde, Gerechtigkeit und Schuld, hatte sich unter der vorherrschen-
den Bethätigung des praktischen Sinnes in Form des sich allseitig
entfaltenden religiösen Bewusstseins vollzogen; so tief und hoch-
gehend die Begriffe gefasst wurden und so subtil ausgearbeitet
und ciselirt im Detail sie auch waren, im grossen Ganzen, in Be-
zug auf das Sein als Solches waren sie so zu sagen nur Rohguss,

*) Wir bitten unserer Unterscheidung zwischen dem Substantivum


„Pessimismus" und dem Adjectiv und Adverb „pessimistisch stets einge-
denk zu sein.
Der Optimismus der wiedererwachenden Wissenschaft etc. 75

dessen überall vorspringende Gussränder und Näthe zu entfernen,


die Aufgabe des theoretischen Triebes als Religio ns- und Moral-
Philosophie ist.
Das erste und oberste Object des wiedererwachten theore-
tischen Triebes war die Natur, deren Begriff sich unter der Herr-
schaft des religiösen Bewusstseins verengt hatte, und welchen die
Wissenschaft nun wieder erweitern musste bis zu seinen äussersten
Grenzen der natura naturalis.
Gewiss hatte der wissenschaftliche Optimismus, d. h. jene
stolze Freude über das Erkennen einer erkennbaren Welt, schon
die Herzen der Scholastiker gehoben; aber die dogmatische Voraus-
setzung der Vernunftgemässheit des religiösen Dogmas und die
Uebereinstimmung der höchsten Spitze der wissenschaftlichen Er-
kenntniss mit der vermeintlichen geoffenbarten Wahrheit war nicht
nur ein Hemmschuh für die Wissenschaft und ihre Träger selbst,
indem es ihnen die Objecte vor jedem Beginn der Untersuchung
fälschte, sondern es hinderte auch die Einwirkung der Wissenschaft
auf die Weltanschauung der Laien, welche es natürlich sicherer
und bequemer finden mussten, sich an das von der Kirchenlehre
d i r e c t gebotene zu halten statt an das auf so subtilen Pfaden
,

der Wissenschaft errungene; besonders da die Grenze zwischen


hochverdienstlicher Feinheit und Ketzerei so haarscharf und
unendlich complicirt gezogen war, so dass jedes Licht, welches
einseitig von der Wissenschaft in's Leben hineinfiel, von der Furcht
und der Unlust des Zweifels begleitet war.
Es giebt kein practisches Werthurtheil über das Seiende ganz
ohne die Bethätigung des theoretischen Triebes, also keine reli-
giöse Weltanschauung ohne Einmischung theoretischer Geistes-
producte; es giebt aber auch keine theoretischen Urtheile über
das Weltsein, ohne dass die Gefühlsurtheile bewusst oder un-
bewusst hinein spielen, and ebenso giebt es keine wissenschaft-
liche Weltanschauung ohne practische Consequenzen.
Aus der religiösen Weltanschauung und aus den wissenschaft-
lichen Seinsvorstellungen heraus aber krystallisirt sich die jeweilige
Culturform. Was wir das Zeitalter der Renaissance nennen, das
ist die Zeit, wo der theoretische Trieb wieder unter den höchst-
begabtesten Völkern die Oberhand gewinnt und in den Vorder-
grund tritt, nunmehr die wissenschaftliche Vorstel-
so dass
lungs- und Gestaltungskraft den maassgebenden Factor in
der Culturbewegung abgiebt, nachdem er mehr als 1000 Jahre
lang von dem religiösen Bewusstsein in secundäre Stellung zurück-
gedrängt war. Die grossen Geister der Renaissance-Periode er-
oberten —
befruchtet von den Ideen des classischen Alterfchumes
— dem Gedanken die Freiheit von der Autorität, und der Mensch-
76 Der Pessimismus der Wissenschaft.

heit dieUnmittelbarkeit der Naturanschauung zurück; sie


befreitendie Natur von der Anklage der Corruption und das
Sein von dem ihm anhaftenden Begriff der Schuld.
Im 17. Jahrhundert mit Baco von Verulam (1561 1626), —
Cartesius (1595—1650) und Spinoza (1632—1677) ist das Ziel
der Befreiung der Wissenschaft erreicht; diese Namen bezeichnen
den Beginn der neuen Zeit, der Zeit der Herrschaft des theore-
tischen Triebes, sie bezeichnen auch das Ende des alten, unter dem
Regime des religiösen Sinnes systematisirten Pessimismus der
Weltverachtung. Die Ideen dieser auf der Schwelle der Neu-
Zeit stehenden Männer bilden die Unterlage, auf der sich ein
naturalistischerund idealistischer Optimismus bilden konnte. Baco
von Verulam lehrt die Natur ohne die Brille des Dogmas und
der Scholastik betrachten. Er setzte die Empirie an die Stelle der
Autorität, und die Empirie schenkte der Menschheit eine Natur,
der man sich nicht mehr zu schämen hatte, sondern die mit
Staunen und Bewunderung erfüllte: nicht mehr die Himmel allein,
die Erde und ihre Bewohner begannen die Ehre Gottes zu er^
zählen.
Cartesius setzte als das Prius der Wissenschaft statt des
scholastischen Glaubens an das Dogma den Zweifel an Allem
ausser an dem Zweifeln selbst, als der Thätigkeit des denkenden
Geistes: cogito ergo sum. Mit Cartesius ist der Bruch zwischen
der Wissenschaft und der Kirche positiv vollzogen; denn nicht
mehr der Logos, wie er als supernaturale Offenbarung von Gott
kommt, sondern der Logos, wie er aus der Natur des menschlichen
Geistes herausspricht, ist nun Quelle aller Weisheit und das allein
positive, vor dessen Forum sich sogar Gott erst nach Möglichkeit,
Wahrscheinlichkeit , Wirklichkeit und Notwendigkeit muss prüfen
lassen. Aus dann auch nicht nur alles
dieser Position heraus wird
dasjenige glücklich herausgeholt, was Postulat des theoretischen
Triebes ist, also die Erkennbarkeit der Welt und der Zusammen-
hang ihrer Combinationsmomente, sondern sogar auch die Gemüths-
postulate: Glück, (ewiges) Leben, Gott.
Spinoza endlich befreite die Weltanschauung von der Ueber-
Spannung des Begriffes der Schuld und des Bösen in seiner
Anwendung auf das Sein als solches. Innerhalb eines stricten
Monismus, dem alles Sein nur Modus des Seins der Einen Sub-
stanz (= Gott) ist, kann nicht Raum sein für den auf das Sein an-
gewendeten Begriff der Schuld. „Böse" und „gut" sind nichts wirk-
liches an den Dingen; auch nicht Gott macht etwas zu gut oder
böse, sondern es sind dies relative Begriffe. Die Idee des Bösen
ist nicht bei Gott, und da nichts ausser Gott geschieht, so giebt
es keine Sünde; wir nennen „gut", was uns nützt, „böse", „übel",
Der Optimismus der wiedererwachenden Wissenschaft etc. 77

was uns schadet. Das letztere ist nur eine Privation von gewissen
Eigenschaften, nicht aber etwas Positives. Das Gute ist das Nütz-
liehe, nützlich aber ist was uns zu grösserer Realität bringt, was
das Sein extensiv und intensiv steigert. Nun ist zwar unser wahres
Wesen Erkennen, mithin die wirksamste Steigerung unseres Seins
1

die Erweiterung des Erkenntnissvermögens, dessen höchstes Ziel


[ die Erkenntniss Gottes und unseres eigenen Wesens in ihm ist;
aber der Entwickelung des einen Attributs des Seins: des Denkens,
geht die des andern: der Ausdehnung, parallel, und sind daher die
Förderungen der natürlichen Seite, fern davon ein Hinderniss zu
sein, auch ein Gut und daher empfehlenswert!!, weil ihrerseits auch
! fähig, dem ersten, höhern Zweck zu dienen.
Die Weltanschauung Spinoza's ist intellectueller Optimismus;
seine Ethik ist Klugheitsmoral (wie die epikureische) und Ver-
nunftsmoral (wie die Lehre der Stoa); aber sie steht höher als die
Moral Epikurs, weil sie wie diejenige der Stoa das religiöse Ge-
! fühl und das Princip des Rückhaltes am Absoluten mit einschliesst,
und sie steht höher als die Lehre der Stoa, weil sie auf einer
|
höhern theoretischen Philosophie sich erhebt, als diese mit
ihrem Dualismus von Vernunft und Materie darstellte.
Es bewegt sich aller Fortschritt in Gegensätzen. Wenn auch
!

Hegel nicht beizustimmen ist, dass der Widerspruch die Trieb-


feder alles Geschehens und der Durchgang durch den Widerspruch
der Weg zur höhern Stufe ist, so ist es doch ganz sicher eine
empirische Wahrheit, dass aller Fortgang in erster Linie ein sol-
cher zum Gegensatz ist, bei welchem sich anfänglich und be-
sonders für die Träger seiner Realisation nur das Widerspruchs-
moment zum Bewusstsein ringt, und jeder gewonnene höhere Stand-
punet ist uns deshalb der höhere, weil er, wenn auch nicht die
Gegensätze in sich rein zur Synthese aufhebt so doch beiden
,

Rechnung trägt. Es geschieht dies positiv vermittelst eines


„sowohl als auch", negativ aber durch ein „weder, noch", welches
„weder, noch" eben diejenigen Momente an Position und Contra-
position trifft, welche über das Wahrheitsziel hinausschössen.
Der Pessimismus innerhalb des Christenthumes hatte das Ziel
überflogen, indem er das Uebel zur Sünde und zu der Sünde Lohn
machte. Er hatte zur Empfindung des realen Leides der Welt
noch den Stachel der Reflexion hinzugefügt und dazu ein neues
ideal-reales Leidensmoment hinzugeschaffen, indem er die Schuld
aus der immanenten und interindividualistischen Sphäre in das
transcendente Gebiet der Seinscausalität erweiterte.
Hierzu bildet die Lehre des Spinoza den behufs des Fort-
schrittes geforderten Gegensatz: denn indem sie die unberech-
tigte und überspannte Verquickung von Uebel und Schuld annu-
78 Der Pessimismus der Wissenschaft.

lirte, schwächte sie auch den Begriff der Schuld innerhalb seiner
berechtigten Sphäre ab und schaffte mit ihrer Anschauung von
gut und böse die Möglichkeit, dass im Dienste der egoistischen
Klugheitsmoral der Begriff der Schuld ganz und gar hinweg-so-
phisticirtwerden konnte. Auch trägt der Intellectualismus dem
tiefstenSehnen der Menschenbrust nicht Rechnung, weil er nur der
einen Hälfte der seelischen Energien entspringt. Auf mehr als
genug ihrer Blätter bezeugt es die Weltgeschichte, dass der Mensch
nicht nur .zu leiden, sondern sogar freiwillig zu leiden vermag,
aber er will wissen (resp. zu wissen vermeinen!), warum er leidet.
Die Lehre des Spinoza nimmt zwar dem Weltelend den giftigen
Stachel der Schuld-Theorie, aber dadurch, dass das Böse und das
Uebel bloss relativ dieses für den Menschen sind, nicht aber an
sich, sondern an sich gleichwerthige Modi des absoluten Wesens,
hören sie doch nicht auf, für den Menschen zu sein, was sie re-
lativ sind, d. h. für die Empfindung bleibt Uebel Uebel. Es hat
aber Spinoza keine Antwort darauf, warum solche Modi sind —
sein müssen, welche zwar in der Idee des Absoluten nicht als
Böses vorhanden sind, wohl aber für das Absolute dieses
werden, sofern das Absolute in der Entfremdung der Verend-
lichung zum Subjecte des Fühlens geworden ist.
Als den .Vater des Optimismus der neuern Zeit bezeichnet
man in der Regel Leibniz, der es in seiner populär-philosophisch
gehaltenen Theodicee unternahm, die bestehende Welt als die
bestmögliche Welt darzustellen. Mundus optimus ist aber das
Sein schon bei Spinoza, da die modi der Existenz und die Sub-
sistenz der Substanz, oder mit andern Worten die natura naturata
und die natura naturans, nicht durch einen Act der Willkür ge-
trennt sind, sondern die Existenz der Substanz sich in ihren Attri-
buten ganz so auswirkt, wie sie kraft ihrer Substanzialität es
muss. Des Leibniz Aufgabe war nur, diesen Gedanken zu po-
pularisiren, mit der noch dominir enden christlichen Gottesvor-
stellung womöglich in Einklang zu setzen, ganz besonders
aber, ihn von der Grundlage des Monismus auf den Boden des
pluralistischen Individualismus zu verpflanzen.

2. Der Skepticismus als der Pessimismus der


Wissenschaft.

Mit Locke (1632) beginnt jene Wendung der auf der Em-
welche bestimmt war, zum Zweifel an
pirie fussenden Philosophie,
der Bedingung ihrer eigenen Existenz als Wahrheitser-
Der Skepticismus als der Pessimismus der Wissenschaft. 79

kennung fort zu führen. Indem Locke nachwies, dass die bisher


angenommenen angeborenen Ideen nicht vorhanden seien, son-
dern alles, was der Geist in sich habe, ihm durch die Sinnesein-
d rücke zugeführt worden sei, welche Sinneseindrücke sich dann
mannigfach combinirten, ergab sich als Consequenz (die aber
Locke selbst noch nicht zog), dass nichts Anspruch auf Wahr-
heit undGewissheit habe, als was direct und unmittelbar durch
die Sinneswahrnehmung gegeben sei. Bei dieser Anschauung ist
natürlich übersehen, dass ihre sensualistische Voraussetzung eben-
falls über die Wahrheit hinausschiesst, indem sie in den, dem Irr-
thum von den angeborenen Ideen entgegengesetzten verfällt:
dadurch, dass sie die apriorische Befähigung: die sinnlichen Ein-
drücke zu den reinen Anschauungsformen und begrifflichen Kate-
gorien zu verarbeiten, übersieht.
Diese Anfänge des Skepticismus entwickelten sich nun nach
zwei Richtungen hin, erstens zum Sensualismus und Materia-
lismus und zweitens zum erkenntnisstheoretischen Idealismus.
Die Naturphilosophie führt zum Materialismus, indem der an
sich leere Geist, dem ja all' sein Inhalt und Material nur von den
Sinnen, indirect also wieder nur von der Action der äussern Dinge
übermittelt wird, aus seiner bisher innegehabten, zwar auch nur
dualistisch coordinirten, aber doch vorzüglichen Stellung zur bloss
secundären, gewordenen Position herab sinkt. Nicht mehr ein sub-
stanzielles Nebeneinander wie bei Cartesius, nicht mehr ein
Nebeneinander der Attribute der Substanz, wie bei Spinoza, sind
Geist und Materie, sondern es erscheint der Geist als blosse Wir-
kung der Materie.
Es ist Aufgabe der Geschichte der Philosophie, oder einer
Monographie über die Entwickelung des Monismus, darzustellen,
welche Rolle das Bedürfniss nach monistischer Weltanschauung
bei der Genesis des Materialismus spielt, und wie derselbe ein ein-
seitiges und überspanntes, aber kaum zu entbehrendes Durchgangs-
moment auf dem Entwickelungswege von einer pantheistischen
Emanationstheorie durch den Dualismus hindurch zu dem modernen
Monismus des Geistes bildet wir haben an dieser Stelle bloss sein
;

Vorhandensein zu constatiren und zu sehen, wie er auf die axio-


logische Weltanschauung wirkt. Und da ist es denn ein
schillerndes, flackerndes Licht, welches von dieser Naturtheorie aus
auf das Leben fällt.
Es erscheint dadurch die Natur im engern Sinne gehoben,
indem jede einzelne Form des Naturseins keinem ausser sich
liegenden Zwecke dient, sondern in ihrem Sein und So-sein sich
selbst Zweck ist; auch verliert das Natur übel seinen verblüffenden
Charakter, denn von einer blinden, rein- mechanischen Natur kann
80 Der Pessimismus der Wissenschaft.

man keine Rücksichten verlangen, und braucht sich nicht über die
Sinnlosigkeit zu wundern, mit der sie das Werthvolle mit dem
Werthlosen gleichzeitig zerstört, da solche Unterschiede nur für den
Menschen vorhanden sind. Die Naturgenüsse, d. h. die sinnlichen
Genüsse vermittelst der Hingabe an die mit Lustempfindung ver-
bundenen Instincte, gewinnen an Werth, dagegen sind alle höheren
moralischen Ideale blosses Hirngespinnst ohne objective Bedeutung;
jede Beziehung des Sinnenfälligen auf transcendentes Sein blosser
Trug des auf Irrwege gelangten Verstandes und daher nur schäd-
lich und zu bekämpfen.
Die Wirkungen einer solchen Theorie auf die verschiedenen
Charactere und unter verschiedenen Lagen und Geschicken des
Lebens sind leicht zu begreifen. Die Thatsachen bleiben jeder
Theorie gegenüber dieselben; das Leben bietet der überwiegenden
Mehrzahl der empfindenden und denkenden Geschöpfe eine kaum
unterbrochene Kette von Sorgen, Mühen, Leiden und Schmerzen
und nur einer kleinen Minderzahl eine derart geschützte Lebens-
lage, dass die in ihr Geborgenen von dem groben Geschütze des
Weltleides nicht getroffen werden, während das leichte Geschoss
der Unlust vermöge eines flüchtigen Sinnes oder etwelcher mora-
lischer Dickhäutigkeit minder empfunden wird. Gleich bleibt sich
auch der Drang des Menschen nach Stillung seines Lebenstriebes,
seines Glückverlangens, und gleich bleibt für jeden Denkenden das
Bewusstsein von der Incongruenz von Wollen und Erlangen.
Wonun die materialistische Theorie von einem Geist und
Character erfasst wird, in dem sich zu starken sinnlichen Trieben
ein vorherrschender Sinn fürs Reale und Concrete gesellt, da
muss dem, der keine andere Grenze anerkennt als seine Macht,
keinen Zügel duldet als denjenigen, den ihm die egoistische Klug-
heit widerwillig aufdrängt, ein rücksichtsloser Egoismus als allein
vernünftige Maxime gelten, entsprechend der absoluten Zweck-
losigkeit und Herrscherlosigkeit des zwar nothwendigen, aber ge-
rade in seiner Notwendigkeit doch wieder nur zufalligen Seins.
Wo aber eine idealistisch veranlagte Natur theoretisch überzeugt
wird von der blossen Materialität und blinden, zwecklosen Mechanik
der Welt, da muss sich zur Unlust des real empfundenen Unge-
maches des Lebens noch düstere Trauer des Herzens gesellen über
die Unseligkeit des Naturzufalles, der des Menschen Geist nur des-
wegen zur Selbsterkenntniss heranbildet, um ihn seine theuersten
Gebilde als Trug und Schaum zertrümmern zu lassen; Trauer über
eine Naturnothwendigkeit, die ihre Geschöpfe zwingt, sich selbst
zu opfern für die wesenlosen Gebilde ihres eigenen subjectiven
Wahnes. Ein solcher Mensch muss gleichzeitig aus seinem Wahr-
heitspathos heraus das Irrgehen des Geistes verachten, welches
Der Skepticismus als der Pessimismus der Wissenschaft. 81

Götter und Seligkeiten, Gewissen und moralische Ideale schuf, und


wieder den Zwang beklagen, der den tröstlichen und erhebenden
Wahn zerstört, zerstören muss zu Ehren einer Wahrheit, die
keines höheren Werthes theilhaftig ist als auch der Trug.
Wo volle Klarheit über die Wertlosigkeit der Welt unter
Voraussetzung der blossen Materialität und Mechanicität des Seins
zum Durchbruch gekommen, da muss ein streng consequentes
Denken zu einer solchen allumfassenden Existenzverachtung führen,
als deren praktischer Ausdruck der Selbstmord sich ergiebt; und
alles, was diesen auf dem soeben geschilderten Standpunct ver-
hindern kann, wie anticipirtes Mitleid mit den zu Hinterlassenden,
Sehen, feige zu erscheinen, Bewusstsein des eigenen Werthes
für das Gemeinde- oder Gesammtwohl, Furcht vor dem mit der
Selbstzerstörung verbundenen physischen Schmerzen u. s. w. alles
ist nur Mangel an vollkommener Einsicht in die Tragweite der
theoretisch adoptirten Naturauffassung.
Die aufgezählten Bedenken können aber auch als Maske für
den von der pessimistischen Erkenntniss unberührt gebliebenen
instinetiven Lebensdrang dienen; wird in diesem Falle schliesslich
die Maske als solche erkannt, so mag diese Einsicht durch die
niederschlagende Wirkung auf den Intellect dazu führen, dass nun
doch die hierdurch noch gesteigerte Weltverachtung zum wirksamen
Motiv der Lebens Vernichtung werden kann.
Die Kriegslist der Natur lässt es aber selten dazu kommen,
dass ein Individuum vermittelst einer Idee sich selbst die Existenz-
möglichkeit abschneidet. Theorien, so lange sie noch lebendig, das
heisst motivationskräftig in einem Geiste leben und nicht bloss rein-
intellectuelle Beproduction eines historisch Gegebenen sind, sind
öfter in inconsequenter, lückenhafter Gestaltung vorhanden als in
fein und scharf auskrystallisirter Form.
So sehen wir denn auch den Sensualismus und Materialismus,
wie er sich aus dem Empirismus der Engländer zuerst in Frank-
reich im Laufe des 18. Jahrhunderts entwickelte (Condillac, Hel-
vetius, La Mettrie, Systeme de la nature) eine solche Bichtung
nehmen, welche auch da, wo sie sich mit Verachtung, Zorn
und Hohn gegen das Leben wendet, dieses letztere doch nur in
seinen historischen Formen (Gesellschaft, Staat und vor allem
Kirche) verurtheilt, nicht aber an sich. Sie fasst die zersetzende
Kraft der sensualistischen und materialistischen Theorien nur erst
in ihrer dem Optimismus dienenden Bichtung ins Auge, sofern sieh,
dieselben gegen jene Producte des religiösen Gestaltungsprocesses
richten lassen, die einen verdüsternden Schatten auf das natürliche
Leben zu werfen vermögen. Erst das 19. Jahrhundert zog die
schlimmen axiologischen Consequenzen des Materialismus.
Plümacher, Pessimismus. Q
82 Der Pessimismus der Wissenschaft.

Im 16. und 17. Jahrhundert hatte die Wissenschaft sich prin-


cipiell emancipirt; die sensualistische und materialistische Popular-
Philosophie des 18. Jahrhunderts emancipirte die Gesellschaft von
der Kirche. In der Epoche des Kampfes vergass man die Zwei-
schneidigkeit der Waffe, die man gebrauchte, vergass wie sich
ihre Schneide gegen den eigenen Träger wenden musste, sobald
der Gegner zurückgedrängt war.
Die Aufklärungs- Philosophie war optimistisch, weil sie die
Wurzel der das Leben beschwerenden Uebel in historisch gewor-
denen Formen und Gestaltungen eines Wahnes und des auf diesen
sich stützenden Eigennutzes und Missbrauchs der Kräfte zu er-
kennen glaubte, und in der Befreiung hiervon und in der Rückkehr
zur Natur und dem Naturrecht die Garantie und das Mittel für
das Glücksziel erblickte.
Dabei wurde das Naturleben entweder in idealistischerem
Sinne und unter Wahrung eines abstracten Deismus als ein idyl-
lischer Zustand der Tugendhaftigkeit und allgemeinen Menschen-
liebe vorgestellt, oder aber rücksichtslos der sinnliche Hedonismus
(wie ihn ein Helvetius und das Systeme de la nature predigte) auf
den Thron erhoben. W^o aber auf die unregierbaren Naturübel
und die gefährdenden sogenannten „Zufälligkeiten", wie sie überall
in unerschöpflicher Mannigfaltigkeit aus dem Zusammenstossen der
menschlichen Interessen (auch ohne Mitwirkung einer bösen Absicht)
entstehen, reflectirt wird, z. B. in Voltaire's „Candide," da ge-
schieht es in Opposition gegen den religiösen Optimismus, der
dem eudämonistischen Zug der Zeit folgend, die aus dem pessi-
mistischen Bewusstsein entsprossenen Dogmen möglichst igno-
rirte, ein Verfahren, wodurch aber das Gewebe, dem seine dunklen
Kettenfäden entzogen werden, fadenscheinig und rissig wird.
In Deutschland entwickelte sich eine parallele Bewegung, die
auf idealistischen, die Locke'sche und Hume'sche Leugnung
der angeborenen Ideen wesentlich modificirenden Anschauungen
fusste, ihren Schwerpunct im erkenntnisstheoretischen Gebiete
hatte, während ihre practische, culturielle Wirkungsweise sich
ebenfalls als Aufklärung darstellte.
Leibniz (164(5 — 1716) übersetzt den Substanzbegriff des
Spinoza ins Pluralistische und bekommt so als Wesen des Ichs
die „fensterlose Monade", deren gesammter Wissensinhalt nicht
von aussen kommt, sondern von innen erzeugt wird. Es ist dies
der idealistische Gegensatz zum Sensualismus und wie dieser die
Frucht des Bedenkens: dass ein für sich seiender Geist und eine
für sich seiende Materie nicht zu einer Durchdringung in Form
der Welterkenntniss kommen könnten. Der Sensualismus verliert
im Streben nach einer einheitlichen Naturauffassung den Geist r
Der Skepticisrnus als der Pessimismus der Wissenschaft. 83

Leibniz die Möglichkeit eines realen Causalnexus und


verliert
Welt zu einer Summe von mehr oder minder voll-
verflüchtigt die
kommenen Weltvorstellungen in den fensterlosen Monaden,
welche letztere die Realität des Ausser-ihnen-seienden nur durch
den philosophischen Saltomortale der Idee der „prästabilirten
Harmonie" zu begründen vermögen.
Die substantielle Monade muss, wenn der Rausch über das
negative Erkenntnissresultat verflogen und die Unfähigkeit der Idee
der prästabilirten Harmonie, den realen Causalnexus zu ersetzen,
erkannt ist, zum wissenschaftlichen Pessimismus führen. Denn
wenn es auch dem theoretischen Triebe gleich ist, was er in der
Erkenntniss gewinnt, so ist doch die Erkenntniss des Nicht-wissen-
könnens ein solcher Widerspruch, dass er die theoretische Welt-
verzweiflung erzeugen muss: 1. wir können nichts wissen; 2. wir
können nicht wissen, ob wir nichts wissen können; 3. wir können
nicht wissen, ob wir berechtigt sind anzunehmen, dass wir nicht
wissen können, dass wir nichts wissen —
so geht die Widerspruchs-
kette fort in infinitum.
Die .prästabilirte Harmonie" des Leibniz ist zwar nur eine
vorübergehende, unhaltbare erkenntnisstheoretische Rettung des
nicht zu missenden Glaubens an die Realität einer ausser unserer
Vorstellung real existirenden Welt der Vielheit; aber sie ist da-
neben (so lange sie hält) in inniger Verbindung mit dem ebenfalls
optimistischen Dogma eines vollkommenen, allweisen, allmächtigen
Gottes, den sie als den Grund und Schöpfer der Harmonie zur
Voraussetzung hat, auch ein vollsaftiges Optimismusmoment.
Denn aus den Prämissen der Seinsharmonie und ihres Schöpfers
soll sich ergeben: dass die Welt die bestmögliche Welt sei,
weil, wenn eine bessere möglich gewesen wäre, Gott sie auch
sicherlich erschaffen hätte.
Nicht um eine Hinwegleugnung der empirischen Uebel und
der Unzulänglichkeit der moralischen Beschaffenheit der Mensch-
heit gegenüber dem ethischen Ideal der Zeitepoche handelt es
sich bei der Theodicee des Leibniz, sondern um eine Entschul-
digung der Weltmängel dadurch, dass diese als die nothwendigen
Glieder am Organismus des Weltseins und als die nothwendige
Folge der Endlichkeit der vielen Einzelnen verstanden werden.
Bezüglich der Gottesrechtfertigung vermittelst dieser Auffassung
des Uebels. ist nichts Neues geboten; auch die specifisch religiöse
Weltanschauung hatte versucht, ihren Gott von dem begangenen
Fehler, des Sündenfalls fähige Geister geschaffen zu haben, dadurch
frei zu sprechen, dass die Möglichkeit des Missbrauchs der Freiheit
als eine nicht von dem Begriff der Freiheit loszutrennende aufge-
fasst wurde; ebensowenig neu ist der Verschönerungsversuch der
6*
84 Der Pessimismus der Wissenschaft.

empirischen Welt durch die Idee: es sei das Uebel bloss priva
tiven oder negativen Characters, denn diesen Schleichweg ver-
suchte schon Augustinus zu gehen, und das Uebel als blossen
Mangel des Guten zu erklären; eine Ansicht die nach ihm auch
Scotus Erigena und Abälard nutzbar zu machen versuchten
Die Popularisirung dieser Ideen war aber ein zeitgemässes Be
ginnen. Unstichhaltig vor der Kritik, wie die Lehre von der
„besten Welt" ist, die das Empirische (die Positivität des Uebels)
negiren zu können meint vermittelst Deduction aus einem Princip,
welches inductiv unnachweisbar ist, kam sie doch dem Be-
dürfniss der Zeit entgegen, denn das erwachte theoretische Gewissen
(welches auch innerhalb der Theologie in Form des reformato-
rischen und protestantischen Princips lebte und wirkte) hatte die
Autorität des Dogmas von der Gegensätzlichkeit des Irdischen und
Himmlischen untergraben und das Glücksverlangen wünschte schon
in diesem Leben etwelche reelle Garantie für die Gewährung seiner
Forderungen. Man hielt an der Hoffnung des künftigen Lebens
fest; damit man aber an die Vorzüglichkeit des Jenseits sollte
glauben können, schien es nöthig, an der Güte der Welt gleich-
sam eine Probe für die Macht und Weisheit des Schöpfers und
Herrn des künftigen Lebens zu haben. Der Leibniz'sche Optimis-
mus kam der, aus der langen Zurückdrängung des eudämonistischen
Dranges durch das kirchlich -heteronome Moralgesetz sich zur
Freiheit durchdringenden Lebensfreudigkeit zu sehr entgegen, als
dass man seine Blossen sogleich und allgemein wahrgenommen
hätte; vielmehr wurde dieser Optimismus die vorherrschende Welt-
anschauung der auf Leibniz folgenden Zeit. Er wurde gleicher-
massen von den Philosophen wie von den Theologen acceptirt, und
die Umrisslinien des Systems wurden auch vom grossen Publicum
als bequeme theoretische Rechtfertigung der, allem Ungemach der
Natur und der historischen Gestaltungen zum Trotze florirenden
instinctiven Lebensliebe dankbar entgegengenommen.
Die Leibniz'sche deutsche Auf klär ungs- Philosophie hat mit
ihrer französischen Schwester die Opposition gegen die maassge-
bendsten Dogmen der Kirche gemein; sie theilt mit ihr die
Illusion, dass bei vernunftgemässer Gestaltung des Lebens die
jetzt noch die Menschheit belastenden Uebel zum grössten Theile
überwunden werden könnten; ferner den Zug zur Individuali-
sir ung und der Verherrlichung des Individualismus (welcher in
den kirchlich gestimmten Zeiten nicht voll aufkommen konnte, ob-
gleich er sich schon mit dem Geiste der Reformation lebhaft zu
regen begann, wo er sich im religiösen Gebiete durch Secten-
bildung äusserte). Die deutsche Aufklärung blieb dagegen dem
naturwissenschaftlichen Materialismus noch ferne, aber ganz wie
Maupertuis. 85

die französische Aufklärungs-Philosophie verflachte sich ihr Eudä-


monismus in Utiliarismus; es wird stets nach dem „Nutzen* gefragt
und die verherrlichte Vernunft hinunter gezogen in den Dienst
hausbackener Annehmlichkeit.

3. Maupertuis.

Wenn nun aber auch die Weltanschauung des 18. Jahrhunderts


im Grossen und Ganzen als optimistisch bezeichnet werden muss,
so fehlt es doch auch diesem Zeitabschnitt (wie wir bereits her-
vorzuheben versuchten) nicht nur nicht an Gedankenkeimen, aas
denen sich mit der Zeit pessimistische Anschauungen entwickeln
mussten, sondern auch nicht gänzlich an ausgesprochenen
pessimistischen Urtheilen über den Werth des Lebens über-
haupt, nicht nur unter gewissen factischen Verhältnissen.
Wir haben bereits auf Voltaires r Candide" hingewiesen, in
welchem philosophirenden Romane der Leibniz'sche Optimismus
verspottet und vermittelst der Schilderung der verschiedenen Ca-
lamitäten im Leben des Helden gegen die vulgär- optimistisch auf-
geputzte Religion geplänkelt wird. Philosophisch viel werthvoller
ist aber ein Essay des Mathematikers Maupertuis, des Zeitge-
nossen Voltaires, worin dieser in vollkommen ruhig-objectiver
Weise seine Ansicht: dass im natürlichen, gewöhnlichen
Leben die Summe der Unlust die Summe der Lust über-
wiege, durch psychologische Erörterungen zu beweisen sucht.
Durch die Berücksichtigung dieses Essays von Seite Kants, durch
die Adoption einer in demselben dargelegten Auffassung der Lust
und Unlust von Seiten des letztern, sowie endlich durch die Ueber-
einstimmung desselben mit den Theorien des modernen Pessimis-
mus, wird dieser Maupert uis'sche Pessimismus sehr interessant;
für uns aber besonders noch deshalb, weil die moderne Pessimis-
mus-Kritik die Maupertuissche Idee von den bloss quantitativen
Unterschieden in der Lust —
resp. Unlust —
als E. von Hart-
manns willkürlich, der pessimistischen Theorie zuliebe vollzogene
.Erfindung" bekämpft. Maupertuis sagt in „Essai de Phil.
Morale"):* „Ich nenne Lust (plaisir) jede Empfindung (perception),
welche die Seele lieber erfahren will als nicht erfahren. Ich
nenne Unlust (peine) jede Empfindung, welche die Seele lieber
nicht erfahren möchte als erfahren. Jede Empfindung, welche

*) „Oeuvres," Lyon, Bruyset, 1756. I. Tom. Eine deutsche Uebersetzung


ist uns nicht bekannt.
86 D er Pessimismus der Wissenschaft.

•dieSeele festhalten möchte, welche sie nicht abwesend wünscht,


während welcher sie weder wünscht in eine andere Empfindung
überzugehen noch zu schlafen, ist Lust.
Die Zeit, während welcher eine solche Empfindung dauert,
nenne ich ein Glücks -Moment (moment heureux). Jede Empfin-
dung, welcher die Seele ausweichen möchte, welche sie abwesend
wünscht, während welcher sie wünscht in einen andern Zustand
überzugehen oder zu schlafen, ist Unlust. Die Zeit während der
Dauer dieser Empfindung nenne ich ein Unglücks-Moment (moment
malheureux). Ich sage nicht, es giebt indifferente Empfindungen,
deren Vorhandensein oder Abwesenheit gleichgiltig ist, aber wenn
es solche giebt, so ist deren Dauer weder ein Glücks- noch
ein Unglücks - Moment (p. 193). Bei jedem Glücks- oder
Unglücks-Moment ist nicht allein die Dauer in Betracht zu ziehen,
sondern auch die Grösse, die Intensität. Daher kann eine Em-
pfindung der Lust, die lange dauert, aber schwach ist, eine andere,
die kürzer dauert, aber intensiver ist, aufwiegen, und so ähnlich
bei den Empfindungen der Unlust. „Eine doppelte Intensität und
eine einfache Dauer können einem Moment gleich kommen, dessen
Intensität einfach und dessen Dauer doppelt ist" (p. 195). Die
Dauer einer Empfindung kann man messen vermittelst künstlicher
Instrumente, nicht so die Intensität; aber wenn man dies auch
nicht mit einem Instrumente kann, so hat doch jeder Mensch ein
ganz sicheres Urtheil, nach welchem er kurz dauernde starke und
lang dauernde schwache Lust — resp. Unlust — gegeneinander
abwiegt (p. 196).
„Das Wohl (le Summe von Glücks-Momenten,
bien) ist eine
das Uebel (lemal) ist eine Summe von Unglücks-Momenten. Das
Glück (le bonheur) ist die Summe des Wohles (des biens), welche
übrig bleibtnachdem man alle Uebel (les maux) abgezogen hat.
Das Unglück (le malheur) ist die Summe der Uebel, welche übrig
bleibt, nachdem man alles Wohl (les biens) abgezogen hat.
tt

(p- 197).
W enn man mit Voraussetzung obiger Definition des Begriffes
Lust und Unlust das Leben prüft, so „wird man erschrecken es ,

mit Unlust überfüllt zu sehen, und wie wenig Lust man dagegen
findet." „Wahrlich wie selten sind die Empfindungen, welche die
Seele zu bewahren wünscht? Ist das Leben etwas anderes, als ein
beständiger Wunsch, die Empfindung zu wechseln? Es geht dahiu
in Verlangen und die Zwischenzeit, welche das Verlangen von
seiner Erfüllung trennt, wünschen wir vernichtet (aneanti): oft
wünschen wir Tage, Monate gänzlich übergangen, und wenn Gott
diese unsere Wünsche erfüllte und die Zeiten, die wir hinweg-
wünschen, wirklich aus unserem Leben streichen würde, es würde
Maupertuis. 87

nicht viel übrig bleiben, vielleicht vom längsten Leben nur einige
Stunden" (p. 202).
Es gäbe — fährt Maupertuis fort — wohl wenig Menschen,
welche nicht zugestehen, dass ihr Leben mehr mit Unlust-Momenten
als mit Momenten der Lust erfüllt war, auch wenn sie nur die
Länge der Dauer der verschiedenen Empfindungs-Momente in
Betracht ziehen; wird aber auch die Intensität mit in Rechnung
gebracht, dann zeigt sich der Ueberschuss der Unlust über die
Lust als noch grösser und der Satz wird noch wahrer: „dass in
dem gewöhnlichen Leben die Summe der Uebel die Summe des

Wohls übertreffe" (p. 202 203). „Alle Zerstreuungen der Menschen
haben die Unlust zu ihrer Voraussetzung; nur um den un-
angenehmen Empfindungen (perceptions fächeuses) enthoben zu
sein, spielt der eine Schach, der andere geht auf die Jagd: Alle
suchen in ernsthaften oder frivolen Beschäftigungen sich selbst zu
vergessen. Auch findet man sehr Wenige, die noch einmal alle
die Zustände durchempfinden möchten, in denen sie sich schou
befanden haben; ist damit nicht klar gezeigt, dass des Uebels
mehr ist als des Wohls?"
Wir kommen nun zu den Erörterungen über die Natur der
Lust- resp. Unlust-Empfindung als solcher, d. h. abgelöst
von deren inhaltlichen Bestimmung, wodurch eine Empfindung, ab-
gesehen davon dass sie Last oder Unlust ist, auch „diese" oder
„jene" Empfindung ist.

„Lust und Unlust (als solche) sind Seelenvorgänge, sie sind


nichts anderes als Empfindungen (perceptions) der einzige Unter-
.
;

schied ist, dass die einen durch Erregung von aussen erzeugt
werden, die andern durch Bewegung der Seele selbst. „Ich nenne
die einen Lust und Unlust des Körpers, die andern Lust und Un-
lust der Seele" (p. 208). Es ist zu verneinen, das Lust und Unlust
des Körpers nicht echte Lust und Unlust sind. „Der Philosoph,
der sagt, dass die Gicht kein Uebel sei, sagt eine Dummheit
(sottise), oder will damit nur sagen, dass dieselbe die Seele nicht
mangelhaft mache, sagt also eine Trivialität. Die Lust und Un-
lust des Körpers formen ohne Widerrede die Summe der Glücks-
und Unglücks-Momente, das Uebel und das Wohl. Die Lust und
Unlust der Seele formen ähnliche andere Summen; weder die einen
noch die andern dürfen vernachlässigt werden, man muss beide in
Rechnung bringen."
Hierzu sagt Maupertuis in der Vorrede zur Gesammt- Aus-
gabe seiner Werke: Manche hätten sich an dieser Ansicht bezüg-
lich der Gleichstellung der aus den Sinnen und der aus der Seele
stammenden Lust und Unlust gestossen; diese hätten eben ohne
Zweifel seine Definition der Begriffe Lust und Unlust vergessen,
88 Der Pessimismus der Wissenschaft.

und eben so, dass der Werth (die Grösse) der Lust und Unlust
von deren Dauer wie von deren Intensität abhänge. „Wir be-
finden uns nicht in der Illusion zu glauben, dass die eine Lust
niinder edler Natur sei als die andere; die Lust ist die edelste,
welche am grössten ist." Es zeigt aber die Untersuchung, dass
die aus der Seele stammende Lust dauernder ist, als die aus den
Sinnen stammende und das macht sie zur werthvolleren (p. 184,
ebenso p. 218— 219).
Die Lust und die Unlust, welche durch die Sinne vermittelt
werden, haben die Eigentümlichkeit, dass die Lust mit der Dauer
ihrer Ursache sich mindert, die Unlust aber sich mit der Dauer
ihrer Ursache vermehrt. Dauert die Lust zu lange, so hört sie
auf und die Ursache ihrer Entstehung wird zur Unbequemlichkeit.
Die Ursachen der Unlust können lange dauern, und je länger sie
dauern, um so schmerzlicher ist ihre Wirkung. Nur einige Theile
des Körpers vermögen Lust zu vermitteln, aber der ganze Körper
vermag Schmerz zu empfinden. Die zu lange oder zu häufige Be-
nützung der Objecte, welche die Lust der Sinne veranlassen, haben
körperliche Störungen zur Folge, und man wird nur noch kränker
durch zu häufige oder zu andauernde Wirkung der Unlust erzeugender
Objecte: es gibt hier kein Ausgleich. Das Maass der Lust,
die unser Körper uns schmecken lässt, hat enge Grenzen; das
Maass der Unlust ist grenzenlos (p. 210 211). —
Wenn man aber einwenden wollte, dass auch der Schmerz
seine Grenzen habe, indem er wie die Lust die Empfindung ab-
stumpfe, so gelte das nur von einem extremen Schmerze, wie er
nicht zu den gewöhnlichen Vorkommnissen (Zustand, etat) der
Menschen gehöre, und welchem auch keine Gattung von Lust
gegenüber gestellt werden könnte.
Günstiger stellt sich das Verhältniss für die aus der Seele
stammende Lust und Unlust. Nicht nur ist die Lust der Seele
dauernder, die Dauer und die Wiederholung vergrössert sie auch.
Die Seele empfindet sie in ihrer ganzen Ausdehnung und sie wird
durch dieselbe gekräftigt. Unter Lust, resp. Unlust der Seele ver-
steht aber Maupertuis nur solche Empfindungen, die aus der
Uebung der Sittlichkeit, resp. Unterlassung derselben, und aus
der Erkenntniss der Wahrheit, resp. aus dem Mangel derselben,
fliessen.
Alle andern, Furcht, Hoffnung u. s. w. entstammen den Sinnen,
es sind nur nähere oder fernere Objecte, auf die sie sich beziehen.
Der Gedanke, dass „man seine Pflicht nicht gethan habe, ist nun
auch eine sehr leidvolle Unlust (peine tres douloureuse): aber es
hängt von uns ab, ihn aufzuheben: sie ist sich selbst ihr Prä-
servativ. Was nun die Unlust angeht, die aus dem Nichterkennen
Maupertuis. 89

können resultirt, so meint Maupertuis (sehr bezeichnend für seine Zeit):


der weise Mann hänge sein Herz nur an die Erkenntniss solcher
Wahrheiten, die nützlich seien, und diese werde er leicht entdecken!
Und da er glauben will, dass es „ Weise" giebt, denen das Leben
dahinfliesst in der Uebung der Tugend und dem Suchen nach
Wahrheit, dass es mithin Menschen giebt, die in den eudämonologisch
günstigsten Verhältnissen stehen, so sind diese erstens doch immer-
hin den aus dem Körper stammenden Leiden ausgesetzt, und
zweitens sind solche „ Weise" doch viel zu wenig zahlreich, als dass
der Satz von dem Ueberwiegen der Unlust über die Lust sollte
aufhören, wahr zu sein.
Trotz alledem ist Maupertuis nicht Pessimist im modernen
Sinne, denn er lässt seinem Satze, dass im Leben mehr Unlust als
Lust sei, nicht den Nachsatz folgen: „mithin wäre das Dasein besser
nicht vorhanden." Er meint vielmehr einen sichern Weg zum
Glücke gefunden zu haben; die Wendung zum Optimismus ist zu
characteristisch für die Vor-Kantsche Zeit, als dass wir sie über-
gehen dürften.
Da Menschen ist, glücklich zu sein, so gilt
es das Ziel jedes
es zu diesem Ende, entweder die Lust zu mehren, oder die Unlust
zu mindern; erstem Weg schlug der Epikureismus, letzteren der
Stoicismus ein. Unter den gegebenen Verhältnissen hat der letz-
tere Weg wohl eher Aussicht, das Ziel zu erreichen: der Stoicis-
mus aber hat es nicht erreicht, ungeachtet seiner vielen guten
Eigenschaften. Ein besseres, sichereres Mittel bietet das Christen-
thum. Vermittelst der Liebe zu Gott und der selbstvergessenden
Liebe zu den Menschen, besonders aber durch die Zuversicht auf
ein glücklicheres Leben nach dem Tode, vermag der Mensch das
Verhältniss zwischen Lust und Unlust zu Gunsten der ersteren zu
modificiren.
Freilich Verstössen die christlichen Dogmen gegen unseren
Verstand, aber auch die GottesbegrifFe und Vorstellungen des Stoi-
cismus sind nicht befriedigend, und alle Systeme lassen dieselben
Dunkelheiten über die wichtigsten Fragen bestehen. Aus diesem
Grunde lässt Maupertuis sich nicht abhalten, den christlichen
Glauben zu acceptiren; „soll ich dasjenige System, welches
mein Verlangen glücklich zu sein erfüllt, nicht für das
Wahre erkennen? Darf ich nicht glauben, dass dasjenige, was
mich zur Glückseligkeit führt, mich nicht täuscht?"
90 Der Pessimismus der Wissenschaft.

4. Kant und der Pessimismus und die Sittenlehre.

Mit Kant beginnt nicht nur ein neuer Abschnitt der Ge-
schichte der Philosophie, sondern auch die pessimistische Lebens-
betrachtung erhält von ihm eine neue Wendung, indem sie in ein
bisher nicht vorhandenes Verhältniss zur Sittlichkeit gerückt wird.
Aber wie nicht Kant schlechthin, sondern erst der Kant der
„Kritik der reinen Vernunft" der Eckstein der modernen Phi-
losophie wird, so ist auch für Kant die pessimistische Weltan-
schauung erst das Ergebniss seiner gereiften Jahre. Aus der Reihen-
folge seiner Werke lässt sich das Heranwachsen derselben zu der
Form, in welcher sie die Frucht der anti-eudämonistischen
Sittenlehre erzeugt, annähernd verfolgen.
Der junge Kant philosophirt im Sinne Leibniz' und der Ver-
nünftigkeitsphilosophie Wolf's, und ganz in diesem Sinne schreibt
er im Jahr 1759 seinen „Versuch einiger Betrachtungen über den
Optimismus". Ganz durchdrungen und gehoben durch das Be-
wusstsein, wie herrlich weit die raisonnirende Vernunft es nun-
mehr in der Begriffsbildung gebracht, geht er an seine Aufgabe,
die Berechtigung der Annahme, dass unsere Welt die bestmög-
liche der Welten sei, vermittelst Deduction aus dem Begriffe Gott
zu erhärten.
Aus dem „ geziemenden Begriff", den
man sich nunmehr von
Gott macht, ergiebt sich „als ganz natürlich, dass, wenn dieser
wählt, er das Beste wählt." Anzunehmen, dass keine Welt mög-
lich ist, über die sich nicht noch eine bessere denken lässt, ver-
stösst gegen den rechtgläubigen Begriff von Gott, indem darin eine
Beschränkung von dessen Denkvermögen enthalten ist. Gott muss
alle denkbar möglichen Welten denken können, also muss er auch
die positiv beste Welt gedacht haben. Es sind aber auch nicht
zwei oder mehrere gleich gute Welten möglich; denn der Grad
der Güte besteht in dem Grad der Realität. Nun kann aber Rea-
lität von Realität nicht unterschieden werden, es geschehe denn
dadurch, dass in dem einen zu vergleichenden Ding etwas nega-
tives gedacht wird, mithin können zwei Welten nur durch den
Grad ihrer Realität unterschieden werden. Die Gegner des Opti-
mismus sagen, es sei so wenig eine vollkommenste Welt zu denken,
als eine grösste Zahl; aber man darf die Eigenschaften der Zahl
nicht auf den Begriff der Realität übertragen; es giebt allerdings
keine Zahl, auch keine Geschwindigkeit, über die sich nicht eine
noch grössere Zahl, noch grössere Geschwindigkeit denken Hesse,
aber das sind betrü gliche Begriffe, die selbst der göttliche Ver-
Kant und der Pessimismus und die Sittenlehre. 91

stand nicht denkt. Es ist keine grösste Zahl möglich, wohl aber
grösste Realität und diese zwar in Gott. Was der realsten Welt
nun an absoluter Realität mangelt, das ist eben nur dasjenige, was
ihr nothwendig mangelt als einem Endlichen gegenüber dem Un-
endlichen; die Welt aber, die zunächst jener Kluft steht, welche
die endliche Realität von der Unendlichkeit in Gott trennt, mithin
zusammen mit letzterer die absolut grösste Summe der Realität
abgiebt, diese Welt musste Gott zum Schaffen wählen.
So ist denn Kant überzeugt und erfreut, sich als „Bürger
einer Welt zu wissen, möglich war. Von dem
die nicht besser
besten unter allen Wesen
zu dem vollkommensten unter allen mög-
lichen Entwürfen als ein geringes Glied, an mir selbst unwürdig,
und nur um des Ganzen willen auserlesen, schätze ich mein Da-
sein desto höher, weil ich erkoren ward, indem besten Plane eine
Stelle einzunehmen. Ich rufe allen Geschöpfen zu: Heil uns, wir
sind! und der Schöpfer hat an uns sein Wohlgefallen."
In dieser Betrachtung ist das Ziel nur zu zeigen, dass „das
Ganze das Beste sei, und Alles um des Ganzen willen gut." Es
handelt sich dabei nur um das Interesse des religiösen Gemüthes,
welches seinen Gott als Schöpfer einer tadellosen Welt wissen will;
nicht aber handelt es sich um den Werth der Welt, resp. den
Werth der Existenz in einer solchen für das Individuum.
Erst im Jahre 1763, in der Abh. „Versuch, den Begriff der
negativen Grössen in die Weltweisheit einzuführen" behandelt
Kant das Verhältniss von Lust und Unlust zum Zwecke einer
Bilanz beider und des auf dieser gegründeten Urtheils über den
eudämonologischen Werth der Welt.
Hier tritt Leibniz Lehre von dem bloss privativen
er bereits
Character Unlust entgegen. Unlust ist nicht lediglich ein
der
Mangel, sondern eine positive Empfindung und die blosse Nega-
tion der Lust ist die Indifferenz.
„Der Mangel der Lust sowohl als der Unlust, insofern er eine
Folge aus der Realopposition gleicher Gründe ist, heisst Gleich-
gewicht; beides ist Zero, das erstere eine Verneinung schlechthin,
das zweite eine Beraubung. Der Zustand des Gemüths, in welchem
bei ungleich entgegengesetzter Lust und Unlust von einer dieser
Empfindungen etwas übrig bleibt, heisst das Uebergewicht der Lust
oder Unlust. Nach dergleichen Begriffen suchte der Herr von
Maupertuis in seinem Versuch der moralischen Weltweisheit die
Summe der Glückseligkeit des menschlichen Lebens zu schätzen,
und sie kann auch nicht anders geschätzt werden . . Aber .

freilich mit dem Resultate des Maupertuis kann Kant damals


noch nicht übereinstimmen; denn er theilt damals noch die land-
92 Der Pessimismus der Wissenschaft.

läufige Meinung, dass sinnliche und geistige Lust unvergleichlich


seien und „nur gleichartige Empfindungen in Summen gezogen
werden können, während das Gefühl in dem verwickelten Zustande
des Lebens nach der Mannigfaltigkeit der Rührungen sehr ver-
schieden scheint."
Ferner kann er dem negativen Facit noch nicht seinen Bei-
fall ertheilen; den Grund hiezu findet er aber nicht a posteriori
vermittelst eines Vergleichs der Lust und Unlustquellen, sondern
a priori auf Grund einer eigenthümlichen Fassung des Begriffes
Realität. Er calculirt nämlich: alle Bewegungen, alle positiven
und negativen Wirkungen heben sich dadurch, dass jeder positiven
Grösse eine solche negative entsprechen muss, im Ganzen gegen-
seitig auf, so dass die Summe stets gleich Zero bleibt. „In allen
natürlichen Veränderungen der Welt wird die Summe der Posi-
tiven, insofern sie dadurch geschätzt wird, dass einstimmige Posi-
tionen addirt und real entgegengesetzte von einander abgezogen
werden, weder vermehrt noch vermindert."
Der haltbare Gedanke in dieser Untersuchung ist der in der
modernen Wissenschaft eingebürgerte Begriff der Erhaltung der
Energie; das Irrthümliche aber beruht auf der Uebertragung der
Kraftverhältnisse auf die Sphäre der Idealität der Empfindung, als
ob die Grösse der Empfmdungswerthe der äusseren Kraftsumme
adäquat sein müsste, während doch die Selbstbeobachtung mit hin-
länglicher Klarheit erkennen lässt, dass zwischen den Realitäts-
Energien (wenn wir so sagen dürfen) und den Empfindungsreflexen
keine durchgehende Parallelität besteht. Die mechanischen Ge-
setze behalten zwar noch in den physiologischen Vorgängen, soweit
dieselben als somatische der objectiven Welt angehören, volle Gel-
tung, finden aber am idealen Gebiete der rein psychologischen Be-
wegungen ihre Grenze, ohne dass es dadurch nöthig würde, eine
Wesenseinheit beider Gebiete (Einheit des metaphysischen Sub-
jectes der physiologischen und psychologischen Action) zu be-
zweifeln.
Die Art und Weise, wie Kant diese Gleichgewichtstheorie im

psychologischen Gebiete beweisen will (B. I. pp. 52 58 ed. Har-
tenstein) ist ganz ungenügend; denn wenn auch dem Grad einer
Begehrung der Grad der Abneigung entsprechend angenommen
werden muss, so giebt es doch eine Grenze (und zwar sowohl in-
traindividuell wie interindividuell) wo nur noch die Abneigung,
,

resp. die Unlustempfindung möglich ist. Intraindividuell ist diese


Grenze da vorhanden, wo gewisse Naturvorgänge niedrigen Orga-
nismen zwar Schmerz (Unlust) zu erzeugen vermögen, nicht aber
Lust, was ebenso sehr von dem Verhältniss der Empfindungen zu
den somatisch-physiologischen Vorgängen abhängt, als auch seine
Kant und der Pessimismus und die Sittenlehre. 93

Ursache in der Natur der Bewusstseinsentstehung hat*); in-


terindividuell aber ist injedem Menschen zum mindesten wohl ein
Gebiet, wo er zwar der Abneigung und der Unlust, nicht aber der
Begierde und der Lust fähig ist. Aber selbst wenn man Kant's
Meinung von dem Ausgleich der Lust und Unlust vermittelst der
Gleichgewichtserhaltung der die Realität setzenden Energie gelten
lässt, so ist damit doch schon ein bedeutsamer Schritt abseits des
Optimismus des Leibniz gemacht: denn es wird mit dieser Gleich-
gewichtstheorie ebenso der optimistische Lustüberschuss wie der
Maupertuis'sche Unlust -Saldo verneint. Mithin wäre von diesem
Standpunct aus die Frage, ob das Weltsein ein Wohl oder ein
Unglück sei, mit einem „weder, noch" zu beantworten; d. h. der
eudämonologische Werth der Welt wäre auch ein dem Zero gleich-
kommender. Sollte daher die Weltanschauung eine optimistische
sein, so könnte sie dies nur als religiöse sein, indem der Schwer-
punct der axiologischen Betrachtung in das Bewusstsein Gottes
verlegt würde und in die erstrebte und erhoffte Theilnahme an
demselben von Seite des in religiöser Hingabe an Gott sich über
die Welt Erhebenden.
Und so ist es auch wohl gemeint, wenn der zuerst angeführ-
ten Abhandlung entsprechend die Vorzüglichkeit der Welt darin
erkannt werden soll, dass sie mit Gottes Realität zusammen die
grösste Summe der letzteren überhaupt geben soll, und wenn in
dem vorliegenden Essay betont wird, dass in Gott keine Privation
oder Negation stattfinden könne, mithin keine Unlust möglich sei.
„Weil in ihm (Gott) und durch ihn alles gegeben ist, so ist durch
den Allbesitz der Bestimmungen in seinem Dasein keine innere
Aufhebung möglich. Um
dessenwillen ist das Gefühl der Unlust
kein Prädicat, welches der Gottheit geziemt."
Aber der Kant der „Kritik der reinen Vernunft", der „Grund-
legung der Metaphysik der Sitten", der „Kritik der praktischen
Vernunft" und der Abhandlung „über das Misslingen aller philos.
Versuche der Theodicee" hat die Anschauungen seiner Leibniz-
Wolf'sehen Periode so verändert, dass E. von Hart mann sich be-
rechtigt erachtet, ihn den „Vater des Pessimismus" zu nennen. **)
Das axiologische Urtheil, die Voraussetzung, unter welcher
allein in philosophischem (nicht religiös-theologischem) Sinne von
Optimismus oder Pessimismus gesprochen werden kann, wird ihm
nun nicht 'mehr behindert durch die vermeintliche Unvergleich-

*) Ein Punct der erst durch E. von Hartmann zur vollen Klarheit
gelangt.
**) „Zur Geschichte des Pessimismus". I. Berlin, C. Duncker 1880.
94 -D er Pessimismus der Wissenschaft.

lichkeit der verschiedenen Empfindungsweisen, resp. ihrer Ver-


mittelung.
4
In der „Krit. d. prakt. Vera. (1. TL, 1. B., 1. Cap.) theilt
'
.

Kant die Anschauung Manpertnis, dass die Lust, resp. Unlust,


als solche nur dem Grade nach Unterschiede zeige, also Lust,
resp. Unlust, als solche gleich sei, ob ihre Quelle sinnlicher oder
geistiger Natur sei. „Die Vorstellungen der Gegenstände mögen
noch so ungleichartig, sie mögen Verstandes-, selbst Vernunffcs-
vorstellungen im Gegensatz der Vorstellungen der Sinne sein, so
ist das Gefühl der Lust, wodurch jene doch eigentlich mir den
Bestimmungsgrund des Willens ausmachen nicht allein sofern
,

von einerlei Art, dass es jederzeit empirisch erkannt werden kann,


sondern auch sofern, als es eine und dieselbe Lebenskraft, die
sich im Begehrungsvermögen äussert, afficirt und in dieser Be-
ziehung von jedem andern Bestimmungsgrunde in nichts als dem
Grade verschieden sein kann. Wie würde man sonst zwischen
zwei der Vorstellungsart nach gänzlich verschiedenen Bestimmungs-
gründen eine Vergleichung der Grösse nach anstellen können,
um den, der am meisten das Begehrungsvermögen afficirt, vorzu-
ziehen?" *)
Damit ist der gegen Maupertuis ausgesprochene Zweifel be-
züglich der Zulässigkeit seiner Bilanzziehung zurückgenommen
und die Möglichkeit eines axiologischen Urtheils zugestanden; es
handelt sich jetzt nur noch um Kant 's Meinung bezüglich des
negativen Resultates der Bilanz.
Auch diese ist nunmehr eine ganz andere geworden: eine in
jeder Hinsicht pessimistische.
Wenn man sich hierüber meistens täuschen konnte und wenn
gegenüber Hartmann's oben genanntem Essay wiederholt geltend
gemacht wurde, dass Kants Weltanschauung ein ethischer Opti-
mismus sei, so erklärt sich dies dadurch, dass Kant trotz der
Selbstständigkeit seines Geistes und ungeachtet er seine Zeit über-
ragt,wie jeder echte, bahnbrechende Philosoph es thun muss, doch
der Tendenz des Zeitgeistes den Tribut zahlt, dass er die Einheit
von Tugend und Glückseligkeit, die er als empirisch nicht
nachweisbar constatiren muss, als Postulat stehen lässt,
auch nachdem er zur Ueberzeugung gelängt ist, dass eine solche
Verbindung nicht im Weltplan zu liegen scheine, indem für das
Wohlsein, die Glückseligkeit vermittelst der Naturordnung nicht

*) Es folgen dann einige Beispiele wie man zwischen Befriedigungen


der höhern und niedrigem Belehrungen wählt. Und in der „Anthropolo-
gie" 2. B. § 58 giebtKant eine Definition von Vergnügen und Schmerz,:
welche mit derjenigen des Maupertuis genau übereinstimmt.
Kant und der Pessimismus und die Sittenlehre. 95

genügend vorgesorgt sei. „Wäre an einem Wesen, das Vernunft


und einen Willen hat, seine Erhaltung, sein Wohlergehen, mit
einem Worte seine Glückseligkeit der eigentliche Zweck der Natur,
so hätte sie ihre Veranstaltung dazu sehr schlecht getroffen, sich
die Vernunft des Geschöpfes zur Ausrichterin dieser ihrer Absicht
zu ersehen. Denn alle Handlungen, die es in dieser Absicht aus-
zuüben hat, und die ganze Regel seines Verhaltens würden ihm weit
genauer durch Instinct vorgezeichnet und jener Zweck weit sicherer
dadurch haben erreicht werden können;" höchstens, meint Kant,
hätte die Vernunft dazu dienen müssen, die glückliche Anlage der
Natur zu bewundern, nicht aber als praktische Vernunft in die
Naturabsicht zu pfuschen und einen Entwurf zur Glückseligkeit zu
entwerfen; „denn je cultivirter die Vernunft ist, die sich mit der
Absicht auf den Genuss des Lebens und der Glückseligkeit abgiebt,
desto weiter kommt der Mensch von der wahren Zufriedenheit ab."
Sowohl diegesammte bisherige Philosophie als nicht minder
die orthodoxe Theologie hatte die Glückseligkeit und Sittlichkeit
in ein causales Verhältniss gesetzt; entweder die Uebung der Sitt-
lichkeit war das Mittel, sich die Glückseligkeit in diesem oder
einem andern Leben Lohn zu gewinnen, oder die Uebung der
als
Sittlichkeit wurde beglückende Moment, weil dem
selbst als das
wahren Selbst des Menschen adäquate Verhalten erachtet. In bei-
den Fällen war das Streben nach Sittlichkeit eine Forderung der
im Dienste des Glückseligkeit verlangenden Naturtriebes stehenden
Klugheit. Die Sittlichkeit und ihr objectiver Bestand, die sittliche
Weltordnung, mochte ihre Stellung im Weltplan und gegenüber
der Gottheit sein, welche sie wollte, stand dem Menschen nicht
als ein selbstständig Höheres, objectiv Werthvolles gegenüber, son-
dern war für ihn und in Bezug auf ihn ein blosses Mittel zu dem
obersten Ziele, der individuellen Glückseligkeit.
Der Name des „Vaters des Pessimismus" für Kant ist hin-
länglich begründet durch die Lostrennung der individuellen Glück-
seligkeit aus dem Weltplan, durch den Bruch mit der eudämoni-
stischen Illusion als ob das „höchste Gut", die Verbindung von
,

Glückseligkeit und Tugend, gleichwie es ein Gemüthspostulat ist,


so auch ein Moment des Weltplanes sei.
Was Kant für die Ethik geleistet hat, das hat er gelei-
stet sofern er Pessimist war. Sittlichkeit ist Handeln nach
der Vernunft aus Achtung vor derselben, und deren Achtungs-
würdigkeit besteht in ihrer Allgemeingültigkeit und unbedingten
Souveränität und Selbstzwecklichkeit. Indem man sich in den
Dienst der Vernunft stellt, verschafft man sich zwar die Zufrieden-
heit mit sich selbst, aber dies ist nur ein negatives Wohlgefallen,
eine bloss intellectuelle Billigung seiner selbst, fern von positiver
96 Der Pessimismus der Wissenschaft.

Lust. Den rechtschaffenen Mann hält zwar im Unglück, dass er


hätte vermeiden können, wenn er sich über die Forderung der
Pflicht hinweggesetzt hätte, das Bewusstsein aufrecht, seine Men-
schenwürde erhalten zu haben, aber „dieser Trost ist nicht Glück-
seligkeit, auch nicht der mindeste Theil derselben." „Beweis: nie-
mand wünscht sich die Gelegenheit dazu; aber da er einmal lebt,
und die Verhältnisse sich ihm so gestalteten, so kann er es nicht
dulden, in seinen eigenen Augen unwürdig zu. sein."
Pessimistisch vertieft wird dieses Verhältniss der Sittlichkeit
zur Empfindung noch dadurch, dass die Stellung der moralischen
Weltordnung und ihr metaphysischer Zusammenhang mit der natür-
lichen Ordnung unerkennbar bleibt. Es ist das Verdienst der
Kant'schen Ethik, dass sie die Sittlichkeit aus ihrer dienenden
Stellung zum Individual-Eudämonismus befreit; es ist ihre Schwäche,
dass sie nicht vermag, dieselbe als Mittel zu höheren, nicht indi-
viduellen Weltzwecken zu begreifen, sondern dieselbe, weil sie
gegenüber dem egoistischen Individuum Selbstberechtigung bean-
spruchen darf, nun auch schlechthin für selbstständig erklärt, wo-
durch sie der Sympathie verlustig geht. Die Kant'sche Sittlich-
keit, der das unlustvolle Opfer der Neigung und der natürlichen
Triebe gebracht werden soll, dient nur dazu, die Vernunft zu ver-
herrlichen; diese selbst steht aber mit all' ihrer Selbstherrlichkeit
als ein kaltes, leeres Factum da, bei dem der volle, ganze Mensch,
der noch mehr als formalistische Verständigkeit ist, sich nicht be-
ruhigen kann. Man kann das individualistische Wohl dem allge-
meinen Wohl, die individual-eudämonistischen Ziele der Gottes-
Eudämonie opfern, aber man kann nicht sein volles Geistesleben
einer Seite desselben allein und ausschliesslich unterstellen, wie
es bei der das Gemüthsleben vermittelst der Ausscheidung der Ge-
fühlsmoral unterdrückenden Sittenlehre Kant 's gefordert ist. Der
in der Luft schwebende Formalismus der Kant'schen Ethik, ver-
bunden mit der Ahnung, dass die erhabenste Sittlichkeit nicht
Selbstzweck, nicht letztes Ziel der Existenz sein könne, während
doch kein objectiver Zweck unter den Voraussetzungen dieser
theoretischen Philosophie berechtigt erschien, dies veranlasste dazu,
das Gemüthspostulat zu conserviren, welches nunmehr den täuschen-
den Schein einer optimistischen Weltanschauung zu erzeugen ver-
mochte, während in Wirklichkeit unter Kant's Voraussetzungen,
wie in der theoretischen Philosophie die Skepsis, so in der prak-
tischen Philosophie einzig und allein die Resignation das letzte
Wort behält.
Denn selbst wenn der Mensch in der religiösen Thätigkeit
hinausstrebt über das Gewisse der Erfahrung und über das Sollen
der Pflicht, und mit der gläubigen Sehnsucht ein jenseitiges Ge-
Kant und der Pessimismus und die Sittenlehre. 97

biet umfasst, wo die Verbindung der Tugend und der Glückselig-


keit allein zu suchen ist, so tritt ihm auch dort noch ein pessi-
mistisches Bedenken entgegen, sobald er das Ersehnte mit dem
Gedanken zu fassen sich bemüht: denn wie soll der glückselige
Zustand zu denken sein? Als Thätigkeit nicht, die Thätigkeit setzt
als Motiv einen Mangel voraus und verlangt ein Ziel; die An-
näherung an das letztere schliesst auf jedem jeweilig erreichten
Standpunct die volle Zufriedenheit aus, weil jedem Zustand ein
besserer als erst zu erreichender übersteht. Also als Ruhe; aber
die ewige Ruhe, als Zustand wo keine Zeit mehr ist und keinerlei
Veränderung, weil Veränderung die Zeit eo ipso mit setzt, erscheint
Kant als eine „die Einbildung empörende Vorstellung," —
eine
solche Ruhe wäre Versteinerung und Erstarrung, nicht besser als
Vernichtung.
Kant will als religiöser Mensch
die Hoffnung nicht aufgeben,
dass ein absolutes Wesen welches in den göttlichen Eigen-
sei,
schaften der Heiligkeit, der Gütigkeit und der Gerechtigkeit exi-
stire, und in dem die Bestmöglichkeit der Welt und die Möglich-
keit des höchsten Gutes —
obgleich dieses nicht zu denken ist —
garantirt ist; aber als Philosoph kann er nicht beweisen, was er
hofft. Im Jahr 17iJl schreibt er „über das Misslingen aller phil.
Versuche in der Theodicee" und zeigt die Fadenscheinigkeit der
Versuche, die Zweckwidrigkeiten der Sünde (des moralisch Bösen),
des Uebels (des Schmerzes) und des Missverhältnisses zwischen
Verbrechen und Strafe mit der optimistisch - religiösen Anschau-
ung des Verhältnisses von Gott und Welt in Einklang zu
bringen.
Das Böse kann nicht damit entschuldigt werden, dass es sich
auf die Schranken der Natur des Menschen, seine Endlichkeit
gründe; denn in diesem Falle würde das Böse aufhören, ein mora-
lisch Böses zu sein, und es würde nicht Gott wegen der Zulassung,
sondern das Böse .selbst gerechtfertigt. Auch der Begriff der Zu-
lassung ist nicht stichhaltig, denn wenn Gott das moralisch Böse
zulassen musste um anderer Gründe willen, so ist damit wieder
das Böse als solches gerechtfertigt, was eben nicht sein soll; denn
nur Gott wegen Zulassung des Bösen, nicht dieses selbst soll ja
gerechtfertigt werden.
Bezüglich des Uebels (des Schmerzes) in der Welt ist es eine
Sophisterei, wenn die Optimisten behaupten wollen: es müssten
doch wohl die Annehmlichkeiten die Uebel überwiegen, da doch
ein Jeder, wie immer es ihm auch ergehe, lieber leben als todt
sein wolle. Die Antwort hierauf, meint Kant, könne man „jedem
Menschen von gesundem Verstände der lange genug gelebt und
,

über den Werth des Lebens nachgedacht habe, überlassen, indem


Plümacher, Pessimismus. 7
98 Der Pessimismus der Wissenschaft.

man ihn frage ob er wohl nicht nur auf dieselben sondern auf
, ,

jede anderen ihm beliebigen Bedingungen (nur nicht etwa einer


Feen- sondern dieser unserer Erdenwelt) das Spiel des Lebens
noch einmal durchzuspielen Lust hätte."
Wenn man aber wollte geltend machen, es könne der Schmerz
nicht vom Vergnügen getrennt werden *) so könne man hierauf
,

erwidern: warum uns denn Gott in ein Leben gerufen habe, wel-
ches uns nach einem richtigen Ueb erschlag nicht wünschenswerth
erscheinen müsse? Und auf die Einwendung, dass die Welt nur'
der künftigen Glückseligkeit willen geschaffen sei, dass dieser aber
ein mühevoller Kampf vorangehen müsse, erwidert er: dass diese
Prüfungszeit („der die Meisten unterliegen, und in welcher auch
der Beste seines Lebens nicht froh werden könne") vor der höch-
sten Weissheit durchaus Bedingung der dereinst zu geniessenden
Freude sein müsse, und dass es nicht thunlich gewesen, das Ge-
schöpf mit jeder Epoche seines Lebens zufrieden werden zu lassen,
könne zwar vorgegeben, aber schlechterdings nicht einge-
sehen werden; „man kann also freilich den Knoten durch Be-
rufung auf die höchste Weisheit, die es so gewollt hat, durch-
hauen, aber nicht auflösen."
Endlich mit Bezug auf das Verhältniss von Vergehen und
Strafe bezeichnet er es als einen Irrthum zu glauben, dass das
böse Gewissen hinlängliche Strafe sei, wo die äussere Vergeltung
fehle; hiebei trage der tugendhafte Mann seine Weise zu empfin-
den auf den Lasterhaften über, was nicht statthaft sei. Denn um
so tugendhafter der Mensch, um so mehr peinige ihn das Gewissen
um kleiner Vergehungen willen, wogegen der Lasterhafte der
Aengstlichkeit der Redlichen lache, so lange er nur äusserer Züch-
tigung entgehen kann.
Die Uebel, welche angeblich als Wetzstein der Tugend dienen
sollen, erscheinen der Erfahrung gemäss oft, als ob sie nicht da
seien, damit der Tugendhafte seine Tugend rein zeige, sondern weil
sie es schon ist, d. h. entgegen kluger Selbstliebe, mithin also ge-
rade als das Gegentheil der Gerechtigkeit, wie solche der Mensch
sich vorstellen muss. Wenn nun aber auch wieder auf eine andere
Ordnung der Dinge in einer künftigen Welt verwiesen werden
sollte, so ist diese Voraussetzung auch willkürlich: „denn was hat
die Vernunft für ihre theoretische Vermuthung anderes zum Leit-
faden als die Naturordnung? wie kann sie erwarten, dass,

*)Er beruft sich auf Conte di Veeri. In der „Anthropologie" acceptirt


Kant die Theorie, wonach alle Last nur durch Aufhebung einer Unlust
entsteht.
Kant und der Pessimismus und die Sittenlehre. 99

da der Lauf der Dinge nach der Ordnung der Natur hier auch
für sich seihst weise ist, er nach ehen demselben Gesetze in einer

künftigen Welt unweise sein würde? Da also nach derselben zwi-


schen den innern Bestimmungsgründen des Willens (nämlich der
moralischen Denkart) nach Gesetzen der Freiheit und zwischen den
(grösstentheils äussern) von unserem Willen unabhängigen Ur-
sachen unseres Wohlergehens nach Naturgesetzen gar kein be-
griffliches Verhältniss ist; so bleibt die Vermuthung, dass die
Uebereinstimmung des Schicksals der Menschen mit der göttlichen
Gerechtigkeit nach den Begriffen, die wir uns von ihnen machen,
so wenig dort wie hier zu erwarten sei."
So hat denn Hiob recht, der mit Wahrheitsmuth spricht,
wie es ihm um's Herz ist, statt wie seine Freunde Dinge zu be-
haupten, die sie nicht einsehen konnten; es giebt nur eine nega-
tive Lösung der Zweifel: die Einsicht, dass wir den Zusammen-
hang zwischen der „Kunstweisheit" der Welt und der moralischen
Weisheit der Weltordnung nicht erkennen können und uns mit
Hiob in den unerforschlichen Rathschluss Gottes, „der es macht
wie er will" ,
fügen müssen.
Die Religion dem Naturalismus zur Geistes-
hat sich aus
religion, aus dem selbstsüchtigen Eudämonismus (dem die Götter
nur deshalb Gegenstand der Verehrung waren, weil sie die mensch-
lichen Strebungen fördern oder hindern konnten) principiell
wenigstens zu der selbstlosen Hingabe an das Absolute, das um
seiner eigenen Vollkommenheit willen anbetungswürdige Ideal des
Seins aufgeschwungen unter der schmerzliche Enttäuschungen be-
reitenden Führerschaft des ein Gebiet um das andere überziehen-
den Pessimismus.
Die principielle Befreiung der Sittlichkeit aus dem Dienste
der Individualeudämonik ist Kant's bedeutungsvolle That auf dem
Gebiete der praktischen Philosophie. Die Sittlichkeit war bisher
nur eine Dienerin individueller Zwecke gewesen, ausser da, wo sie
als auf den Willen einer Gottheit als grundloses, von aussen an
den Menschen herantretendes Gebot erschien. Alle Moral war also
entweder zwar autonom, aber dann egoistisch oder aber nicht-
egoistische ,
selbstverläugnende Hingebungsmoral des Geschöpfes
an die göttliche Willkür, dann aber heteronome Moral gewesen.
Kant forderte autonome Moral der selbstlosen Hingabe an das
von der Vernunft als der obersten immanenten Macht vorge-
stellte Ideal. Zu der Trennung der Gebiete des Sittlichen und
der natürlichen Selbstförderung kam er, analog dem Emancipa-
tionsvorgange im religiösen Gebiete, durch seine pessimistische
Erkenntniss dass das Glück der Menschen nicht im Welt-
:

7*
100 Der Pessimismus der Wissenschaft.

plan, soweit dieser empirisch constatirbar ist, nachgewiesen wer-


den kann.*)

Wir aber wenden uns nun zu jener Form der pessimistischen


Lebensbetrachtung, die man als Weltschmerz zu bezeichnen ge-
wohnt ist.

Die bisher betrachteten pessimistischen Formen gingen neben


einer, unter entgegengesetzten Voraussetzungen erwachsenen Auf-
fassung des Weltdaseins und seines Urgrundes einher. Die pessi-
mistische Erfahrung trat entweder in Kampf mit den metaphy-
sischen Vorstellungen, oder aber es wurde versucht, dieselbe durch
neue Hypothesen und apriorische Constructionen mit ihnen in
Einklang zu setzen. Ihre umgestaltende Wirkung, obgleich mächtig
und unaufhaltsam, war nur partiell und der Conservativismus
mochte sich meistens getrösten, es sei das geheiligte Alte gewahrt
und nur nach seinem wahren Sinne gereinigt und reformirt worden.
Der Weltschmerz nunmehr stellt jene Stufe des pessimistischen
Bewusstseins dar, wo dessen Kampf gegen die unter optimistischen
Gesichtspuncten entstandenen metaphysischen Anschauungen und
Voraussetzungen in das letzte Stadium getreten, oder bereits der
Sieg mit negativem und destructivem Resultat erfolgt ist. Der
Weltschmerz in abgerundeter Gestalt hat tabula rasa gemacht mit
aller Theorie und ist reine Constatirung der unmittelbaren Em-
pfindung und der von keinem Dogma beeinflussten Wahrnehmung
mitempfindend beurtheilter Thatsachen.
Wenn man daher von der „Weltanschauung des Weltschmerzes"
redet, so bezeichnet das Wort Weltanschauung hier nicht die
Summe der Ideen über die empirische Welt und ihren metaphy-
sischen Grund, sondern einfach die Betrachtung des Erfahrungs-
gebietes; daher die einleitende und vorbereitende Stellung, die der
Weltschmerz zum modernen philosophischen Pessimismus einnimmt,
die ist, dass er das Terrain frei macht, auf dem nun ein die Welt
und ihren Urgrund umspannendes System erbaut werden konnte,
welches schon in seinen untersten, fundamentalsten Constructionen
den Thatsachen der pessimistischen Erfahrung gerecht zu werden
vermag.

*) Für den Nachweis, wie sichKant's pessimistische Lebensanschau-


ung gegenüber den verschiedenen Lebensgebieten äussert, verweisen wir
den Leser auf E. von Hartmann's schon erwähnten Essay „Kant als
Vater des Pessimismus", wo er eine reiche Zusammenstellung bezüglicher
Aussprüche findet, und wo auch der wichtigste Punct, eben die Genesis
der Kant'schen Sittenlehre aufs klarste und übersichtlichste entwickelt wird.
IV. Capitel.

Der Weltschmerz und die Poesie des


Pessimismus.
i. Der Weltschmerzler und seine Welt.

Die Zustände des Lebens, an welchen sich die Klage des pessi-
mistischen Bewusstseins entzündet, welches man den Weltschmerz
nennt, sind als Zustände zum Theil dieselben, die .schon den
„Prediger" verdrossen, die den Stoicismus und den Neuplatonis-
mus zur Resignation und zur Fleischesverachtung und das Christen-
thum zum contemptus mundi geführt hatten. Doch sind es eben
nur dieselben Zustände, aber nicht mehr dieselben Ob j e et e, weil
die Subjecte, für die sie Object werden, Andere geworden sind im
Laufe der natürlichen und historischen Entwicklung durch die
Jahrhunderte und Jahrtausende. Es sind aber auch die socialen
und politischen Kreise und Formen durchaus verändert und secun-
däre Gebilde erwachsen, auf die das Empfmdungssubject in Lust
und Unlust reagirt, und ist damit Material für die pessimistische
Betrachtung geliefert, welches den Pessimisten der frühern Perio-
den noch mangelte.
Der Mensch selbst ist ein anderer geworden. Der Träger des
Weltschmerzes ist der Abkömmling von Generationen, deren Kampf
um die Existenz vorwiegend mit den Waffen des Geistes geführt
wurde; er ist der Natur in concreto in hohem Grade entfremdet,
obgleich er in abstracto die Zugehörigkeit zu ihr oft mit Pathos
betont und diese Entfremdung, deren Gegentheil er doch nicht
.

mehr ertragen könnte, schmerzlich empfindet. Das physiologische


Merkmal des Weltschmerzträgers ist ein reizbares Nervensystem,
welches ihn Lust und Unlust lebhaft empfinden lassen, sowohl be-
züglich des Tempos des Ueb erganges von einem Gefühl zum an-
dern, als auch bezüglich der Intensität der Gefühlsresonanz auf
die Eindrücke, welche seine Sinnesorgane empfangen. Sein gei-
102 Der Weltschmerz und die Poesie des Pessimismus.

stiges Erbtheil ist ein weites, umfangreiches Weltbild, ein bedeu-


tender Ideenreichthum, eine rege Reflexionsthätigkeit, die ganz be-
sonders das Gefühlsmaterial zu ihrem Objecte zu machen liebt.
Die Lebhaftigkeit des Nervenlebens, die Energie der synthetischen
Fähigkeit, die Sinneseindrücke zu Vorstellungen zu completiren, ge-
währen die Bedingungen zu reger Mitleids-Fähigkeit; zu einem
Mitleiden, welches sich zu physischer Unlust steigern kann und
sich vermöge einer einheitlichen Naturauffassung über weite Ge-
biete des Seins erstreckt. Dem modernen Menschen, der die zum
Weltschmerz nöthigen geistigen und gemüthlichen Eigenschaften
besitzt, ist die blosse Vorstellung gewisser Dinge und Vorkomm-
nisse hinreichend, um ihm das Benagen zu stören. Dinge und
Vorkommnisse, die in ihrer vor Augen liegenden Realität noch
•nicht vermochten, seinen Vorfahren im Alterthum und Mittelalter
das Wohlgefühl zu vermindern, ja im Gegentheil im Gegensatz zu
.

dem eigenen Zustand als Lusterhöher erachtet wurden. So sollte


es z. B. eine Würze der himmlischen Seligkeit sein, zuweilen durch
ein Guckloch, die Verdammten in der Hölle braten zu sehen; so
war in vielen Burgen die Fallthüre in das Verliess in oder un-
mittelbar neben dem Festsaale; so war das Autodafe ein Be-
standteil spanischer königlicher Hochzeiten; ein Dichter des 18.
Jahrhunderts scheut sich noch nicht zu bemerken: das Behagen,
bei Nacht und Sturm im schützenden Hause bei Feuer und Mahl
zu ruhen, werde erhöht durch den Gedanken an die jetzt auf dem
Meere im Sturme Kämpfenden; und sogar ein Lessing will das
Lustgefühl beim Anhören einer Tragödie auf das Contrastgefühl
zwischen dem Leide des Helden und der eigenen Geborgenheit
zurückführen.
Der Weltschmerzträger ist sich dieser seiner grössern Sensi-
bilität und der dadurch vermittelten grössern Mitleidsfähigkeit und
Milde gegen die Mitcreatur bewusst; und während er seine ro-
busteren Vorfahren um ihre grössere, naivere Genussfähigkeit,
Widerstandsfähigkeit und somit gesichertere Lebensfreudigkeit be-
neidet, erkennt er doch auch mit Befriedigung, dass seine mit
grösserer Leidensfähigkeit bezahlte Verfeinerung ein Fortschritt ist,
und freut sich dessen, was er, soweit er noch etwas vom Natur-
menschen in sich hat, beklagen muss. Und wieder reflectirt er
auf diesen Widerspruch, dass er beklagen muss, was er nicht
wissen möchte ,und hat daran ein Object seines Weltschmerzes
mehr; denn es heisst dies ja, vom individuellen Falle auf das All-
gemeine übertragen, nichts anderes als: der Fortschritt der psycho-
logischen Entwickelung und der Cultur, als dem Niederschlag der
muss mit einem eudämonologischen Rückschritt
letzteren,
bezahlt werden.
Der Weltschmerzler und seine Welt. 103

Die jeweilige Culturstufe ist aber nicht nur der Niederschlag


eines unmittelbar vorhergehenden und gegenwärtigen psycholo-
gischen Standpunctes, sondern auch das Vehikel einer Weiterei it-
wickelung; und so genügt sie immer nur zum Theil den Anfor-
derungen welche die Kinder, der Zeit an sie zu stellen sich be-
,

rechtigt fühlen. Der Weltschmerzträger, gerade weil er das Pro-


duct der Cultur seiner Zeit ist, überragt diese mit seinem Urtheil
und mit seiner Sehnsucht; er erkennt deren Mängel und möchte
sie überwunden sehen, aber er verzweifelt an der Möglich-
keit, dass dies geschehen könne. Dies letztere Moment ist ganz
wesentlich für den Weltschmerz: denn sobald jemand den Weg
sieht, oder zu sehen vermeint — was, so lange der Wahn dauert,
ganz auf dasselbe hinauskömmt — um dasjenige, was er an seiner
Zeit und ihren Formen des Lebens zu tadeln findet, auch zu corri-
giren, so wird er nach aussen activ; er kämpft, wenn auch nur
im engsten Kreise und vielleicht mit den schwächsten Waffen für
eine Idee, die wenn auch keine optimistische, so doch eine me-
lior istische ist. Der Weltschmerz aber ist entweder die absolute
Passivität und die Klage seine einzige Aeusserung, oder aber er
verpufft seine Kräfte in rein subjectivistischen, eudämonistischen
Anstrengungen.
An dies-' letztere schliesst sich denn auch unmittelbar als ein
weiteres Characteristikon des Weltschmerzes, die mit dem Unmuth
gegen die Welt verbundene wohlgefällige Versenkung in das eigene
Innere, in welchem der Weltschmerzler vermöge dessen schmerz-
hafter Erkenntniss von den Schwächen der Welt und der Zeit ein
Höheres erblickt. Zu der unmittelbar empfundenen Unlust, wie
sie das Dasein in seinen jeweiligen und mannigfaltigen Gestal-
tungen ihm bringt, und zu dem Mitleid mit den leidenden Mitge-
schöpfen gesellt sich nun noch das reflectirende Mitleid mit sich
selbst, und dies ist das Feld, worauf die so üppig ins -Kraut ge-
schossene weltschmerzliche Lyrik gedeiht.
Alle rein spontane , nicht durch die Verhältnisse vermöge
äussern Zwanges aufgenöthigte Activität ist aber mit etwelcher
Lust der Lebensregung verbunden. Der Weltschmerzler empfindet
seine Reflexion über das als sein Leid empfundene Weltelend
und das Mitleid mit seiner empfindungs- und erkenntnissreichen
Seele als eine Art von Lust; freilich als keine reine, denn die
Mischung mit der unmittelbar empfundenen Unlust, welche ihm
seine „Welt als Vorstellung" erzeugt (von den real vermittelten
Leiden ganz abgesehen), ist so bedeutend, dass sie die Lust, die
aus der Action des Mitleides und dem Bewusstsein der Durch-
schauung der wahren Weltbeschaffenheit resultirt, immer zu über-
wiegen droht. Aber die Lust ist doch vorhanden, obgleich sie sehr
104 Der Weltschmerz und die Poesie des Pessimismus.

häufig gar nicht eingestanden wird; wo sie nunmehr selbst wieder


zum Object der Reflexion wird, da entsteht die Selbstironie.
Der Standpunct, wo das Bewusstsein von dem innern Zwie-
spalt auftaucht, wo die Reflexion auf den Widerspruch sich richtet:
dass die Unlust selbst die Lust zu erzeugen vermag, und dass die
Unlust nicht gemisst werden möchte um der Lust willen, welche
das selbstbetrachtende Wühlen im eigenen „zerrissenen Herzen"
gewährt, mag zu einem Wendepunct für den Weltschmerzträger
werden: entweder sein Geist ist kräftig genug, um von den Er-
fahrungstatsachen auf deren allgemeine Ursache —
mit immer
weiterem und weiterem Zurückdrängen — zu schliessen und so
mit dem philosophirenden Pessimismus den Weltschmerz zu
überwinden; oder aber er kann auch in seinem, auf dem Wider-
spruch balancirenden Zustande von den niedrigeren Elementen der
menschlichen Natur überwältigt werden, und in der Hingabe an
die Realität und ihre nun mit Absicht ungewogen hingenommenen
sinnlichen Genüsse das Leid and die Unruhe des Verstricktseins
in den Zwiespalt zu vergessen suchen.
Der religiöse Trieb ist bei dem Weltschmerzler nur in der
Form der Sehnsucht vorhanden; indem er seinen der Welt müden
Blick von dieser abwendet, sieht er in nichts als in den Abgrund
seines Sehnens. Seine religiöse Anlage ist nicht mehr kräftig ge-
nug, als dass ihm die Phantasie Götter und ein Jenseits zur Selig-
keit nach „seiner Facon" schaffen könnte, und das ihm von seiner
Kirche entgegen gebrachte Ergänzungsstück der mangelhaften Welt
kann er nicht mehr acceptiren, weil ihm mit der Einsicht in dessen
psychologische Genesis und historische Entwickelung zum Dogma
der Glaube daran unmöglich geworden ist. Sein philosophisches
Denken ist weit genug vorgeschritten, um mit dem Roste des Zwei-
fels alle metaphysischen Theorien und Hypothesen zu überziehen
und zu zersetzen, welche unter Voraussetzung der Nothwendigkeit
und Selbstverständlichkeit eines eudämonologischen Werthes des
Seins es ermöglichen, die Welt einheitlich zu erfassen, ungeachtet
ihrer Zerklüftung in gut und schlecht.
Es besitzt der Weltschmerzler genügende Besinnung, um von
den mannigfaltigen Leiden und ihren unmittelbaren, ebenfalls con-
creten Gelegenheitsursachen auf eine Grundursache des so Be-
stehenden zurückschliessen zu können, welche die Eudämonie nicht
zum Zweck des empirischen Seins gesetzt hat; aber er ermangelt
der religiösen Kraft, dieses denkend gewonnene Letzte in voller
Objectivität, ohne Rückbeziehung auf sein individuelles äusseres
Wohl und Weh, mit frommer Empfindung zu umfassen; er em-
pfindet nur die Furcht und die Scheu vor dem Absoluten und Un-
fassbaren, ohne dessen geheimnissvolle Uebermächtigkeit in reli-
Der Weltschmerzler und seine Welt. 105

giöser Selbstvergessenheit gemessen zu können. Daber aber do-


minirt im Weltschmerzler doch noch das Gefühl über den reinen
interesselosen Intellect, daher blickt er auf die Zeit seiner eigenen
jugendlichen Gläubigkeit (sowie auf die Zeiten vollkräftigen reli-
giösen Völkerlebens) wie auf ein verlorenes Paradies zurück, wäh-
rend er doch in dem Bewusstsein, wie wenig stichhaltig sich das
Glaubensgewebe vor dem denkenden Geiste erweist, die Versuche,
das von den Gläubigen individuell als Macht Empfundene auch
als objective Macht geltend zu machen, mit Hohn und Verachtung
zurückweist.
Der Weltschmerzträger ist durchdrungen von dem Preisge-
gebensein des Individuums zu Gunsten der Gattung und der dieser
im Haushalt der Natur und des Weltprocesses zugewiesenen Rolle.
Gegen diese Rücksichtslosigkeit des Weltgeschickes gegen den
Einzelnen sträubt sich aber sein energischer Individualismus,
das reflectirende Versenktsein in die absolute Einzigheit und minu-
tiöse Specialisirung seines Ichs.
Die Untergeordnetheit des Individuums unter die Zwecke der
Gattung und des Weltprocesses findet auf unserer Entwickelungs-
stufe ihre concrete Darstellung in dem Abhängigkeit^ -Verhältniss
des Einzelnen von der Familie, der Gesellschaft und dem Staate.
Der Weltschmerzler empfindet nun gleichzeitig dieses dreifache
Eingeordnetsein als einen seinem Ich zugefügten Abbruch, dabei
aber auch die unlösbare Verknüpfung, die relative Berechtigung
der höheren ideellen Individuen über das concrete Natur-Indivi-
duum, abgesehen von deren mehr oder minder unvollkommenen
jetztzeitlichen und völkerindividualistischen Gestaltungen. Dadurch
entsteht dann, analog dem Sehnsuchtsgefühl im religiösen Gebiete,
ein schmerzlich-bemitleidendes Zurückblicken auf jene geschicht-
liche Periode, wo die minder pointirte Individualformirung dem
Einzelnen das Aufgehen in den Interessen der Gesammtheit natür-
licher und minder schmerzlich und opfervoll werden Hess, weil er,
in Folge der grössern Gleichheit der Empfindungs- und -Denkweise
der Vielen, in den socialen und politischen Gebilden sein eigenes
Verlangen, seine eigenen Vorstellungen von dem Sein-sollenden
realisirt sah, und bei dem noch langsamem Gange der Neugestal-
tungen auch als hochstehender Mensch seiner Zeit weniger dieser
seiner Zeit mit seinem Urtheil über den Kopf gewachsen war.
Der Träger des Weltschmerzes ist Idealist, er misst das, was
ist, an dem, was sein sollte, und legt den Accent seiner Abschätzung

auf das schlechte Tacttheil, d. h. er übersieht die wirkliche oder


mögliche allmähliche Annäherung an das Ideal, und heftet sein
Auge nur auf den klaffenden Riss, der das Wirkliche immer noch
von diesem trennt. So in der Wissenschaft: weil diese nie das
\

106 -Der Weltschmerz und die Poesie des Pessimismus.

letzte Wort zu sagen weiss, so ist er geneigt, auch das, was sie
ihm zu sagen hat, gering zu achten, oder doch nur im Dienste
der Zersetzung der optimistischen Anschauungen zu acceptiren;
sei es, dass sie durch besonnene Zurückhaltung über die letzten
tiefsten Naturgeheimnisse ihm das Gefühl des Verlorenseins im
Geheimniss des Alls schmerzlich zum Bewusstsein bringe, sei es,
dass sie als sogenannter wissenschaftlicher Materialismus den
Hintergrund des Seins als einen solchen darstellt, von dem sich
das Menschenleben mit seinen Schmerzen und seinem Hoffen, seinem
Sehnen und Streben, seinen Idealen und seinem Schmutze erst
recht als ein Tollhäuslertraum abhebt.
Die Periode des Weltschmerzes beginnt mit dem letzten Jahr-
zehnt des vorigen Jahrhunderts und dauert bis zur Stunde, während
die typischen literarischen Denkmäler, welche der Weltschmerz
erzeugte, in die zwanziger bis fünfziger Jahre unseres Jahrhunderts
fallen. Der Weltschmerz in seinen verschiedenen Stadien ist die
Reaction auf den Optimismus der rationalistischen Aufklärungs-
Philosophie des 18. Jahrhunderts, auf den ethischen Rigorismus
Kants und den abstracten Idealismus Fichtes. Er ist das Bewusst-
sein, dass weder die AufkläruDg im religiösen Gebiet, noch die
Fortschritte der Wissenschaft, noch die Dienstbarmachung der-
selben fürs gewöhnliche Leben, noch die mässigen Fortschritte in
der Richtung einer günstigeren politischen Ordnung glücklich zu
machen vermögen; dass allen Idealismas ungeachtet das Leben im
Ganzen noch realistisch materiell und egoistisch gemein und
kleinlich geblieben ist. Er ist ferner das Bewusstsein, dass die
Welt, so sehr sie innerlich und äusserlich verändert ist, doch noch
immer das „irdische Jammerthal" des als irrationell verwor-
fenen Dogmas ist, nur noch etwas schattendunkler, weil sich der
Regenbogen der Jenseits-Hoffnung nicht mehr darüber wölbt. Er
ist endlich das Bewusstsein, dass Tugend und Glück (wenn man
unter letzterem mehr versteht als Ruhe des Gewissens) nicht in
Proportion stehen, auch nicht unter einen Hut zu bringen sind,
was schon Kant gelehrt hat, was aber bei minder reintheoretisch
veranlagten Characteren zum vollen herzdurchfluthenden Bewusst-
sein nur vermittelst einer gewaltigen, schmerzlich an den Grund-
festen der Seele rüttelnden Erschütterung —
gleichsam einem
geistigen Erdbeben —
kommen kann.
Die dem Weltschmerz eigene, vorwiegend lyrische Form endlich
ist das Resultat jenes Ich-seligen Individualismus aus dem Ende
des vorigen und Anfang dieses Jahrhunderts, wo man es versuchte,
sich über die äussere Welt zu trösten durch Schaffung einer parti-
cularistischen nur mit wenigen gleichgestimmten Seelen zu thei-
,

lenden, und mit allerhand schönen Gefühlen, tugendhaften Vor-


Der Weltscbrnerzler und seine Welt. 107

sätzen und heroischen Phantasien austapezirtenWelt der Vorstellung.


Die moderne Zeit hat den überschwänglichen Subjectivismus in
Acht und Bann gethan; der monistische Zug, der von den bedeu-
tendsten philosophischen Systemen unseres Jahrhunderts auf die
verschiedenste Weise in die Denkart der Gebildeten überzugehen
beginnt, und auch die ebenfalls die Zusammengehörigkeit ver-
mittelst der innern Einheit der Principien betonenden Natur-
wissenschaften haben die Rechtssphäre des Individuums enger
gezogen. Dieses beginnt nicht nur, sich resignirt zu fügen, sondern
es ist ein Merkmal unserer Zeit, dass das Allgemeine wenigstens
der Theorie nach immer williger auf den Thron gehoben wird,
und dass das Gefühl der Solidarität mehr und mehr Wurzel fasst
in den Gemüthern.
Aber es ist die resignirt-zufriedene freiwillige Unterordnung
doch fast ausschliesslich der Zustand des zur Reife gelangten,
vollständig abgeschlossenen Entwickelungsganges der Individuen,
während im psychologischen Processe gerade bei den geistig höher
Begabten in der Regel eine W^eltschmerzperiode auftritt, wo das
allseitig zum Selbstbewusstsein und zur Selbstreflexion gelangte
Subject seine Einzigheit, recht zerrissen-schmerzlich, gleichzeitig
trotzig vertheidigt und doch sehnsuchtsvoll beklagt. Auf
unserer modernen physiologisch-psychisch-intellectuellen Entwicke-
lungsstufe braucht es ganz eines besonderen Zusammentreffens von
Verhältnissen, um die Jugendkrankheit des Weltschmerzes auszu-
schliessen, nicht nur wenn der fertige Standpunkt ein philosophisch-
pessimistischer sein soll sondern auch wenn er der einer philoso-
,

phisch-optimistischen Weltanschauung werden soll; denn auch der


Optimismus, sofern er einigermassen diesen Namen verdient und
nicht nur instinctiver lebensfreudiger Dusel und glückliche Kurz-
sichtigkeit ist, ist ein Product, welches heutzutage nur errungen
werden kann, und dies Ringen setzt eben immer das schmerzliche
Bewusstwerden der negativen Instanzen voraus. Darum ist die
Welt so lange nicht müde geworden, den Weltschmerz-Dichtern
das Ohr zu leihen, darum sind dieselben noch immer die gefei-
ertsten Lieblinge der Jugend, darum wird die weltschmerztönende
Lyra immer wieder neu besaitet und findet das schon hundertmal
gesungene Lied immer wieder willige Hörer. Darum aber auch
wird der Weltschmerz von so Vielen von Oben herunter angesehen,
indem er als unfertiger, als blosser Uebergangs-Standpunct erkannt
wird, ohne dass dieser Einsicht die andere zur Seite geht: dass
dieser Uebergang ein nothwendiger ist, und dass nur die Form
das unreife am Weltschmerz ist, nicht aber der Inhalt seines
Credo.
108 Der "Weltschmerz und die Poesie des Pessimismus.

2. Der Weltschmerz in den Faustdichtungen.

Zu allen Zeiten war derjenige der grösste Dichter, der das


Unglück am farbenreichsten, am eindringlichsten zu schildern ver-
mochte; es waren immer die Schattenseiten des Lebens, welche die
Stoffe zu den erhabensten und intensivst genossenen Dichtungen
boten. Der Weltschmerz - Dichter wird dieses also nicht sowohl
wegen der Wahl
tragischer oder trauriger Stoffe, als erstens durch
die subjectivistische Färbung, die er denselben verleiht, und zwei-
tens durch die pessimistische Beleuchtung solcher Verhältnisse, die
eben nur unter Voraussetzung der den Weltschmerz producirenden
psychischen Eigenschaften als unselige zu begreifen sind —
resp.
erscheinen, während sie demjenigen, der sich die Illusion des posi-
tiven Werthes des Seins bewahrt hat, ebenfalls als werthvoll er-
scheinen.
Dem optimistischen Dichter des tragischen Vorganges geht
z. B. im tragischen Conflict zwar der Held als Person unter, aber

nicht die Idee, die er vertritt; er rettet vielleicht diese erst durch
seinen Untergang, oder aber die Tragik liegt darin, dass eine be-
rechtigte Idee und deren Träger einer noch höher berechtigten
weichen müssen. Es ist dann das Loos des Individuums zwar ein
betrübendes und erschütterndes, aber das Unterliegen der minder
berechtigten Idee (ungeachtet ihrer machtvollen Vertretung) ist ein
Moment der besten 'Weltordnung; so erscheint auch der ganze
Weltprocess entsprechend der H
e g e l'schen Philosophie als ein
tragischer, und doch ist die Weltanschauung des Systems eine
optimistische.
Dagegen geht beim Weltschmerzdichter das Berechtigte gleich
zu Grunde wie das Falsche, und nicht die logische Berechtigung
des Sieges einer universalem Idee über eine andere wird betont,
sondern der Schmerz des unterliegenden Theiles. Dieses hat ja
auch eine gewisse Berechtigung: denn das Unterliegende ist in
der Regel das Individuelle und von einer concreten Person Ver-
tretene, das Siegreiche aber das Allgemeine, also nicht ein Em-
pfindungssubject wie das erstere. Es ist ferner auch insofern be-
rechtigt, als häufig genug das logische Verhältniss der im Kampfe
liegenden Ideen vorläufig unerkennbar bleibt, so dass, was einer
fortgeschritteneren Zeit als logische Notwendigkeit und welt-
teleologisch vollberechtigt erscheint, doch von der Zeit des Ge-
schehnisses wie blindes Fatum empfunden wird: „das „Warum"
wird offenbar, wenn die Todten auferstehen" —
eine Antwort die
um so schmerzlicher ist, als der Weltschmerz-Dichter den Accent
auf das „wenn" legen muss.
Der Weltschmerz in den Faustdichtungen. 109

Die hervorragendsten literarischen Vertreter des Weltschmerzes


und ihre bedeutendsten Productionen mit einiger Vollständigkeit
aufzuzählen, ist Aufgabe einer Literaturgeschichte der neuern Zeit;
wir können hier aus der erdrückenden Fülle nur einige wenige
Namen nennen, nur einige wenige Productionen zu flüchtiger Be-
trachtung heranziehen, so weit dieselben uns besonders geeignet
erscheinen, die verschiedenen Momente unserer Weltschmerz-Skizze
zu vervollständigen. Dabei kommt natürlich der ästhetische Werth
nicht in Betracht, sondern lediglich die Prägnanz, mit der sie den
Weltschmerz zum Ausdruck bringen.
Da drängen sich uns denn vor allem drei Faust - Dichtungen
entgegen: Goethe's „Faust", Lenaus „Faust-Scenen" und „Faust
und Don Juan" von Grabbe. Gewiss kommt es uns nicht in den
Sinn, Goethe zum Weltschmerz-Dichter stempeln zu wollen; Goethe
umfasst zwar in seinem reichen, weiten Geiste, in seinem tief er-
regbaren Gemüth und vermittelst seiner mächtigen Vorstellungs-
kraft alle jene Bewusstseinsmomente an welchen sich der Welt-
,

schmerz als solcher zu entzünden pflegt, aber er ist eine zu har-


monische Natur, d. h. es halten sich bei ihm die verschiedenen
Seelenvermögen zu sehr das Gleichgewicht, als dass es auf etwelche
Dauer bei ihm zu jener Zerrissenheit und zu jener feindseligen
Entfremdung von der Realität hätte kommen können, die das Wesen
des Weltschmerzes ausmacht. Er kennt alle die Quellen des Elends
und vermag Alles, was die Menschheit bewegt, zum mindesten
nachzuempfinden; aber auch da, wo die eigene Seele unmittelbar,
und nicht bloss in willkürlicher dichterischer Reflexion, der
Schauplatz des Kampfes und Leides wird, hilft sich seine Natur,
und bevor es zur lebenzermürbenden Reibung kommt, vermag er
sich das eigene Leid als Object gegenüber zu stellen und es so
seines schlimmsten Stachels zu berauben. Ein bekanntes Beispiel
hiefür ist „Werthers Leiden", durch welche Dichtung er sich einer
sedischen Jugendkrankheit entledigte. Goethe lässt den Held der
Dichtung an jenem als Weltschmerzler-Eigenschaft bezeichneten
Individualismus untergehen, weil er mit seinem Leben nichts mehr
anzufangen weiss, nachdem er mit seinem individual-eudämonisti-
schen Streben und Ziel scheitert. Der Dichter aber flüchtet sich
aus der subjectivistischen Enge in die Welt des Objectiven und
erringt sich mit neuen Schaffenszielen neuen Lebensmuth und neue
Daseinsfreude.
Goethe blieb sein Leben lang mit der Natur (seiner Natur)
auf intimsten Fusse, und er hatte gute Ursache dazu, die Natur
zu lieben: sie behandelte ihn als Schoosskind. Ariel und die Luft-
geister, die seinem Faust Ruhe und Erquickung in Kopf und Herz
singen, haben ihn in bangen Stunden nicht im Stiche gelassen,
:

110 Der Weltschmerz und die Poesie des Pessimismus.

und nach jedem Sturm der Gedanken und Ge-


diese Naturgabe:
fühle immer wieder vollem Gleichgewicht auf die Füsse zu
in
fallen, die Gabe stets hinlänglich das jüngst Vorgegangene ver-
gessen zu können, um die Blüthe jeder Stunde mit ungeschwäch-
ter Genusskraft sich zu eigen zu machen s i e ist
, es wohl eher,
was man als besonderes Glück und Gunst des Goethe'schen Lebens
bezeichnen mass, als die äussern Verhältnisse, welche neben vielen
vortheilhaften doch auch solche Factoren enthielten, die für manch
Einen gerade zum Verderb hätten führen mögen. Wenn der alte
Goethe zu Eckermann sagt: er hätte auf kaum vier Wochen
reines Behagen in seinem Leben zurückzublicken, und es sei sein
Leben immer das Heben eines wieder zurückrollenden schweren
Steines gewesen, so ist dies gerade wegen Goethe's glücklicher
„Frohnatur" zwar ein werthvolles Bekenntniss zu Gunsten des
Pessimismus, ja nicht aber ein Zeichen von Weltschmerz. Goethe
wurde des Lebens müde, aber auch des Lebens froh, die beste
Mischung die das Leben bieten kann; und so lässt er denn auch
seinen Faust mit dem Leben —
das Dasein der Welt einmal
schlechthin vorausgesetzt —
versöhnt sterben, aber nur durch
Aufgeben der eudämonologischen Forderungen: nicht im
Geniessen, im Erkämpfen des Lebens selbst lohnt sich's zu leben.
Ob sich denn auch das Dasein überhaupt rechtfertigt, das ist
eine Frage, auf die sich Goethe im Faust nicht einlässt; es sei
denn, man dürfte das Wort des Mephisto als eigene Ansicht des
Dichters auffassen:
Vorbei und reines Nichts, vollkommen Einerlei —
Was soll uns dann das ew'ge Schaffen!
Geschaffenes zu Nichts hinweg zu raffen!
„Da ist's vorbei," was ist daran zu lesen?
Es ist so gut, als war' es nicht gewesen,
Und treibt sich doch im Kreis, als wenn es wäre
Ich- liebte mir dafür das Ewig-Leere.
Doch wenden wir uns zu der Tragödie ersten Theil des jungen
Goethe, wo dieser uns das Bild eines Weltschmerzlers malt;
das Objective ist darin nur eben so viel lyrisch-subjectivisch über-
haucht, um ihm die herzergreifende Wärme zu geben.
Da finden wir denn im Faust das Streben nach der vollen
Befriedigung des Menschen, so wie dieser sich als reine Intelligenz
nach Erkenntniss, als sinnliches Naturwesen aber nach Sinnes-
genuss sehnt. Schön und maassvoll findet die Klage das Wort
über die Oberflächenhaftigkeit des Wissens, über die Unfähigkeit,
gerade dahin zu dringen, wo das wahrhaft Wissenswerthe im Ver-
borgenen weset; und ebenso die ehrliche Entrüstung über den
Missbrauch der mit dem Wissen getrieben wird, um die Welt über
dessen enge Grenzen zu täuschen.
Der Weltschmerz in den Faustdichtungen. 111

Auch an die Lust des Lebens, an die Möglichkeit einer wirk-


lichen Lebensbefriedigung vermittelst der Hingabe an die Instincte
— sofern die Hingabe an das Naturgeniessen den Geist nicht in
Schlummer wiegt und ihn abzieht von seinem wahren im Er- ,

kennen liegenden Ziele —


glaubt Faust nicht mehr, und doch von
der Wertlosigkeit dessen, was das Leben zu bieten hat, im Voraus
überzeugt, will er sich durstig in seine Wellen stürzen: zum
schmerzlichen Genuss! Das ist ein echter Weltschmerz- Zug: die
eudämonologische Befriedigung als unmöglich erkennen, und doch
nicht vomeudämonistischen Naturtrieb los kommen können. In-
dem Faust sich aber in das Leben stürzt, geschieht es mit der eben
so widerspruchsvollen Sehnsucht der Vereinigung seines Selbst mit
dem Allgemeinen, mit dem Weltsein, und doch mit der gleich-
zeitigen Behauptung des eigenen hochgeschätzten, zur Gottähnlich-
keit sich blähenden Ich's. Es ist dieses Schwanken, dieses. Sehnen
zwischen absolutem Individualismus und pantheistischer Verflüch-
tigung eigentlich nur wieder eine Maskirung der allem Seimen und
Drängen zu Grunde liegenden Zweiheit von theoretischem Trieb
und natürlich-sinnlichem Lebensdrang: der letztere erscheint als
Verlangen sich mit der vielgestaltigen Welt zu identificiren die
, ,

Wahrung der Ichheit aber, welche die Identificirung mit dem All-
gemeinen nicht vermittelst der Hingabe an die Welt, sondern viel-
mehr vermittelst der Aufnahme des Formenreichthums der Welt
in's eigene Ich verlangt, entspricht dem Erkenntnissdrange, dem
Alles nur ist, sofern es als Vorstellung zum Inhalt und gleichzeitig
damit zum Factor des Ich's wird. Es wohnt dieser Erkenntniss
die Ahnung inne, dass nur unter Voraussetzung der Einheit alles
Seienden überhaupt Aussicht auf Stillung seines Dranges sei, endlich
auch, dass wir in unserem Innern dem Absoluten noch immer näher
stehen, als wir ihm vermittelst Ausdehnung im Seienden nahe
kommen könnten. Aber dieser Ahnung, diesem dunklen Drang ist
vorerst der „rechte Weg" durchaus noch nicht gegeben; Fausts,
des Weltschmerzlers Weg ist zuerst ein Irrweg und aus der Posi-
tionsverrückung aus der versuchten Ueberordnung des Einzelnen
,

über das Allgemeine entsteht die Unlust beständigen Scheiterns


und der Fluch, die Schuld zu finden, wo die Lust gesucht ward.
Höher als in der Goethe'schen Dichtung geht die Fluth der
Subjectivität in Lenau's Faust; denn hier ist der Dichter selbst
der Träger des Weltschmerzes und die dramatische Form ist nur
so weit gewahrt, als sie ungezwungen dem dialectischen Character
der weltschmerzlichen Seelenbewegung bequem ist.
Auch hier steht im Mittelpunct das Weh über das Nicht-
fassen-können der vollen Wahrheit und über die Unmöglichkeit
des vollen Sich-selbst-genüge-thuns des Individuums in seiner
112 Der Weltschmerz und die Poesie des Pessimismus.

Doppeleigenscliaft als Einzelnes nnd als Theil des Ganzen.Und


wenn Grabbe Faust und Don Juan in denselben Rahmen drama-
tischer Scenerie hineindrängt, so hat er hiefür etwelche Berech-
tigung in dem beiden Figuren innewohnenden Durste nach abso-
luter Selbstbehauptung. Juan vermittelst des Geniessens und
Faust nicht minder, nur dass das Ziel und die Mittel seines Ge-
niessens höher gesteckt und umfassendere sind.
Der Goethe'sche Faust weiss nichts anderes, als dass sein
Streben nach höchster Erkenntniss ein vollberechtigtes ist (Gott
selbst nennt ihn anerkennend „seinen Knecht"), und nur leise Weh-
nrath erfüllt ihn beim Erklingen der Osterglocken. Lenau's Faust
dagegen kämpft beständig mit dem Zweifel gegen den Glauben
seiner Jugend und schaut mit Trauer auf denselben zurück, nicht
nur weil er in demselben einen beglückenden Wahn
sieht (wie
Goethe's Faust), sondern weil er immer wieder Anwandlungen hat,
wo er den Glauben wirklich für das Höhere hält, und es ist eigent-
lich nur seine maasslose individuelle Selbstüberhebung, die ihn den-
selben immer wieder von sich stossen lässt.

„Ich kann mich nicht vom heissen Wunsche trennen


Den schöpferischen Urgeist zu erkennen,
Mein innerst Wesen ist darauf gestellt,
In meiner ewigen Wurzel mich zu fassen,
Doch ist's versagt und Sehnsucht wird zum Hassen,
Dass mich die Endlichkeit umfangen hält."

Auch auf die Natur schilt er, die ihn nur mit ihren Wer de-
Geheimnissen locke, ohne etwas davon zu verrathen, und er wendet
sich von ihr ab; aber eben so wendet er sich von der religiösen
Idee ab: durch Gottes Gnade, durch Gottes Geist zum Wissen
des Absoluten zu gelangen:

„Wenn Er das Angeschaute ist


Und Aug' und Licht zu gleicher Frist,
So sieht doch nur Er selber sich
In meinem Haus, nicht aber ich.

Beglücken kann mich nur ein Wissen,


Das mein ist und von seinem losgerissen.
Ich will mich immer als mich selber fühlen."

Und dieser Subjectivismus steigert sich bis zu dem tollen Ge-


danken, nicht nur wissen zu wollen, sondern selbst Wurzel des
Seins zu sein:
„Erst war's ein glühendes Entbrennen,
Die Welt zu fassen im Erkennen;
Der Weltschmerz in den Faustdichtungen. 113

Nun würde mir geschöpft in vollsten Zügen


Erkenntniss nimmermehr genügen.
Wenn ich die Welt auch denken lerne,
So bleibt sie fremd doch meinem Kerne.

So lang ein Kuss auf Erden glüht,


Der nicht durch meine Seele sprüht,
So lang ein Schmerz auf Erden klagt,
Der nicht an meinem Herzen nagt,
So lang ich nicht allwaltend bin,
War' ich viel lieber ganz dahin."

Weder die naturalistisch- pantheistische noch die theistisch-


philosophische Weltanschauung genügt seinem Ich-Gefühl; Mephi-
stopheles spricht es roh aus, was Fausts Meinung ist:

„In beiden Fällen ist deinLoos fatal:


Du magst von von ihm behandelt
ihr, sein,
Ob en canaille oder en canal;
Drum schliesse trotzend in dich selbst dich ein."

WennFaust endlich sich selbst zum Tode müde gehetzt hat,


so findet drum den Ruhepunct
er —
freilich nur einen solchen
zum Sterben —
nicht in einem Pantheismus des objectiven
Geistes, wo der Friede des Individuums aus der Hingabe des
phänomenalen Ichs resultirt, sondern in einem abstracten Pantheis-
mus des subjectiven Geistes: im erkenntnisstheoretisch-idealistischen
Solipsismus. Ein Traum ist er von Gott, das heisst aber nichts
anderes, als er ist selbst der träumende Gott, denn ein Traum kann
nicht selbst sich träumen.

„Der Faust, der sich mit Forschen trieb


Und der dem Teufel sich verschrieb,
Und sein und alles Menschenleben,
Der Teufel selbst, dem jener sich ergeben,
Ist nur des Gottbewusstseins Trübung."

So pessimistisch der Gedanke der unseligen Traumverfallen-


heit Gottes (die Maja des Brahmaismus) auch ist, so stirbt doch
Faust beruhigt in demselben; der Dichter aber erklärt auch diesen
Trost durch den Mund des Mephistopheles als Wahn. Für ihn
bat das Individuum auch transcendente Bedeutung und damit auch
transcendente Schuld und transcendente Qual. Dieses Ge-
dicht endet christlich, aber nicht mit dem Himmel, sondern mit
der Hölle, und doch ist der Weg, der hier zur Hölle führt, mit der
vollkräftigen geistig-sinnlichen Natur des Menschen gegeben, das
ganze Unheil nur die Folge eines Zuviel des Lebensdranges:
wahrlich eine echte Weltschmerz-Anschauung.
Plümacher, Pessimismus. 8
114 D er Weltschmerz und die Poesie des Pessimismus.

Auch in der Gr abbe'sehen Dichtung ist der Widerspruch


zwischen Glaube und Wissen, die Skepsis nach beiden Richtungen
hin mit manch trefflichem Worte geschildert:

„0 welche Flammenschrift brennt mir im Haupte?-


Nichts glauben kannst Du, eh du es nicht weisst,
Nichts wissen kannst du, eh du es nicht glaubst!"

Ebenso liegt der Schwerpunct in der gewaltigen Subjectivität,


die sich selbst in Trümmer schlägt im Drange übermenschlicher
Behauptung, und selbst im Tode noch auf ihre Unüberwindlichkeit
pocht. Darin wie in ihrer Unersättlichkeit sind sich Faust und
Don Juan gleich:
„Was ich bin das bleib ich.
Bin ich Don Juan, so bin ich nichts,
Werd' ich ein Anderer.
Weit eher Don Juan im Abgrundsschwefel
Als Heiliger im Paradieseslicht. 1'

sagt letzterer und dem Faust dämmert zwar die Ahnung auf, wo
sein Unheil im Allgemeinen liegt, wenn er (allerdings in erster '

Linie in Bezug auf seine Liebe zur Donna Anna) sagt:


„Der seine Himmel selbst zertrümmert" —
er wagts mir vorzuwerfen —
„Und er hat recht. Ich schlug das Herrlichste in Trümmer,
Weil ich's nicht begriff";

aber auch er endet ungebeugt:

„Trotzend stürz ich in deine Arme.


Wisse aber:
Wenn ich ein ew'ges Wesen bin, so ring'
Ich mit dir von Ewigkeit
Zu Ewigkeit, und möglich, dass ich siege,
Dich nochmals tretend, wie ich schon gethan."

3. Drei Weltschmerzdichter.

Als Dichter des Weltschmerzes und so recht als die


Vorsänger der ganzen Zunft gelten bekanntlich Byron, Heine
und Leopard i. Von diesen erscheint uns Byron als der Phanta-
sievollste, Heine der Geistreichste und Leopardi der Aufrich- .

tigste und zugleich der Dunkelschauendste. Bei Byron zeigt sich


unverkennbar das Wohlgefallen an seiner eigenen Zerrissenheit.
Bei Heine ist diese Eitelkeit schon gerichtet durch die Selbst-
Drei Weltschmerzdichter. 115

ironie.*) Dem Romanen


hingegen fehlt wie der Humor so auch
die Selbstironie: da ist alles einfach, unmittelbar empfunden, in
der Darstellung aber nur zu oft bezopft und entstellt durch ein
herzlich langweiliges Gelehrtthun, sowie durch das sich als Philo-
soph-Gebärden, was Leopardi eben nicht ist, da die Kenntniss
einiger (oder auch sehr vieler) Systeme noch nicht den Philo-
sophen ausmacht.
An Leopardis Weltschmerz ist vorzugsweise das Herz be-
theiligt; derjenige Heines stammt mehr aus einem diabetischen
Geiste, dessen Verhängniss es ist, zu allem das Gegentheil, zu jeder
Position immer gleich auch die Contra -Position setzen zu wollen.
Byron schwankt zwischen moralischer Anlage und aus dieser
erwachsenden Entrüstung einerseits und erhitzter Phantasie und
Sinnlichkeit andererseits, die nicht umhin kann, die Sünde reizend
zu finden; dies spiegelt sich in seinen verschiedenen Dichtungen,
am fatalsten aber im Don Juan wider, daher dieser eben so leiden-
schaftlich als Product der Frivolität verdammt, als auch als Ma-
nifestation tugendlicher Entrüstung über die Verkommenheit der
„Gesellschaft" (im engern Sinne) gepriesen werden konnte.
.

Byron hat genossen und gefunden, dass der Genuss nicht


hält, was er verspricht; er durchschaut viele der Illusionen des
Lebens, aber nicht alle, und besonders nicht die des Ruhmes, ja
er liegt noch entschieden in den Banden der Eitelkeit. Auch
Heine kennt die Lust des Lebens und den unstillbaren Durst nach
dem, was bereits als illusorisch erkannt ist; seine Reflexion aber
steht über dem unmittelbaren Sehnen nach Leben und Lust, über
dem Ungenügen beim Erreichen des Ersehnten und auch über dem
Zwiespalt zwischen beiden. Er ist eitel, wie es mehr oder minder
jeder Weltschmerzler ist, aber er weiss es und steht auch über
diesem Moment seines psychischen Lebens, so dass er sich der
Eitelkeit schier wie eines Gewandes, das man überzieht und ab-
legt, zu bedienen vermag.

Byron unterschätzt das Land und die Nation, deren echter


Sohn er weil er letztere nur einseitig kennt. Leopardi liebt
ist,

sein Vaterland gleich, einem unglücklich Liebenden, der da ver-


achten muss, wo seine Leidenschaft ihn hinzieht, und er hat Züge
in seiner geistigen Natur, die ihn zum Fremdling in der Heimath
machen. Heine ist so sehr ein echter Deutscher, dass ihm Deutsch-
land zu enge wird und er in die Fremde muss um sich wieder
,

*) Ich schrieb bei nächtlicher Lampe


Den Jammer, der mich traf;
Er ist bei Hoff mann und Campe
Erschienen in Klein -Octav.
8*
1 16 Der Weltschmerz und die Poesie des Pessimismus.

als Deutscher zu fühlen. Wenn er über seines Vaterlandes Eigen-


thümlichkeiten und Schwächen spottet, so ist es doch eigent-
lich nur, weil ihm nur eben der höchste Maassstab für dasselbe
passend dünkt, woran gemessen seine Eigenschaften dann doch
etwa zu kurz erscheinen. Wie Heine von unserem Kleeblatt
der vielseitigste Geist ist, so sind auch seine Dichtungen am
farbenreichsten, zeigen die tiefsten Schatten, aber auch helle, son-
nige Strecken, wo nichts vom Weltschmerz zu spüren ist, weil sie
nur das einseitige Product seiner freudigen Dichternatur, dieser so
eigenthümlich zerklüfteten und doppelschillernden Persönlichkeit
sind. Dagegen ffiesst der Strom der dichterischen Productionen
bei Leopardi sehr einförmig und farblos, grau in grau. Ein
Byron und ein Heine in erster Linie Dichter, und weil
sind
sie so klagen sie; Leopardi aber ist
Weltschmerz empfinden,
Dichter, weil er zu klagen hat, und man hat die Empfindung, dass,
wenn es ihm einmal recht gut erginge, wenn er eine „Reihe schöner
Tage" hätte, ihm die Motive zum Dichten ausgehen müssten. Er
bejammert seine Zeit und seine Landsleute, die Niedrigkeit und
Plattheit ihrer Gesinnung, der nur das Gemeine gelte und das, was
sich zählen lasse, Werth habe. Leidvoll war das Leben zu allen
Zeiten, jetzt aber ist es besonders erbärmlich; unglücklich war ein
Tasso, es fror sein Herz durch Hass, Missgunst und täuschende
Liebe gequält, noch unsäglich unglücklicher ist das Leben zur
jetzigen (des Dichters) Zeit, wo jeder nur sein eigen Loos beklagt
und so nicht eben das Mitleid für andere übrig hat. Ein Tasso
hatte den Trost, dass die Phantasie ihm das Leben in helleren
Farben malte doch der Edle dieser Zeit weiss nichts als dass
, ,

wir leiden müssen, leiden durch Ekel an dem nichtigen Leben der
Gegenwart, ein Uebel für den hochgestimmten Geist, schlimmer
als positive Qual,
Er beklagt den
politischen Verfall seines Vaterlandes und be-
jammert seine sich vermählende Schwester, dass es nun ihr Ge-
schick sein werde, in solcher schlimmen, schmachvollen Zeit das
unselige Geschlecht des Vaterlandes vermehren zu helfen. Unglück-
liche oder Feige werde sie gebären, und er muss wünschen, dass
es der erstem werden, da doch nun einmal ein Abgrund klaffe
zwischen Glück und Werth.
Ja, so schlecht und verächtlich ist dem Dichter sein Volk und
seine Zeit, dass an deren Beifall ihm nichts gelegen ist; nicht
Ruhm kann ihn locken, nur der Wahrheit will er dienen, nur sie
kann ihn noch in Thätigkeit erhalten, denn
„erkannte Wahrheit, ob sie
Auch trostlos sei, hat ihren Reiz."
Drei Weltschmerzdichter. 117

Einen ziemlich breiten Raum nimmt bei unserem Dichter auch


die Klage über das Leid der Liebe ein. Es ist dabei zweierlei zu
unterscheiden: erstens Klage über die mangelnde Liebesbefriedigung
in Folge persönlichen Missgeschickes, und zweitens die allge-
meine Klage über den Trug des Liebestriebes. Im Gedichte
„Sappho" fragt er (die Worte der Sappho in den Mund legend):
warum seine Jugend so der Blüthe bar sein müsse warum der ,

Himmel und das Glück ihn so finster anblickten? doch es giebt


keine Antwort auf diese Frage alles ist Geheimniss
; nur der ,

Schmerz nicht; ausgesetzte Kinder sind wir, zum Weinen geboren


„und das Warum ruht in der Götter Schoos."
Nur der Aeusserlichkeit und dem holden Scheine, nicht „mann-
würdigen Thaten, Gesang und Geistesfülle" wird Liebeslohn und
Liebeslust zu theil. So bleibt ihm, den die Natur äusserlich so
stiefmütterlich bedacht hat, nur der Liebe Leid ein lebenslanges
,

schmerzliches Entsagen, da mit der Erkenntniss der Hoffnungs-


losigkeit doch das Sehnen nicht gänzlich erlöscht; ja selbst dann
noch der Trieb nach Schönheitsgenuss am geliebten Weibe fort-
brennt, als schon das Illusorische des Liebessehnens in abstracto
erkannt ist, und das Bild der Frauenschöne gedämpft wird durch
die Reflexion auf der Weiber geistige und characterologische
Mängel. Im schönen Weibe wird doch eigentlich nur das schöne
Ideal verehrt, welchem ersteres doch nicht gleichkommt, daher
könnte seine Dichterseele auch dann nicht Befriedigung finden,
wenn das Geschick ihm günstiger wäre.

„Gleiche
Zaubermacht übt Schönheit wie Musik, die uns so oft
Von unbekannten Paradiesen hehres
Geheimniss zu enthüllen scheint. Dann hätschelt
Der tiefge troff 'ne Sterbliche das Kind der eignen
Seele, das geliebte Urbild,
Den Inbegriff der ew'gen HimmelsAvonne,
Ganz in Gesicht, Geberde, Stimm und Rede
Dem ird'schen Weibe gleich, das zu ersehnen
In seinem Taumel wähnt der Liebende.
Und doch nicht dieses, jenes nur, das Urbild
Liebt und ersehnt er selbst im Rausch der Sinne.
Doch endlich wird er inne seines Wahns
Und der Verwechslung, zürnt dann und beschuldigt
Gar ungerecht, das Weib."

Ungerecht, denn dem Weibe ward „mit zärtern Gliedern auch


ein Geist von minderer Fähigkeit", „nicht fasst so herrliche Ge-
danken diese enge Stirn" und was „hochsinnig Liebenden es ein-
flösst, ahnt und versteht es nicht." Dass er diese Illusion durch-
schaut hat, dessen freut sich nun der Denker in ihm:
118 Der Weltschmerz und die Poesie des Pessimismus.

„Die Bezauberung ist hin,


Mit ihr in Trümmer auch zerfiel
Das schnöde Joch und ich frohlocke" —
aber der Mensch in ihm krankt in Sehnsucht und der Dichter
empfindet das Stillerwerden des Herzens wie nächtliches Dunkel
.

und winterlichen Frost.


Nun der Wunsch sogar entschlafen ist, ist auch die Welt
ganz werthlos:
„Nur Schmerz und Langeweile bietet
Das Leben, andeies nicht. Die Welt ist Koth."

So wendet sich unser Dichter denn zu der Liebe Zwillings-


bruder (im Italienischen ist bekanntlich das Geschlecht der bei-
den Worte umgekehrt*): dem Tode und bittet ihn, den Fürst des
Lebens, ihn in ew'ge Nacht zu hüllen:

„jeder Hoffnung trügerischen


Schein will ich verschmähen
Und nie auf Hülfe baun,
Als nur von dir allein.
So will ich heiternun den Tag erharren,
wo mein schlummernd Haupt
Darf dir am Busen ruhn".**)

Aber Leopardi beklagt auch die Flüchtigkeit des Lebens,


und das giebt einen Widerspruch: wenn zwar auch das schlechte,
flüchtige Leben noch schlechter wäre, wenn der Tod demselben
nicht ein Ende machte, so wäre eben, wenn der Tod nicht wäre,
das Leben einer seiner schlimmen Eigenschaften: der Flüchtig-
keit entkleidet. Leopardi scheint diesen Widerspruch nicht zu
merken, dagegen erhebt er die Frage:
Wenn der Tod ein Uebel ist, warum müssen ihn dann schuld-
los junge Seelen kosten; wenn er aber in Anbetracht des Elendes
des Lebens ein Glück ist, warum muss er denn sowohl demjenigen,
der scheidet, wie denjenigen, die der Abscheidende zurücklässt, als
das grösste Leid erscheinen?
Darauf giebt's wieder keine Antwort, als die, dass Natur eben
andern Trieben gehorche, keine Rücksichten kennt für unser Wohl
und Wehe. Ein blindes Schicksal lenkt das Geschick, eine eherne
Nothwendigkeit drückt des „Todes kranke Sklaven"; dumpf tröstet
sich die Menge: so sei's verhängt —
doch ist das Leid nicht min-

*) Der Tod ist weiblich, die Liebe männlich.


**) Wir citiren nach P. Heyse's Uebersetzung.
Drei Weltschmerzdichter. 119

der hart, weil unabwendbar, der Schmerz nicht geringer, weil die
Hoffnung, dass es dauernd besser werde, mangelt. Und nun soll
auch selbstgewählter Tod den „Göttern" missfällig sein? Sollte
denn unser Herzeleid den Göttern Kurzweil sein? Glücklicher sind
die Thiere als die Menschen; denn wenn jene die Noth treibt, sich
selbst zu zerstören, so würden sie nicht, wie den Menschen, von
einem Etwas, „sei es Wahngedanke, sei es geheim Gesetz", daran
verhindert.
Mit der etwas im Zopfstil personificirten „Natur" die auch
,

begrifflich zusammengeworfen wird mit dem „Schicksal", oder


wohl auch mit den „Göttern" ist ja nicht etwa die grünende,
,

blühende, als Thier und Vegetation des Lebens sich freuende Na-
tur gemeint. An der Natur in letzterem Sinne erfreut er sich,
sieht aber darin wieder die Zeichen menschlichen Elendes, dass
diese Natur so unbekümmert um das Geschick der Menschen und
der Nation ihr Leben weiter lebt. Ebenso strahlend geht der Mond
auf über des Dichters verkommenes Zeitalter, wie über Roms Grösse,
und unbekümmert singt der Vogel, mögen die Zeiten sich auch
fort und fort verschlimmern. So reichlich aber auch der Quell
des Jammers sprudelt, zwei Objecte des Weltschmerzes bleiben
unausgebeutet der erkenntnisstheoretische Zweifel und der
:

religiöse Kampf. Während bei Heine jene Mischung von über-


legenen, mitleidigen Lächeln über den Wahn eines kindlichen
Glaubensund der stillen Sehnsucht nach jener im Wahne beglückten
Einfalt so reichlich poetische Blüthen treibt, hat Leopardi zu-
gleich mit der Lösung von dem katholischen Kirchenglauben auch
seinen Bruch mit der Religion überhaupt vollzogen, ohne Zweifel
Aveil ihm zu wenig philosophische Anlage eignete, um den hoch-
bedeutsamen Kern unter den mannigfaltigen, leider oft genug zur
Fratze verzerrten Umhüllungen zu respectiren.

Wir haben uns des Längern bei Leopardi verweilt, weil er


ungeachtet, dass er gerade in der Mode*), doch noch minder all-
gemein gekannt ist als Byron und Heine; dann aber auch be-
sonders, weil er so ganz ausschliesslich Weltschmerzler ist, und
weil wir (mit Ausnahme des Verhältnisses zur Religion) alle Eigen-
schaften des Weltschmerzdichters mit breitem Pinsel gemalt finden.
Als Sänger des politischen Entrüstungspessimismus hat er
auch in Deutschland, besonders in den vierziger Jahren, viele Nach-'

*) Leopardi wird von Schopenhauer wiederholt angeführt, von E.


DühringundF. Laban als Pessimist par excellence gepriesen; Dühring
fasst ihn von der Seite seines sittlich-patriotischen Entrüstungspessimismus,
Laban preisst ihn wegen seiner Metaplrysiklosigkeit.
120 Der Weltschmerz und die Poesie des Pessimismus.

folger gefunden, von denen mehr als einer, wenn auch nicht an
Tiefe der Empfindung, so doch in der Macht des Ausdruckes ihm
überlegen war; wir erinnern beispielsweise an G. Herwegh (Lieder
eines Lebendigen).
Ebenso die andern Seiten des Weltschmerzes, das Gefühl des
Preisgegebenseins des Einzelnen im Getriebe des Weltganzen, und
vor allem das Gefühl der Müdigkeit, welche das Ringen um Lust
und Glück, an die man nicht mehr ehrlich glaubt und die man
doch nicht missen möchte, im Gefolge hat, haben in allen Cultur-
sprachen ihren Ausdruck gefunden in gereimter Form, wie nicht
minder auch im Roman und in der Novelle.
Unter den Dichtern der Gegenwart hört man öfter H. Lorm
als Weltschmerzdichter bezeichnen; aber mit Unrecht, denn Lorm
schifft nicht auf dem uferlosen See der blossen Erfahrung herum,
sondern er führt uns in der Reflexionsdichtung eine metaphysisch
ergänzte Weltanschauung vor, die ihm das Anrecht auf die Be-
zeichnung als Pessimismus-Dichter giebt. Dass diese seine
Weltanschauung sehr negativ ist, und mit den Indiern und mit
Schopenhauer eigentlich nur die trügerische Maja und den
lebenshungrigen Willen zum Princip hat, ändert daran nichts.
Die Sehnsuchtsstimmung, das Verlangen nach Ruhe, aber ge-
fühlter, süsser Ruhe findet sich sehr schön bei diesem Dichter
ausgesprochen:

„Ich frag' nicht nach der Dauer


Jenseits der Kirchhofmauer;
Doch wünsche ich soviel mir als das letzte Ziel:
"Wenn abgethan des Lebens Last,
Zu fühlen meine süsse Rast."

Ganz indisch muthet es einem an, wenn man liest:

„Das Chaos war ein ruhevoller Bronnen,


Der ohne Grenze weit und tief sich dehnte,
Wo nichts das Leben, nichts den Tod ersehnte;
Umschlungen lagen Welten drin und Sonnen.

Da hat der See zu träumen einst begonnen;


Es was innig an einander lehnte,
schied,
In Tag und Nacht, in Mann und Weib, es gähnte
Ein Abgrund zwischen Wunsch und Wonne.

Das der böse Traum, den Welt sie nennen;


ist
Und ausgeträumt, wird alles, was geschieden
ist er
Zu neuem seligem Nichts zusammenfliessen.
Drum predigt nicht Unsterblichkeit hienieden —
Ist Leben Traum, will auch das Herz zerfliessen;
Was lebt, will Rückkehr zu des Chaos Frieden."
Pessimistisches im Sprichwort. 121

Und ganz Schopenhauerisch ist es, wenn er singt:

„Das Leben selbst ist Sehnsucht nur,


Wie klug dir 's auch verhüllt Natur.
Ihr Trug umgiebt mit Qual und Angst
Den Untergang, den du verlangst.
Du weisst's nur nicht: du stürbest gern —
Das ist der Sehnsucht tiefster Kern."

4. Pessimistisches im Sprichwort.

Man hat dem Pessimismus vorgeworfen, er sei ein Kunstpro-


duct, das Erzeugniss einer Hypercultur, und werde daher dem
Kern des Volkes immer als ein Fremdes, Unverständliches gegen-
über stehen. In seiner Form als poetischer Weltschmerz ist die
pessimistische Weltanschauung allerdings das Resultat einer ein-
seitig entwickelten Cultur, und durch seine psychologisch-physiolo-
gischen Vorbedingungen auf einen relativ engen Kreis beschränkt.
Dass dagegen auch im Volke das pessimistische Bewusstsein —
abgesehen von dem religiös-christlichen contemptu mundi leben- —
dig ist und sich auch Ausdruck zu schaffen gesucht, das zeigt das
pessimistische Sprichwort, auf welches wir nur noch einen
Blick werfen wollen.
Das Sprichwort weiss es, dass das Glück nur ein flüchtiger
Gast im mühevollen Leben ist: „Glück und Glas, wie bald bricht
das!" stabreimt der Deutsche, und „gross Glück hält die Farbe
nicht"; „Glück hat Weiberart" und „Glück und Liebe wechseln
wie der Mond", sagt der Italiener. Auch hat „gross Glück grosse
Tück", und während „das Unglück reitet, so kommt das Glück
nur auf Krücken." Dabei ist das Unglück meist vielseitig: „wo
Trauer im Haus ist, da steht die Trübsal vor der Thür"; man
muss es daher noch für ein „Glück" halten, wenn nur ein Unglück
zu einer Zeit kommt. „Ein Unglück, kein Unglück" sagt der ,

Deutsche, „ein Unglück, ein Glück", sagt sogar der Russe, und
der Spanier und Baske in „Willkommen Unglück, wenn du allein
kommst." Das Unglück kommt schnell und geht langsam: „Un-
glück kommt geritten, geht weg mit Schritten", auch kommt es
„Fuderweis und geht Lothweis" —
sagt der Italiener.
Wenn man glaubt, einer Sache noch so sicher zu sein so ,

kann dieselbe noch schief gehen und Unheil hereinbrechen: „Vom


Löffel ist's noch weit zum Munde", sagt der Deutsche; „betwixt
cup and lips are many slips" sagt der Engländer und in allen
,

Sprachen sagt man, dass man „den Tag nicht vor dem Abend
loben soll."
122 Der Weltschmerz und die Poesie des Pessimismus.

Manches sieht anfänglich ganz günstig aus, aber „es ist nicht
alles Gold was glänzt" und „der hinkende Bote kommt hinterher."
Auch schützt kein Stand und keine Lage vor dem Uebel:
„Es ist kein Häuslein, es hat sein Kreuzlein", sagen die christ-
lichen Schwaben, und der Litauer sagt ganz Schopenhauerisch:
„wo Fussstapfen sind, da ist auch Noth". Arm sein ist
schlimm, denn „den Armen kennt man nicht" and „der Armuth
werden die Pillen nicht vergoldet"; dazu kommt noch, dass ..Ar-
muth eine Haderkatze ist." Aber reich sein bringt auch Uebel
im Gefolge: „hoher Baum fängt viel Wind" und „Würde bringt
Bürde"; „grosses Gut, grosse Sorge" und „Gut" macht nicht nur
„Muth", sondern „Gut macht Uebermuth", und „Uebermuth thut
nicht gut", denn, setzt der Franzose hinzu: „Man erträgt alles,
nur nicht das zu gut."
Es entspricht Wohlergehen und Unglück auch nicht dem
Verdienste: „Der Esel trägt das Korn in die Mühle und bekommt
Disteln"; „die Frommen bekommen die Neige" und „der Gute
hat selten das Gute" (Albanesisch). In christlich beeinflusster Form
heisst's „der Frömmste muss das Kreuz tragen", und wenn tröst-
lich darauf folgt: „per crucem ad lucem", so ist dies doch erst
Vergeltung im Himmel, aber in diesem Leben ist „Undank der
Welt Lohn".
Bei dieser Beschaffenheit des Daseins lobt die Volksweisheit
denn die „Hoffnung" sehr, die diesen Übeln Zustand erträglicher
macht; „wenn die Hoffnung nicht wär, so lebt ich nicht mehr,"
sagt der Schweizer, „die Welt ruht auf der Hoffnung" der Perser,
und der Italiener sagt „Hoffnung ist das Brod der Unglücklichen."
Aber auch die Hoffnung theilt die Unvollkommenheit alles
Uebrigen: „Hoffen und Harren macht manchen zum Narren," und
„wer von der Hoffnung lebt, stirbt arm."
Dies mag genügen für unsern Zweck; die Beispiele können
aus jeder Sprichwörter-Sammlung ergänzt und vermehrt werden.
An die abergläubischen Sitten, wie sie gegenwärtig noch
selbst bei unserem mittel-europäischen aufgeklärten Bauern- und
Bürgerstand lebendig sind, können wir ebenfalls nur erinnern und
überlassen es dem Leser selbst, die Beispiele herbeizuziehen: es
wird ihm nicht schwer werden, solche zu finden.
Besonders interessant auf diesem Gebiete erscheint uns die
Furcht, „das Glück zu berufen", d. h. die Scheu, sich selbst glück-
lich zu preisen oder sich seines Wohlergehens, der Gesundheit
seiner Kinder u. s. w. zu rühmen, weil man die Dauer des ge-
rühmten Zustancles damit für gefährdet erachtet. Dieser aber-
gläubischen Furcht könnten zwei Gedankengänge zu Grunde liegen:
Pessimistisches im Sprichwort. 123

entweder die uralte pessimistische Idee vom Neide der Götter


über das Glück der Sterblichen, oder aber die ebenso pessimi-
stische, philosophischere: dass das Glück der Menschen nicht im
Plane der Welt eingeschlossen sei, sondern nur mehr ein ausser-
natürlicher, zufälliger Zustand sei, der aufgehoben würde, sobald
er durch die Constatirung seines Vorhandenseins aus der schützen-
den Verborgenheit gezogen würde.
V. Capitel.

Der philosophische Pessimismus.

i. Schopenhauer.

a. Schopenhauers Weltschmerz.

Man hat den modernen philosophischen Pessimismus wieder-


holt die „Philosophie des Weltschmerzes" genannt. Man könnte
sich diese Bezeichnung für Schopenhauer und einige seiner Nach-
folger gefallen lassen, wenn dieselbe nicht gar zu leicht zu Miss-
verständnissen führte. Man kann durch dieselbe nämlich verführt
werden zu meinen, der Weltschmerz als solcher sei schon Philo-
sophie, oder die Philosophie des Weltschmerzes sei eine Philosophie,
als deren Resultat der Weltschmerz entstehe. So verhält sich
aber die Sache nicht. Schopenhauers Philosophie kann man
deswegen Philosophie des Weltschmerzes nennen, weil der Welt-
schmerz zum Hauptmotiv des Philosophirens wird, und weil die
Ueberzeugung von der leidvollen Beschaffenheit des Lebens und
der Incongruenz zwischen dem Wollen der Menschen und dem,
was der Regel nach das Geschick ihnen gewährt, die einzige Vor-
aussetzung ist, mit der an das metaphysische Problem heran-
getreten wird.
Die bisherigen Philosophen hatten auch mehr oder minder das
Böse und das Uebel in Rechnung gezogen, aber sie gingen von der
dogmatischen Voraussetzung einer vollkommenen, weisen und all-
mächtigen Weltursache aus; und da aus einer solchen eine schlechte
Welt nicht erklärlich schien, so mussten sie der Erfahrung Zwang
anthun, wenn sie überhaupt zu einer systematischen Weltanschau-
ung gelangen wollten. Das Unerklärliche wurde entweder hinweg-
geredet, oder aber im Anschluss an die Theologie eine secundäre
Ursache für dasselbe gesucht.
Schopenhauer. 125

Schopenhauer meint, dass alle echte Philosophie Atheis-


mus sein müsse; zu dieser Behauptung gelangt er einerseits durch
seine Erkenntnisstheorie, nach welcher der menschliche Geist
mit seiner Erkenntniss nie zum Wesen des Seins vordringen kann,
sondern immer an der blossen Erscheinung haften bleibt, mithin
eine Metaphysik im Sinne der bisherigen Philosophie nicht mög-
lich sei. Zum andern aber meint er mit derselben die Freiheit
vom Dogmatismus und die Voraussetzungslosigkeit beim
Beginn des Philosophirens.
•Die Welt und ihre Existenz ist so, wie sie ist, ein Problem;
wären die Bewusstseinsträgerihrem Wunsche and Verlangen ent-
sprechend befriedigt, so wäre das Weltdasein kein Problem, es
fiele niemanden ein, sich darüber zu wundern, dass er und die
Welt ist; nur für eine pessimistisch beschaffene Welt sucht man
nach einer Erklärung, einem „Grund". Aber einen solchen „Grund 44

giebt es nicht. Eine göttliche Intelligenz, ein Anaxagorischer vovg,


d. h. ein von Erkenntniss geleiteter Weltwille (das schöpferische
Princip des Theismus) würde bald den Ueberschlag gemacht haben,
dass „das Geschäft die Kosten nicht deckt." Es muss daher das
Weltdasein eine grundlose Ursache haben und diese kann keine
andere sein als ein blinder Wille, ein primäres, aller leitenden
Erkenntniss vorangehendes, unmotivirtes Wollen. Nun haben zwar
schon J. J. Böhme, und nach diesem Schelling, als das ur-
sprüngliche Seins- und Schöpfungs-Princip im Absoluten den pri-
mären Willen, d. h. den von der Intelligenz unabhängigen, uner-
leuchteten Willen aufgestellt, und dennoch die Welt, in ihrem,
das erkennende Licht der Intelligenz aus ihrem dunkeln Beginn
entwickelnden Dasein als in Gott (als dem über dem grundlosen
Urwollen als Geist sich erhebenden Absoluten) begründet erachtet.
Es ist daher wesentlich das Zusammentreffen der pessimistischen
Weltanschauung mit dem erkenntnisstheoretischen Standpunct
Schopenhauers, weshalb dessen Philosophie atheistische Philo-
sophie bleiben muss; denn entsprechend dieser Erkenntnisstheorie
gehört alles Geistige, alles Intellectuelle,sowie auch das ganze
4
Reich der Form und Bestimmung nur der „Welt als Vorstellung u ,

d. h. der subjectiven Erscheinung an; es ist das „Wie" der Welt


mithin in seinem Verhältniss zum Absoluten bloss accidentieller Art,
und das einzige, was von uns, dem welt-betrachtenden Subject, als
Wesen nicht sowohl erkannt als vielmehr unmittelbar in
der Selbsterfahrung gegeben ist, ist der Wille, welcher als
ein blindes Princip nicht Gott sein kann.
Schopenhauer acceptirt die von Kant in der „transcenden-
talen Aesthetik" aufgestellten Grundsätze des erkenntnisstheoreti-
schen Idealismus, wonach Zeit und Raum nur die Formen unserer
126 Der philosophische Pessimismus.

Sinnlichkeit sind, worin wir das ewig Eine Wesen anschauen und
welche diesem, abgesehen von seiner Erscheinung als Object eines
Subjectes, gar nicht zukommen; ebenso wie die Kategorien der
Zahl, der Quantität, Qualität und Modalität bloss Formen unseres
Intellectes sind. Das „Ding an sich" aber, welches Kant vermit-
telst seiner Theorie nie zu erfassen vermag und dennoch nicht
missen kann, das erfasst Schopenhauer im eigenen, der Erkennt-
niss durch die Anschauung nicht benöthigenden Inneren, als den
Willen.
Den Willen, der das Sein will und es damit setzt, erfährt
der Mensch in seinem Sein und seinem Streben zwar auch nicht
gänzlich rein an sich, denn er erfasst ihn in sich selbst immerhin
auch in der Form der Zeitlichkeit, aber doch frei von der Hülle
der übrigen Formen der Sinnlichkeit und des Denkens.
Im Willen ist dasPrincip gefunden, welches die Erkenntniss-
theorie vor dem Illusionismus rettet, zugleich aber auch dasjenige
psychologische Princip, wodurch das Licht des Verständnisses
auf die leidvolle Beschaffenheit des Lebens und der Welt fällt.
Durch die psychologische Betrachtung der Lebensvorgänge gelangt
Schopenhauer zu demselben Puncte, zu dem er aus der subjec-
tiv-idealistischen Erkenntnisstheorie flüchtet, wenn ihm in dieser
der Boden der transcendenten Realität und damit auch die Berech-
tigung und Vorbedingung des Philosophirens zu wanken beginnt.
Darum nannte Schopenhauer seine Philosophie ein Schmerzens-
kind, unter Drang und Noth geboren, weil der Weltschmerz im
Centrum seiner ganzen Denkthätigkeit stand und unter seinem Ein-
fluss und in seiner grellen Beleuchtung das Princip seiner Welt-
erklärung gefunden wurde.
Der Wille, der Eine und untheilbare (denn „Theil" und „Viel-
heit" sind nur Begriffe, welche dem Ding an sich nicht zukom-
men), will stets und immer mit unendlichem, unstillbarem Durste
das Dasein; er will es blind und ziellos im anorganischen Reiche,
blind und in traumartigem, instinctivem Halbbewus'stsein in der
Pflanzen- und Thierwelt, und mit Bewusstsein und zielvoller Ab-
sichtlichkeit im Menschen. Das Bewusstsein und die Intelligenz
mit ihren Denkformen ist Product des Gehirnes, oder richtiger,
d. h. von einem höheren Standpunkte betrachtet, ist das Gehirn
die materielle Anschauungsform des Intellectes; beide (die aber
nur für die unphilosophische Betrachtung zwei sind) sind oberstes,
höchstes Product des Willens. An sich, seinem Wesen nach, ist
auch das Gehirn Wille; Wille zum Erkennen, wie der Magen und
die vegetativen Organe Wille zum Verdauen und Ernähren, die ge-
schlechtlichen Organe Wille zur Fortpflanzung der Gattung sind;
alles, was ist, ist nur der eine Wille in seiner unendlichen Man-
Schopenhauer. 127

nigfaitigkeit der Formen, entsprechend der Unendlichkeit des


Triebes.
Schopenhauers pessimistisches Bewusstsein enthält die
sämmtlichen Daten des Weltschmerzes, aber der Weltjammer ist
ihm nicht mehr wie dem Weltschmerzler ein ungelöstes Räthsel,
sondern in seinem Princip hat er das Räthselwort gefunden.
Die Rastlosigkeit des Lebens, das beständige Drängen und
sich rücksichtslos Stossen im Hasten nach einem vom Intellect ge-
setzten Ziele zu, von dem man sich Lust und Wohlsein verspricht,
um, wenn am Ziele angelangt, enttäuscht niederzusinken und, wenn
die Kräfte ausreichen, sich auf's Neue wieder aufzuraffen zu neuer
Jagd, zu neuem erfolglosen Wettlauf, es erklärt sich voll und ganz
aus der Natur des Willens, des ewigen blinden Dranges nach seinem
eigenen zweck- und ziellosen Sein.
Weil der Wille, das An-sich der Welt, die ewige hungrige
Leere ist, darum hat auch die Natur keinen über sie hinausreichen-
den Endzweck; statt dessen bietet sie uns augenblickliches Behagen,
flüchtigen, durch vorhergehenden Mangel bedingten Genuss, vieles
und langes Leiden, beständigen Kampf. Jeder ein Jäger und Jeder
gejagt, Gedränge, Mangel, Noth und Angst, Geschrei und Geheul
— und das geht so fort saecula saeculorum, oder bis einmal wieder
die Rinde der Planeten bricht; aber auch dann endet es nur, um
sich wieder in anderen Formen zu erneuern. (403. 404.) Und wie
in der Natur im engeren Sinne, so auch bei den Menschen. Alle
zusammen und jeder Einzelne strebt nach Glück und Genuss; aber
Tausende fallen beständig als Opfer des Wahns, diesen dauernd er-
reichen zu können; denn alle Siege über die Natur, alle Erfolge
der Wissenschaft, Industrie und Künste, sie führen nur zu flüch-
tigen Befriedigungen, welchen augenblicklich neues Verlangen folgt.
Demi der Wille ist ja unerschöpflich, alles „Was" und „Wie" des
Wollens gehört ja nur der Welt als Vorstellung an, während das
Wesenhafte nur das ungestillte Bedürfniss ist; der Wille ist unend-
lich, alles Erfüllen ist nur endlich. Mit allem Aufwand an mensch-
lichem Scharfsinn wird schliesslich doch nichts erreicht, als was
auch in der Natur der einzige immanente Zweck ist: die Erhal-
tung der Gattung, in deren Dienste alle Individuen stehen und für
welche Alle unbewusst wirken, wenn sie für sich selbst und ihr
individuelles Wohl zu sorgen wähnen; so besonders auch in der
Liebe, deren Sehnsuchtsträume und Entzückungen nur Kriegslist
der Natur sind, um. das Individuum trotz seines Egoismus voll und
ganz sich dienstbar zu machen.
Weil der Kern jedes Individuums Wille, blinder, grundloser
Wille zum Leben ist, darum klammert sich der Mensch so sehr an
das Leben, dass er dieses auch dann noch zu erhalten sucht, wenn
128 Der philosophische Pessimismus.

er schon elend, krank, verachtet, in jeder Hinsicht freudlos ist;


weil jedes Lebewesen nur die räum- zeitliche Erscheinung des Einen
blinden Lebenswillens ist, darum werden wir so in tiefster Seele
ergriffen, wenn jemand in Lebensgefahr geräth; darum die Furcht
und das Schrecken vor dem Tode, und darum der Jubel bei Lebens-
rettungen.
Weil der Wille als blinder, grundloser und als All-Einer in
jedem Individuum voll und ganz vorhanden ist, wird er durch nichts,
was das Individuum als endliche Erscheinung erreicht, dauernd er-
füllt; ist daher ausnahmsweise ein Mensch so gestellt, dass seine
Existenz gesichert, seine Verhältnisse allseitig günstig sind, so dass
es dem bewussten, d. h. vom Intellect durchleuchteten Willen,
an Objecten des Wollens fehlt, so befällt den Menschen „furcht-
bare Leere und Langeweile, und das Dasein selbst fällt ihm zur
Last." „Was in allen Lebenden strebt, ist das Streben nach Dasein,
aber mit dem gesicherten Dasein wissen sie nichts anzufangen,
daher ist das zweite, was sie in Bewegung setzt, das Streben, die
Last des Daseins los zu werden, es unfühlbar zu machen; die Zeit
zu tödten", d. h. der Langeweile durch Zerstreuungen zu entfliehen.
(391. 369.)
Wenn Maupertuis Lust und Unlust so definirt, dass Lust
ein Zustand der Seele sei, in dem man verharren möchte, Unlust
aber ein solcher, aus dem man in einen anderen überzugehen
wünscht, so findet diese Definition Erklärung und Vertiefung durch
die Willensphilosophie: der Wille, der einen Zustand in einen an-
dern übergehend wünscht, ist Unlust; der befriedigte Wille ist Lust.
Aber nach Schopenhauers Fassung des Willensprincips, wo
einem bloss secundären und acciden-
die Vorstellung (der Inhalt) in
tiellen Verhältniss zum Willen steht, kann letzterer eigentlich gar
nicht befriedigt werden. Die sogenannte Befriedigung des Willens
ist bloss eine Befriedigung des lntellects, wo dieser den Lihalt
eines Willensactes realisirt sieht. Daher ist für Schopenhauer
nur die Unlust wahrhaft real, weil unmittelbar das Wesenhafte
berührend, die Lust aber nur ein privatives Moment, die Abwesen-
heit der Unlust; sie ist auch nur ein flüchtiger Augenblick, denn
das blinde Wollen dauert fort. So wie der eine bewusste Inhalt
aufhört ein gewollter zu sein, indem er „erfüllt", realisirt wird, so
ergreift das leere Wollen einen neuen Inhalt und das unlustvolle
Sehnen beginnt aufs neue.
„Alles Streben entspringt aus Mangel, aus Unzufriedenheit
mit seinem Zustand, ist also Leiden, so lange es nicht befriedigt
ist; keine Befriedigung aber ist dauernd, vielmehr ist sie stets nur
der Anfangspunct eines neuen Strebens. Das Streben sehen wir
überall vielfach gehemmt, überall kämpfend, so lange also immer
Schopenhauer. 129

als Leiden; kein letztes Ziel des Strebens, also kein Maass und Ziel
des Leidens." (365.)
Wie Leibniz nur die Lust als positiv und die Unlust als
blosse Privation kennen will, so ist für Schopenhauer die Un-
lust das Positive und
die Lust nur die Privation derselben.
Schopenhauer empfindet durchaus als Weltschmerzler; er
hat ein titanisches Selbstgefühl, welches (als Gefühl) weder sein
Monismus noch die erkenntnisstheoretische Einsicht von der blossen
Phänomenalität der Ichheit zu dämpfen vermag und welche ihn zu
hoher Grlorificirung des Genius gegenüber der „Dutzendwaare der
Natur" führt.
Dieses starke geniale Ichgefühl ist nur eine specielle Anwen-

.

dung eines starken Individualitäts-Gefühls, daher auch die nicht


pessimistische, sondern echt weltschmerzlerische Trauer über —
die Vergänglichkeit des Irdischen und die lebhafte Betonung des
Todes, als des ersten und obersten der Uebel. Schopenhauer
besitzt auch die weitere Bedingung des Weltschmerzlers: ein weiches
Herz gegenüber den Leiden der Thierwelt und jener intellectuell
minder begabten Menschheit der räumlichen und zeitlichen Fer-
nen, welche nicht minder leiden, weil ihre Klage weder an unser
Ohr dringt, noch auch generalisirende Ausdrucksform gewinnen kann.

b. Schopenhauers Weltverachtung.

Schopenhauer aber nicht nur Weltschmerzler und sucht


ist
nicht nur ein Princip, sich ihm diejenigen Verhältnisse
wodurch
des Lebens und der Welt, welche ihn zu diesem machen, erklären,
sondern er bekennt sich auch zum ethischen und religiösen Pessi-
mismus des contemptus mundi. Er schaut nicht nur überall das
Leid, er hat auch das Nachtauge, um überall die Schuld zu sehen.
Und zwar auch da, wo sie nicht ist, indem er dem Kriticismus
seines erkenntnisstheoretischen Standpunctes entgegen den nur im-
manent gültigen ethischen Begriff der „Schuld" auf das Dasein
und seine transcendente Causalität anwendet.
Er identificirt das intellectuell Nicht-motivirt-sein der Welt
schlechthin mit dem Unberechtigt-sein das Weltsein, welches, wie
;

die unlustige Erfahrung lehrt, besser nicht wäre, wird ihm zum
Nicht-sein-sollenden im Sinne von Nicht-sein- dürfenden. Erstellt
sich ausschliesslich auf den Intelligenz-Standpunct und muss von
diesem aus, nachdem ihm einmal die Allmacht des Leides klar ge-
worden ist, alles Grundlose verneinen; aber statt es nur als un-
vernünftig zu verurtheilen, verdammt er es als bös.
PI üm ach er. Pessimismus. 9
130 Der philosophische Pessimismus.

Schopenhauer verurtheilt die Welt, weil sie unlustvoll


ist,und nachdem ihm einmal das verurtheilte Weltdasein zum
schuldvoll erstrebten geworden ist, erscheint ihm nun auch das
Uebel des Daseins als Folge der Schuld. „Will man den Grad
der Schuld, mit dem unser Dasein selbst behaftet ist, ermessen, so
blicke manauf das Leiden, das mit demselben verknüpft ist. Jeder
grosse Schmerz, sei er leiblich oder geistig, sagt uns, was wir ver-
dienen: denn er könnte nicht an uns kommen, wenn wir ihn nicht
verdienten". (666.)
Wie Schopenhauer daher den Weltschmerzdichtern, vorab
Leopardi, für ihre Schilderungen des Lebensleides applaudirt, so
ist auch der Pessimismus des Christenthumes das Moment, wo er
für letzteres Interesse und partielles Verständniss gewinnt; von den
Lehren des Judenthumes aber hat keine Anspruch auf metaphy-
sische, wenn auch nur allegorische Wahrheit, als diejenige im My-
thos vom Sündenfall.
„Der Unterschied, wie auch der Werth der Religionen liegt
nicht darin, ob sie monotheistisch, pantheistisch, polytheistisch oder
atheistisch sind, sondern darin, ob sie pessimistisch oder opti-
mistisch sind, d. h. ob sie das Dasein der Welt als durch sich
selbst gerechtfertigt erachten, oder als etwas, das nur als Folge
unserer Schuld begriffen werden könne und daher besser nicht wäre.
In dem Eingeständniss des elenden und sündhaften Zustandes der
Welt liegt die siegreiche Kraft des Christenthums, indem die tief
und schmerzlich gefühlte Wahrheit das Bedürfniss der Erlösung
im Gefolge hat." (IL 187.)
Noch hoher das Christenthum mit seinem Irrthum der
als
Möglichkeit eines jenseitigen glücklicheren Daseins steht der Brah-
manismus und Buddhaismus, welche mit dem Pessimismus noch
das Bewusstsein von der blossen Phänomenalität der angeschauten
und empfundenen Welt verbinden.
Wenn uns nun gesagt wird, dass das Leben einer eingegan-
genen Schuld gleich sei, deren zu zahlende Zinsen des Lebens
Leiden seien und die erst mit dem Tode rückbezahlt werde (666),
so erhebt sich die Frage: von wem und wann ist die Schuld ein-
gegangen worden?
Da das empirische Individuum, als Eines unter Vielen, in seiner
raumzeitlichen Beschränkung nur der „Welt als Vorstellung" an-
gehört, d. h. als Einzelnes unter Vielen nur subjective Erschei-
nung ist, sein Wesen aber das Eine Wesen ist, so ist es auch der
Eine Wille, der das Dasein in jeder einzelnen Erscheinung ver-
schuldet und in jeder im Tode abbüsst; darum ist jedes Individuum
gleichzeitig schuldig und unschuldig und ebenso des Zornes als
des Mitleides werth.
Schopenhauer. 131

Das Individuum ist auch in der einzelnen Handlung deter-


minirt durch die Reize und Motive, auf die es entsprechend seinem
Character nicht umhin kann zu reagiren; aber es ist indeterminirt
bezüglich des „esse" seines Characters und daher ungeachtet seiner
empirischen Determination für sein So-sein verantwortlich.
Die Idee der Freiheit im „esse" nimmt Schopenhauer von
Kant in sein System hinüber, wo dieselbe —an und für sich
schon unhaltbar *) — neben dem Monismus und dem erkenntniss-
theoretischen Idealismus keinen Raum findet; denn sie setzt die
Individuation schon ins Transcendente hinaus, während sie nach
Sch'openh.auer's subjectiv-idealistischer Erkenntnisstheorie nur in
der Welt der Vorstellung, als „Trug der Maja", ihr unberechtigtes,
zur Durchschauung und Ueberwindung bestimmtes Leben fristet.
Am verhängnissvollsten für Schopenhauers System erweist sich
aber die widerspruchsvolle Unsicherheit über die Tiefe, bis in welche
die Wurzel der Individuation reicht, da, wo aus dem tiefen Dun-
kel seiner weltschmerzlichen Weltbetrachtung die Morgenröthe
einer Erlösungs-Hoffnung aufsteigen soll.
Wenn nämlich der Wille zum Dasein die Schuld ist und die
Hölle der Unlust und des Unrechts schafft, so muss die Lebens-
verneinung, die Negation des Willens, das höchste Gut sein, und
das reine Nicht-Sein im indischen Sinne das selige Nirwana.
Während nun innerhalb der vom blinden Willen gesetzten
Welt der Wille sich vermittelst des Motivs stets wieder an sich
selbst zum inhaltlich bestimmten Wollen entzündet, so vermag an-
dererseits die reine Erkenntniss des Daseins in seiner Qual und
Schuld als Quietiv auf den Willen zu wirken. Voraussetzung
hierzu ist die Interesselosigkeit des Willens bei der Anschauung,
die Emancipation des Intellects vom Willen, in dessen Dienst er
gewöhnlich (auf den niedrigeren Stufen seiner Entwickelungsreihe
stets) steht. Aber diese reine, willenlose Anschauung muss nicht
durchaus zum Quietiv des Willens werden, sie muss es nicht, sie
kann es nur. Sie besteht als vorübergehender Zustand in der
ästhetischen Anschauung, deren Lustmoment gerade in der Freiheit
vom Wollen, in der momentanen Sistirung des Wollens besteht;
ferner in der philosophischen Betrachtung der Ideen der Dinge, los-
gelöst von deren concreter Erscheinung in Zeit und Raum; end-
lich in jenem Zustand der Gnade, wo die Verneinung des! Willens
practisch zur Askese und freiwilligen Selbstvernichtung führt; denn
wie die Begattung den Gipfel der Lebensbejahung bezeichnet, in-
dem darin das Individuum sich zu verdoppeln strebt, so ist die

*) Siehe E. v. Hartmann, Phän. d. sittl Bewussts. 2. Abth. IH. 6.


Das Moralprincip der transcendentalen Freiheit.
9*
132 Der philosophische Pessimismus.

Mortification,durch willige Uebernahme der Leiden und absicht-


licheVermehrung derselben durch Fasten und Kasteiungen, das
erhabene Ziel einer vollständigen Erkenntniss der Welt und ihrer
unseligen Beschaffenheit. —
Durch die Unklarheit darüber, wie tief die Individuation in
das Wesen hineinreicht, bleibt es ganz unverständlich, wie die Er-
lösung von der Unseligkeit des Wollens und damit vom Dasein
stattfinden soll. Der Wille als Weltwesen soll in seiner einfachen
blinden Essenz unzerstörbar sein, womit der „feurige Kreislauf
als nicht zu unterbrechender, nicht zum Stillstand zu bringender
gegeben ist; nur das Individuum soll sich, gleichsam durch einen
„Seitensprung" aus demselben retten und in die selige Ruhe des
Nichts flüchten können.
Wenn nun aber das Individuum nur subjective Erscheinung,
nur Schein und Trug der Maja sein soll, so wäre auch sein Aus-
scheiden aus der Welt bedeutungslos, selber nur Schein; auch ist
ja das, was leidet und nach Erlösung verlangt, nicht bloss das Indi-
viduum als Object eines betrachtenden Subjects, nicht das Schein-
gebild im Rahmen der „Welt als Vorstellung", sondern das Wol-
lende und Leidende ist der hinter dem Schein der individuellen
Vielheit sich bergende Eine Wille; wenn also der Kern eines Indi-
viduums, nachdem es gewollt und gelitten, aber auch erkannt
hat, nunmehr sich verneint und vom Dasein sich erlöst, so wäre
es der Eine Wille, der aufgehoben wäre. Fände also einmal eine
wirkliche, reale Willens Verneinung (nicht nur die begriffliche
Negation des als unheilvoll erkannten Wollens im philosophischen
Denken) statt, so müste der Eine Welt- Wille aufhören, also durch
das Quietiv der pessimistischen Erkenntniss nicht nur ein Indivi-
duum, sondern die Welt aufhören zu existiren; denn die Welt,
als Vielheit der Einzelnen hinter deren individuellen Schein, ist ja
selbst nur ein Schein, der aufhören würde zu scheinen, wenn der
Wille als der Eine in allen Subjecten aufhören würde, sie als sein
Object zu setzen. Nun mehit Schopenhauer, dass es sowohl
christliche wie indische Asketiker gegeben habe, die den Willen
vollständig verneint hätten; da nun aber die Welt noch steht, so
muss dieses entweder ein Irrthum sein, und der Wille zum Nicht-
wollen blosse Velleität, d. h. Vorstellung des Wollens des Nicht-
wollens gewesen sein, welche den ewigen Strom des blinden Ur-
Willens gar nicht berührte; oder aber diese Fälle sind ein Beweis,
dass Schopenhauers Lehre von der Individuation, resp. von dem
Verhältniss des Individuums zu der Welt als Vorstellung einerseits
und zum Weltwesen andererseits, eine fehlerhafte ist.
Wir haben hier Schopenhauer nicht zu kritisiren, sondern
nur darzustellen, wie er das Leben und die Welt auffasst und wie
Schopenhauer. 133

er deren leiden- und unlust-reiches So-sein zu erklären versucht;


wir lassen daher diese Dunkelheiten un erörtert, wie auch diejeni-
gen, die über den Begriff der Materie, über die s. g. Platonischen
Ideen und deren Verhältniss zur Gattung u. s. w. u. s. w. bestehen.
Dagegen müssen wir hervorheben, dass, so dunkel das Weltsein
Schopenhauer erscheint, es einer hellen Stelle in dem dunklen
Bilde doch nicht ermangelt. Diese ist die ästhetische Anschauung,
wo die Unlust schwindet, weil der Mensch für Momente reines
wille- und wunschloses Weltauge geworden ist. In dieser Hinsicht
ist Schopenhauer ganz nur romantischer Weltschmerzler, nicht
aber Weltverächter im Sinne des religiösen contemptus mundi; er
hat ein empfängliches Auge für die Schönheit, und weiss, dass
diese sich als goldiger Schein auch dort noch ausbreitet, wo das
Sein als nicht bloss geschautes, sondern als gelebtes, empfundenes,
Kampf und Schmerz ist. Aber die Welt ist kein Guckkasten —
wendet er den Optimisten ein, welche die Aesthetik gegen den
Pessimismus zu Felde führen möchten —
„anzusehen sind diese
Dinge wohl recht schön, aber sie zu sein ist etwas ganz anderes."
Schopenhauer ist unerschöpflich in eindringlichen Schilde-
rungen, frappanten Bildern und geistvollen Bemerkungen über das
Leid in der Welt und andererseits über die Schwächen, Verkehrt-
heiten und Untugenden der Menschen; aber da er materiell doch
nichts anderes zu sagen hat, als was die Weltschmerzdichter, ja
zum Theil schon der Prediger Salomonis und Innocenz III. zum
Gegenstand ihrer gereimten und ungereimten Klagen machten, so
können wir auf Citate verzichten.
Bezüglich der Kritik der Schopenhauerschen Philosophie im
Allgemeinen und insbesondere über das Verhältniss zwischen dem
Willensprincip und dem darauf basirten Willensrealismus (Welt
als Wille) und dem erkenntnisstheoretischen Idealismus (Welt als
Vorstellung) verweisen wir auf E. von Hartmanns „Gesammelte
Studien und Aufsätze" (Berlin, 1876), D. IV.*); was aber die
Kritik des Schopenhauerschen Princips bezüglich dessen Wirksam-
keit zur metaphysischen und psychologischen Erklärung des Daseins
betrifft, so sind wir derselben dadurch überhoben, dass der Hart-
mannsche philosophische Pessimismus die positive Kritik der
Schopenhauer'schen Weltschmerzphilosöphie darstellt, so dass mit
der Zeichnung der Umrisslinien der Hartmann'schen Weltanschauung
auch diejenigen von Schopenhauers System deutlicher und ver-
tiefter hervortreten werden.

*) Vergl. ferner den Abschn. Schopenhauer, von Dr. R. Koeber in


Schwegler's „Geschichte d. Phil, im Umr." 11. Aufl.
-

134 Der philosophische Pessimismus.

2. E. v. Hartmann.
a. Hartmänn's Weltprincip als Princip des eudänionolo-
gisclien Pessimismus.

Der Wille ist das An-sich der Realität: alles, was real ist,
ist Wille; aber nicht der „blinde", leere Wille Schopenhauers ist
das An-sich der realen Welt, denn der Wille muss, um realität-
setzendes Princip zu sein, einen Inhalt haben. Dieser Inhalt ist
die Vorstellung.
Der Wille setzt das „dass" der Welt, die Vorstellung bestimmt
ihr „Wie" und „Was", d.h. die qualitativen Eigenschaften des Da-
seins. Der Wille ist das Primäre und Ursprüngliche, das unzeit-
lich der Vorstellung Voranstehende. Das Welt-Wollen erhebt sich
als Action aus der Potentialität grundlos aus sich selbst und er-
greift erst in seinem Aufbäumen die Vorstellung als seinen Inhalt,
womit ihm erst die Möglichkeit des realen Daseinssetzens ge-
geben ist. Der Wille ist reine Activität, die Vorstellung reine
Passivität.
Das Dasein der Welt ist grundlos, nicht aber der Inhalt der
Welt; dieser ist von der Vorstellung nach deren eigenen Gesetzen
bestimmt; wie aber der Wille das Alogische ist, so ist die Vor-
stellung das Logische, und dieses bestimmt das concrete Sein und
Geschehen.
Der Wille und die Vorstellung sind nicht zwei Wesenheiten,
sondern es sind die Thätigkeiten eines Trägers ihrer Existenz: sie
sind die Attribute des Absoluten. Der Wille ist an und für sich
als Princip der Actualität und Realität ein unbewusster psychischer
Vorgang; die Vorstellung als an sich seiende Inhaltbestimmung des
Willensactes ist unbewusste Idee. So ist das Absolute der All
Eine unbewusste Geist. Erst in der Collision der mit unbe-
wusstem Inhalt erfüllten Willensacte entzündet sich das Bewusstsein
und der nunmehr bewusste Willensinhalt gewinnt im endlichen
Geiste eine Selbständigkeit in der rein-idealen Sphäre des Intel-
lectes, welcher mithin gleichsam den Spiegel der real-seienden Welt
bildet. (Die Welt als meine Vorstellung.)
Bei Schopenhauer wird der Wille als das An-sich der Welt
beständig behandelt, als ob er Wesen im Sinne von Substanz
wäre, obgleich uns ausdrücklich gesagt wird, dass er nur eine
Aeusserungsweise sei, über die hinaus man mit der Erkenntniss
nicht könne; ebenso wird der Wille beständig so dargestellt, als
ob er mit unbewusster Vorstellung, als seinem Inhalt, erfüllt sei,
obgleich er principiell als der blinde, leere Wille zum Dasein auf-
E. v. Hartmann. 135

geführt wird und aller so und so bestimmte Inhalt nur der sub-
jectiven Erscheinungswelt, der Welt als Vorstellung des Intellectes
angehören sollte. Dass sich Schopenhauer nicht über den Wider-
spruch erheben kann, der darin liegt, dass ein einfaches, blindes,
in |sich bestimmungsloses Princip in seiner Action plötzlich als
Subject sehend und als Object in unerschöpflichem Formenreich-
thum erscheinen soll, das liegt an seinem erkenntnisstheoretischen
Idealismus. Hart mann vertritt einen transcendentalen Real-Idea-
lismus; nach diesem ist die Welt allerdings in erster Linie .meine
Vorstellung". Aber mein ideales Gebiet der Vorstellungen ist nicht
das alleinige Reich der Vielheit, sondern meinen subjectiv vorge-
stellten Dingen und Geschehnissen in Zeit und Raum und bestimmt
durch die Kategorien der Sinnlichkeit und des Denkens entsprechen
objective, reale „Dinge an sich" und „Geschehnisse an sich", die
wie in ihrem Sein so auch in ihrem So-sein unabhängig von meiner
Perception sind.
Freilich ist das Wesen der Welt nur Eins, aber in seiner
Thätigkeit als Wille und Vorstellung setzt es eine reale vielfor-
mige, vielgestaltige Welt der Individuation; principia individuato-
nis sind (wie bei Schopenhauer) Raum und Zeit, aber Raum
und Zeit sind nicht blosse Formen der Anschauung, sondern der
Raum wird gegeben durch die Kreuzungspuncte der Willensacte,
welche die Materie darstellen, während die Zeit mit dem realen
Geschehen als dessen Accidenz gesetzt wird. Das Gesetz unseres
Geistes, wonach wir die Anschauungen und Wahrnehmungen als
ausser uns seiende und von uns unabhängige, von aussen auf uns
einwirkende Dinge und Vorgänge aufzufassen genöthigt sind, das
Causalitätsgesetz, es ist kein Trug, kein „Schleier der Maja",
sondern es ist die ideale Brücke, auf welcher unser Geist aus der
„Welt als Vorstellung" hinübergelangt zu der Welt der Dinge an
sich; dass aber der endliche Geist als Intellect das ausser seiner
Individual-Sphäre liegende Reale ideal reproduciren kann, das setzt
voraus, dass dieses, ungeachtet seiner Realität, doch auch geistiger,
idealer Art sei.
Was wir „Materie" nennen, das ist unsere Anschauungsweise
gewisser Willensactionen des Einen unbewussten Geistes; die quali-
tative Beschaffenheit aber bedingt die unbewusste Vorstellung, als
Inhalt der sie tragenden Willensacte.
Auf dem Standpunct des subjectiven Idealismus ist nicht ein*
mal eine Metaphysik im eingeschränkten Sinne Schopenhauer's
gerechtfertigt; seine unmittelbare Erfassung des Willens ohne
Theilung in Subject und Object ist eine Selbsttäuschung.
Auch meinen Willen, wie mein „Ich", besitze ich nicht als Ding
an sich, sondern nur in der Empfindung, und der primitivsten Form
136 Der philosophische Pessimismus

der bewussten Vorstellung werde ich nur inne; aber allerdings bin
ich in mir dem Wesenhaften näher als sonst wo, weil in meinem
Bewusstsein Spiegelbild und Spiegel eins sind.
Die Berechtigung, vermittelst Vernunftschlüsse auf das hinter
der Erfahrung liegende zu schliessen, also der Schluss vom Physi-
schen auf ein Metaphysisches, von der eigenen Psyche auf die
Weltpsyche, hängt davon ab, ob das Causalitätsgesetz in uns uns
trügt oder nicht. So ist denn auch Hartman n's Philosophie
nur Philosophie der Wahrscheinlichkeit und will nichts an-
deres sein.
Die Philosophie der Wahrscheinlichkeit ist streng monistisch,
aber concreter, nicht abstracter Monismus, wie Hart-
sie ist
mann den auf transcendental-realistischer Grundlage sich erhebenden
Monismus von dem auf subjectiv-idealistischer fussenden Monis-
mus S c ho penhau er' s und der indischen Religionsphilosophie
unterscheidet.
Ein unbewusster Geist setzt in seiner Willens- und Vorstel-
lungsthätigkeit die Welt, die nicht als „Schöpfung", als ein Zweites
ausser ihm, steht, sondern in welcher und als welche er existirt.
Die Welt ist eine Summe von Willensacten und eine Summe von
Ideen; allseitig untereinander zusammengefasst zu Willens- und
Idee-Complexen, aber auch ebenso in lauter Acte der Opposition
zerspalten.
Denn jede Idee ist zwar einfach, was sie ist, und genügsam in
ihrer Beschränktheit, welche letztere zu ihrer (ewigen) Natur ge-
hört; aber die Kraft ihrer Existenz ist der Wille und der Wille
istschrankenlos und will sich schlechthin und ganz, daher jeder
Willensact ins Unendliche strebt. Die Existenz ist ein beständiger
Kampf der Willensacte, der sich im Reich des Bewusstseins als
Kampf der Ideen darstellt und in der Psychologie den Egois-
mus bildet.
Der Monismus ist die Vorbedingung, wenn Erkenntniss im
philosophischen Sinne möglich sein soll; Vorbedingung der Reli-
gion, in dem Sinne eines Zusammenwirkens des göttlichen und
menschlichen Geistes, und endlich die Vorbedingung der Begrün-
dung der ethischen Forderung.
Als das Characteristische seiner Weltanschauung bezeichnet
Hartmann nicht sowohl den Pessimismus schlechthin, als vielmehr
die Verbindung des Pessimismus mit dem Optimismus, deren For-
mel so lautet: die Welt ist so gut als sie sein kann, aber sie ist
schlechter als keine Welt.
Aller Inhalt des Seins ist logisch; in der Uebereinstimmung
der Seinsformen (und der Formen des inhaltlichen Geschehens) mit
den Formen unseres Intellectes liegt die Ursache, dass vom reinen
E. v. Hartmann. 137

Verstandesstandpunct aus betrachtet die Weit ein optimistisches


Gesicht bieten kann: Der Weltinhalt ist vernünftig, daher ist der
Panlogismus (Hegel und seine Schule) Optimismus,
Aber dasjenige, was, wenn nur das Logische in reiner Idea-
lität existirte, bloss logische, friedliche Bewegung der Idee wäre,
das wird dadurch, dass die Ideen nur als Inhalt der Willensacte
existent sind, zum Kampfe; daher steht das vor dem Verstand
Gerechtfertigte vor dem Gefühl ungerechtfertigt da, weil
es überall den Schmerz und die Unlust im Gefolge hat; und die
Ungerechtfertigtheit vor dem Gefühl wird wiederum in zweiter
Linie Grund für das pessimistische Urtheil des Verstandes, weil es
nichts giebt, was das Wesenhafte so direct berührt, als die Em-
pfindung von Lust und Unlust.
Weil der das W'eltdasein setzende Wille damit die Unlust
setzt, dadurch wird das an sich bloss Alogische zum Antilogischen
(das Unvernünftige zum Vernunftwidrigen); weil das Logische die
Correction des Missgriffes des Willens zum Zwecke hat, darum ist
es nicht bloss im formalistischen Sinne das Logische, sondern es ist
das Vernünftige, d. h. das Angewandt-Logische.
Die Logicität des Weltinhaltes garantirt den evolutionellen,
ästhetischen und ethischen Optimismus; die Natur des Willens,
unendliches Streben zu sein, und die Realität der Welt, welche
das Aufeinanderstossen und der Kampf der Momente verschuldet,
begründet den eudämonologischen Pessimismus. Dieser ist für
die Weltanschauung das Maassgebende; der eudämonologische Pes-
simismus vermag als aufgehobene Momente den evolutionellen,
ästhetischen und' ethischen Optimismus in sich zu fassen, nicht aber
umgekehrt. Nur der eudämonologische Maassstab ist ausschlag-
gebend für den Werth oder Unwerth des Weltdaseins , er ist ein
letztes über das man nicht hinaus kann, und nach dem sich alle
andern Maassstäbe doch. wieder richten müssen.
Hartmann wird der unbefangenen Erfahrung gerecht, indem
er Lust und Unlust für gleich real erklärt; die Lust ist nicht bloss
Privation der Unlust, sondern ein ganz reales Gefühl, welches eu-
dämonologisch höher steht als die blosse Schmerzlosigkeit. Es ist
also willkürlich, ob man die Unlust das Positive und die Lust das
Negative nennen will oder umgekehrt.
Nach Schopenhauer entsteht nur die Unlust direct, die Lust
aber nur durch Aufhören einer Unlust; nach Hart mann aber ist
zwar das Aufhören einer Unlust auch in der Regel eine Lust,
aber nicht jede Lust ist eine Verminderung oder Aufhebung einer
vorhergegangenen Unlust, sondern es giebt Lust, die sich unmittel-
bar über dem .Nullpunct der Empfindung'', auf dem „Bauhorizont",
ohne vorangegangene Unlust erhebt. „Nullpunct der Empfindung u
138 Der philosophische Pessimismus.

und nennt Hartmann den schmerz- und lust-


„Bauliorizoiit*
freien Zustand der einfachen, unbehinderten Lebensbehauptimg;
dieser kommt an und für sich gar nicht zum Bewusstsein, sondern
nur vermittelst der Reflexion, wenn er als das Sein-sollende ge-
stört wurde.
Angenommen nun, die Bedingungen in der (äussern) Natur
und in den gegebenen Verhältnissen wären so, dass sie Anstoss
zu gleich vielen Erhebungen über den Nullpunct (also nach der Lust-
seite) wie zu Pressionen unter den Nullpunkt in die Region der Un-
lust geben würden, so würde doch das folgende Moment zum Ueber-
schuss der Unlust führen. Lust und Unlust greifen das Nervensystem
an und bringen dadurch eine Ermüdung hervor; daraus entsteht
ein mit dem Grad und der Dauer des Gefühles wachsendes Be-
dürfniss (d. h. ein unbewusster oder bewusster Wille), das Auf-
hören oder Nachlassen des Gefühles eintreten zu lassen. Bei der
Unlust summirt sich dieses Bedürfniss mit dem directen Wider-
willen, die Unlust zu ertragen, bei der Lust aber ist es ein Ab-
zug von dem die Lust bejahenden Willen, und mindert nicht nur
die Lust, sondern kann das Gefühl in Unlust umschlagen lassen.
Während also die Lust durch die Dauer allein sich selbst
aufhebt, steigert die Unlust (abgesehen von völliger Nervenab-
stumpfung durch grosse Schmerzen) sich selbst. Indem durch das
secundäre Bedürfniss des Nachlassens die indirecte (d. h. durch
Aufhören einer Lust entstandene) Unlust relativ vermindert, da-
gegen die indirecte Lust relativ erhöht wird, so zeigt sich schon
a priori, dass ein grösserer Theil der Lust als der Unlust auf in-
directe Entstehung aus dem Nachlassen ihres Gegentheiles hin-
weist. Da die Betrachtung der verschiedenen Lebensfactoren nun
ergiebt, dass mehr Schmerz als Lust in der Welt ist, so ergiebt
sich, dass der grössere Theil der Lust in der Welt eine derartige
indirecte Entstehung hat, wodurch die Theorie Schopenhauers
von der Negativität der Lust ihre Entschuldigung findet. Für die
Praxis kommt es nahezu auf das hinaus, was Schopenhauer be-
hauptet, aber „ dies darf die principielle Auffassung nicht alteriren,
denn es bleibt unbestreitbar, dass es auch Lust giebt, die nicht
durch Nachlassen eines Schmerzes entsteht." Diese Verhältnisse
ergeben sich aus der Natur des organischen Lebens speciell der
'
,

Nervenfunctionen und gelten so weit als die uns bekannte Organi-


sation geht. Sie sind nur eine Erscheinungsform der sich un-
mittelbar aus der Natur des Willens ergebenden Gründe für das
Ueberwiegen der Unlust über die Lust: nämlich erstens, des un-
mittelbaren Bewusstsein -Schaffens der Qualen der Unlust, gegen-
über der bloss secunclären Entstehung der Lust da, wo schon ein
Bewusstsein sich etablirt hat. Der zweite Grund aber ist die Kürze
E. v. Hartmann.

der Lustresonanz gegenüber der Dauerhaftigkeit der Unlust, Welche


besteht, solange ein Wollen seinem Ziele noch ferne ist.
Was nun die Fälle betrifft, wo, wie die Erfahrung lehrt, einer
Lust keine Unlust vorherzugehen braucht, so bezeichnet Hart-
mann als solche die Genüsse der Kunst und Wissenschaft, sowie
die des Wohlgeschmackes; es sind dies aber nicht willensfreie
Freuden des Intellectes, wie Schopenhauer meint; denn der In-
des Geschehens, kann
tellect rein als solcher, als blosser Spiegel
so wenig sich freuen als Lust besteht nur da, wo
sich ärgern.
ein Wille ist, der seine Befriedigung gefunden; die Objecte der
Kunst, Wissenschaft und des Wohlgeschmackes haben nun die
Eigenschaft, dass sie den Willen zu ihrer Perception erst erregen
und zugleich auch befriedigen.
Schopenhauer meint ferner, dass ein Schmerz überhaupt
nie und durch keinen Grad der Lust aufgewogen werden könne,
und dass daher eine Welt, in der nur überhaupt Schmerz vor-
komme, selbst bei überwiegenden Lustmomenten, schlechter als
keine Welt sei. Diese Behauptung welche an dem allgemeinen
,

Empfinden keinen Anhalt hat, wird von Hart mann dahin corri-
girt, dass „der zur Aequivalenz (einer Unlust) nöthige Coefficient
nicht nur gleich 1 zu sein brauche", wie man gewöhnlich annehme,
„vielmehr eine Lust dem Grade nach merklich grösser sein muss,
als eine Unlust, wenn beide sich für das Bewusstsein so auf-
wiegen sollen, dass man ihre Verbindung dem Nullpunct der
Empfindung gleich setzt, und sie demselben bei einer kleinen Er-
höhung der Lust oder Erniedrigung der Unlust (dem Nichts-Em-
pfinden) vorzieht." „Wahrscheinlich schwankt übrigens dieser Coef-
ficient bei verschiedenen Individuen zwischen gewissen Grenzen
und dürfte nur seine mittlere Grösse grösser als 1 sein." Uebri-
gens bezeichnet Hartmann diese Ansicht selbst nur als „ihm sehr
wahrscheinlich vorkommend", und nur wenn sie richtig sein sollte,
so würde auch dieser Umstand wieder bewirken, dass bei objec-
tivem Gleichgewicht von Lust- und Unlust - Ursachen doch die
Verbindung beider dem eudämonologischen Werth nach subjectiv
unter dem Nullpunct stehen würde.
Mit Schopenhauer theilt hingegen Hart mann die Ausdeh-
nung seiner Betrachtungen über das Verhältniss von Lust und
Unlust auf die Thier weit; es ist dies theoretisch begründet durch
den Monismus, dem entsprechendes das Eine Wesen, das eine
Subject-Object ist, welches auch in der Psyche der Thiere der
Träger von Lust und Unlust ist.
140 Der philosophische Pessimismus.

b. Die Lebensfactoren und die drei Stadien der Illusion.

Nachdem Hart mann die physiologischen und psychisch-meta-


physischen Gründe erörtert, welche es verständlich machen, dass
das Leben einen Ueberschuss von Unlust biete, giebt er eine kri-
tische Betrachtung der verschiedenen Lebensfactoren, um so die
empirische Begründung seiner pessimistischen Lebensauffassung zu
gewinnen; die von ihm aufgeführten und auf ihren eudämonolo-
gischen Werth hin zu prüfenden Zustände, Thätigkeiten, Gesin-
nungen und Empfindungsdispositionen aber sind folgende: Gesund-
heit, Jugend, Freiheit und auskömmliche Existenz; Hunger und
Liebe; Mitleid, Freundschaft und Familienglück; Eitelkeit, Ehr-
gefühl, Ehrgeiz, Ruhm- und Herrschsucht; religiöse Erbauung;
Unsittlichkeit; wisseu schaftlicher und Kunstgenuss; Schlaf und
Traum; Erwerbstrieb und Bequemlichkeit; Neid, Aerger, Reue;
Hoffnung.
Gesundheit, Jugend, Freiheit und auskömmliche Existenz wer-
den meistens als die höchsten Güter bezeichnet und zwar nicht
ohne Grund dennoch stellen sie nur den Nullpunct der Empfindung
;

dar, den Bauhorizont, auf dem erst die Lust des Lebens sich er-
heben sollte. So lange sie ungestört bestehen, werden sie durch-
aus nicht als Lust empfunden, sondern sie haben jenen rein priva-
tiven Character, den Leibniz dem Uebel zuschreiben wollte. Sie
sind nur die Privation von Alter, Krankheit, Knechtschaft und
Noth; sie sind ihrer Natur nach unfähig, Lust zu erzeugen, es sei
denn vermittelst des Contrastes mit vorhergehender Unlust, hervor-
gerufen durch gegensätzliche Zustände (denn jedes Hinuntersinken
von diesem Bauhorizont wird schmerzlich empfunden).
Niemand fühlt ein Glied, als wenn er krank ist, der Gesunde
nimmt nur durch den Gesichts- und Tastsinn wahr, dass er einen
Leib hat.
Die Jugend ist die Zeit der vollkommensten Gesundheit und
des ungestörtesten Gebrauches des Körpers und Geistes, woraus die
vollste Genussfähigkeit resultirt; die Fähigkeit zum Geniessen garan-
tirt aber nur die Möglichkeit, nicht die Wirklichkeit des Ge-
nusses: was nützen einem z. B. die besten Zähne, wenn man nichts
zum Beissen hat.
Ebenso fühlt niemand etwas besonderes, wenn er selbst seine
Handlungen bestimmt, denn dies ist der selbstverständliche, natür-
liche- Zustand; aber schmerzlich wird jeder Zwang von aussen als
Verletzung des ersten und ursprünglichsten Naturrechtes em-
pfunden.
Auch die auskömmliche Existenz, oder das Gesichertsein vor
E. v. Hartmann. 141

Noth und Entbehrung ist nur die conditio sine qua non des Lebens,
das nun seiner inhaltlichen Erfüllung harrt, und kann daher auch
nicht als Genuss oder Gewinn erachtet werden.
Denn das nackte, in seinen Existenzbedingungen gesicherte
Dasein kein positives Gut, es befriedigt uns nicht; es wird im
ist
Gegentheil durch die Langeweile zur Qual, wenn nicht eine inhalt-
liche Erfüllung hinzu kommt.
Die gewöhnliche Erfüllung ist nun die Arbeit; die Arbeit ist
für den, der arbeiten muss, ein Uebel, mag sie auch in ihren
Folgen für ihn selbst, wie für die Menschheit und den Fortschritt
in ihrer Entwickelung noch so segensreich sein. Niemand arbeitet,
der nicht muss, d. h. der nicht die Arbeit als das kleinere von
zweiUebeln auf sich nähme, oder um sich grössere positive Güter
zu erkaufen. „Alles, was man über den Werth der Arbeit sagen
kann, reducirt sich entweder auf volkswirtschaftlich günstige Fol-
gen, oder auf die Vermeidung grösserer Uebel („Müssiggang ist
aller Laster Anfang"), und das höchste; was der Mensch erreichen
kann, ist, „dass er fröhlich sei bei seiner Arbeit, denn das ist sein
Theil", d. h. dass er das Unab wendliche durch Gewohnheit so gut
als möglich ertragen lernt. Während Jugend und Gesundheit
einem geschenkt sind, ist Arbeit in der Regel der Preis, um wel-
chen die gesicherte Existenz erkauft wird; die letzte, ohnehin kein
positives Gut, muss also auch noch mit Unlust erkauft werden.
Hier citirt Hartmann Schopenhauer: „Im Alter von 5 Jah-
ren eintreten in die Garnspinnerei oder sonstige Fabrik, und von
dem ab erst zehn, dann zwölf, endlich vierzehn Stunden darin
sitzen und dieselbe mechanische Arbeit verrichten, heisst das Ver-
gnügen, Athem zu schöpfen, theuer erkauft."
Und nicht mindere Opfer als die Erkämpfung des Lebensunter-
haltes „erfordert das Erkämpfen einer relativen Freiheit. Denn
volle Freiheit erlangt man nie."
Besitzt man die vier privativen Güter, so sind die äusseren
Bedingungen zur Zufriedenheit gegeben; tritt dann die innere
Bedingung, das sich Bescheiden mit dem Nothwendigen hinzu,
so wird in dem Betreffenden Zufriedenheit herrschen, so lange keine
erheblichen Unglücksfälle und Schmerzen ihn treffen. „Die Zu-
friedenheit verlangt kein positives Glück, sie ist gerade die Ver-
zichtleistung auf ein solches, sie verlangt nur Freisein von er-
heblichen Uebeln und Schmerzen, also ungefähr denNullpunct der
Empfindung.
„Wenn trotzdem so vielfach die Zufriedenheit als ein Glück,
ja als höchst erreichbare Glück gepriesen wird
das —so kann
,

dies nur dann richtig sein, wenn der Zustand der Schmerz-
losigkeit und freiwilligen Resignation auf alles positive Glück
142 Der philosophische Pessimismus.

vor dem seiner Natur nach dauerlosen Besitze positiven


Glückes den Vorzug verdient. Ueberhaupt, wenn, wie ich glaube,
es berechtigt ist, Gesundheit, Jugend, Freiheit und sorgenfreies
Dasein die höchsten Güter, die Zufriedenheit das höchste Gut zu
nennen, so geht daraus von vorneherein hervor, eine wie miss-
liche Bewandtniss es mit allen positiven Gütern und positiven
Glück haben muss, dass man die privativen, d. h. in blosser Freiheit
vom Schmerz bestehenden, ihnen mit Recht voransetzen darf. Denn
was bietet denn die Freiheit von Schmerz? Doch nicht mehr als
das Nichtsein." „Dem Nichtsein an Werth gleich stehen würde
aber nur das absolut zufriedene Leben, wenn es ein solches gäbe;
es giebt aber keins, denn auch der Zufriedenste ist nicht immer
und in jeder Hinsicht zufrieden, folglich steht alles Leben an Werth
unter dem absolut Zufriedenen, folglich unter dem Nichtsein."
Für den Fortschritt der Entwickelung im Thierreiche und
für die Entwickelungs anfange der Menschheit und deren rohere Cultur-
stufen bilden Hunger und Liebe die einzig wirkenden Trieb-
federn.
Der Hunger ist qualvoll, während durch die Sättigung für das
Gehirn nur die Aufhebung der Unlust, also nur der vorhergehende,
der normale Zustand herbeigeführt wird. Für die untergeordneten,
den vegetativen Functionen vorstehenden Nervencentren mag zwar
die Verdauung ein positives, den Nullpunct der Empfindung über-
schreitendes Wohlgefühl herbeiführen, für das Gesammtwohl des
Individuums wird aber dieses um so weniger ins Gewicht fallen,
je mehr die untergeordneten Nervencentren, relativ in Bezug auf
das Gehirn, zurücktreten. Die Mehrzahl der Menschen hat eine
kärgliche, unbefriedigende Nahrung, oder sie lebt eine Zeit lang
im Ueberfluss, wovon sie keinen überwiegenden Genuss hat (die
Lust des Wohlgeschmackes gehört nicht in diese Kategorie) und
muss zu anderen Zeiten wirklichen Nahrungsmangel leiden. „Die
Zeit ist noch nicht so lange her, wo man bei uns auf je sieben
Jahre eine Hungersnoth rechnete, und wenn diese durch unsere
Communicationsmittel in blosse Theurung, d. h. in Hungersnoth bloss
für die ärmsten Classen, verwandelt ist, so besteht dies oder ein
ähnliches Verhältniss doch in dem bei weitem grössten Theile der
bewohnten Erde noch fort." Aber auch in unseren Grossstädten
kommen immer wieder Fälle von wirklichem Verhungern vor.
„Kann die Völlerei von tausend Schlemmern die Qual eines ver-
hungerten Menschenlebens aufwiegen?" Man denke ferner an die
leibliche und geistige Verkümmerung der Race, das Hinsterben der
Kinder, die sich einfindenden Krankheiten in Folge dauernder un-
g enügender Sättigung; man denke an die Berichte aus den schlesi-
schen Weberdistricten, an die Höhlen des Elends in London u. s. w.
E. v. Hartmann. 143

Dabei ist zu bedenken, dass der Hunger die einzige natür-


liche Begrenzung der Vermehrung bildet, und dass diese Grenze
nicht „scharf und jäh ist, sondern allmählich von der auskömm-
lichen Existenz zu der unmöglichen durch unendlich viele Abstu-
fungen übergeht, von denen jede folgende hungriger und elender
ist/ Auch in der Thierwelt bildet der Hunger die hauptsäch-
lichste Vermehrungsgrenze; während zu gewissen Jahreszeiten von
manchen Specien erhebliche Bruchtheile verhungern, erhalten sich
andere oft Wochen und Monate lang nothdürftig an der Grenze
des Hungertodes; nicht nur Pflanzenfresser im Winter oder in den
dürren Zeiten der Tropen, sondern auch Fleischfresser, die oft
wochenweis vergeblich nach Beute herumstreifen müssen. Auch
hier vergleiche man das „dumpfe Gefühl der Sättigung mit dem
für das Hirnbewusstsein so deutlichen Nagen des Hungers oder
den Höllenqualen des Durstes, denen die Thiere in Wüsten, Steppen
u. s. w., die in der heissen Jahreszeit völlig austrocknen, häufig
mögen ausgesetzt sein."
Die geschlechtliche Liebe ist ein Instinct im Dienste der Er-
haltung der Gattung.*) Bei einem grossen Theil der untern Thiere
mangeln die Organe der Wollust, die Zeugung wird also ganz und
gar unter dem Zwange des Instinctes ausgeführt. Auf den höhern
Stufen des Thierreiches, wo sich auch schon die individuelle Aus-
wahl einzustellen beginnt, hebt damit auch der Kampf an, der oft
blutig geführt wird, und wo das siegreiche Männchen die Heerde
führt, da ist die unfreiwillige Enthaltsamkeit vieler jüngeren und
schwächeren Individuen die unlustbringende Folge.
Beim Menschen geht beim Manne in der Regel der Möglich-
keit der Geschlechtsbefriedigung eine Zeit der unfreiwilligen Ent-
haltsamkeit voraus, eine Zeit, die sich mit der steigenden Civili-
sation stetig verlängert, und die gar zu leicht mit Lastern ausge-
füllt ist, die ein reiches Gefolge an Unlust nach sich ziehen. Für das
Weib ist die Geburt mit so grossen Schmerzen verbunden, dass sie
die Lust bei der Zeugung wohl reichlich aufwiegen; wenn das Ur-
theilmancher Weiber anders lautet, so ist nicht zu übersehen,
dass der Instinct ihr Urtheil fälscht.
Es ist aber beim Menschen die rein physische Seite der Ge-
schlechtsliebe die untergeordnete; weit wichtiger ist der individuali-
sirteTrieb, der sich vom Besitze gerade dieses Individuums eine
überschwängliche Seligkeit von nicht endender Dauer verspricht.
Dieser im engeren, edleren Sinne erst Liebe genannte Trieb

*) Diese Auffassung theilt Hartmann mit Schopenhauer; dieselbe


gewinnt aber bei ihm ein anderes Ansehen, weil die Erhaltung und Ver-
edlung der menschlichen Gattung eine höhere, über sich selbst hinauswei-
sende Bestimmung in seiner teleologischen Weltanschauung hat.
144 Der philosophische Pessimismus.

ist der Gefühlsreflex eines Instinctes im Dienste der Entwickelungs-


tendenz der Gattung, welche die Begattung mit einem solchen In-
dividuum fordert, dessen körperliche und geistige Eigenschaften
sich mit denen des andern so ergänzen, dass das Erzeugte mög-
lichst den Gattungstypus darstellt. Der Liebende glaubt in der
Vereinigung ein ganz besonderes Glück zu erringen, ein Glück
proportional der Ueberschwänglichkeit des Dranges, und erfüllt so,
in der Illusion nur sich selbst zu dienen, rücksichtslos gegen alle
anderweitigen Schädigungen seiner Interessen die unbewussten Na-
turzwecke. „ Welch colossäle Opfer an sonstigem individuellem Glück
und Wohlsein fordert nicht der unselige Geschlechtstrieb! Vater-
fluch und Ausstossung aus der Familie, selbst aus dem Lebenskreise,
in dem man eingewurzelt ist, nimmt Mann oder Mädchen auf sich,
um sich nur dem Manne zu vereinen." Trotz der Opferwilligkeit
führen lange nicht alle Liebesverhältnisse zum Ziele. „Es ist
schade, dass es keine statistischen Tabellen darüber giebt, wieviel
Procent aller Liebesverhältnisse in jedem Stande zu einer Ehe
führen. Man würde über die geringe Procentzahl erschrecken.
Ganz abgesehen von alten Junggesellen und Jungfern, wird man
selbst unter den Hochzeitspaaren keine zu grosse Procentzahl von
Individuen finden, die nicht ein kleines, wieder auseinandergegangenes
Verhältniss hinter sich haben, viele aber, die deren mehrere auf-
zuweisen hätten." „In der grössten Mehrzahl dieser Fälle hatte
also die Liebe ihr Ziel nicht erreicht, und in denen sie es ohne
Ehe erreicht hatte, hatte sie die Leute wohl schwerlich glücklicher
gemacht als in denen, wo sie es gar nicht erreicht hatte."
Erreicht nun aber der Liebende das Ziel seines Strebens, indem
er in den ehelichen Besitz der geliebten Person gelangt, so em-
pfindet er zwar Lust, proportional der Stärke seines Willenstriebes,
da die Befriedigung des Willens ganz reale Lust erzeugt; aber auf
diese Lust hatte er es nicht abgesehen, „sondern vielmehr auf jene
überschwängliche Seligkeit, durch welche er sich erst den hef-
tigen Willen nach dem Besitze motivirt denkt." „Von einer solchen
Seligkeit oder Lust existirt aber nirgends etwas , da sich der Ge-
nuss rein aus der Befriedigung jenes erst zu motivirenden heftigen
Willens nach dem Besitze und aus dem gemeinen physischen Ge-
schlechtsgenusse zusammensetzt. Sowie die Heftigkeit des Triebes
das Bewusstsein gewissermassen aufathmen lässt und zu einiger
Klarheit kommen lässt, wird es der Enttäuschung seiner Erwar-
tung inne.
Jede Enttäuschung über eine erwartete Lust ist aber eine Un-
lust und zwar eine um so grössere Unlust, je grösser der erwartete
Genuss war, und je sicherer er erwartet wurde." „Freilich ver-
hindert der nicht mit einem Schlage vernichtete, sondern einige
E. v. Hartmann. 145

Zeit hindurch sich stetig, wenn auch mit allmählich abnehmender


Stärke erneuernde Trieb, dass diese Enttäuschung sogleich und im
vollen Maasse vom Bewusstsein aufgefasst werde; das von Neuem
nach Befriedigung schmachtende Sehnen verfälscht das Urtheil, es
verhindert das Nachdenken über die Beschaffenheit des vergangenen
Genusses, indem es die Illusion der widersprechenden Erfahrung
zum Trotz für die Zukunft aufrecht erhält." Doch es wird der
erlangte Besitz bald gewohnheitsmässiges Eigenthum: der Wille
wird latent und mehr und mehr bricht sich die Enttäuschung im
Bewusstsein Bahn. „Der Liebende hatte gewähnt, in eine neue
Aera einzutreten, durch den Besitz gleichsam von der Erde in den
Himmel versetzt zu werden, und er findet, dass er in seinem neuen
Zustand der Alte, und die Plackereien des Tages dieselben ge-
blieben sind;" er hatte auch gewähnt „an der Geliebten einen
Engel zu finden," und findet „einen Menschen mit allen mensch-
lichen Fehlern und Schwächen." „Kurz er findet, dass alles beim
Alten ist, er aber mit seinen Erwartungen ein grosser Narr war."
Durch diesen Sachverhalt wird nun auch für die Betrachtung
die Seligkeit der Liebe vor der Vereinigung zu einer Illusion her-
abgedrückt; denn die allerdings reale Lust „des ersten zarten Seh-
nens, das Schwimmen im ersten Morgenroth des geöffneten Himmels,"
gründet sich nur auf eine Hoffnung, eine Hoffnung, die sich ihrer
selbst kaum bewusst ist. Daher ist auch nur eine erste Liebe wahre
Liebe; denn „bei der zweiten und den folgenden findet der Trieb
schon zu grossen Widerstand an dem Bewusstsein, das bei der
ersten Liebe die illusorische Natur derselben mehr oder weniger
deutlich erkannt hat." Hier citirt Hartmann Goethe: „Nichts
aber veranlasst mehr diesen Ueberdruss (dieser Ekel vor dem
Leben), als eine Wiederkehr der Liebe Der Begriff des Ewigen
. . .

und Unendlichen, der sie eigentlich hebt und trägt, ist zerstört;
sie erscheint vergänglich wie alles Wiederkehrende."
Die Liebe ist aber nicht allein Instinct im Dienste der Natur-
zwecke; sie ist auch „der Silberblick der ewigen Wahrheit" der
metaphysischen Wesenseinheit des empirisch Getrennten. Aber
auch diese tiefste metaphysische Wurzel der Liebe, die allen ihren
empirischen Erscheinungsformen untersteht, producirt mehr Be-
wusstseinsreflexe der Unlust als der Lust. Denn alle Liebe ist
Sehnsucht nach Vereinigung, eine Vereinigung, die nie so erreicht
wird, wie das Individuum ersehnt, sondern die sich factisch nur in
einem Dritten vollzieht, wo sie fürs Bewusstsein verloren ist.
Was nun endlich die glücklichen Ehen betrifft, so sind sie
dies nicht durch die Liebe im Sinne der Liebesleidenschaft, son-
dern durch die Freundschaft, in welche die Liebe sanft und
unmerklich da hinüberführen kann, wo characterologische und
Plüuiacher, Pessimismus. 10
146 Der philosophische Pessimismus.

geistige Eigenschaftenvorhanden sind, welche sowohl die Ueber-


einstimmung wie auch die polarische Gegensätzlichkeit umschliessen.
Die Vereinigung von Liebe und Freundschaft in der Ehe
bildet den denkbar günstigsten Boden zur Auswirkung der sitt-
lichen Zwecke der Liebe und ist daher ebenso von höchster Be-
deutung in der moralischen Weltordnung wie die Liebesleiden-
schaft mit ihren physischen Wirkungen in der natürlichen. Vom
eudämonologischen Standpunct des Individuums aus aber muss die
Liebe verurtheilt werden als mehr Unlust als Lust bringend, und
der Egoismus müsste „eine Enthaltung von der Liebe fordern,
wenn nicht der nicht zu vernichtende Trieb ein noch grösseres
Uebel wäre als maassvolles Befassen mit der Liebe." Consequenter
Weise müsste also der Egoismus die Vernichtung des Triebes for-
dern, und nur ein Hinaustreten über den Standpunct des Indivi-
duums (die Vertauschung eines ethischen Zieles gegen das indivi-
duell-egoistische) lässt diese Consequenz nicht aufkommen. —
Das Mitleid ist ebenfalls ein aus Unlust und Lust gemischtes
Gefühl, dass seine Rechtfertigung nur vom ethischen nicht vom
eudämonologischen Standpunct aus erhält.
Der Grund der Unlust im Mitleid ist klar, es ist eben das
„Mit-Leiden"; aber die sich gewöhnlich in massigem Mitleid fin-
dende Lust ist schwer zu begreifen. Es giebt keine andere Er-
klärung, als „dass der Contrast des fremden Leides mit dem eigenen
Freisein von diesem Leide den latenten Widerwillen gegen die Er-
tragung solchen Leides zugleich erregt, befriedigt und die Be-
friedigung zum Bewusstsein bringt.*
Daher ist die Lust im Mitleid egoistischer Natur, womit über-
einstimmt, dass „für sehr feinfühlige, selbstverläugnende Gemüther
das Mitleid eine höchst unangenehme Erregung ist, der sie auf
jede Weise aus dem Wege zu gehen suchen."
Bei Gefühlsroheit mag allerdings das Mitleid einen Lustüber-
schuss produciren, da aber die Gefühlsroheit durchschnittlich mehr
und mehr abnimmt, so muss auch die Lust im Mitleid mehr und
mehr zurücktreten. Hierzu kommt noch, dass das Mitleid den
Wunsch erregt, zu helfen, und dieser Wunsch nur in der Minder-
heit der Fälle eine partielle, noch seltener eine totale Befriedigung
findet, somit wieder ein neuer unbefriedigter Wille neue Unlust
erzeugt. —
Das Bedürfniss nach Freundschaft und das nach Gesellig-
keit erwächst aus der Schwäche des Einzelnen gegenüber äussern
Verhältnissen; die Geselligkeit macht Einen zu einer Menge Thä-
tigkeiten und zur Erfüllung seiner Bestimmung erst fähig; ihr
Besitz, gegenüber dem zur Einsamkeit verurtheilt sein, repräsen-
tirt wieder nur den Bauhorizont, der sowohl unbenutzt bleiben oder
E. v. Hartmann. 147

in verschiedener Weise fruchtbar gemacht werden kann: Gesellig-


keit bietet also die Möglichkeit der Lust, nicht diese selbst. Doch
dass die „Geselligkeit durch die Rücksichten auf die Andern und
den Zwang, welchen sie dem Einzelnen auferlegt, reale Unbequem-
lichkeitmacht und zeitweise mit verzweiflungsvoller Unlust er-
füllen kann, beweisen unsere „Gesellschaften." Aus der geselligen
Gemeinschaft resultirt ein gesteigertes Mitgefühl; würde nun im
Leben eines Jeden die Lust die Unlust überwiegen, und würde die
Mitfreude nicht durch den Neid einen Abzug erleiden (zum
Mitleid braucht es nur einen Menschen, zur Mitfreude einen Engel),
so würde dies günstig sein, da aber das Gegentheil der Fall ist,
so steigert sich mit dem Mitgefühl auch die Unlust.
Die Freundschaft mit ihrem Trost im Ungemach kann sich
durch die innigste Gemeinsamkeit der Interessen in der Ehe am
vollkommensten darstellen; aber leider sieht man so viele schlechte
Ehen, dass „man unter Hunderten kaum Eine findet, die man be-
neiden möchte", weil die Unklugheit der Menschen sie verhindert,
sich gegenseitig ihren Schwächen zu accommodiren, und weil in der
Ehe auf Rechte gepocht wird, wo nur Geduld und Nachsicht die
richtige Vermittelung fände. Und trotzdem, dass die Ehe so viel
Unlustquellen schafft, ist doch die Macht der Gewohnheit so gross,
dass wiederum die Lösung auch der schlechtesten Ehe noch ge-
waltige Schmerzen verursacht. So ist die Ehe (vom egoistisch-
eudämonistischen Standpunct aus angesehen) nur das kleinere
von zwei Uebeln, das Mittel, den Schrecken des Altjungfernthums,
resp. den Unbequemlichkeiten des Junggesellenlebens sich zu ent-
ziehen.
Auch die Kinder, dieser Hauptfactor im ehelichen Leben,
bringen mehr Unlust als Lust, obgleich sich besonders bei Frauen
der Instinct entschieden gegen diese Einsicht verblendet.
„Man vergleiche zuerst die Summe der Freude, welche durch
die Geburt, und die Summe des Schmerzes und Kummers, welche
durch den Tod eines Kindes in den Gemüthern sämmtlicher Be-
theiligten hervorgerufen wird; erst nach Anrechnung des sich er-
gebenden Schmerzüberschusses kann man an die Betrachtung ihres
Lebens selbst gehen." Für all die Unlust der Pflege und der
Sorge ihrer Aufbringung, der Krankheit und Furcht sie zu ver-
lieren, bietet sich als hauptsächlichstes Gegengewicht nur die Hoff-
nung auf deren Zukunft. „Soweit aber diese Hoffnung egoistisch
ist, täuscht sie immer, soweit sie aber für das Kind hofft, statt
auf das Kind, wie da?" Wenn die Menschen alt genug werden,
so kommen sie zwar auch davon zurück für ihre Kinder auf ein
Glück zu hoffen, welches sie für sich selbst unerreichbar fanden;
aber dann hoffen sie wieder für ihre Enkel und Urenkel. —
10*
148 Der philosophische Pessimismus.

Eitelkeit, Ehrgefühl, Ehrgeiz sind mächtige Triebfedern im


geistigen Gebiete, eudämonologisch aber gefährliche Leidenschaften.
Die negative Ehre, die Abwesenheit der Unehre, kann keine Lnst
gewähren, als wenn sie nach scheinbarem Verlust, z. B. nach Ver-
läumdung, wieder hergestellt wird; sie entspricht dem Nullpunct
der Empfindung, wie sie auch nur den Nullpunct des Werthes
repräsentirt. Der Ehrgeiz dagegen, der, wenn er befriedigt wird,
allerdings positive Lust zu schaffen vermag, ist wie der Trunk
Salzwasser: man wird um so durstiger, je mehr man davon trinkt;
und wie oft bleibt er unbefriedigt; „man denke an die stereotypen
Klagen der Offiziere und Beamten über Zurücksetzung und schlechtes
Avancement, die Klagen der Künstler und Gelehrten über Unter-
drückung durch Neid und Kabale auf hundert Kränkungen
. . .

des Ehrgeizes kommteine Befriedigung."


Aehnlich verhält es sich mit der Herrschsucht. Herrschsucht,
die mehr ist als blosser Freiheitstrieb, kann nur auf Kosten des
Freiheitstriebes Anderer zur Geltung kommen; sie erzeugt daher
bei andern Unlust, und ausserdem geht es ihr wie dem Ehrgeiz,
denn „die gewohnte Macht wird nicht mehr
sie steigert sich selbst,
genossen; wohl aber wird jeder Widerstand gegen dieselbe schmerz-
lich empfunden." —
Das unsittliche Handeln oder Unrechtthun geht aus dem
mit der Individuation als unausbleibliche Folge gesetzten Egois-
mus hervor, und besteht ursprünglich darin, dass ich, um mir
einen Genuss zu verschaffen oder einen Schmerz zu ersparen, kurz
zur Befriedigung meines individuellen Willens, einem oder meh-
reren andern Individuen einen grössern Schmerz anthue. „Wäre
das Yerhältniss von Lust und Unlust ein völlig gleichschweben-
des, so würde die Existenz der Unsittlichkeit sofort der Unlust
das Uebergewicht zuführen. In einer an sich schon elenden Welt
aber wird sie das Maass des Elendes zum Ueberlaufen bringen,
um so mehr als den Menschen kein vom Schicksal auferlegtes
Leid so bitter schmerzt, als das, welches seine Mitmenschen ihm
zugefügt haben." Während Unsittlichkeit das Leid der Welt ver-
mehrt, ist das Rechtthun nur die Aufrechterhaltung des status quo
vor dem ersten Unrecht, und also wieder nur der Bauhorizont;
niemand, dem sein klares Recht geschieht, wird darüber eine Freude
haben, es sei denn, dass ihm die Furcht vor dem Unrecht ge-
nommen sei; derjenige aber, der dem Andern sein Recht wider-
fahren lässt, hat doch erst recht keinen Grund zur Lust, denn er
hat damit ( — unter Umständen ) —
seinem individuellen Willen
Abbruch gethan und doch nicht mehr als seine Schuldigkeit ge-
than." — Während Neid und Aerger reine Unlust sind und
wieder Unlust zeugen, ist Reue ein Gefühl, dessen Nutzen auch
E. v. Hartmann. 149

durch die vernünftige Reflexion ersetzt werden könnte, und welches


hingegen dadurch schädlich wirkt, dass das Selbstvertrauen in die
Kraft des sittlichen Willens und damit zugleich die Widerstands-
fähigkeit bei künftiger Verlockung zum Bösen geschwächt wird. —
. Beim Erwerbstrieb ist wie bei der Arbeit der culturelle
Werth dieses Triebes zur Kraftentwickelung streng zu sondern von
dem eudämonologischen Resultat desselben, welch letzteres, abge-
sehen von der Willensbefriedigung als solcher, wenn das Streben
von Erfolg gekrönt wird, auch nur privative Wirkung hat. Wenn
ein gewisser Grad der Wohlhabenheit erreicht ist, so vermag eine
Vergrösserung des Reichthums keine reale Steigerung der Genüsse
zu erkaufen; die Fortdauer des Triebes dient also nur dazu, die
Langeweile fern zu halten und die Eitelkeit zu befriedigen; die
Bequemlichkeit aber, mit all' ihren Mitteln von Dienerschaft,
von Pferd und Wagen, Rentmeister, Hofmeister und Gouvernanten,
wirkt ebenfalls nur privativ, indem sie die Mühe der Anstrengung
von dem Besitzer des Reichthums fern hält. —
Wie das wache Leben beschaffen ist, so sein Gegenbild: der
Traum; alle Plackereien des wachen Lebens zeigen sich auch im
Traume. Böse, widerwärtige Träume sind ganz real unlustvoll,
während angenehmes Träumen mehr ein unbestimmtes Schweben
zwischen Traumbewusstsein und bewusstlosem Schlafe ist. Der
weitaus glücklichste Zustand des Lebens ist aber ein traumloser
Schlaf, nicht weil er positive Lust giebt, sondern weil er mit der
Bewusstlosigkeit auch die positive Schmerzlosigkeit bringt. Daher
ist auch das Einschlafen, das Schwinden des Bewusstseins , eine
Lust, das Aufwachen aber nur dann angenehm, wenn man nicht
aufzustehen braucht, sondern noch mit halbem Bewusstsein weiter
schlummern darf; es sind aber durchaus nicht alle Leute in Ver-
hältnissen, die dies gestatten, und bei noch vorhandener Müdig-
keit aufstehen und die Ruhe und Stille des Lagers mit den Placke-
reien des Tageslebens vertauschen, ist entschieden unlustvoll. —
Wie dem ermüdeten Wanderer, der in der Wüste auf eine
Oase treffe
, werde einem zu Muthe wenn man endlich auf den
,

„freundlichen Sonnenblick nach der langen Nacht des Leidens und


Ringens" stosse, den der wissenschaftliche und Kunstgenuss
gewäbrt. Hier ist also Lust vorhanden, die spontan ohne vorher-
gegangene Unlust entsteht. „Wenn Schopenhauer selbst in der
Parergis (2. Aufl. IL, 448) darauf beharrte, dass der Gemüthszu-
stand beim künstlerischen oder wissenschaftlichen Empfangen oder
Produciren blosse Schmerzlosigkeit sei, so sollte man glauben, dass
er nie den Zustand der Ekstase oder Verzückung kennen gelernt
habe, in den man über ein Kunstwerk oder eine neue sich auf-
thuende Sphäre der Wissenschaft gerathen kann. Wenn er aber
150 Der philosophische Pessimismus.

die Positivität eines solchen Zustandes des höchsten Genusses ein-


gesehen hätte, so hätte er nicht mehr behaupten können, es dabei
mit einem willensfreien und interesselosen Zustand zu thun zu
haben, sondern hätte eingesehen, dass es der Zustand höchster und
vollkommener positiver Befriedigung sei, — und Befriedigung
wessen, wenn nicht eines Willens? Freilich nicht des gemeinen
practischen Interesses oder Willens, sondern des Strebens nach Er-
kenntniss, respective nach jener Harmonie, nach jener unbewussten
Logik unter der Hülle der sinnlichen Form, kurz nach jenem
Etwas, worin die Schönheit besteht, gleichviel nun, worin sie be-
steht." Aber leider ist die Empfänglichkeit für die Wirkungen
der Kunst und Wissenschaft nicht allgemein und so ist doch
schliesslich die aus solcher Quelle niessende Lust nicht von gar so
grosser Bedeutung für das Wohl oder Weh der Welt.
Vor allem ist die Lust beim productiven Genuss viel bedeu-
tender als beim bloss receptiven, und hiezu ist doch nur ein ver-
schwindend kleiner Procentsatz der Menschen befähigt; auch sind
unter den Künstlern und Gelehrten von Beruf noch lange nicht
alle auch Auserwählte, sondern viele ergreifen aus andern Gründen
diese Laufbahn; in diesem Falle aber ist die Aussicht auf erheb-
liche Lust aus der Bethätigung in diesen Feldern nur gering. —
Der Dilettantismus in den Künsten aber ist zum grossen Theil nur
Product der Eitelkeit; man „sucht die Künste nicht um ihrer selbst-
willen, sondern um seine liebe Person damit aufzuputzen." Insbe-
sondere bei der modernen Mädchenerziehung ist dies das Verhält-
niss zur Kunst; „und dabei sollte man an künstlerischen Genuss
glauben? An künstlerischen Ekel höchstens, der sich auch sofort
nach der Hochzeit offenbart, wenn die Eitelkeit nicht länger die
Bequemlichkeit überwindet." Oder aber das Kunsturtheil des Dilet-
tanten ist der eigenen Leistung überlegen, und so lässt die Selbst-
kritik die Lust an der eigenen Leistung nicht aufkommen.
Auch bei den Wissenschaften ist ein grosser Theil der angeb-
lich aus ihnen entspringenden Lust bloss Ergebniss befriedigter
Eitelkeit oder Ehrgeizes; denn in der Wissenschaft noch mehr als
bei der Kunst tritt der receptive Genuss vor dem productiven zu-
rück, „weil die heisse Sehnsucht nach derjenigen Erkenntniss fehlt,
von deren sichern und leichten Erlangung man im Voraus über-
zeugt ist." Was ferner den echten wissenschaftlichen und Kunst-
genuss betrifft, so muss auch dieser mit einer gewissen Summe
Unlust erkauft werden Noch ist kein Meister vom Himmel ge-
fallen und bevor man zu lohnender Production reif ist, ist in
Wissenschaft und Kunst ein langes Studium nöthig, welches wenig
Freude gewährt, es sei denn an überwundenen Schwierigkeiten; end-
lich vorbereitet, sind die „eigentlich süssen Momente doch nur die
E. v. Havtmann. 151

der Conception, denen lange Zeiten mechanisch-technischer Aus-


arbeitung folgen müssen." Für diese aber gilt alles, was von der
Arbeit gilt.
Müheloser ist freilich der bloss receptive Genuss, besonders
der Künste; und doch ist auch da etwelche Unlust der Unbequem-
lichkeit in Abzug zu bringen; die physische Anstrengung des
Galleriebesuches, die Temperatur-Uebelstände der Theater und Con-
certsäle halten sehr viele ältere oder kränkliche Personen vom
Kunstgenuss ab. — Das Resultat ist demnach, dass der Ueberschuss
von Lust auf diesem Gebiet „verschwindend klein ist gegen die
Summe des sonst vorhandenen Elendes, und dass der Lustüber-
schuss noch dazu auf Individuen vertheilt ist, welche die Unlust
des Daseins so viel stärker als andere fühlen, dass ihnen hiefür
durch jene Lust bei weitem kein Ersatz wird." Hiezu kommt end-
lich noch, dass diese Art des Genusses mehr als jede andere Art
des Genusses auf die Gegenwart beschränkt ist, während andere
meist in der Hoffnung vorweg schon genossen werden; dies hängt
mit der Eigentümlichkeit zusammen, dass dieselbe Sinneswahr-
nehmung, welche die Befriedigung gewährt, den Willen, welcher
befriedigt wird, erst hervorruft. —
Auch auf dem Gebiete der religiösen Erhebung giebt Hart-
mann die Möglichkeit des Ueberwiegens der Lust über die Unlust
zu, trotz der erheblichen Quellen der Unlust, die auf diesem Ge-
biete vorhanden sind. Innerhalb der historischen Religionen er-
fordern die höchsten Grade der religiösen Erhebung eine fortge-
setzte Abtödtung des Fleisches, nicht nur eine Ueberwindung der
sinnlichen Triebe, sondern aller weltlichen Lüste überhaupt. Bei
der Mehrzahl der Bekenner wird diese Entsagung der Welt nur
selten von dem allumfassenden pessimistischen Bewusstsein der
illusorischen Beschaffenheit der Lust getragen, da hiezu schon
Philosophie gehört; sondern meistens wird der Verzicht auf die
Welt und ihre Güter als Opfer empfunden, wofür man sich das
höhere religiöse Glück erkaufen will; dabei bäumen sich dann die
irdischen Triebe von Zeit zu Zeit wieder auf und verursachen
schmerzliche Kämpfe.
Auf den niedrigem Stufen der religiösen Erbauung, die mit
dem weltlichen Leben vereinigt werden, bringt die Angst vor der
eigenen Unwürdigkeit, der Zweifel an der göttlichen Gnade, die
Angst vor dem zukünftigen Gericht und die Sorgen über die Last
der begangenen Sünden einen erheblichen Abzug an der Lust her-
vor. Nun kommt aber noch hinzu, dass, wenn trotzdem noch ein
Ueberschuss von Lust bestehet, dieselbe auf einer Illusion fusst.
In der höhern religiösen Erbauung wird die mystische Vereinigung
mit Gott gesucht und in der Hoffnung auf dieselbe besteht die
152 Der philosophische Pessimismus.

Lust; es bestellt aber die Illusion darin, „dass 'das Bestreben, die
Identität des All-Einigen Unbewussten" ( —
die Gottheit, des Abso-
luten —
) „mit demBewusstseins-Subject, welche in Wirklichkeit exi-

stirtund als rationelle Wahrheit vom Verstände leicht begriffen


werden kann, in der bewussten Empfindung unmittelbar zu erfassen
und zu geniessen, seiner Natur nach nothwendig resultatlos bleiben
muss, weil das Bewusstsein unmöglich über seine eigenen Grenzen
hinaus kann, also das Unbewusste" (das göttliche Wesen) „nicht
als solches, also auch nicht die Einheit des Unbewussten und des
Bewusstseinsindividuums erfassen kann."
Für die niedern Grade aber ruht die Lust auf dem Glauben
eines jenseitigen bessern Lebens bei persönlicher Fortdauer; auch
diese Illusion wird mehr und mehr von der Philosophie aufgelöst
und so fällt für immer weitere Kreise diese Lastquelle hinweg.
Die philosophische Religiosität aber, welche in voller Erkenntniss
ihrer Natur nicht mehr auf der Illusion fusst, mit ihrer Betätig-
ung ein positiv eudämonologisches Ziel zu haben, diese Religiosi-
tät entsprosst ja gerade dem pessimistischen Bewusstsein; wie sie
nicht mehr das individuelle Glück sucht, so verursacht sie auch
keine positive Lust, sondern nur das privative Gefühl des Friedens;
ja, sie würde als Religiosität sich selbst aufheben, wenn sie das
pessimistische Bewusstsein, welches der Wurzelgrund des religiösen
Lebens ist, alteriren würde. —
Der wichtigste Factor, um die Menschen in üblen Lagen und
in Mitte von Leid und Ungemach bei gutem Muth und Lebens-
lust zu erhalten, ist die Hoffnung. So lange nur eine Hoffnung
vorhält, vermag sie allerdings ganz reale Lust zu gewähren, nur
schade, dass das Leben selten hält, was gehofft wird, dass somit die
Hoffnungen sich meistens als Täuschung erweisen und die lust-
voll vorgestellte Zukunft zur unlustvollen gegenwärtigen Wirklich-
keit wird.
Das Resultat der Betrachtung der verschiedenen Lebensfactoren
ist, dass Hartmann dem Prediger Salomonis beistimmend erklärt:
es ist alles ganz eitel!
Wenn nun die Menschen trotzdem, dass sie täglich und stünd-
lich jammern und klagen, und trotzdem, dass sie ihre Hoffnungen
beständig betrogen sehen, doch noch am Optimismus festhalten,
so beruht dies auf einer Verfälschung des Urtheils durch die In-
stincte, welche sie zwingt, immer wieder für die Zukunft von den-
selben Gegenständen und Geschehnissen Lust zu erwarten, die sich
doch schon in der Vergangenheit als ungünstig und trügerisch
erwiesen haben, unterstützt von der Eigentümlichkeit deslntellects:
die Vergangenheit in verschönerndem Lichte zu sehen und den
eudämonologischen Werth des früher Erlebten zu überschätzen.
E. v. Hartmann. 153

Drei Stadien der Illusion sind zu unterscheiden.


Das erste Stadium ist der naive Glaube, dass der Mensch das
Glück, welches er für selbstverständlich erachtet, in der Welt und
im Leben, so wie es einmal ist, finden werde. Es ist dies der
Optimismus der Jugend und der jugendlichen Völker und hat
seinen historischen Repräsentanten in der Weltanschauung des
klassischen Alterthums. Das Product seines Zersetzungsprocesses
war der Stoicismus und Cynismus.
Auf den Trümmern des Diesseitigkeits-Optimismus erhebt sich
das zweite Stadium der Illusion; die Menschheit wendet sich von
der empirischen Welt ab und sucht das Glück in einem jenseitigen
Leben nach dem Tode. Historisch repräsentirt wird das zweite
Stadium der Illusion durch das aus und über den Ruinen der an-
tiken Cultur erblühende Christenthum. Der transcendentale Opti-
mismus fusst auf der Idee der persönlichen Fortdauer. Diese
aber erweist sich vor der Philosophie als illusorisch; innerhalb der
monistischen Systeme kann ohne grobe Inconsequenz keine Rede
davon sein und auch der Individualismus (eines Leibniz, Herbart)
sieht sich zu einem Rückgang auf ein letztes Wesen genöthigt, in
welchem die Vielheit wieder aufgehoben ist. Nur im Theismus
ist die Möglichkeit persönlicher Fortdauer gegeben, aber nur für
den Theismus des Glaubens, nicht für die philosophische Fassung
desselben, für welche die Fortdauer nur mehr eine Fortdauer der
Wesenheit in Gott ist.
Mit dem Verzichtleistenmüssen auf die persönliche Fortdauer
und persönliche Seligkeit ist aber dem Christenthum der Hauptnerv
abgeschnitten, denn für den Egoismus ist die Unsterblichkeit Ge-
müthspostulat, und mit der Bemerkung, dass Gemüthspostulate keine
metaphysischen Wahrheiten begründen können (wie Jacobi und
Schleiermacher glauben), hört seine Gemüthlichkeit auf.
Wenn nun auch das zweite Stadium der Illusion hinfällig
wird, dadurch, dass die Hoffnung auf persönliche Fortdauer und
jenseitige Seligkeit als trügerisch erkannt wird, so entwickelt sich
das dritte Stadium der Illusion, wo das Glück in der Zukunft
des Weltprocesses liegend gedacht wird. Es liegen demselben
die modernen Ideen der immanenten Entwickelung und der
Solidarität der Interessen durch die Einheit des Seins zu
Grunde.
Es unterscheidet sich dieses Stadium wesentlich von den beiden
vorhergehenden Stadien dadurch, dass es sich auf der princi-
piellen Abdankung des Egoismus erhebt. Das auf die em-
pirische Welt zurückgewiesene Individuum hat zwar gelernt, auf
eigenes positives Glück zu verzichten, nicht aber auf die Idee des
Glückes überhaupt, und sucht nun seine Befriedigung und den In-
154 Der philosophische Pessimismus.

halt seines Lebens in der Hingabe an den Weltprocess zu Gunsten


der kommenden Geschlechter, mit denen es sich durch die Einheit
des Seins verbunden weiss. Dieser Fortschritt von dem zweiten
zum dritten Stadium der Illusion kann aber nur durch einen theil-
weisen Rückschritt, vom zweiten Standpunct auf den ersten, er-
kauft werden. Der Weltverachtung folgt die wiedererwachte Liebe
zur Welt, denn um an ein zukünftiges Glück in derselben glauben
zu können, darf der gegenwärtige Zustand nicht als in jeder Hin-
sicht schlecht und elend erachtet werden. — So folgte der Welt-
verachtung des Mittelalters das Wiedererwachen des Kunststrebens
und des Interesses an den Wissenschaften, das Aufblühen des
Städtereichthumes, des Handels und der Fortschritt der Technik.
Auch diese Hoffnung auf eine künftige glücklichere Gestaltung
des Lebens wird sich als Täuschung erweisen. Die Ursache für
die überwiegende Unlust des Daseins sind psychologischer und
metaphysischer Natur und ändert die Unlust daher nur theilweise
die Form, sowie deren Gelegenheitsursachen in der Form variiren,
aber die Grundursache kann nicht gehoben werden. Die W^elt wird
b ewusst- vernünftiger aber nicht glücklicher; im Gegentheil, die
,

gesteigerte Intelligenz lässt in immer weitern Schichten das Be-


wusstsein aufkommen, dass ihr Zustand weit unter dem normalen
Bauhorizont zurück steht, durch welche Einsicht denn auch die
Contrastlust, welche durch momentane Erleichterungen und Ver-
besserungen der Lage erzeugt wird, in der Schätzung ihres Wer-
thes sinkt.
Die Leiden der Krankheit und die Beschwerden des Alters
werden dieselben bleiben, denn wenn es auch der Wissenschaft ge-
lingen möchte, viele Krankheits Ursachen und damit viele Krank-
heiten zu beseitigen, so vermehren sich doch erfahrungsgemäss
mit der steigenden Cultur die leichtern, besonders die nicht lebens-
gefährlichen, aber sehr quälenden nervösen Leiden. Der Hunger
bleibt vor wie nach der Bevölkerungsregulator, und da die Stei-
gerung der Lebensmittelproduction nicht Schritt hält mit der Ver-
mehrung der Menschen, so wird die Zahl derer, die mit Nahrungs-
sorgen zu kämpfen haben, immer grösser. In Bezug auf die prac-
tischen Instincte, welche auf Illusionen beruhen, ist dreierlei mög-
lich: entweder die Menschen kommen gar nicht davon zurück, dann
bleibt das bisherige Verhältniss der daraus resultireuden Lust und
Unlust bestehen; oder sie kommen ganz davon zurück, „dann
werden sie freilich mit der Lust auch die Unlust los und sind re-
lativ viel glücklicher geworden, das heisst aber nichts, als das
Leben ist so viel ärmer geworden und dem Nullpunct oder Bau-
horizont der Empfindung so viel näher gerückt, ist nun aber auch
sich seiner Armseligkeit und Werthlosigkeit bewusst geworden."
E. v. Hartmann. 155

Der dritte mögliche und wahrscheinlichste Fall ist, „dass die


Menschen nur th eil weise von jenen Instincten loskommen, dass
sie zwar die illusorische Beschaffenheit derselben vollständig durch-
schauen, auch in Folge dessen wohl die Stärke des Triebes durch
Vernunft etwas mindern, aber doch nie im Stande sind, denselben
völlig zu vernichten. Dieser Fall enthält die Qualen beider anderen
vereinigt."
Die Fortschritte der Technik und der in ihrem Dienste stehen-
den Wissenschaften vermag nur negativ, das heisst durch Vermin-
derung der drückendsten Uebelstände, zu wirken; ebenso sind die
Leistungen der denkbar besten staatlichen Ordnung nur negativer
Art; sie bieten nur „Schutz gegen, Sicherung vor, Abwehr von
u. s. w."; und die socialen Ideale lehren auch nur, wie man ver-
mittelst solidarischen Strebens gewisse Erleichterungen im Kampfe
gegen die Noth erreichen kann, und sich durch bestmögliche Ein-
richtung der Familie und Arbeitsordnungen die Sorgen für die
Existenz erleichtern kann; um eine Linderung der IJebel, nicht
um die Schaffung positiven Glückes handelt es sich auch da.
Dabei beruht aller staatliche und sociale Fortschritt darin,
dass der Einzelne immer mehr und mehr seine Freiheit freiwillig
oder gezwungen zu Gunsten des objectiv Vernünftigen einschränkt,
dass also der Spielraum für die Willkür, für das Handeln nach
dem Princip „car tel est notre plaisir" immer enger wird. —
Der wird vielleicht mehr in der Welt, obgleich
Sittlichkeit
die Erfahrung nicht für die Annahme spricht, dafür wird aber auch
die Empfindung für die Verletzungen der Sittlichkeit und der Sitte
geschärft und geringere Verstösse schwerer empfunden als grö-
bere in roheren Zeiten.
Auch die Kriege werden noch lange nicht entbehrlich werden,
obgleich die Möglichkeit nicht ausgeschlossen ist, dass in künftigen
Zeiten in einem Bunde der Nationalstaaten auftauchende Streitig-
keiten statt durch Krieg durch Schiedsgericht geschlichtet werden
möchten. Aber eben so schlimm schier als der Krieg ist der
Kampf und die Unterdrückung der minder begabten Nationen
durch die höher stehenden im Gebiete der Industrie und Produc-
tion, ein Kampf der um so hitziger entbrennt, je stärker die Welt-
bevölkerung und damit die L eistun gsconcurrenz wird. —
Gleicht das erste Stadium der Illusion dem Kindheitsalter der
Menschheit, das zweite der in Idealen schwelgenden Jünglingszeit,
so repräsentirt das dritte Stadium das reife Mannesalter. Diesem
wird eben so sicher das Greisenalter der Menschheit folgen, wo
auch diese Illusion der Weltverbesserung durchschaut wird und
156 Der philosophische Pessimismus.

die lebensmüde Menschheit nicht mehr das positive Glück sucht,


sondern nur noch den Frieden, die Ruhe nach der Unrast des Da-
seins ersehnt.

c. Die Welterlösung.

Hartmann's Weltanschauung ist wie schon oben bemerkt


absolut teleologisch. Das logische Attribut des All-Einen Geistes
bestimmt das „Wie" und „Was" des Weltinhaltes und nichts con-
cret Seiendes ist zwecklos. Daher ist die „Illusion" im System
Hartmann's etwas ganz anderes als in demjenigen Schopen-
hauer's. Dort haben die Täuschungen, in denen die Natur den
menschlichen Geist befangen hält, keinen andern Zweck, als dem
blinden Drang nach Dasein zu dienen, und wenn daher die Un-
seligkeit und Unvernunft des letzteren erkannt ist, so werden auch
die Illusionen und Lust verheissenden Instincte ein schlechthin
Werthloses, ja Verwerfliches, deren Ueberwindung das intellectuelle
Gewissen fordert.
Nicht so bei Hartmann; hier stehen die Illusionen im Dienste
des Weltfortschritts, indem sie die Culturentwickelung fördern; wie
die Instincte das Individuum zwingen, im Interesse der Gattung
zu handeln, so bewirken die Illusionen die Anspannung aller Kräfte
im Interesse des allseitigen Fortschrittes. Der Zweck der Natur
ist das Bewusstsein; in der Menschheit aber bedeutet aller Fort-
schritt nur die extensive und intensive Steigerung der Intelligenz.
Mit dem Bewusstsein aber steigert sich auch das Leiden und mit
der gesteigerten Intelligenz die Einsicht von der Hoffnungslosig-
keit, letzterem zu entfliehen.
Wenn nun das dritte Stadium der Illusion durchschaut ist, so
erhebt die Vernunft die Forderang der Erlösung vom Dasein über-
haupt. Auf jeder der vorhergehenden Stufen, bevor die nächste
Stufe sich darbot, trat je der Moment ein, wo der Selbstmord als
Forderung des Egoismus auftauchte; sowohl der an der Möglich-
keit des irdischen Glückes verzweifelnde Heide, wie der an seinem
Glauben verzweifelnde Christ hätte consequenterweise Selbst-
mord begehen müssen; denn den beiden ersten Stadien der Illusion
entspricht die Pseudo-Moral des Egoismus, welchem mit dem in-
dividuellen Ziel das Ziel überhaupt fehlt. Beim dritten Stadium
der Illusion aber ist der Egoismus bereits principiell überwunden;
das Individuum wirkt nicht mehr bloss instinctiv für das Allge-
meine, sondern mit Bewusstsein macht es dessen Wohl zu seinem
eigenen Interesse und sucht sein Glück nur im allgemeinen Glück.
Nun ist ja bloss die Hoffnung auf dieses Glück illusorisch, nicht
E. v. Hartmann. 157

aber beruht das Gefühl der Zusammengehörigkeit und der Ver-


pflichtung, fürs Allgemeine Wohl zu wirken, auf einer Illusion;
vielmehr ist die Menschheitsliebe der Reflex der Wesenseinheit
alles Seienden. Wenn daher auch die Illusion schwindet, durch
selbstlose Hingabe an die Allgemeinheit dieser bei der Gewinnung
positiven Glückes zu helfen, so bleibt doch das Bewusstsein der
Solidarität bestehen; und wie sich nach der Durchschauung der
Illusion des ersten Stadiums der Selbstmord, in dem Stadium der
zweiten Illusion aber, sowie auf dem Standpunct Schopenhauer's,
die Weltverachtung mit Quietismus und Askese zum Zwecke in-
dividueller Befreiung vom irdischen, resp. des Daseins überhaupt
ergab, so ergiebt sich nunmehr die Förderung der allgemeinen
Erlösung vom Dasein.
Vom monistischen Standpunct aus betrachtet erscheint der
Selbstmord, der für den bankrott gewordenen Individualeudämonis-
mus den nächsten Ausweg ergab, als nutzlos und als unsittlich.
Nutzlos, weil mit dem individuellen Leben nur eine Erschei-
nungsform des Lebens gekürzt ist, die durch den natürlichen Tod
doch ausgelöscht würde, während das Wesen auch dieser Erschei-
nung in Millionen Individuen weiter lebt und weiter leidet; unsitt-
lich aber, weil keine Erscheinung vereinzelt dasteht, sondern jedes
Individuum seine bestimmte Stelle und Thätigkeit im Ganzen ein-
nimmt.
Das Resultat des ersten Stadiums der Illusion nach gewonnener
pessimistischer Einsicht von der Unerreichbarkeit irdischen Glückes
war die Weltverachtung und die Flucht in die Hoffnung eines
bessern jenseitigen Lebens; das Ende defe zweiten Stadiums der
Illusion war die Verzichtleistung auf eigenes positives Glück und
selbstlose Hingabe zum Wohl des Ganzen und künftiger Ge-
schlechter. Zeigt sich nun auf dem Standpunct eines philosophisch
vertieften Pessimismus auch diese Hoffnung auf ein künftiges
Menschheitsglück als Illusion, so wäre die absolute Verzweiflung
das Resultat, wenn nicht die Hoffnung auf eine dereinstige Er-
lösung des in der Welt leidenden Wesens, welches auch mein
Wesen ist, als tröstlicher Lichtblick in das Düster hineinfiele.
Diese Hoffnung findet ihre Begründung erstens in dem Verhält-
niss der beiden Attribute des Unbewussten zu einander; zweitens
in der Natur der teleologischen Seinsbeschaffenheit, welche dies
nur ist, sofern sie die Endlichkeit des Weltprocesses in sich schliesst;
und drittens in der Richtung, worin einzig ein positiver Fort-
schritt nachweisbar gemacht werden kann.
In der Natur und im Leben lässt sich kein anderer Zweck
erkennen, als die Steigerung des Bewusstseins; denn bezüglich des
Bewusstseins ist von der Urzelle bis zum Menschen und innerhalb
158 Der philosophische Pessimismus.

der Menschheit vom rohen Wilden bis zum Höchststehenden ein


stetiger Fortschritt nachweisbar. Aber dieser höchste Naturzweck
kann nicht letzter Zweck, nicht Endzweck des Weltdaseins sein;
denn „mit Schmerzen wird das Bewusstsein geboren, mit Schmerzen
fristet es sein Dasein, mit Schmerzen erkauft es seine Steigerung;"
und dem All-Einen Unbewussten, dem in aller Erscheinung seien-
den, in allem Bewusstsein bewusst werdenden bietet es dafür nichts
als „eine eitle Selbstbespiegelung eine Verdoppelung der Qual
in der Reflexion auf das empfundene Leid. Es kann also das Be-
wusstsein nur insofern höchster Zweck im Dasein sein als es
,

Mittel zu einem ausser der Welt liegenden absoluten End-


zwecke ist.

Dieser Endzweck ist nun die Aufhebung des Weltdaseins durch


Aufhebung des, die Welt setzenden Willens.
Mit der Steigerung des Bewusstseins steigert sich das Leid
und die Unseligkeit des Daseins und damit die Sehnsucht nach
Erlösung. Diese Einsicht von der Unseligkeit des Wollens wirkt
zwar nicht als Quietiv auf den Willen (im Sinne Schopenhauer's),
wohl aber dadurch, dass ihm die Vorstellung einen negativen
Inhalt giebt.
Nur dadurch, dass der Wille in die reale Vielheit der Willens-
acte gespalten ist, ist die Möglichkeit gegeben, dass der vom
pessimistischen Bewusstsein inhaltlich erfüllte Wille, als der das
Nicht- Wollen wollende Wille den blind das Dasein wollenden
Willen überwältigen möchte. —
Der Wille, das alogische Attribut des All-Einen-Unbewussten,
ist das Unendliche und Unerfüllbare; die Idee, ihrer Natur nach
das Begrenzte und Grenze Setzende erfüllt daher auch in der
,

Completheit der einheitlichen Weltidee nie das Wollen; es bleibt


daher neben dem in der Welt realisirten Willen ein unerfüllt blei-
bendes, inhaltloses, leeres Wollen-wollen, wodurch zur innerwelt-
lichen Unlust die das Absolute als All-Eines Subject zu tragen
hat, noch die auss erweltliche Unlust des unerfüllt bleibenden blossen
Wollen-wollens kommt.
Wenn vermittelst der im Weltprocess erzielten Erkenntniss
von der Unseligkeit des Daseins und der dadurch motivirten sieg-
reichen Selbstbekämpfung des Willens das Dasein aufgehoben
würde, so würde damit auch das leere Wollen in den Zustand der
vor dem Beginne des Weltprocesses liegenden reinen Potentialitat
zurückgeführt. Unter diesem Gesichtspunct ergiebt sich dann
auch nachträglich ein Grund für das Weltdasein: das concrete Da-
sein erscheint dann nämlich mit sammt dem die innerweltliche Un-
lust erst setzenden Bewusstsein selbst als teleologisch gerechtfertigt,
als das Mittel, durch die begrenzte Unlust in der Welt die unbe-
E. v. Hartmann. 159

grenzte ausserweltliche Unlust des in unerfülltem Wollen-wollen


schmachtenden Absoluten zu überwinden. —
Das All-Eine Unbewusste gewinnt nichts durch den Weltpro-
cess; es ist, wenn derselbe zu Ende gegangen, dasselbe wie zuvor:
reine potentielle Subsistenz; im Verhältniss zum Sein also das
reine Nicht-Sein. Daher wird auch durch die Hoffnung auf die
Möglichkeit einer dereinstigen Weltaufhebung der eudämonologische
Pessimismus nicht aufgehoben oder auch nur irgendwie alterirt,
da das Ende ein rein negatives ist. Keine Seligkeit erwartet das
Wesen, das in der Welt leidet, sondern nur der Friede des Nicht-
Seins; im Vergleich zum Kampf und Leid des Seins aber immer-
hin ein begehrenswerther Zustand.
Aus der Vereinigung des eudämonologischen Pessimismus und
des evolutionellen Optimismus ergiebt sich die Forderung der Ver-
nunft: der rückhaltlosen Hingabe des Individuums an den Welt-
process um seines Erlösungszweckes willen. Es werden demnach
die Instincte, die vom Standpunct des egoistischen Eudämonismus
zu unterdrücken wären, restituirt, nachdem ihre Zweckmässigkeit
für den Culturfortschritt, also für den Weltentwickelungs-Process,
dem dieser dient, und der Zusammenhang der Naturordnung mit
der sittlichen Weltordnung erkannt ist. So ergiebt sich denn
für die Ethik das Princip: die Zwecke des Unbewussten zu
Zwecken des Bewusstseins zu erheben. Die Erkenntniss von
der Unmöglichkeit der Erlangung positiver Lust aber schafft den
nöthigen Raum, dass die Forderungen der sittlichen Bethätigung
rücksichtslos erfüllt werden können; wie die Menschen leben, als
ob es gar keinen Tod gäbe, bloss darum, weil sie überzeugt sind,
dass jede Bemühung ihm zu entfliehen, schlechthin nutzlos wäre,
so werden sie auch practisch so leben, als ob es kein Leid gäbe,
sobald nur erst der Pessimismus in ihnen die Ueberzeugung ge-
weckt hat, dass das Leid, abgesehen von der Form seiner Erschei-
44
nung, ebenso unentrinnbar ist, wie der Tod.

Schon in Schopenhauers Pessimismus ist der Weltschmerz


theoretisch überwunden und zum aufgehobenen Entwickelungsmo-
ment herabgesetzt; denn der Weltschmerz hat sein Haupt-Charac-
teristicon darin, dass der Mensch einem Räthsel gegenüber steht,
indem er da (scheinbare) Unvernunft findet, wo er Vernunft zu
finden erwartet. Noch vollständiger ist die Ueberwindung bei
Hartmann; denn hier wird das Leid der Welt zu einem relativ
Vernünftigen, indem es Mittel wird, sich selbst in seiner imma-
nenten und transcendenten Gesammtheit aufzuheben. Dabei hin-
dert aber die Erkenntniss von dem teleologischen Character des
160 Der philosophische Pessimismus.

Leides seine Bekämpfung auch in den empirischen Erscheinungs-


formen keineswegs, da gerade in seiner Eigenschaft, Object des
sittlichen Kampfes und der Anstrengungen des Intellectes gegen
die rohen Naturmächte zu sein, das Moment seiner teleologischen
Bedeutung, während der Dauer des Weltprocesses hegt.
Wie der Weltschmerz so ist natürlich auch der Entrüstungs-
pessimismus überwunden; denn alle Uebel und Uebelstände sind
nur die variablen Formen der mit der Realität und Individualität
selbst gesetzten Verhältnisse der Collision. Die Entrüstung findet
daher nur den unsittlichen Verhältnissen gegenüber ihr practisches
Gebiet, hat aber in der Philosophie keinen Raum.
Selbstverständlich fällt auch der Begriff der Schuld, den
Schopenhauer in die Weltursache hineinbringt, ganz aus dem
Kreise der rein-philosophischen Begriffe hinaus; nur für das reli-
giöse und ethische Empfinden wird der Egoismus als Quelle der
Unsittlichkeit und als Gegensatz und Entfremdung von der Ein-
heit des Absoluten zur Schuld, um religiös und ethisch im Dienste
des Weltüberwindungszwecks bekämpft zu werden; auf das All-
Eine Wesen und auf vorbewusste Vorgänge aber findet der Be-
griff keine Anwendung.*)

*) Schopenhauers Phil, ist ein Conglomerat unter sich widerspruchs-


voller Elemente, künstlich zum Bau einer Weltanschauung zusammengefügt;
der Pessimismus kann daher ziemlich leicht aus dem Ganzen herauspräpa-
rirt werden, weil eine organische Einheit, die nicht vorhanden ist, auch
nicht gestört werden kann. Hartmanns System ist aber ein organisches
Ganzes, fest in sich geschlossen, und das Verhältniss des eudämonistischen
Pessimismus zum evolutioneilen Optimismus kann nicht wohl in seiner
vollen Bedeutung und Berechtigung klar gelegt werden ohne die Kennt-
niss von Hartmanns Naturphilosophie und der darauf sich erhebenden
Metaphysik. Wer sich aber trotzdem mit Hartmann's Pessimismus ver-
traut machen möchte , ohne die sämmtlichen Werke des so fruchtbaren
Philosophen zu lesen, dem empfehlen wir die folgenden Abhandlungen und
Capitel in der gegebenen Reihenfolge. Phil. d. Unbewussten: Cap. XII,
XIII u. XIV (der 7. u. folg. Aufl.). Als Ergänzung des über Liebe und Ehe
gesagten: Phän. d. sittl. Bewusstseins; A. „Die Triebfedern der Sittlich-
keit"; Nr. 9 „Das Moralprincip der Liebe." Zur Ergänzung zu dem über
das 2. Stad. d. Illusion gesagten: „Gesammelte Studien u. Aufs." Nr. VII
der Abth. A: „Ist der Pessimismus trostlos?" Zur Ergänzung des über das
3. Stad. d. Illus. gesagte: „Phän. d. sittl. Bewusstseins;" B. 1: „Das social-
eudämonistische Moralprincip;" u. B. II: „Das evolutionistische Moralprincip."
Ferner: „Zur Geschichte u. Begründung des Pessim." (4 Abhandlungen)
1880. „Phän. d. sittl. Bewusstseins;" Abschn. C. IV: „Das Moralprincip
der Erlösung." Endlich: „Die Religion d. Geistes". 1882. Abschn. II. Nr. 1.
J. Bahnsen.

3. J. Bahnsen.

a. Das Princip.
Schopenhauer, wenn er die Welt anklagt, wird nicht müde,
neben der Schlechtigkeit der Menschen auch die Rücksichtslosig-
keit der elementaren Naturmächte gegen die Lebewesen zu be-
tonen: nur nothdürftig könne sich das Leben erhalten, überall
drohten die elementaren Factoren der organischen Natur mit Tod
und Untergang; daneben erinnerter an die schreckliche, blutige
Seite der für die ästhetische Betrachtung so schönen Natur; an
das beständige Fressen und Gefressenwerden im Thierreich, wel-
ches so abstossend wirkt, wenn man unwillkürlich das Naturleben
unter menschlich-sittlichem Gesichtspunct anschaut: er nennt die
Welt eine Hölle, und über dem von ihm gemalten Weltbilde schwebt
Blut- und Feuerschein.
Bei Hart mann tritt mehr die Oede des Lebens innerhalb
der Culturformen in den Vordergrund; nicht sowohl die Schrecken
der Natur, nicht die dämonischen Verirrungen der Menschennatur,
nicht das Weh des heroisch-tragischen Unterganges sondern die
,

Dürre des civilisirten Lebens gegenüber dem namenlosen Sehnen


der Menschenbrust, die Ermüdung in der Tretmühle des alltäg-
lichen Lebens, wo zwar relativ selten die Abgründe tragischen
Schreckens gähnen, wo aber die breite Landstrasse des modernen
Culturmenschen gar so trocken, so staubig, so reizlos sich dehnt.
Die Normal-Unlust der Gegenwart, aus dem Zusammenwirken
einer bereits culturgebändigten Natur auf den normalen, gesun-
den modernen Menschen bildet das Hauptmoment der Hartmann-
schen pessimistischen Lebensbetrachtung, die seinem Weltbild einen
grauen, kühlen Ton aufhaucht.
Auch Bahnsen braucht nicht den blutigen Jammer, nicht
die Opfer der rohen äussern Gewalten als Objecte, an denen er
die leidvolle Beschaffenheit des Lebens demonstrirt, sondern wo
nur ein Menschengeist denkt und will, ein Gemüth empfindet,
da sieht er auch die üppige Unlustsaat sprossen. Aber während
— wie schon bemerkt —
Hartmann die gesunde Psyche in
Betracht zieht, ist Bahnsens Erntefeld das angekränkelte Ge-
müth, der mit sich selbst entzweite Geist, das in Hass, Missgunst
und Gram verhärtete, und seine Verhärtung doch noch schmerz-
lichempfindende Herz, dazu die somatisch beeinfluste Grillenfängerei
und Hypochondrie.
Und gewiss mit vollem Rechte weiht er diesem Gebiet seine
Plümacher, Pessimismus. 11
162 Der philosophische Pessimismus.

Aufmerksamkeit, weil eben die Möglichkeit und Wirklichkeit, dass


zum äussern Kampf der innere Streit, zur Qual von aussen die
Selbstquälerei kommen kann, einen schwerwiegenden pessimisti-
schen Bestandtheil des Lebens bildet; aber mit Unrecht, wenn uns
die Hypochonder und Selbstquäler als die Menschheit oder wenig-
stens als der maassgebende Theil derselben dargestellt werden.
Schopenhauer, Hartmann bringen auch die Krankheit — und
damit auch die Krankheit des Gemüthes —als Abzug am nor-
malen Lebensgefühl in Rechnung: Bahnsen aber macht das patho-
logische Gebiet zum Hauptterrain seiner Lebensbetrachtung, als ob
es das mit der Cultur nothwendig gegebene wäre. —
Aus der Widerspruchsnatur des krankhaft erregten Geistes
schliesst nun Bahnsen auf die Widerspruchsnatur des in dem con-
creten Sein wesenden, und indem er Gegensätze in dem Fort-
gang des individuell-psychischen, wie auch des Welt-Processes, im
Sinne von Hegels Dialektik, als Widersprüche nimmt, construirt
er sich den Widerspruch als Seinsprincip.
Der blinde, alogische, von keiner Vernunft erleuchtete Wille
ist ihm Seinsprincip; aber nicht Schopenhauers geradlinig aus
sich herausgehender Wille zum Leben ist ihm das An-sich und
Prius alles Seienden, sondern der in sich selbst umgebogene Wille,
der sich in jedem seiner Momente will und nicht- will. Nicht ein
neben dem Willen bestehendes Attribut giebt dem Willen diesen
seinen Inhalt, sondern voluntas und non-voluntas zu sein, ist das W^esen-
hafte des Willens selbst. Daher trägt Alles, was wird und was
ist, den Keim des Vergehens und des Todes in sich und zu jeder

Lust gesellt sich, als deren mitgesetzte Kehrseite, die Unlust; denn
wo ein Wille befriedigt ist, soweit er Affirmation ist, ist er un-
befriedigt, soweit er Negation ist und umgekehrt. Während
Schopenhauer seiner Theorie zu liebe der Erfahrung Zwang an-
thut und die positive Natur der Lust verneint, während Hartmann
wieder dem unbefangenen Empfinden gerecht wird, und Lust und
Unlust für gleich real und positiv erklärt, giebt es bei Bahnsen
weder reine Lust noch reine Unlust, denn in jeder Lustempfindung
erachtet er das negative Moment der Unlust, und in jeder Unlust
die verhüllte Befriedigung des negativen Willens vorhanden; so
ist alle Lust von Wehmuth und Ungenügen angehaucht , in den
Schmerz aber mischt sich die Wollust des Schmerzbewusst-
seins ein.
Wie Hartmann zu Schopenhauer und Hegel in Relation
steht, indem er des letztern Princip: die sich nach ihrem eigenen
Gesetz logisch entwickelnde Idee neben dem Realprincip des
Willens als Attribut des All-Einen Geistes setzt, so steht Bahnsen
in Relation zu Hegel, indem er die Dialektik, den Fortgang des
J. Bahnsen.

Werdens und Seins durch den Widerspruch auf den Willen über-
trägt. So wird die bei Hegel ideelle Dialektik zur Realdialektik
und das Weltdasein erscheint, im Gegensatz zu Hegels panlogi-
stischem Optimismus und zu Hartmanns teleologischem Evolu-
tionismus als zweck- und zielloses Zerren an sich selbst zur eigenen
Qual.
Mit Schopenhauer theilt Bahnsen die Zerklüftung des
Seins in eineWelt des bewussten Seins, in der allein das Gesetz
des Logischen herrscht, und in das Reich des an sich seienden
blinden, alogischen Realen; aber die Kluft ist tiefer bei Bahnsen,
weil er consequenter als Schopenhauer ist, und sein blindes
Princip sich nicht schon in seinem vorbewussten Naturweben
teleologisch gebärden lässt. Er ist auch pessimistischer als
Schopenhauer. Denn das Licht des Bewusstseins das sich an ,

den Widersprüchen des realen Seienden entzündet, und das auf


alogischer Grundlage erwachsende logische Denken des bewussten
Geistes wird nicht wie bei Schopenhauer zur Leuchte auf den
Weg der Erlösung, sondern es dient nur dazu, den realen Wider-
spruch auch Gebiet zu erheben, indem es da die Qual
in's ideale
schafft, woLust gewollt wurde, und, als logisches Denken, nur
die
soweit wirkliche Erkenntniss bringt, als die Schranke des Er-
kennens, die Grenze, wo das Logische von allen Seiten sich von
der Dornenhecke des realen Widerspruchs umstarrt sieht, er-
kannt wird.
Das logisch Unmögliche ist das Wirkliche und das
logisch Nothwendige ist das real Unmögliche.
Dieser Satz ist die Quintessenz eines, jedes optimistische Ele-
ment (wie den evolutioneilen Optimismus Hartmann's, ästhetischen,
ethischen oder religiösen Optimismus) ausschliessenden Pessimis-
mus. Es gehört selbst zum Widerspruchswesen
des Willens, dass
dieser aus seiner antilogischen Beschaffenheit heraus den Schein
eines Logischen und Teleologischen in der Natur erzeugen muss;
aber dieser Schein zerrinnt natürlich, sowie man ihn als Sein neh-
men will. Darum giebt es keine Erlösung vom Sein, weder
im Sinne Schopenhauers für das Individuum, noch im Sinne Hart-
manns für das Universum, und es ist die Hoffnung auf die Er-
lösung und Meinung, dass durch die Erkenntniss der Unseligkeit
auf den Willen gewirkt werden könne, so dass er sich selbst auf-
hebe, eine Illusion, ein Stück titanischen Jugenddranges, es ist:
das vierte Stadium der Illusion.
Bahnsen ist Individualist; der Wille ist freilich allgemeines
Seinsprincip aber in individueller Vielheit der Henaden,
,

deren Character die Verschiedenheit innerhalb der Gleichheit der


Widerspruchsnatur umschliesst; die Vielheit ist ganz real, nicht,
11*
164 Der philosophische Pessimismus.

wie Schopenhauer meint, nur Schein, und metaphysische Ein-


heit istnur Object der Sehnsucht der auch in dieser Hinsicht
durchaus widerspruchsvollen Vielen, die sich selbst behaupten
wollen und doch die Sehnsucht nach der Einheit in sich tragen.*)

Hätte der Neo-Kantianismus Recht, (Lange Vaihinger und


,

Andere) wäre die philosophische Speculation nur dichterische Be-


tätigung, hätte ein philosophisches System nur Bedeutung als
Dichtung, wäre das Kriterion seines Werthes nur ein ästhetisches
Moment, nicht das der Wahrheit, so müsste der Bahnsenschen
Princip-Gewinnung und Darstellung eine hohe Stelle in der Ge-
schichte der Philosophie ertheilt werden; denn unter der Vor-
aussetzung der Correctheit seiner Weltbetrachtung und des Re-
sultates seiner Seelenzergliederungskunst ist die Principienstellung
von packender Gewalt und überwältigend einleuchtend. Man
brauchte sich auch dann, wenn man das philosophische System
bloss als Dichtung betrachtete, nicht mit dem Bedenken zu plagen,
dass ein Princip, welches nicht nur interindividuell sondern strict
intraindividuell, d. h. in jedem seiner Actions-Momente den Wider-
spruch des Wollens und Nicht- Wollens enthalt, nur zum Ringen
nach dem Sein, nicht aber zum Sein (wenn auch nur zum ewig
werdenden und immer vergehenden Sein) gelangen kann. Denn
,

dieses Bedenken hat auf dem Standpunct des in Frage stehenden


Systems keine Geltung und kein Recht auf Berücksichtigung, weil
das logische Gesetz (vom Widerspruch und ausgeschlossenen Dritten)
ja keine Geltung im Reich des Seienden, des realen, vorbewussten
Werdens und Seins haben soll.
Es trifft aber die Voraussetzung nicht zu: jene innere Welt,
die Bahnsen mit solcher Virtuosität secirt und in ihren Vor-
gängen demonstrirt, und welche zu ihrer Erklärung das Princip
der Real-Dialectik zu fordern scheint, ist nur eine, und zwar nur
die pathologische Seite der innern Welt.
Das Wesen des Tragischen, als Conflict zweier gleichbe-
rechtigter Triebe, zweier gleichgebieterischen Sittlichkeitsforderungen
u. s. w., das Wesen des Humors, ein grosser Theil jener Cha-
racter-Typen, die Bahnsen mit solcher Meisterschaft zeichnet, sie
werden ebenso durchsichtig unter Voraussetzung des Hart-
mann'schen Princips des unbewussten Geistes; während jenes kleine
Theil innerer Vorgänge und Subjectivitäten, die sich allerdings

*) „Der Widerspruch im Wissen und Wesen der Welt." „Princip und


Einzelbewährung der Realdialectik." Bd. I u. II, Th. Grieben, Berlin. 1880
u. 1882. Vgl. „Bahnsens Realdialectik" von E. v. Hartmann in Phil. Mo-
natshefte. 1881. Heft 4—5.•
;

J. Bahnsen. 165

leichter durch das Bahnsen' sehe Princip des Widerspruchs er-


klären lassen, doch glücklicherweise einen so beschränkten Seins-
kreis haben, dass sie, selbst wenn sie anderweitig nicht begriffen
werden könnten, nicht jenen anderen Bedenken, die sich von der
Naturphilosophie aus gegen das Princip erheben, die Wage halten
könnten. Der Fall liegt aber nicht einmal so, sondern es handelt
sich nur um mehr oder minder leichtes Zurückführenkönnen
ein
auf eine transcendente Ursache.
Die Welt, von der Bahnsen sagen muss: „Die Welt ist meine
Vorstellung", ist allerdings eine durch und durch elende Welt, wo
jede Blüthe eine Giftblüthe ist, in jeder Knospe der ekle Wurm
sitzt. Wie Welt Bahnsen's aussieht, wie sich's fühlt in ihr,
diese
wird uns in knappster Form und grösster Unmittelbarkeit im
„Pessimistenbrevier" gezeigt.*)

b. Extractum vitae.

Das Erste, was uns bei diesem extractum vitae auffällt, ist die
psychologisch interessante Thatsache, dass der Verfasser diejenige
Auffassungsweise des Lebens und dasjenige Verhalten gegen das
Leben in abstracto perhorrescirt, welches er selbst in concreto durch-
gängig übt.
ist dies die Wirkung einer geistigen „Verwerfungs spalte"
Es
der Intellect gelangt zwar hinreichend zur theoretischen Freiheit,
um die eudämonologische Bedeutungslosigkeit der meisten soge-
nannten „ Lebensgüter " zu erkennen, aber er emaneipirt sich nicht
vollkommen genug von der Priorität des egoistischen, glückshung-
rigen Willens um von einer höheren Warte den logischen und
,

ethischen Werth der vom eudämonologischen Standpunct aus als


illusorisch erkannten Lebensfactoren gerecht zu werden.
Die theoretische Vernunft erkennt als Consequenz der pessi-
mistischen Erkenn tniss die Gebotenheit der Resignation und das
„sich in die Welt schicken"; aber die Zwiespältigkeit der fatalen
Char acter anläge lässt die Erkenntniss Vorstellung nicht zum Motiv
des ethischen und practischen Handelns werden; es bleibt bei der
Velleität, welche nun die Wurzel abgiebt für ein ganzes Heer
lebenzernagender Widersprüche, die vom Egoismus gehätschelt,
sich selber wieder gegen den Intellect wenden und dessen Waffen
selbstmörderisch gegen ihn selber kehren.

*) „Pess. Brevier". Extractum vitae von einem Geweihten". Berlin, r

Th. Grieben, 1879. Es wird zur Zeit allgemein bekannt sein, dass Bahn-
sen der Verfasser der anonym erschienenen Schrift war; wer je etwas von
Bahnsen gelesen hatte, musste den Verf. errathen, da der Stil Bahnsen's
ein ganz eigenthümlicher ist.
166 Der philosophische Pessimismus.

Bei Ii n seil selbst zeichnet das „Zerrbild" des gesunden, ver-


nünftigen Pessimismus: „Sie (die vulgäre Unzufriedenheit und
weinerliche Sentimentalität) gefallen sich in sinnlosen Selbstquäle-
reien, vergällen sich jeden Genuss des trotz alledem und alledem
noch vorhandenen Schönen durch nutzloses Vergleichen mit ein-
stigen Träumereien eines völlig unerfahrenen Sinnes, schmähen
und verschmähen aller wirklichen Unbefangenheit bar, nach Kin-
derart, das Gute um des Bessern willen, wie sie sich dies einst
ausgemalt, ohne zu fragen nach den Bedingungen der Realität, und
hinausfliegend über alle Schranken des factisch möglichen." „Nicht
mit Unrecht wendet die Sympathie sich ab von jener Art von Un-
zufriedenheit, die nicht an dem mittleren Menschenloos sich will
genügen lassen, — die in elegischer oder trotziger Verdriesslichkeit
verschmäht „froh zu gemessen was ihr beschieden," sich darauf
capricirt, das Vollkommenste oder gar nichts haben zu wollen,
während sie doch selber von jeder Art Vollkommenheit recht weit
entfernt bleibt."
Aber gerade was getadelt wird an Andern, das thut der Ver-
und rühmt hinterher wieder, was er erst gerügt.
fasser selbst,
-Verlornes Leben! so predigen Schlaf und Schlaflosigkeit des
Nachts —Wachen und Nicht erreichen bei Tage." „Danach kom-
men Tage, wo unser Fühlen wie versumpft ist —
wir liegen ver-
schmachtend an der Wüste leer vorüb erschleichender Tage die —
Melancholie die noch eine der Schwere des Missgeschickes ge-
,

wachsene Resistenz verbürgte, verlor ihre Grossheit an den ver-


zagten Trübsinn kleiner Hypochonderien, —
selbst der Muth des
Zweifels ist von einem gewichen, gebrochen der Trotz der Ver-
neinung, und den in Ohnmacht Hingesunkenen umkrallt das Leben
desto unentwindbarer, je verächtlicher das Gethier, in dessen Ge-
stalt es sich verlarvt, ist."
Das bejammerte Elend erscheint in dreiFormen: äussere Miss-
erfolge; fatale Characterveranlagung der Wankelmüthigkeit; patho-
logische Gemüths- und Geistes degener ation; die drei Formen stützen
sich gegenseitig, und steigern sich im Aufeinanderwirken.
Sehr zahlreich sind die Klagen über äussere Misserfolge; hier
nur eine Probe um ihre Form zu zeigen. „Wer sieht, dass alles
nichts hilft, dass er nichts thun kann zur Verwirklichung seiner
besten Zwecke, der muss wohl zuletzt die Hände resignirend in
den Schoos legen und über sich ergehen lassen, was der Lauf der
Dinge ohne oder wider sein Zuthun mit sich bringt. —
In solcher
Stimmung verliert man allmählich den Maassstab für Grosses und
Kleines, Wichtiges und Unwichtiges. Denn alles kleidet sich dann
in die gleiche Farbe eines weggeworfenen Mühens —
Grässlich
.

grau grinst einem dann die verleidete Welt an —


„Ehe ihr
J. Bahnsen. 167

über uns und unseren Schmerz so klüglich zu raisonniren Euch


herausnehmt probirt es selber
,
wie es thut
, wenn. Jahre her
,

auf alle Wünsche kein ander Echo zurückschallt, als ein rauhes:
Nein'/
Soweit diese Misserfolge objective Thatsache sind, möchten
sie sich aus der Unsicherheit und Zerrissenheit der eigenen Leistungen
erklären lassen. Unsere Zeit will runde, scharfausgeprägte Geistes-
münzen nur wo eine ganze Manneskraft sich mit einer Idee,
;

einem Princip sozusagen identificirt, hat die Leistung Aussicht auf


Erfolg.
Der Verfasser des Pessimistenbreviers aber klagt von
seinem
geistigen Besitze : „Wenn
wir uns erst einmal auf einem grossen,
recht eigentlichenr grundstürzenden" Irrtimm betroffen, wenn un-
antastbare Thatsachen auch nur in einem Stücke etwas von dem
widerlegten, was mit unserem heiligsten Glauben (wir durften's
nach dem Maass menschlicher Einsichtsfähigkeit ohne Ueberhebung
unsere Ueberzeugung nennen!) in innigem Zusammenhange stand:
dann fühlen wir alles wanken, was unserer Lebensanschauung ihren
mnern Halt hatte geben sollen —
und solch ein Stoss, der die
Grundvesten unseres intellectuellen Selbstvertrauens erschüttert,
gleicht sich vielleicht in der ganzen Dauer eines Menschenlebens
nicht mehr aus."
Die Misserfolge mögen aber auch öfter nur subjectiv als
solche erscheinen, für die Ungenügsamkeit, die Frucht der Selbst-
überschätzung, die sich eben trotz besserem Wissen „an dem mitt-
lem Menschenloose" nicht will genügen lassen, weil sie sich für
einen ganz besondern Edelstein der Schöpfung hält, wobei sie
sich in selbstgefälligem Stolze von den Menschen lostrennt, um
nachher die Vereinsamtheit zu beklagen. „Ihm (dem Schicksal)
ist es nicht genug, uns unsere Wünsche zu versagen, es giebt sich
noch den Anschein, bloss unsere Ungenügsamkeit zu bestrafen —
stellt uns höhnisch unannehmbare Offerten, und spottet dann hinter-
her: das war dir ja nicht gut genug! —
Aber ist denn ein höheres
Streben, das nicht mit jedem Schlechtesten vorlieb nimmt, an sich
schon ein strafwürdiges Verbrechen —
oder ist's nicht vielmehr
ein Stück vom Besten in der Menschheitsnatur, dass sie unwürdige
Abfindungen ablehnt? „werden sie nicht immer spärlicher diese
hohen Seelen mit dem reinen unbestechlichen Wollen, die Adels-
naturen, die eher untergehen, als dem schnöden Begehren de-
müthigenden Ansinnens sich zu beugen?"
Zur Ungenügsamkeit gesellt sich dann die Ungeduld und die
Ungeschicklichkeit, die das Warten nicht lernen will, weil die
Ueberhebung es als „entwürdigendes Misshandeltwerden" betrach-
tet, und die dazu verleitet, einen Posten muthlos zu verlassen,
1(38 Der philosophische Pessimismus.

wenn noch etwas längeres Ausharren den gewünschten Erfolg ge- •

bracht hätte.
Ein Zweigiein am Aste der Selbstüberschätzung heisst Un-
liebsamkeit und Unverträglichkeit; weil „das Schicksal bitter
ist", darum muss auch die „Stimmung dazu passen und von glei-
chem Geschmacke sein," und man hält es für seines Elendes Recht,
„schroff und knorrig, wie verwetterte Eichen" der Welt entgegen
zu stehen; die „Griesgrämigkeit" wird gehätschelt, weil sie als
Trauer über die versunkenen Jugendideale betrachtet wird: als
Festhalten an Idealen, die allein als solche anerkannt werden, weil
es eben die eigenen sind. —
Die zweite Form des Elendes sind jene Characteranlagen,
deren Wirkungen innerlich verbleiben; die Grenze gegen die erste
Formengruppe ist theilweis nur schwach markirt, anderentheils
findet sie in der nachfolgenden Form der pathologischen Zustände
ihre comparative und Superlative Steigerung. Sie tritt uns entgegen
als eine Gruppe von Specien des Genus „ich weiss nicht, was
ich will"; oder der Schulsprache gemässer ausgedrückt: als dop-
pelte Reactionsweise des Willens auf dasselbe Motiv; dieselbe Vor-
stellung wird in raschem Wechsel als Willenseinheit bejaht und
verneint.
Bahnsen schildert den Gefühlsreflex dieser Zwiespältigkeit
sehr gut, nachdem er die Eigenschaft seiner Natur zur Natur des
Weltgrundes verabsolutirt hat.
„Dass das innerste Grund- und Kernwesen der Welt ein Nicht-
wollen seiner selbst ist, begreift das ganze Mysterium der Uebel
in sich, und danach ist's weiter nicht zu verwundern, dass es den
gescheitesten seiner Kinder genau so geht, wie diesem gemeinsamen
Urvater: in ihrer Unzufriedenheit mit sich selber ärgern sie sich
an ihrer eigenen Existenz —
und ärgern sich unendlich, weil die
Pein dieses Seins unentrinnbar ist, und als solches das Urbild aller
lustigen wie tragischen Komik, ein gleich sehr nach der Ruhe des
Nichts wie nach der Unrast des Daseins sich sehnendes —nur
leider schwächer in seiner negativen, als in seiner positiven Rich-
tung und minder kräftig als Quietiv, denn als Motiv."
Ferner wird behauptet, „der Pessimismus hat die Ideale hinter
sich, nicht mehr vor sich, wie das nach Menschwerdung schmach-
tende Vieh", und doch pocht sein Stolz beständig auf seinen Idea-
lismus; „ihr Standpunct und Maassstab [der Optimisten, der „Ge-
sunden"] ist ja der des Durchschnittes, und danach will (und soll?)
ja doch Menschliches abgeschätzt werden, und an ihm gehalten,
werden wir als unheilbare Idealisten-Schwärmer befunden werden
müssen. An was aber wir selber uns halten? —
an jenes erhabene
Gefühl, ein Einziger gegen eine Welt zu stehen
."

J. Bahnsen. 169

Der Zwiespältige mochte auch resigniren, aber er kann nicht:


?
wundert euch nicht, wenn so einer fortwährend von Verzweiflungs-
kitzel angereizt wird, mit seinem armen strohdürren Leben wie
mit Feuer zu spielen. Er heuchelt auch nicht etwa mit den Weis-
heitssprüchen der Resignation, die aus seinem Munde gehen —
denn was er predigt, ist sein ehrlich Ideal, nur dass er 'selber dessen
nimmer habhaft werden kann." Der Grund ist, weil er doch an
die Möglichkeit gewisser Glücksformen inmitten der leidvollen Welt
glaubt, obwohl er es nicht Wort haben will; darum hört er auch
nicht auf, „taube Hoffnungseier zu Neste zu tragen", und ist ihm
hierzu einmal die Gelegenheit abgeschnitten, so ist es ihm „auch
nicht recht: wir empfinden es dann als ein Entbehren, uns ein
kurzes Glück nicht einmal imaginär vorstellen zu dürfen."
Bahnsens Weltanschauung kennt keine anderen Ideale als
solche im Dienste der Glückseligkeit; er gesteht das zwar nicht
offen ein, sondern meint: „Euere Weisen wollen der Welt weis
machen, der ganze Pessimismus sei auf das Lustprincip gestellt,
also eigentlich nur ein ins Blut getretener Eudämonismus. Darum
verdächtigen sie es zuletzt als blosse Blasirtheit, wenn wir betonen,
auch an Genuss nicht mehr zu glauben und deshalb über alles
hinaus zu sein, was solche Verleugnung bloss stellen könnte.
Bahnsen misskennt den Pessimismus und seine eigene Welt-
anschauung, wenn er diese kurzweg, ohne weiteres Beiwort, Pessi-
mismus nennt. Der Pessimismus Hartmann's „glaubt" an den
Genuss, z. B. den ästhetischen und wissenschaftlichen als Erkennt-
nissfreude, auch an die Glücksmomente, die dem Gemüthsleben ent-
spriessen; an die Möglichkeit des Genusses glauben und den Ge-
nuss zum Lebenszweck, die Lust zum immanenten Weltprincip
proclamiren, ist sehr zweierlei. Der philosophische Pessimismus
'

besteht in der durch die Erfahrung des Lebens vermittelten Er-


kenntniss, dass der Genuss, die Lust, das individuelle Glück nicht
Weltzweck sei, und mithin auch nicht letzter Zweck des sittlichen
Handelns sein soll. Seine „Ideale" werden daher nicht dadurch
geschädigt, wenn er weiss, dass sie, wenn realisirt, ihn nicht
„glücklich" machen würden; um dieser negativen Eigenschaft willen
aber vermeint Bahnsen, sie vor die Thüre setzen zu sollen; da-
gegen lehnt sich aber seine bessere Natur unbewusst auf, und
dafür lobt er sich selbst nun wieder. —
Der weiteren, aus der Beeinflussung des Intellectes durch den
wankelmüthigen Willen hervorsprossenden Widersprüche wollen
wir nur flüchtig erwähnen: Liebe und Freundschaft werden
als Institute zu gemeinschaftlichem Schelten und gegenseitigem
Quälen angesehen, und doch will man auf beide nicht ver-
170 Der philosophische Pessimismus.

ziehten. *) Das Urtlieil der Welt wird zwar verachtet, aber die
Ehre vor der Welt soll doch nicht mangeln, denn fremde Meinung
bleibt doch ein Spiegel des eigenen Werthes. **) Der Tod wird
als ein blosser Wechsel der Form des qualvollen Seins erkannt,
und doch auf ihn gehofft.***) Die Welt wird für unzerstörbar
erklärt und trotzdem die „Gedanken ans Ende der Erden" als
„Trost erkannt" (407), wenn „schöne Vertröstungen" sich wieder
einmal als illusorisch erwiesen hatten; in dem Gedanken an die
Nichtigkeit der Welt wird geschwelgt, und „triumphirt" dass ,

man sie doch in Gedanken vernichtet habe, f) Endlich wird das


thörichte Zürnen gegen das unpersönliche Schicksal, welches als
„Gesetzlosigkeit des reinen Zufalls" bestimmt wird, gerügt; ff) aber
schon auf der folgenden Seite wird das Schicksal „für launisch"
und „ungerecht" erklärt, und endlich sogar der „Zorn über sich
selbst" bekannt, dass man so viel „Hohn des Schicksals" hinge-
nommen habe, ohne sich vermittelst Cyankali oder Revolver ernan-
eipirt zu haben.
Hier sind wir an der Grenze der dritten Form angelangt, wo
die pathologische Degeneration klar hervortritt.
Die Selbstsucht, die das unpersönliche Schicksal angrollt und
ausschilt, führt zum Aberglauben, der sich in an Wahnsinn ge-
mahnenden Gedanken und Bildern Luft macht. „Sollte es nicht
eine Providentia specialissima geben! aber auch die eine eines Ober-
teuf eis, der für verstärkteAblösung sorgt, sobald einer seiner un-
saubern Geister endlich über unsere Schwelle zurückgebracht ist".
„Keineswegs bedarf es jeden Augenblick einer schweren Katastrophe,
um stündlich die Signatur einer verfluchten Existenz zu beglau-
bigen — es genügt, dass etwas uns theuer sei, um den Stempel
höllischer Weihe zu empfangen." „Mit spukhaftem Grausen muss
es uns überkommen, wo es uns dünkt, als ob uns aus Todtenglocken
und Menschenstimmen das nämliche Gesumse von Tausenden von
schadenfrohen Dämonen umschwirre."
Mit dieser Empfindungsweise ist denn auch das Mittel gegeben,
sich die Schmerzen der Gegenwart durch Furcht und Sorge vor
der Zukunft noch mehr zu verschäfen. —
Hand in Hand mit dieser Auffassung des Schicksals, welche
etwas an die Rolle erinnert, die der Teufel in der verkommenen
Theologie des 17. Jahrhunderts spielte, geht das Behagen an häss-
lichen, ekelhaften Bildern, bei der Schilderung von Gemüths- und
Herzenszuständen; „Fühltet ihr nie euer Herz, d. h. euer Wollen,
im lebendigen Leibe faulen?" „Wenn je in euerem Mitempfinden

*) pp. 138; 32; 36—37; 134; 264; 357. **) 168. ***) 369. f) 407.
tt) 333; 351.
!

J. Bahnsen. 171

Ekel und Grausen sich mischten beim Anblick aufgebrochener Eiter-


beulen, versteht ihr vielleicht, wie es in einem gequetschten Ge-
müthe aussehen kann, wo auch solch Giftsack sich verfüllt hat.
Unter stetigem Druck wirklicher oder eingebildeter Selbstqual
sammeln so böse Säfte sich an —
grüblerisch reizt das Sinnen die
juckende Stelle, wo Faserbündel unsichtbar, zerreissen, wie mit
kratzendem Finger, bis endlich die dünn gewordene Oberhaut auf-
platzt und weit umher spritzt, was Pesthauch mit sich führt und
grässlichen Ansteckungsstoff, wohin es fährt auf ein versehrtes
Fühlen."
Das Pathologische des Empfindens und Denkens zeigt sich
auch in der Märtyrer-Sehnsucht, in dem wollüstigen Schwel-
gen in den Schmerzen, die doch sonst so eindringlich bejammert
werden, auf deren Ertragung nun aber die Eitelkeit sich wirft,
nachdem sie sich anderer Objecte beraubt sieht.
„Heiliger Schmerz! einz'ger Tröster mir!
Treuster Gefährte der Jugend, —
Auf der Höhe des Lebens mein letzter Vertrauter
Genosse noch des absteigenden Alters —
Du gabst Gelassenheit,
Austobt' in dir der Groll,
Quillende Thräne athmet mir Friede zu,
Wehmuth ward Wohlgefühl
Bitterniss Labsal mir — ". (p. 3.)

Und weiter: „Heimisch fühlt sich das umnachtete Herz nur


noch zwischen den Schemen vom Vampyr des grässlichsten Jam-
mers ausgesogener Menschenseelen, wie sie durch's Tollhaus huschen
oder um Gräber" (310.) „So viel ist richtig, dem Pessimisten
gewährt persönliches Pech etwas wie eine Genugthuung ". „Oder —
ist nicht ein schöner Schmerz viel lieblicher, begehrenswerther als
eine hässliche Freude?" (383.) „Zu einzig wahrer Tröstung ist
berufen, wer es geschmeckt hat, wie es süsse Freuden bringt, sich
so elend zu wissen, wie nur etliche Auserwählte es werden können."
(405. vergl. ferner pp. 324. 404. 297.)
Bahnsen ist sich des Pathologischen seines Zustandes theil-
weise bewusst, und rühmt sich desselben als eines weiteren Vor-
zuges vor der Masse: „Wie zwischen Weib und Schlange ist Feind-
schaft zwischen uns und den „Gesunden". Wer einen unendlichen
Schmerz zu tragen im Stande ist, hat nichts gemein mit allen jenen,
die so klug sich abzufinden wissen mit der Welt, weil sie des
Muthes bar sind, offenen Auges hinabzublicken in die Tiefen all
des hoffnungslosen Jammers." (214.)
Sehr characteristisch ist es endlich, dass das „ Pessimisten-
brevier " anonym erschienen ist, während doch durch die häufigen
172 Der philosophische Pessimismus.

Hinweise auf die real-dialectische Natur des Weltprincips der


Schleier der Anonymität so durchsichtig gemacht wurde, wie die
Gesichtsverhüllungen der von der fränkischen Cultur beleckten
Damen Stambuls bei der Promenade in Pera. Denn wenn auch
der „Geweihte" zur Bestätigung seiner Weltanschauung voraus-
setzt und, „als neues Probestück wie jede echte Wahrheit sich
aus sich selbst neu gebiert", sogar wünschen muss, dass das Re-
sultat seiner Herzenseröffnungen, Glaub ensbekenntniss und General-
beichte, eintrete „in die Reihe der verhängnissvollen Uebel", sich
..in praxi nicht anders ausnehme als in thesi", und „Unheil stifte"

und „tragische Conflicfce",*) so scheint er diesmal im entscheidenden


Moment doch genügend als „Gesunder" empfunden zu haben, um
angesichts desdrohenden Unwetters durch die Anonymität vor
den möglichen fatalen Folgen auf seine persönlichen Verhältnisse
sich zu schützen. —
Der Pessimismus Bahnsens bietet dem Psychologen inter-
essanten Stoff; das System der Realdialectik ist eine ebenso inter-
essante Episode in der Geschichte der Philosophie.
Die Kritik desselben ist bei dem ungemeinen Scharfsinn des
Verfassers, durch tausend Spitzfindigkeiten und Seitenschliche den
Einwendungen zum voraus die Spitze abzubiegen, und bei der
Eigenthümlichkeit des aufgestellten Princips sehr umständlich; sie
erweist sich aber auch als überflüssig, da man der Principienlehre
immerhin zugestehen kann, dass sie aus dem Inductionsmaterial
der Bahnsen'schen „Welt als Vorstellung" consequent abge-
leitet sei, wenn man nachzuweisen vermag, dass die Bahnsen sehe
Welt nur ein Bruchstück der Welt ist, deren Leid und Jammer
innerhalb des Unlust-Contos des philosophischen Pessimismus Raum
findet, ohne einen Miserabilismus (so nennt Hartmann die
Weltanschauung Bahnsens) erzeugen zu müssen, dessen Ver-
zweiflungsstandpunct anstandsgemäss den Selbstmord forcierte, wenn
der Durchgang durch die Erkenntniss: dass die Unlust selbst wie-
der zur Lust geworden sei, sowie die aufdämmernde Ahnung, „dass
das Weltwesen mit all diesem Jammer ja vielleicht recht eigent-
lich seinen Willen gekriegt habe" („z. Phil. d. Gesch."), ihn nicht
zur stumm- stolzen Resignation zu führen vermöchte.
Für die Geschichte des Pessimismus ist der Bahnsen'sehe
Miserabilismus ein so interessantes Monument, als solche die
Wahrheit todt hetzende Extreme es immer sind; für die Bekenner
und Apologeten des philosophischen Pessimismus aber von Wichtig-
keit, erstens, weil die Gegner des letztern gerne die Ungereimt-

*) 396- 397; 397. Mitte.


Ph. Mainländer. 173

heiten des Miserabilismus dem Pessimismus aufs Kerbholz setzen;


zweitens aber, weil der Miserabilismus als dunkle Folie dienen
kann, von dersicli das reine Wissen von der überwiegen-
den Unlust der Welt in um so rein-geistigerem Glänze abhebt. —

4. Ph. Mainländer.

Grabbe Faust („Faust und Don Juan") an der Leiche


lässt seinen
der Donna Anna ausrufen: „es gab einst einen Gott, der ward zer-
schlagen —
wir sind seine Stücke." Diesen Gedanken hat Main-
länder adoptirt und seine Philosophie der Erlösung*) soll dessen
Wahrheit plausibel machen.
Mainländer nimmt seinen Ausgang von Schopenhauer,
insofern als er den Versuch macht, dessen Grundprincip, den Willen,
festzuhalten, aber mit Umgestaltung des erkenntniss- theoretischen
subjectiven Idealismus in einen transcendentalen Idealismus (Real-
idealismus), und dessen Monismus in einen pluralistischen Indivi-
dualismus. —
Das Absolute ist nur als einfaches, ungetheiltes indifferentes
,

Uebersein zu denken; die Empirie zeigt uns aber nur das unendlich
mannigfaltige, und zum mindesten als Letztes ein Zweifaches.
Folglich ist das Absolute, Gott, nicht mehr, sondern muss als ver-
gangen angenommen werden. Das absolute Eine Ueberseiende
hatte nur die Wahl, zu sein oder nicht zu sein; es wählte das
letztere. Seine Eigenschaft der Göttlichkeit verhinderte aber das
plötzliche Zunichtswerden; es zerfiel nur in die Vielheit des end-
lichen Seins. Der Kern jedes Individuums, deren jedes ein Stück-
chen Gottestrümmer ist, ist der Wille. Aber nicht der Wille zum
Leben, wie Schopenhauer meint, sondern seinem eigentlichen
Wesenskern nach Wille zum Tode.
Der Weltprocess ist nur der langsame, schmerzhafte, aber zu-
letzt doch mit dem Erfolg der absoluten Vernichtung gekrönte
Sterbeact des selbstmörderischen Gottes.
In den bewussten Naturwesen ist der Wille zum Tode rnas-
kirt in den Willen zum Leben, weil das organische Leben das
wirksamste Mittel zur allmähligen vollständigen Zerreibung der
Daseinskraft der Gottestrümmer ist. Im Philosophen endlich
kommt das Bewusstsein des wahren Sachverhaltes zum Durchbruch
und die Maske fällt: die zur Philosophie gereifte Menschheit weiss,
dass sie das Leben nur will als Durchgang und Mittel zum Nicht-
sein. —
*) Berlin, Th. Grieben, 1876.
174 Der philosophische Pessimismus.

Mainländer den Pessimismus einfach voraus, indem er


setzt
sagt: dass der und der psychologische Nachweis von
empirische
der überwiegenden Unlust des Daseins von „Andern meister-
haft erbracht sei."
Wie derjenige Hartmanns umschliesst sein eudämonologi-
scher Pessimismus einen evolutionellen, d. h. socialen, politischen
und culturellen Optimismus. Er versucht das Bild eines Ideal-
Staates zu skizziren, in welchen die Culturbestrebungen dereinst
nothwendig einmünden müssen. In diesem Ideal-Staate sind alle
jene Uebelstände beseitigt, welche gegenwärtig Object der „so-
cialen Frage" und des Entrüstungs-Pessimismus sind; die Lebens-
ordnung wird so vernünftig und so leidensfrei sein, als das über-
haupt möglich ist, aber gerade diese Abwesenheit aller (scheinbar)
zufälligen und wegräumbaren Leidensursachen wird allgemein die
Erkenntniss ermöglichen, dass das Sein selbst die Quelle des Lei-
des ist, ja dass dieses selbst nichts anderes ist als der Druck
der Existenz. —
So lange die Lebewesen das Leben wollen, dient all ihr Thun
und Streben, aller Fortschritt der Cultur dem seinen Trägern noch
verhüllten «Zweck der Zermürb der dem Untergang entgegen-
gehenden Welt; sobald aber die Menschen diesen Sachverhalt er-
kennen, sowie den hohen Werth der Cultur für dies negative Ziel,
so werden sie zwar ebenfalls die Cultur zu fördern helfen, jedoch
zeigt sich ihnen nun auch ein anderer, dir e et er er Weg, um sich als
Individuum der seligen Vernichtung rasch zuzuführen: nämlich
vermittelst der Virginität. Jedes Individuum, welches Nachkommen
gezeugt, lebt nach dem empirischen Tode in diesen fort, wer aber
im Zustand der Virginität stirbt, der ist vollständig vernichtet, und
es hat somit ein Bruchstück Gottes sein vorweltliches Ziel er-
reicht. Wer schon gezeugt oder geboren hat, der kann nur in-
sofern zu seiner künftigen Erlösung beitragen, dass er am Cultur-
process regen Theil nimmt, denn von dessen Fortschritten hängt
es ab, ob man Aussicht hat, nach kürzerer oder längerer Frist er-
löst zu werden; wer aber noch nicht in Nachkommen lebt, der
erlöst sich durch die Wahrung der Virginität vom Dasein, —das
„sich" heisst aber hier ein Individuum, welches in beständigem
Wechsel der Form und der Persönlichkeit zurückreicht bis zur
zersprungenen Gottheit. —

Wer sich so recht mühelos und überwältigend von der Un-


möglichkeit einer individualistischen Philosophie überzeugen
will, dem ist die „Philosophie der Erlösung", dieser wunderliche
wilde Spross aus Schopenhauerscher Wurzel, zur Leetüre zu em-
Pessimisten ohne selbständige Systeme. 175

pfehlen.*) Wir können hier von ihr Abschied nehmen, da sie be-
züglich des Pessimismus weder empirisches Material noch theore-
tische Erörterungen zu dessen Begründung und Rechtfertigung
aufbringt.

5. Pessimisten ohne selbständige Systeme.

Zum Schlüsse des Capitels sei noch einiger philosophischer


Schriftsteller gedacht, die sich in mehr oder minder engem An-
schluss an Schopenhauer und Hart mann zum Pessimismus be-
kennen.
E. Deussen (Princip der Metaphysik) versucht eine Verbin-
dung der Scho penhau ersehen Philosophie mit dem Christenthum,
gestützt auf die übereinstimmenden Momente des Schopenhauer-
schen Pessimismus und des christlichen contemptus mundi einerseits
und die Erlösungssehnsucht in beiden Weltanschauungen ander-
seits. Nicht die Schopenhauer'sche Askese aber, sondern die Selbst-
verläugnung in der vom Christenthum gelehrten Liebe ist die zur
Erlösung aus dem Leide der Welt und der Ichheit führende Willens-
verneinung.
Einen schroffen Gegensatz zu Deussen bildet Ferd. Laban
(Vorrede zur „Schopenhauer-Literatur", 18^0. Leipzig, Brockhaus);
dieser bekennt sich zwar zur Schopenhauer'schen Lehre von der
Positivität der Unlust, aber er will nichts vom ethischen Pessi-
mismus Schopenhauers wissen. Vom empirischen Pessimismus
soll weder auf eine metaphysische Ursache der Unseligkeit des
Daseins, noch auf einen transcendenten Zweck des Leides ge-
schlossen werden sondern man soll ganz einfach bei der That-
,

sache der absolut-natürlichen Realität der leidvollen Beschaffenheit


des Lebens stehen bleiben: ein Standpunct, der nach des Verfassers
Meinung am reinsten von Leopardi vertreten werde. Den Pes-
simismus wie ihn Schopenhauer „und die pessimistischen Reli-
ionen und metaphysisch-moralischen Systeme" vertreten, ist die
pitze abgebrochen, weil an die Stelle des Glücks als des höch-
,

sten Guts, der „metaphysische Trost" gestellt wird, indem einer


angeblichen metaphysischen Erkenntniss zu Folge das Leid selbs
wieder Wünschenswerthes wird, sofern es Mittel zu einem werth-
vollen Zwecke wird. Schopenhauer selbst war, wie bisher jeder
Philosoph, insofern Optimist, als er ein Apologet der Erkennt-
niss war, indem er an dem Vorurtheile theilnahm, die Wahrheit

*) Vgl. „Zwei Individualisten der Schopenhauer'schen Schule" von 0.


Plümacher. Wien, B,. Rosner, 1881.
-

176 Der philosophische Pessimismus.

müsse mit dem Hand in Hand gehen.


„höchsten Gut" Für—
Laban ist die Wahrheit die Vernichtung aller Metaphysik,
Schopenhauer war der grösste Philosoph, aber nicht wegen,
sondern trotz seiner Metaphysik, „deren unaussprechliche Schön-
heit und Reizentfaltung" nöthig war, damit eine solche noch ein-
mal möglich war, und er der Letzte in dieser Richtung seiner Zeit
den Tribut zahlte, dem metaphysischen Bedürfniss der Menschen
Genüge zu thun. Auch Schopenhauer riss sich nicht los
von dem „Wahn", dass der Knoten des Welträthsels im Menschen
liege und in ihm seine Lösung finden müsse. Aber diese Illusionen
zerreissen; wohl waren sie beglückend, aber sie müssen der Öden,
kalten Wahrheit der blossen Natürlichkeit weichen." Darwin,
Lubbock, Tylor, Paul Ree sind die Wahrheitsträger, ihnen ist
zu „danken", dass die Erkenntniss immer kräftiger hervortrete,
„dass der moralische Mensch der intelligiblen (metaphysischen)
Welt nicht näher stehe als der physische, dass auch die Moral
nur natürliche Wurzeln und Bedeutung habe, dass die moralische
Verantwortlichkeit nur eine Täuschung in Folge des Glaubens an
die Wahlfreiheit sei." —Laban citirt eine längere Stelle von Fr.
Nietzsche über den Irrthum des Verantwortlichkeitsglaubens.
Wenn es einmal klar geworden sei, dass Keiner, weder fürs operari
noch fürs esse verantwortlich, mithin jedes Urtheil eine Ungerech-
tigkeit sei, dann werde auch das Elend der Welt einfach consta-
tirt, die einzelnen Formen der Unlust in den einzelnen Gelegen
heitsursachen gesucht und bekämpft werden, nicht aber werde
man es als das Resultat einer Schuld oder als das Mittel eines
metaphysischen Zieles unter ethischen Gesichtspuncten betrachten. —
Laban verlangt also, dass der Pessimismus wieder den Rück-
schritt zum Weltschmerz vollziehe; er verkennt, dass dieser ein
blosses Durchgangsstadium ist, welches keine Lebenskraft hat, und
nothwendig nach der einen oder andern Richtung hin eine trans-
cendent-ergänzende Weltanschauung verlangt, und dass der Mensch,
so lange er Mensch bleibt, nicht der Speculation über Ursachen
und Folgen des Gegenwärtigen sich wird entschlagen können. —
Auch R. Koeber („Schopenhauers Erlösungslehre." Ber-
lin, Duncker, 1882. „Schopenhauer; ein Anhang zur 11. Aufl. von
Schwegler's Gesch. d. Phil") bekennt sich zum Glauben an die
überwiegende Unlust der Welt, lehnt aber für seine eigene, wie
für Schopenhauers und Hartmanns Weltanschauung die Be-
zeichnung als Pessimismus ab, da er den Hauptaccent auf die Er-
lösungshoffnung Koeber acceptirt die Hartmann'sche
legt.
Correctur der Schopenhauer'schen Willenslehre, wodurch die
Idee dem Reälprincip als metaphysisches Princip coordinirt wird.
Betrachte man im fernem die Erlösungsmöglichkeit unter dem
Pessimisten ohne selbständige Systeme. 177

Gesichtspunkt des objectiven Idealismus, in historischem Sinne als


Weltprocess, so sei keine „Spur von einem trostlosen Pessimis-
mus" zu entdecken. Wenn das „Reich der Gnade", „die Erlösung
der nothwendige, im Weltprincip selbst begründete einzige Aus-
gang des Weltprocesses ist, wo ist da der trostlose Pessimismus?"
Aber den Weg zur Erlösung sieht Koeber mit Deussen im
Christenthum, d. h. nicht im christlichen Dogma, sondern in
der Idee. „Das Christenthum zeigt uns den Weg auf dem die
Erlösung erreicht werden muss, indem es uns nicht eine „bessere
Welt", sondern die Schlechtigkeit und Armseligkeit dieser durch
und durch schönen und zweckmässig geordneten Welt aufdeckt."
{In einer Fussnote setzt er diesem etwas dunklen Satze bei: „die
klassische Formel für diesen Pessimismus hat uns Hartmann ge-
geben: die Welt ist die beste aller möglichen Welten, aber sie
ist schlimmer als keine".)

Bezüglich der Weltaufhebung im Sinne Hartmanns sagt er:


„die Erfahrung, das wirkliche Leben selbst zwingt uns zu der An-
nahme, dass die Weltaufhebung der einzig denkbare Ausgang des
Weltprocesses sein kann. Denn stellen wir uns einmal die Frage:
Was ist mit dem Leben anzufangen, wenn die aus der höchsten
Erkenntniss folgende, Alles nivellirende alle Individualität auf-
,

hebende Liebe einst verwirklicht ist? Die Antwort mag sonderbar


klingen, ist dennoch aber ganz richtig: mit einem derartigen Leben
ist gar nichts anzufangen, weil es überhaupt kein Leben ist,
sondern ein absoluter Stillstand, die höchste denkbare Langweile,
ein Zustand, der uns von der Allweisheit und Allgüte des Unbe-
wussten auf das raffinirteste ersonnen werden konnte als Mittel,
den letzten, möglicherweise noch vorhandenen Funken der Liebe
zum Dasein im Menschen auf das sicherste auszulöschen. —
Endlich bekennen sich Moriz Venetianer („Der Allgeist."
Berlin, Duncker. 1874) und A. Taubert („Der Pessimismus und
seine Gegner." Berlin, Duncker. 1883) zu Hartmann's eudämono-
logischem Pessimismus. Venetianer betont eine energische Lebens-
bejahung in intellectueller Erkenntnissfreudigkeit; Taubert sieht
in der Täuschungen vorbeugenden, die Selbstlosigkeit fördernden
und für die kleinen Freuden des Gemüthslebens empfänglicher
machenden pessimistischen Erkenntniss ein Mittel, das Leben so
erträglich zu machen als möglich. Beide bekennen sich zu Hart-
manns letztem Princip des All-Einen Unbewussten, verzichten
aber auf welterlösungstheoretische Speculationen.*)

*) Der mannigfaltigen Illustrationen, welche die philosophische Lehre


von der überwiegenden Unlust in der Welt und der Unvernunft des Da-
Plümacher, Pessimismus. 12
178 Der philosophische Pessimismus

Werfen wir nun einen Blick zurück auf die vier pessimisti-
schen Philosophien, so zeigt sich der Pessimismus E. v. Hart-
manns als der Gipfel und die vollendetste Ausgestaltung der
pessimistischen Weltanschauung. Erstens, durch die erschöpfende
Durchforschung des empirischen Gebietes. Zweitens, durch die
scharfe Präcisirung der axiologischen Frage die saubere Ausein-
,

anderhaltung der verschiedenen Maassstäbe, die man an die Welt


und das Leben legen kann, die stricte Beschränkung des Pessi-
mismus auf die eudämonologische Sphäre, sowie die Vermeidung
unberechtigter Uebertragung ethischer Begriffe auf das Gebiet des
Vorbewussten. Drittens, durch die Unbefangenheit der Auffassung
der Empfindungs-Vorgänge und die durch keine vorgefassten Theorien
behinderte Auffassung der Erfahrungen des Gefühlslebens; viertens,
durch die gänzliche Ueberwindung des Affectes: der Weltschmerz
ist zum reinen affectlosen Wissen vom Leid des Daseins ge-
läutert. Fünftens, durch die Allseitigkeit mit der die Consequenzen
der pessimistischen Erkenntniss auf die practische Lebensgestal-
tung gezogen sind, und endlich, wegen des Resultates zu dem diese
führen: zur Versöhnung mit dem Leben und der Welt, zum
Zweck einer eventuellen Welterlösung, statt der Lebensentzweiung
zu der die andern Formen des Pessimismus führen; mit welcher
Versöhnung nicht nur trotz, sondern recht eigentlich auf Grund
des pessimistischen Bewusstseins erst der Thatsache der innern Er-
fahrung Gerechtigkeit widerfährt. Jener Erfahrung nämlich, dass
auch nach völliger Resignation auf Glück der Mensch der Gegen-
wart, der endliche Geist auf der jetzigen Stufe des Weltprocesses
sein Leben bejaht, und zwar es bejaht als denkender Geist, nicht
bloss als Düpe der Natur. —
Wenn wir daher in den folgenden Capiteln ohne weitern Zu-
satz vom „philosophischen Pessimismus" reden, so ist damit stets
der Pessimismus gemeint, wie er von Hartmann ausgestaltet
worden ist. —
seins in der modernen belletristischen Literatur gefunden hat, brauchen wir
wohl nicht zu erwähnen, da unsere Leser ohne Zweifel hinlänglich damit
bekannt sind.
Zweiter Theil.
Die neueste Reaction gegen den Pessimismus.

VI. Capitel.

Die Bekämpfung des Pessimismus


vom Standpunct des naturalistischen Op-
timismus.

i. Die individuelle Verschiedenheit als angeblicher


Grund der Unmöglichkeit einer Lust- und Unlust-
Bilanz.

Obgleich der moderne philosophische Pessimismus als das Pro-


duct einer langen Gedankenentwickelung vor uns steht, so ist seine
Stellung in der Gegenwart doch durchaus nicht eine unangefochtene.
Jener Optimismus eines Leibniz und der Popular-Philosophen des
18. Jahrhunderts beherrscht noch weite Schichten der Denkenden,
denn er findet seine Stütze an dem instinctiven Lebensdrang
der Jugend, an dem Wunsche jedes Lebewesens und endlich an
dem Dogma des Theismus von der Priorität der Intelligenz in
der Natur des Absoluten. Die Opposition gegen die Weltanschau-
ung des Pessimismus ist seit dem Erscheinen der „Phil. d. Unb."
in einer grossen Menge liter arischer Productionen laut geworden,
die wie das genannte Erstlingswerk E. von Hartmann 's sich an
die gebildete Welt im Allgemeinen wendet. Philosophen von Fach,
Theologen jüdischen, katholischen und protestantischen Bekennt-
nisses und Schriftsteller der verschiedensten Richtungen haben sich
am Kampfe gegen eine Weltanschauung betheiligt, die ihnen ge-
fährlich erscheint, die jedoch täglich und unaufhaltsam an Terrain
gewinnt, und der sie selber je länger je mehr Concessionen zu
machen sich gezwungen sehen.
180 -Die Bekämpfung d. P. v. Standp. d. naturalistischen Optim.

Diese Opposition des Optimismus dem Leser darzustellen und


die vorgebrachten Gründe der Gegner auf ihre Stichhaltigkeit hin
zu prüfen ist nun die Aufgabe der folgenden Capitel.

Bei den meisten Kritikern gehen die beiden Behauptungen


Hand in Hand: es sei ein Urtheil über das Verhältniss von Lust
und Unlust unmöglich, und es seien die wortführenden Pessimisten
abnorm empfindende Naturen, welche dem eudämonologischen Ver-
hältniss der verschiedenen Lebensfactoren nicht gerecht zu werden
vermöchten; von diesen beiden Behauptungen schliesst aber immer
die eine die andere aus. Wenn es sich nachweisen Hesse, dass ein
Abschätzen der Lust- und Unlustquantitäten unmöglich sei, so ge-
nügte das, um den Pessimismus als philosophische Theorie
zu stürzen; der Versuch, nun auch noch nachzuweisen, dass die
Pessimisten unglücklich angelegte Naturen seien, und dass die
Welt reicher an Lust sei, als ein Schopenhauer und Hartmann
behaupteten, wäre nicht nur überflüssig, sondern widerspruchsvoll;
denn die Behauptung, Schopenhauer's und Hartmann's Urtheil
über das Verhältniss von Lust und Unlust sei falsch, setzt ja
voraus, dass ein solches Urtheil überhaupt möglich und nur aus
gewissen Gründen hier nicht correct vollzogen worden sei. Sobald
man sich damit abgiebt, zu zeigen, wie Schopenhauer oder
Hartmann es da oder dort an der nöthigen Objectivität haben
fehlen lassen, wie sie ihr subjectives Empfinden unberechtigter
Weise als das allgemeine Empfinden ausgeben wollten, so setzt man
damit voraus, dass es doch wirklich einen objectiv gültigen Werth-
messer gäbe, wenn auch die modernen Pessimisten nicht über den-
selben verfügten. Wer also behaupten will, dass sich nichts All-
gemeingültiges über das Lust- und Unlustquantum des Seins aus-
sagen lasse, wer Lasson beistimmt: dass die Pessimisten eigent-
lich nichts anderes behaupten könnten, als dass sie sich elend
fühlten, der darf auch nicht versuchen, die von den Pessimisten
als eudämonologisch werthlos bezeichneten Lebensgüter und Formen
zu verherrlichen, denn sonst kann man ihm entgegnen, dass er
damit eben nichts weiter constatire, als dass er sich momentan
wohl befinde, und ebenfalls ein subjectiv gefärbtes Urtheil abgebe.
Betrachten wir nun aber einmal den Einwurf: es sei eine Ab-
schätzung des Lust- und Unlustverhältnisses unmöglich auf seine
Stichhaltigkeit. Die vorgebrachten Gründe für diese Behauptung
sind verschieden; erstens sollen die individuellen Differenzen
der Reactionsmodi auf die äusseren Einwirkungen ein allgemein
gültiges Abschätzen unmöglich machen; zweitens soll letzteres ver-
hindert werden durch die Unvergleichbarkeit der aus sinn-
Die individuelle Verschiedenheit etc. 181

liehen und geistigen Ursachen resultirenden Gefühle der


Lust und Unlust.
An diese Beiden schliesst sich dann auch in der Regel die
dritte, auch selbstständig auftretende Behauptung an, die pessimi-
stischen Werthurtheile beruhten auf falschen psychologischen
Voraussetzungen: indem nämlich das Gefühl seiner primären
Stellung entsetzt und zu einem blossen Accidens des Willens ge-
macht werde, gehe es seiner speeifischen Eigenthümlichkeit ver-
lustig und erscheine, zu einem leeren, haltlosen Gehäuse geworden,
allerdings eher geeignet als Material eines sonst unmöglichen Sum-
mationsverfahrens zu dienen. Darin ist zugleich die Meinung ent-
halten: der angebliche empirische Nachweis des Pessimismus sei
dies nicht, sondern nur aus einer Theorie abgeleitet.
Was nun den ersten Punct betrifft, so ist gewiss zuzugeben,
dass innerhalb eines gewissen weiten Umkreises die Empfindungen
subjectiv ungemein schwankend sind, so dass nicht nur den Einen
etwas völlig unberührt lässt, was dem Andern eine ausgesprochene
Lust, resp. Unlust ist, sondern dass auch dem Einen etwas positiv
lustvoll sein kann, was dem Andern eine grosse Unlust ist (oder
vice versa). Dieses Feld der Gefühlsdifferenzen wird innerhalb der
Species bestimmt durch Alter, physisch stärkere oder schwächere
Constitution, blühenderen oder gehinderteren Lebensprocess, durch
Gewöhnung, durch Vorstellungen, die sich mit den die Empfindung
unmittelbar auslösenden Eindrücken verbinden, sowie durch die auf
diesen sich aufbauenden Ideen und Theorien; durch die Combi-
nation der jeweilig mit einander auf den Gesammtorganismus ein-
wirkenden Verhältnisse, und endlich durch eine (der detaillirten
Analyse sich in der Regel gänzlich entziehende) Verbindung einer
Menge somatischer und psychischer Zustände.
Unterschiede ausserhalb der Species kommen in erster Linie
nicht in Betracht; dass die Lallenburger dem Aal kein Leides
gethan, als sie ihn in ein tiefes Wasser warfen, ist natürlich ebenso
einleuchtend, als dass wir das Schwein nicht zu bedauern brauchen,
dass es Träbern frisst, während die Menschen sehr zu bedauern
sind, die sich schier jahraus-jahrein von Cichorien-Kaffee und Kar-
toffeln oder Polenta mit etwas schlechtem Käse nähren müssen,
trotzdem sie es mit leidlich gutem Humor thun, so lange es ihnen
unbewusst bleibt, wie ihre somatische und indirect ihre intellectuelle
Constitution darunter leidet.
Die Beispiele sind sehr zahlreich, die man für die individuellen
Verschiedenheiten der Gefühlsreactionen anführen könnte, und
braucht man dabei noch nicht einmal die Gegensätze an den
äussersten Grenzen der variantenreichen Species homo zu suchen,
noch die Extreme von Kindheit und Greisenthum herbeizuziehen.
182 -Die Bekämpfung d. P. v. Standp. d. naturalistischen Optim.

Schon blosse Standes- und Erziehungsunterschiede genügen, um


dem Einen das zum Unbehagen, ja wenn dauernd, zur Qual zu
machen, was dem Andern eine Behaglichkeit oder Lustbarkeit ist.
Ja, selbst innerhalb des physiologisch-psychischen Gebietes, wo es
sich um Resonanz der Seele mit Lust oder Unlust
die unvermittelte
auf specifische Sinneseindrücke, ohne Antheil von höheren synthe-
tischen Vorstellungen handelt, finden bedeutende Unterschiede der
Individuen statt.
Die Linie, wo Indifferenz in Folge von specifischen Sinnes-
eindrücken einerseits in Unlust, anderseits in Lust übergeht, zeigt
bei verschiedenen Personen sehr verschiedene Höhen- und Tiefen-
schwankungen, und noch bedeutendere Kurven zeigt die Linie, wo
es sich um die Resonanz auf intellectuelle Wahrnehmungen han-
delt. Aber absolut verschieden sind die Verhältnisse nicht,
und nun tritt uns auch schon ganz ungesucht eine Thatsache ent-
gegen, welche für die pessimistische Theorie spricht: es giebt einen
Punct, wo alle individuellen Unterschiede der Constitution auf-
hören und jeder Mensch Schmerz empfindet. Eine Dame, z. B.
empfindet schon Schmerz, wenn sie ihre Hand in Wasser von
40 Grad R. eintaucht; der Käser arbeitet ohne Unbehagen in der
auf 60 Grad R. erhitzten, zur Käsegerinnung bestimmten Milch
mit seinen Händen und entblössten Armen herum; bei 70 Grad
aber brennt es ihn gerade so unerträglich wie die zarte Dame,
und Flüssigkeit von 80 Grad Wärme hat bei gleich langer Ein-
wirkung auf eine zarte oder eine dicke Haut ganz die gleiche
brühende Wirkung. Dagegen giebt es keine Grenze, über welche
hinaus für jeden Menschen positive Lust entstehen muss; die
negative Lust, die Contrast-Lust, durch Nachlassen eines Schmerzes
oder einer Unlust, darf allerdings als überall ziemlich überein-
stimmend eintretend angenommen werden, aber ihre Intensitäts-
scala stimmt durchaus nicht mit derjenigen der Empfindlichkeit
für Schmerz überein. Das heisst also: dass derjenige, der sehr
empfindlich ist, dessen Seele schon auf gelinde Ein-
objectiv
wirkungen mit Unlust oder Schmerzgefühl nicht auch
reagirt,
gleich energisch in der Lustproduction ist, wenn ein Schmerz vor-
hergegangen ist; es zeigt im Gegentheil die Erfahrung, dass bei
sehr sensitiven Personen die angenehme Reaction auf einen Schmerz
nur gleichsam wie zögernd auftritt, besonders im sinnlichen Ge-
biete, wo häufig der Unlust ein Ermüdungsgefühl nachfolgt, welches
kaum Raum für die Contrastlust übrig lässt.
Bei Lust und Unlust als Seelenresonanz auf gemüthliche oder
geistige Erregungen ist die individuelle Verschiedenheit noch grösser
als im physiologischen Gebiet, aber auch hier lässt sich ein eng-
umgrenzter Kreis ziehen, in Bezug auf den ein Dritter mit voller
Die individuelle Verschiedenheit etc. 183

(Sicherheit sagen kann, dass jemand, der sich in einer diesem Kreise
angehörigen Situation befindet, Lust oder Unlust empfinden müsse;
und zwar kann dies mit grösserer Sicherheit nach der Seite der
Unlust hin geschehen. Der Grad der Lust oder Unlust, die Inten-
sität des Gefühles, lässt sich freilich nicht von einem Dritten ab-
schätzen, und sogar vom Subject des Empfindens nur approxima-
tiv. Denn um ein positives Maass zu gewinnen, müsste es zwei
Gefühle gleichzeitig empfinden können; die Empfindung aber
ist immer einzeitig, auch einfach, d. h. es ist für ein Empfindungs-
zcentrum in einem Zeitmoment nur je eine Empfindungsreaction
möglich, und was man als gemischte Empfindung zu bezeichnen
pflegt, ist entweder der rapide Wechsel zweier oder mehrerer Em-
pfindungsmomente, oder eine Empfindung als Synthese von zweien
oder mehreren vorhergegangenen Empfindungen, welche nachträg-
lich wieder analytisch gewonnen werden können, wenn sich die
.Reflexion mit diesem Interesse auf die Empfindung richtet.
Man muss den Gegnern des Pessimismus zugestehen, dass die
Intensität von Lust und Unlust sich nicht durch irgend ein be-
stimmtes Maass ausdrücken lässt; man kann nur sagen: ich fühle
einen grossen Schmerz oder eine nur geringe Freude, aber wie
gross der Schmerz und die Freude ist, das auszudrücken, giebt es
weder Gefühlsmeter noch Empfindungskilo. Man kann auch nicht
sagen: der Schmerz einer Mutter über den Tod eines Kindes ist
grösser als über den Tod des Gatten (oder umgekehrt), oder der
Verlust der Braut wiegt schwerer als der der Gattin, oder das
Bewusstsein mangelnder künstlerischer Begabung ist minder un-
lustig als dasjenige über moralische Schwäche (oder umgekehrt).
Aber in allen Fällen, wo eine Mutter ihr Kind, ein Mann den
Gegenstand seiner Wahlverwandtschaft verliert, kann man mit Ge-
wissheit sagen: er oder sie sind im Zustand der Unlust, und ebenso
wenn sich jemand im Zustand der Selbstkritik befindet. Es bietet
aber schon die einfache psychische Zuständlichkeit der Lust resp.
Unlust schlechthin genügenden Anhalt, um eine Bilanz im Sinne
des modernen Pessimismus (speciell Hartmann's Pess.) zu recht-
fertigen.
Bei der axiologischen Frage handelt es sich in erster Linie um
die einfache Lust oder Unlust und deren zeitliche Verhältnisse zu
einander; erst in zweiter Linie steht die Frage nach den Variatio-
nen, welche dieses Verhältniss auf den verschiedenen Stufen der
geistigen und physischen Organisationen erleidet. Wenn nun auch
der Kreis ein enger ist, innerhalb dessen mit voller Gewissheit ein
Urtheil über das Vorhandensein von Unlust oder Lust gefällt
werden kann, so hat doch gerade die Beschränkung auch wieder
den Vortheil, dass die Fälle, welche er umschliesst, um so allge-
184 Die Bekämpfung d. P. v. Standp. d. naturalistischen Optim.

meiner sind. Mit anderen Worten: je enger der Kreis gezogen


wird, der die mit Sicherheit eudämonologisch abschätzbaren Verhält-
nisse in sich fasst, um so weiter wird die Sphäre der Menschen,
welche jenen Verhältnissen unterliegen, ohne Rücksicht auf Zeit-
alter, Nationalität, Race und Stand; ja, so weit es sich um phy-
sische Verhältnisse handelt, können auch die höheren Thiere mit
in die zu beurtheilende Sphäre hineingezogen werden. (Man denke
an Hartmann's Erörterungen über den Hunger und die physische
Liebe.)
Diese Sphäre der Uebereinstimmung ist von grosser Wichtig-
keit; nicht nur ist die über ihr berechtigtes Gebiet hinausge-
führte Betonung der individuellen Verschiedenheit und der daraus
folgen sollenden Unmöglichkeit eines axiologischen Urtheils eine
Beschränkung des philosophischen Reiches, sondern sie wird für
die Praxis gefährlich, weil sie zur theoretischen Ent-
schuldigung der mangelnden Sympathie mit der Mit-
creatur wird.

2. Die angebliche Unvergleichbarkeit der aus ver-


schiedenen Quellen stammenden Gefühle.

Wir haben im 3. Capitel gesehen, dass schon Maupertuis


ganz klar und deutlich auseinandersetzte, wie eine Lust resp. Un-
lust rein als solche ganz dieselbe ist, gleichviel ob ihre Ursache,
und damit ihre inhaltliche Bestimmung, eine durch die Sinne ver-
mittelte oder durch seelische und intellectuelle Actionen hervor-
gerufene sei; dass Lust resp. Unlust eben einfache Seelenreactionen
seien, die sich unter einander nur durch die Dauer und durch die
Intensität unterschieden, während alle anderen Merkmale und
Unterschiede der Vorstellung angehören, an welche sich die
Seelenmodi der Lust oder Unlust anhefteten.
Wir haben ferner gesehen, dass Kant diese Meinung durch-
aus theilt und hervorhebt, dass wenn es nicht so wäre, man
nicht darüber calculiren könnte, ob man auf eine sinnliche Lust
zu Gunsten einer geistigen Befriedigung (resp. vice versa) ver-
zichten sollte oder nicht, ganz ähnlich, wie später Hartmann,
die von ihm ebenfalls adoptirte Theorie an einfachen Beispielen
illustrirend.
Es fällt uns nicht ein anzunehmen, die Kritiker Hartmann s
hätten von dieser doppelten Vorgängerschaft keine Kenntniss ge-
habt; es wäre diese Annahme ja für die Herren eine beleidigende;
Die angebliche Unvergleichbarkeit etc. 185

es ist daher fast erstaunlich, dass sie die Theorie einfach als Hart-
mann's Aufstellung kritisiren. Wahrscheinlich thun sie dies der
Einfachheit zu Liebe; dabei ist dem grossen Publicum, welches nicht
den Anspruch erhebt, sich in solchen Fragen eine eigene Meinung
zu gründen, sondern sich gerne belehren lässt, die eigene abwei-
chende Meinung der Herren Kritiker leichter plausibel zu machen,
als wenn die gegnerische Ansicht durch die Autorität eines Kant
verstärkt wird.
Die Opposition gegen die Maupertuis- Kant -Hartmann'sche
Theorie geht durch die ganze Pessimismus-Kritik hindurch, von
Haym (Preuss. Jahrbücher 1872) bis zu den neuesten Kund-
gebungen eines Hugo Sommer und A. Horwicz; und aus dem
Auslande tönt ein Echo zurück. Ja, einem J. Sully passirt sogar
das lächerliche Missgeschick, Hartmann dahin misszuverstehen:
Lust und Unlust unterschieden sich bloss quantitativ, was den
gelehrten Engländer veranlasst, diese Ansicht „extremely curous"
zu nennen.
Die vorgebrachten Gründe sind zum Theil noch dieselben,
wie zur Zeit als Maupertuis um seiner Theorie willen angegriffen
wurde:, man glaubt darin eine Hinunterwürdigung der höheren
geistigen Befriedigungen durch die sinnliche Lust zu sehen, und
meint, dadurch dass man die geistige Lust zu etwas unvergleichlich
Anderem als das unmittelbar sinnlich vermittelte Behagen erklärt,
eine optimistische Weltanschauung auf höherer, sozusagen über-
natürlicher Basis zu retten.
Maupertuis' Wort, dass die grösste Lust die edelste sei,
ist ein Ausspruch, der allerdings leicht zu Missverständnissen
führen kann, und seine Berechtigung nur innerhalb einer indivi-
dual-eudämonistischen Weltanschauung (wie solche Maupertuis mit
seinen Zeitgenossen theilt) findet, die aber nicht für Hartmann's
tragisch-ethischen Standpunct passt.
Hier ist die Lust, deren objective Ursache eine neue wissen-
schaftliche Entdeckung oder der Sieg über eine böse Neigung ist,
oder die Lust, die aus liebevoller Thätigkeit für seine Nächsten
u. s. w. resultirt, allerdings „edler" als die Lust, die ein guter
Bissen verursacht; aber bei der Frage, ob mehr Lust oder mehr
Unlust in der Welt sei, handelt es sich nicht um ethische oder
logische Qualitäten der Gefühle, sondern einfach um deren quanti-
tative Verhältnisse. Maupertuis und Hartmann sind darin aber
auch ganz gleicher Ansicht, dass innerhalb der auf höheren Cultur-
stufen stehenden Menschheit eine grössere Summe yon Lustmo-
menten aus geistigen Genüssen zu ziehen sein möchte als aus
primär sinnlichen, weil die ersteren dauerhafter sind und keine na-
türliche unlustige Reaction im Gefolge haben, ihre Erreichbarkeit
£8(3 Die Bekämpfung d. P. v. Standp. d. naturalistischen Optini.

auch weniger von objectiven Zufälligkeiten abhängt; eine Wahr-


übrigens schon die Weisheit Epikurs enthielt.
heit, die

Bei der axiologischen Frage handelt es sich direct nicht dar-


um, woher die Lust resp. die Unlust stammt, sondern darum,
wie viel von jeder vorhanden ist, und die Forschung nach dem
psychologischen Process des „Wie" und „Woher" der verschiedenen
Empfindungen hat nur Bedeutung, weil sie das Verständniss des
durch unmittelbare Erfahrung Gewissen ermöglicht.
Hartmanns Kritiker, welche sich den Anschein von grosser
wissenschaftlicher Genauigkeit geben wollen, scheinen der Meinung
zu sein, es sei nöthig, die durch ihren Inhalt und ihre Ursache
verschiedenen Gefühle qualitativ gegen einander abzuschätzen, und
indem sie nun die Unvergleichlichkeit sinnlicher und geistiger Lust
(resp. Unlust) fälschlicher Weise behaupten, sehen sie hierin den
Beweis für die von uns zugestandene Unmöglichkeit eines objectiv
bestimmbaren Intensitätsmaasses für Lust und Unlust. Ferner soll
es dadurch unmöglich werden, das sich gegenseitige Bekämpfen
und eventuelle Aufheben von Lust und Unlust festzustellen, wel-
ches letztere ebenfalls irrthümlicherweise als Vorbedingung für
eine allgemeine Bilanz von Lust und Unlust gilt.
Citiren als Beispiel A. Horwicz
wir (Phil. Monatshefte
XVI. B., IV.V. Heft 188ü). Dieser meint, Voraussetzung der
u.
Bilanz sei, dass die reale Lust und Unlust sich in Realität so ent-
gegengesetzt seien wie in der Mathematik und + —
oder wie im ,

Geschärtsieben Vermögen und Schulden; ferner dass alle einzelnen


Lustgefühle, Güter, Freuden u. s. w. unter sich summirt werden
könnten, mit ihren Gegensätzen sich aber ausgleichen (p. 267).
Dies sei aber nicht der Fall; unsere Gefühle seien nicht gleichbe-
nannte Zahlen, sondern jedes Gefühl ein Ding eigener Art, und der
Gedanke an eine Gefühlsbilanz mahne an den Versuch, „Ochsen,
Schafe, Aepfel, Birnen und Stiefelknechte" zu addiren. Es sei ferner
sehr selten, dass das Zusamm entreffen verschiedener Lustwerthe mit
a, b r c und d den vollen Lustaffect a b + +
c +- d ergäbe, son-
dern verschiedene Factoren störten einander und drückten sich
wechselseitig herab.
Hierauf geben wir zu bedenken: Die aus verschiedenen Quellen
stammenden Lustwerthe sind nicht incommensurabel wie Vieh und
Obst und Stiefelknechte; nur ihr Inhalt zeigt specifische Unter-
schiede, nicht aber ist ein Genus- oder gar Classen-Unterschied
vorhanden, denn das ihnen allen Gemeinsame ist, dass sie Ge-
fühle sind; sofern sie aber Lust und nichts anderes als Lust sind,
sind sie gleichbenannte Zahlen. Ich kann auch Vieh, Obst und
Stiefelknechte zu gleichbenannten Zahlen machen, indem ich sie ein-
Die angebliche Unvergleichbarkeit etc. 187

fach als meine Objecte bezeichne, und so die Zahl der Objecte
feststellen kann.
Wer die Unvergleichlichkeit der verschiedenen Lustwerthe und
Unlustmomente vertheidigt, von dem könnte man vor allem eine
genaue Bestimmung der Grenze erwarten: wo sinnliche Lust auf-
hört und geistige Lust beginnt. Die Extreme zu bezeichnen, ist
nicht schwer; die Lust an einem guten Glas Wein ist sinnlich, die-
jenige über eine mit Selbstverleugnung vollzogene That geistiger
Art; aber wohin rangirt die Lust, die ich empfinde beim Anhören
der 9. Symphonie Beethovens, und wohin diejenige über einen Walzer
von Chopin und einen solchen von Strauss oder Lanner?
Da unsere Sinne alle und jede
Ideen, auch die abstractesten,
so ist eine saubere, un-
directer oder indirecter produciren helfen,
bestreitbare Unterscheidung unmöglich, und die einfache Unter-
scheidung des alten Maupertuis noch ganz genügend, schon des-
wegen genügend, weil sie für das axiologische Problem wenig zu bedeuten
1

hat. Sehr richtig ist hingegen Horwicz Bemerkung, dass ver-


schiedene Lustwerthe nicht die volle Summe ihrer Einzelwerthe er-
geben. Aber, wenn sie sich oft gegenseitig hinuntersetzen und oft
gar unterdrücken, so spricht dies ja für, nicht gegen den Pessi-
mismus; besonders deswegen: weil bei den Unlustmomenten das
Gegentheil die Regel ist, nämlich, dass Unlust a und Un-
lust b nicht bloss die Summe a +
b, sondern häufig a b aus- x
machen.
Als Beispiel denke man an einen Mann, der krank ist und
weiss, dass seine Krankheit ihn für lange Zeit arbeits- und somit
erwerbsunfähig macht, der sich aber über letztern Panct keine
Sorge macht, weil ein früher erworbenes Kapital ihn aller mög-
lichen Verlegenheit überhebt. Dieser Mann bekomme nun die Kunde,
dass seine Nothpfennige in einem Bankrott unrettbar verloren sind;
wird da das Unlustmoment der Krankheit sich nicht mit dem Unlust-
moment der Verarmung multipliciren?
Es ist ferner richtig, dass sich Lust und Unlust nicht derart
von einander abziehen wie n-Schulden von m- Vermögen.
lassen,
Wenn ich eine Lust empfinde, die ich mit +
10 bezeichnen will,
und Herauf eine Unlust an mich herantritt, die für sich 5 sein —
möchte, so bleibt nicht etwa Lust +
5 übrig, während die Unlust
ausgetilgt wird. Das Verhalten von Lust und Unlust ist vielmehr
ein überspringendes; entweder meine Lust hat so starke Wur-
zeln, dass für eine gewisse Zeit keine Unlust oder doch nur eine
solche r deren negative Ziffer ganz bedeutend grösser ist als die
positive Ziffer der Lust, dagegen aufkommen kann, oder aber die
Unlust siegt, und dann ist auch der Lustwerth 10 mit einem +
188 Die Bekämpfung d. P. v. Standp. d. naturalistischen Optim.

mal ausgewischt und die Seelenverfassung ist Unlust 5. —


Wird
hierauf die Ursache der Unlust beseitigt, so kann auch die Lust
p

plötzlich wieder in voriger Stärke vorhanden sein, oder aber auch


erhöht oder erniedrigt; oder es kann eine Gefühlsstille herrschen,
die das Subject weder als Lust noch als Unlust zu bezeichnen
vermag.
Es ist nun aber ein Irrthum, anzunehmen, es sei die Einsicht
in den psychologischen Process der sich gegenseitig ablösenden,
sich beschränkenden, aufhebenden, modificirenden und multipliciren-
den Lust- und Unlustgefühle die Vorbedingung der Möglichkeit
eines Urtheils über das Verhältniss von Lust und Unlust. Es han-
delt sich bei letzterem nicht um
die reale Compensation der
actuellen Gefühle in dem sie jeweilig Empfindenden, sondern um
die begriffliche Compensation der schlechthin seienden, gleich-
viel wie entstandenen Gefühle für den Betrachtenden. Es handelt
sich um den Vergleich der beiden Summen der Lust- und Unlust-
momente als objectiv gegebener, ohne Rücksicht auf das „Wie*
des Entstehens. Es gilt zu entscheiden, ob innerhalb einer ge-
wissen Zeit ein Individuum mehr Momente hat, wo es Lust em-
pfand, oder mehr Momente, wo es unlustig fühlte, und wie sich bei
der Mehrzahl der Empfindungswesen die Differenz stellt.
Man kann allerdings nicht bestimmen, „wie viel Nativ- Austern
für den begeisterten Patrioten die Schlacht von Sedan werth ge-
wesen ist" (Horwicz), aber für das axiologische Urtheil kommen
die Austern als leckere Speise und die Siegesfreude einfach als
zwei verschiedene n-werthige Lustcomplexe in Rechnung, gleichviel
ob das Gefühl des Feinschmeckens und die Siegesfreude inhaltlich
unvergleichlich sind. Es kommt dann aber auch ins Conto der
Unlust: der Schmerz der französischen Patrioten, die Un-
lust der Strapazen der die Schlacht Schlagenden, die Leiden der
Verwundeten und Sterbenden und die Trauer der Angehörigen der
Letztern; ferner bezüglich der Austern der ohne Zweifel unlustvolle
Zustand derselben, vom Moment, wo sie der Bank enthoben wur-
den, bis sie ihr dumpfes Leben enden; dagegen kommt auf's Conto
der Lust bei der Sedan- Angelegenheit die Freude über Beförderungen,
Tapferkeitsmedaillen u. s. w., bei den Austern aber der eventuelle Ge-
winn für Züchter, Fischer und Händler. Wie wird sich nun aber
wohl die Bilanz stellen? Wir glauben nicht, dass eine Schlacht und
eine Austernernte ein Glückssaldo zum Uebertragen in die Weltrech-
nung liefern wird.
Horwicz meint ferner, es sei auch eine unmögliche Forde-
rung, vergangenes und gegenwärtiges Gefühl zu summiren und bilan-
ciren, denn Manches verursache uns jetzt Unlust, was uns früher
Lust bereitet, oder umgekehrt.
Die angebliche Unvergleichbarkeit etc. 189

Hier ist aber beides, die damalige Lust und die jetzige Unlust,
in die Bilanz einzustellen, unbekümmert um unsere jetzige Stellung
zu den in früheren Zeiten Lust, resp. Unlust verursachenden Ob-
jecten oder Geschehnissen. Es ist allerdings sehr schwer, einen
vergangenen Zustand nach seinem damaligen Werthe zu beur-
theilen;wenn auch Hartmann Recht hat, dass der Instinct im
Dienste des Erhaltungstriebes das Urtheil gerne optimistisch färbt,
so sind doch auch wieder die Fälle zahlreich, wo einem vergangene
Zustände schwerer erscheinen, als sie empfunden worden, weil ent-
weder unsere Lebensauffassung eine ernstere wurde, weil wir die
erleichternde Wirkung der Illusionen und der Hoffnung jener ver-
gangenen Zeit nicht mehr in Anschlag bringen, oder weil wir in-
zwischen verwöhnter und zugleich weniger lebenslustig geworden
sind. Darum hat Hartmann Recht, dass ein Anderer oft besser
als das Subject der fraglichen Empfindungswechsel die Bilanz zu
ziehen vermag.
Das meint auch J. Sully zu Gunsten des Optimismus: wenn
ein Mann in gewissen Zuständen und Verhältnissen lebe, so hätten
wir das Recht, ihn glücklich zu nennen, auch wenn er selber sein
Glück geringe schätze. So können auch wir mit noch grösserer
Gewissheit eine Menge Lebensverhältnisse als auf der negativen
Seite der Glücks- und Unglücks-Scala stehend bezeichnen, selbst
wenn sich ihre Träger in Folge der kurzen Momente der Contrast-
Lust, wie sie ein jeder Kampf, auch der mit den widrigsten Ge-
schicken, bietet, und im starken Lebensdrange über den eudämono-
logischen Gesammtwerth ihrer Existenz täuschen.
Es meint endlich Horwicz^ es sei die Einheit des Subjects
Bedingung für die Bilanz; diese Einheit komme aber nur Gott zu,
für den wir nicht urtheilen dürften. Die Einheit des Wesens aller
Creatur, welche die andere Seite davon ist, dass Gott das allge-
meine Subject sein könnte, ist die Bedingung, dass man innerhalb
jenes schon erwähnten engen Kreises mit Bestimmtheit den Zustand
des Andern taxiren kann, trotz der Mehrheit der Empfindungssub-
jecte. Es beruht ja alles sittliche Handeln nach dem Princip des
Social-Eudämonismus auf der Schätzung von fremder Lust und
Unlust, wie alles individual-eudämonistische Streben auf dem Ab-
schätzen und Vergleichen eigener gegenwärtiger und zukünftiger
Lust und Unlust beruht, obgleich das Bewusstseinssubject, welches
ich jetzt mein «Ich" nenne, nicht dasselbe ist, welches sich über einem
Jahr über diesem Organismus erheben wird, und ich keine positive Ga-
rantie habe, ob „Ich" in einem Jahr noch gleich empfinden werde wie
heute. Daher sind denn zwar allerlei Irrthümer über den Werth
eines künftigen Zustandes möglich, aber im Grossen und Ganzen
ist doch ein Urtheil möglich, und die totale Unmöglichkeit eines
190 Die Bekämpfung d. P. v. Standp. d. naturalistischen Optim.

solchen vorsehenden Abschätzens würde allem Handeln den ina-


terialen Boden nnter den Füssen entziehen.*)

3. Die angebliche Unwissenschaftlichkeit der Hart-


mann'schen Lust- und Unlust -Bilanz.

Es liegt ein entschiedener Missbranch der Begriffe „subjectiv"


und „objectiv" vor, wenn man dem „Gefühl" um
seiner Subjec-
tivität willen die „Thatsächlichkeit" abstreiten will, und, wie
R. Seidel („ Grenzboten * 1879 Nr. 16), dasselbe deswegen für nicht
zur Unterlage der Induction geeignet erklärt. Es ist uns eben
keine Objectivität gegeben, ohne dass sie durch das Thor der Sub-
jectivität eingegangen sei, und was dem Inductionsmaterial des
Pessimismus zum Theile an der Fähigkeit abgeht, allgemein con-
trollirt zu werden, das hat es wiederum an der Unmittelbarkeit
voraus, mit welcher der objective Torgang sich dem, die Beobach-
tung vornehmenden Subjecte als sein (nunmehr selbst subjectiver)
Inhalt hingiebt.
Es ist eine beliebte Manier mancher Kritiker, die angebliche
Unwissenschaftlichkeit des Hartmann'schen Pessimismus in solchen
Ausdrücken kund zu thun, dass dem naiven, wissenschaftsgläubigen
Leser der Glaube aufgehen möchte, es wäre allerdings möglich in
„exactwissenschaftlicher" Weise, etwa im Gebiete der Psycho-Phy-
siologie das Yerhältniss der Lust- und Unlustempfindungen fest-
zustellen, es liege mithin bei den modernen Pessimisten ein Ver-
säumniss vor. So meint Sully es bestehe noch keine „Wissen-
schaft des Hedonismus."
Soll nur das „Wissenschaft" heissen, was gewogen und ge-
messen, chemisch analysirt und mit dem Mikroskop geschaut wer-
den kann, dann ist keine Wissenschaft des Hedonismus und keine
wissenschaftliche Lösung des axiologischen Problems möglich; man
darf dann aber auch nicht von der Psychologie als von einer
Wissenschaft sprechen, da auch diese dann nur eine Kunde ist, zu
der die gefühlsmässige Erfahrung den besten Theil geliefert hat.
Die Physiologie kann nachweisen, wie gewisse Einwirkungen von
aussen und gewisse spontane, dem Organ specifische Actionen auf
die empfindungs- vermittelnden Nerven oder das Gehirn (als das
materielle Correlat der Psyche) einwirken, und wie dieselben sie

*) Vgl. zu dem hier über Horwicz gesagten: E. v. Hartmann, „Zur


Pessimismus-Frage"; Phil. Monatshefte 1883, pp. 71—80. Diese Abhandlung
kam uns erst, nachdem dieses Capitel geschrieben war, zu Gesicht.
Die angebliche Unwissenschaftlichkeit etc. 191

quantitativ und qualitativ verändern, sowie welcher Art die Ver-


hältnisse und Bedingungen ihrer vegetativen Förderung oder Schä-
digung sind. Von der vermittelst der äussern Sinne zu Consta-
tirenden materiellen Veränderung am thierischen, halbtodten Ob-
ject (bei der Vivisection) zu der lebendigen Empfindung ist es
aber ein gewaltiger Sprung, und das Band, welches das Resultat
des physiologischen Experimentes mit der seelischen Selbsterfah-
rung knüpft, ist viel mehr das der unmittelbaren instinctiven Ueber-
zeugung als ein wissenschaftlicher Beweis.
Bezüglich des Verhältnisses von Lust und Unlust kann daher
das Zugeständniss an die Naturwissenschaft nicht weiter gehen als
bis zur Acceptirung des Satzes: Förderung der organischen Ge-
bilde und ihrer Lebensbedingungen wird als Lust, Gefährdung,
Minderung derselben als Unlust empfunden.
Die Verwendbarkeit dieses Satzes zum Lust- und Unlust-
Problem wird nun aber wieder erheblich eingeschränkt. Erstens
durch die Relativität der Individualität und zweitens durch die
Natur des Processes der Bewusstseinsentstehung.
Jedes höhere Individuum, bei dem wir durch annähernde Ueber-
einstimmung seiner organischen Bildung mit unserem Organismus
auf analoge Empfindungsvorgänge sehliessen dürfen, ist kein ein-
faches Individuum, sondern eine Individuen-Pyramide; was von oben
und von aussen betrachtet als ein Einzelnes erscheint, ist nur das
Einheitspro duct vieler Theile, die alle wieder für sich und in ihren
Gruppirungen Elementar- und Organ-Individuen sind. Jeder leben-
dige Baustein der Individuen-Pyramide ist nun für sich Zweck und
für das über ihn sich erhebende System Mittel; innerhalb gewisser
Grenzen fördert er das über ihm stehende Individuum, dessen Theil
er ist, dadurch, dass er sich selbst fördert; jenseits dieser Grenzen
aber fördert er die höheren Zwecke, sofern er die Selbstbehaup-
tung einschränkt, das eigene absolute Gedeihen opfert. Dies güt
für die Saftzelle im Blatte einer Pflanze, für die Fettzelle im thieri-
schen Organismus, wie für die Person als Bürger der menschlichen Ge-
sellschaft. In allen Fällen steht der Regel, dass das Gedeihen des
Einzelnen das Gedeihen des Gesammten zur Folge habe, die Aus-
nahme zur Seite, dass das Gedeihen des Ganzen das Opfer des Behagens
des Theiles verlangt. Das Gegenstück hierzu bildet die Regel,dass
der Verderb des höhern Individuums den Verderb des Theil-Indi-
viduums nach sich zieht, die Regel zur Regel gemacht durch die
Ausnahme, dass der Nachtheil des Ganzen zur Möglichkeit patho-
logischer Ueberhebung des Theiles dienen kann, welche Ausnahme
aber wieder in ihrem individual-eudämonistischen Werthe beschränkt
wird, durch die Kürze solcher desorganisirenden Vorgänge.
Es zeigt auch die Erfahrung, dass das Wohlbehagen des Ge*
192 Die Bekämpfung d. P. v. Standp. d. naturalistischen Optim.

deihens der niedrigen, einem höhern eingeordneten Individuen auf


die betreffende Stufe beschränkt bleibt, dagegen die Unlust, als
Folge von Störung oder Gefährdung des Theiles, von den höheren
Stufen mit percipirt werden; z. B. Gewebebildung, Zellvermehrung,
bedingt durch dem Zellleben günstige Ernährungsverhältnisse, wer-
den gar nicht empfunden, wohl aber die Zerstörung derselben;
ebenso wird das Bedürfniss nach Nahrungsaufnahme, von dem die
Spitze des höheren Individuums bildenden Ich-Bewusstsein perci-
pirt, dagegen die Sättigung nur als Befriedigung des in Folge
jener Perception erregten bewussten Willens, nicht aber als eine
langsam von Organ zu Organ, Zellgruppe zu Zellgruppe fortschrei-
tende lustvolle Empfindung der Theile wahrgenommen, während
doch jede Verdauungsstörung sogleich in's Central-Bewusstsein über-
geleitet wird.
Es sind schon Hypertrophie und Parasitenbildung von Opti-
misten in's Treffen geführt worden, als angebliches Gegengewicht
der Krankheitsleiden; das ihnen eigene Bewusstsein (Zellbewusst-
sein) ist aber jedenfalls ein sehr dunkles, und während ihre dumpfe
Lust auf ihre Individualsphäre beschränkt bleibt, wird die Stö-
rung, die sie auf die umgebenden Organe ausüben, auf allen
hohem Stufen der Individuen-Pyramide als Unlust und Schmerz
empfunden.
Ein erheblicheres Gewicht in die Waagschale der Lust liefert
jenes Behagen, welches mit den specifischen Sinnesthätigkeiten
verbunden ist. (Sully, Sommer, Horwicz u. A.). Gewiss ist das
Auge lichtfroh, das Ohr tonfreudig, —
man kann es an kleinen
Kindern, an Thieren, an sich selbst hinlänglich erfahren, und —
die so erzeugte Lust ist um so erheblicher, als gerade die speci-
fischen Sinnesfunctionen relativ wenig Behinderungen ausge-
setzt sind.
Aber je höher das Individuum sich entwickelt, je mehr alle
seine Organe in den Dienst geistiger, über das Individuum hin-
auszielender Interessen treten, um so mehr tritt der Reflex der
Lust aus den Sinnes-Organen im Gesammtbewusstsein zurück, und
die Seh-Lust, Hör-Lust, Bewegungs-Lust behauptet sich nur noch
als specifisch färbendes Ingredienz bei den Geistesfunctionen des
Erkenntnisstriebes, des ästhetischen Geniessens, der körperlichen
Arbeit u. s. w.
Gewiss ist bei dem Genuss der Musik, dem Genuss eines Ge-
mäldes, einer Landschaft, der Betrachtung einer bewegten Strassen-
scene, und ebenso bei dem Behagen an einer nutzbringenden Ar-
beit immer ein Theil reine primäre Actionslust durch Befriedigung
der besondern Sinnesenergien; es wird aber in der Regel nicht
auf diesen Bestandtheil reflectirt, er wird übersehen über der Be-
Die angebliche Unwissenschaftlichkeit etc. 193

friedigung eines auf bestimmte objective oder auch subjective Ziele


gerichteten Willens. Wird aber der auf letztere gerichtete be-
wusste Wille nicht befriedigt, indem z. B. ein Tonstück oder ein
Gemälde den ästhetischen Anforderungen nicht genügt, eine Arbeit
nicht zum erwünschten Resultat führt, ein Gang, ein Ritt um-
sonst unternommen war, dann verschlingt die Unlust über die ver-
gebliche Action vollständig die primäre Lust der specifischen
Sinnesthätigkeiten lässt sie gar nicht zum Ich-B ewussts ein des
,

Gesammtindividuums kommen.
Besonders der Engländer Sully hebt die Lust, die aus dem
„ Sport
44
resultirt, hervor. Ohne Zweifel erzeugt der Sport, da wo
er wirklich Sport bleibt und nicht eine besondere Form der
Speculation oder des Ehrgeizes wird, ein erhebliches Sümmchen
Lust. Nur schade, dass die Sportwelt ein sehr kleines Stückchen
der realen Welt ist, trotzdem, dass es gewöhnlich nur die „grosse
Welt" ist, aus der sich die Jünger des Sports rekrutiren.
Für die überwältigende Mehrzahl der Menschen wird das nor-
male Quantum Energie, welches activ werden muss, falls nicht
Unlust eintreten soll, und deren Activwerden schon als mehr oder
minder lustvoll percipirt wird, schon vollständig in Anspruch ge-
nommen durch die Gewinnung des Lebensunterhaltes oder der mit
den Verhältnissen seines natürlichen und civilen Standes aufge-
nöthigten Pflichten, der Gewinnung, Erhaltung und Ausfüllung
seiner socialen Stellung. Sobald einmal die ersten Jugendjahre
vorüber sind, fängt in der Regel die Lust an der Körperaction zu
schwinden an, und in den Jahren, wo sie am unver dunkelsten auf-
zutreten vermag, da gesellt sich ihr ergänzendes Gegen theil: die
Unlust der verhinderten Körperbewegung durch Schulsitzen,
häusliche Arbeiten, Kinderarbeit der Fabriken u. s. w. zu ihr, so
das Lustsaldo aus dieser Quelle erheblich herunterdrückend.
Am freisten von den Lebensverhältnissen und am unermüd-
barsten sind die Sinne im engern Sinne: die Organe des Hörens,
Sehens und Schmeckens; besonders das letztere, während das erstere
in unsern Cultur-Centren noch für vogelfrei erklärt und allen Un-
bilden ausgesetzt und häufig derart überanstrengt ist, dass nicht
mehr die Action, sondern die ermöglichte Passivität als Wohlthat
und Lust empfunden wird.*)
Man hat ferner die Lebensfreude, die blosse instinctive Da-
seinslust, dem Pessimismus gegenüber geltend gemacht und ein
€arl Möbius hielt eine Rede (1879) über das Goethe'sche Wort:
„Leben ist die schönste Erfindung der Natur, und der Tod ist ihr

*) Vergl. Schopenhauer: „Parerga und Paralipomena" Bd. II,


Cap. XXX.
Plümacher, Pessimismus. 13
194 Die Bekämpfung d. P. v. Standp. d. naturalistischen Optim.

Kunstgriff viel Leben zu haben; in dieser Rede wird auf die über-
44

wältigende Lebensfülle der Natur hingewiesen und werden die


Pessimisten eingeladen, nach den Tropen, auf „ein belebtes Co-
rallenriff" zu kommen, um die überquellende Lebensproduction
anzustaunen und zu bewundern. Auf die Stellung Schopen-
hauers und Hartmann's zu der ästhetischen Seite der Welt
kommen wir später zu sprechen; über die Lebensfülle brauchen
sie sich nicht erst durch Corallen, Krabben und Austerncolonien
belehren zu lassen; es wissen beide, dass das organische Leben
überall in übermässiger Fülle aufsprosst, wo nur eben die elemen-
taren Bedingungen es erlauben. Wenn aber die Natur in ihrem
Lebensdrange 1.045.000 mal mehr junge Austern erzeugt (Möbius,
pag. 8), als normales glückliches Austernleben zu fristen im Stande
sind, so meint das doch nichts anderes, als dass 1.045.000 mal
gegen Eins der Trieb der Natur sich nicht vollständig durchzu-
setzen vermochte, und der Pessimist glaubt sich gegenüber solchen
Zahlen zu einem andern Schlüsse bezüglich der Stellung des Be-
hagens im Haushalt der Natur berechtigt: es beweist ihm der
Reichthum und die Unverwüstlichkeit des Lebens nicht das Glück
des Lebens; sondern nur die Stärke des Lebensdranges um
jeden, auch den theuersten, schmerzhaftesten Preis!
Es darf eben nicht vergessen werden, und es gilt so gut für
die Ein-Million und fünfundvierzigtausend zum Gefressenwerden
bestimmten jungen Austern wie für den höchsten Culturmenschen r
dass das Werden nicht empfunden wird, wohl aber das
Sterben, weil mit dem Werden das Subject selbst erst wird, beim
Sterben aber das Bewusstseinssubject den theilweisen Tod seines
materiellen Körpers überlebt, wobei das Central- (Grosshemisphären-)
Bewusstsein noch die letzten Zuckungen der Theile als Schmerz
reflectirt, bevor es mit der Lösung seines materiellen Trägers selbst
erlischt.

Wenn junge Auster den Tod unbewusst erleiden sollte, so


die
wäre es nur, weilsie auch ihres Lebens nicht als Befriedigung
des Lebenswillens froh geworden wäre; wo aber das höhere Indi-
viduum nun sich seines Lebens vollbewusst freut, da stirbt es auch
den „bittern Tod," oder aber es „stirbt sein Leben/*) d. h. sein
Lebenswille wird allmählich gebrochen, so dass dann allerdings zu-
letzt der Tod bloss ein willkommenes Einschlafen sein kann, aber
eben nur deswegen, weil nun das Leben statt einer Lust eine Last
geworden ist.

*) „und starb das Leben weiter" sagt Graf Stadion in einer Welt-
schmerz-Novelle von dem Helden derselben. Man denke auch an In-
nocenz III.
Die angeblich falsche Gefühlstheorie etc. 195

4. Die angeblich falsche Gefühlstheorie als Verfäl-


scherin des empirischen Pessimismus -Beweises.

Mit Obigem sind wir nun auch dem gegnerischen Einwurfe


nahe gekommen: es gründe sich der Pessimismus auf eine irr-
thümliche Theorie des Gefühles auch insofern, als das Gefühl
statt neben Wille und Vorstellungs vermögen der Seele als blosses
Accidens am Willen bestimmt werde. Man kann den Satz zu-
geben, dass, was das Leben des Organismus fördere, Lust, was es
schädige, Unlust erzeuge, ohne dass man dadurch aus dem Kreise
der Gefühlstheorie der Willensphilosophie träte.
Sobald wir nämlich nicht bei der leeren Thatsache stehen
bleiben wollen, sondern versuchen, uns das „Warum" des Zu-
sammenhanges klar zu machen, so ist dies gar nicht anders möglich,
als dass uns das, was als Lust erzeugendes Object erachtet wird,
zugleich als gewolltes erkennbar wird; ja unser eigenes Gedeihen
konnte gar nicht lustvoll sein, wenn es nicht mit dem Grundwollen
unserer Psyche gewollt würde, denn sonst wäre ja auch für uns,
als blosses Bewusstseins-Individuum, die Förderung des materiellen
Leibes ein bloss objectiver Vorgang. Dem Gefühl als solchen ge-
schieht aber auch an seiner Wahrheit und an seiner unsagbaren,
bloss zu erlebenden Qualität kein Abbruch dadurch, dass es für ein
Accidens des Willens erklärt wird, es bleibt doch, was es ist:
das intimste,unmittelbarste Moment, bei dem die Seele bei sich
und für sich Nur dann, wenn man sich die Seele als ein für
ist.

sich bestehendes leeres Etwas denkt, welches zu seiner Existenz


nun erst verschiedener Eigenschaften bedarf, dann erscheint die
Bestimmung des Gefühls als eines Accidens am Willen gleichsam
als eine Beraubung der Seele; nicht aber wenn man die Seele im
Sinne Hartmann's erfasst, als die Einheit von Wille und Vor-
stellung, und nur als individualisirter Actionsmodus des Absoluten
seiend.
Die psychologischen Theorien bleiben aber auch für den
Pessimismus als solchen ganz indifferent; das Gefühl der Lust
und Unlust bleibt dasselbe, ob es als an dem Willen oder neben
demselben existent gedacht wird. Es bleibt immer ursprünglichster
Seelenvorgang und auch seiner inhaltlichen Qualität nach wird es
durchaus nicht verändert, dass es als Accidens am Willen er-
fasst wird,und es ist lediglich ein Missverständniss, wenn G. Som-
mer (Göttinger gelehrte Anzeigen, 16. Ap. 1879) meint „weil der
Wille blind sein soll", „so kenne Hartmann nun auch keine durch
den Vorstellungscoefficienten bedingten qualitativen Bestimmungen
13*
196 Die Bekämpfung d. P. v. Standp. d. naturalistischen Optim.

des Gefühls." Das ist ein Irrthum, der das Verhältniss von Wille
und Vorstellung im absoluten Geiste verkennt und einen Dualis-
mus in Hartmann's Metaphysik hineindichtet, der dieser absolut
fremd ist. Aber auch beim Willensphilosophen Schopenhauer
bleiben die Gefühle —
von keiner Theorie angetastet was sie —
sind, da (wie von Hartmann klar nachgewiesen und von Andern
wiederholt anerkannt wurde) sein Wille stets wie mit unbewusster
Vorstellung gepaart erscheint.
Nicht auf den Pessimismus als solchen ist die Gefühlstheorie
von Einfluss, sondern erst für eine mit auf den Pessimismus be-
gründete Metaphysik, ein Thema, worauf wir in einem späteren
Capitel zu sprechen kommen.
Der empirische Beweis des Pessimismus ist unabhängig von
der psychologischen Theorie; wenn wir nun trotzdem in diesem
Capitel, wo wir es ausschliesslich mit der empirischen Begründung
des Pessimismus und deren Bestreitung zu thun haben, auf diesen
psychologischen Streitpunct eingehen, so ist es, weil die Gegner
des Pessimismus eine Beeinflussung der Erfahrung durch die
Theorie glaublich machen möchten, und weil sie glauben, durch
die Entfernung der Gefühlstheorie der Willensphilosophie die realen
Zustände und das unmittelbare Empfindungsmaterial in eine solche
Beleuchtung rücken zu können, dass nun auch ein anderes, ein
optimistisches Urtheil derselben möglich werde.
In diesem Sinne haben wir noch einer Anschauung zu ge-
denken, die gleichsam die Mitte zwischen der Theorie Hartmann's
und der ältern Psychologen einnimmt. Es meint nämlich .

J. Rehmke („die Phil, des Weltschmerzes", 1876): es sei wohl


richtig anzunehmen, dass wo ein Wille befriedigt werde, auch
Lust eintrete; aber es sei damit auch nicht schon erwiesen, dass
wo Lust entstehe auch ein Wille vorhanden sein müsse, in dessen
Befriedigung dieselbe bestehe (denn dieselben Ursachen mussten
zwar dieselben Wirkungen haben, nicht aber brauchten gleiche
Wirkungen auch gleiche Ursachen zu haben) es anerkannten aber
;

die Pessimisten nur diejenige Lust als solche, welche aus indivi-
duellen Zuständen und Verhältnissen hervorgingen, nicht aber die
Lust die aus Objecten resultirte. Zwar sei die Lust stets etwas
individuelles und subjectives, aber damit sei nicht auch als alleinige
Quelle derselben wieder etwas Subjectives gefordert. Es gälte,
Objecte derjenigen Lust, die nicht aus Willensbefriedigung resul-
tirte, zu schaffen, da diese letztere die dauernde, gegenüber der
aus Willensbefriedigungen resultirenden sei; „während der durch
die Erreichung des Zweckes verwirklichte subjective Zustand des
Subjectes ein ephemerer ist, der als dieser Zustand des Subjectes
und damit in seiner Wirksamkeit durch andere Wünsche und
Die angeblich falsche Gefühlstheorie etc. 197

Strebungen vernichtet wird, hat der ausserhalb des Subjectes ge-


schaffene Zustand Bestand, und ist in seiner Beständigkeit eine
Quelle der Lust für das Subject, das seine Willensbefriedigung
gleichsam in Stein gehauen und Erz gegossen sieht."
Rehmke theilt also mit Schopenhauer als Aesthetiker
die Ansicht, dass es Anschauungen und Empfindungszustände gäbe,
wobei sich der Mensch durchaus passiv verhalte. Schopenhauer
kommt zu der Idee des willensfreien Kunstgenusses, weil nach
seiner, der Erfahrung nicht gerecht werdenden Behauptung jede
Lust nur die Aufhebung eines empfundenen Mangels sein soll,
und er doch einen solchen Mangel, als dem Kunstgenuss vorher-
gehend, nicht nachweisen konnte; Rehmke kommt zu der willens-
freien Lustquelle durch die untergeordnete Stellung, die er über-
haupt dem Willen im psychologischen, wie im metaphysischen
Gebiet einräumt. Er kennt den Willen nur als bewusstes Wollen,
und seine Opposition gegen die Gefühlstheorie Hart mann 's ist
nur die eine Seite seiner Opposition gegen die Philosophie des Un-
bewussten überhaupt. Hierauf haben wir uns hier nicht einzulassen,
ebenso wenig auf die Art, wie hier das Wort „Object" gebraucht
ist, welche nicht gebilligt werden kann, da sie zu Missverständ-
nissen zu führen geeignet ist. Gemeint ist hier mit „Object"
offenbar ein real vorhandenes Ding (erkenntniss-theoretisches „Ding
an sich"), gleichviel ob Artofact oder Naturproduct, welches ver-
möge seiner physikalischen Wirkungen auf ein Subject für dieses
zum Vorstellungs-Object (Object im echten Sinne des Wortes) wird.
Seine Einwirkung auf die Seele kann entweder einfache lust- und
unlustfreie Wahrnehmungen erzeugen, oder Wahrnehmung plus
Lust und Unlustempfindung. Die Willensphilosophie nimmt nun
an, es sei dies letztere nur dann der Fall, wenn das Subject, für
das ein Ding zum Object wird, sich wollend oder ablehnend
(negativ- wollend) gegen die inhaltliche Bestimmung des Objectes
verhalte, während Rehmke meint, die Einwirkung als solche be-
wirke Lust oder Unlust in derselben Weise, wie nach der natur-
wissenschaftlichen Anschauung gewisse Eigenschaften der Materie
die specifischen Wahrnehmungen süss, bitter, roth, heiss u. s. w.
erzeugen.
Das Pro und Contra hierfür ist interessant und durchaus nicht
einfach;zwar ist, was Schopenhauer in Verlegenheit brachte
und zu seiner Flickwerktheorie führte, von Hart mann beseitigt:
die Wahrnehmung des zu geniessenden Objectes ruft
ästhetisch
gleichzeitig den Willen, der das will, hervor und befriedigt
Schöne
ihn, und zeugt so die ästhetische Lust; class aber das Schöne um
seiner selbst willen gewollt werden kann, ist begreiflich genug,
wenn man das Schöne als die angeschaute Logik versteht. Dagegen
198 Die Bekämpfung d. P. v. Standp. d. naturalistischen Optim.

ist der positive Beweis für die Richtigkeit der Last und Unlust-
theorie im Sinne der Willenphilosophie schwieriger; die Thatsache,
dass ein Ding nicht Allen, und sogar demselben Subject gegen-
über nicht zu allen Zeiten, Lust erzeugt, spricht noch nicht unbe-
dingt für unsere Theorie; denn da jedes Ding nur dieses so und
so bestimmte Object für ein bestimmtes Subject ist, so ist es, wie
das Subject wechselt, auch nicht mehr ganz das gleiche Object,
sondern mit dem anders gewordenen Subjecte erscheint das Ding
als ein anderes Object. Mögen aber die Schwierigkeiten der Theorie
sein, welche sie wollen, sie berühren den empirischen Pessimis-
mus durchaus nicht. Für den und Pessimismus
Optimismus
kommt einzig in Betracht, dass Menge Gegen-
es allerdings eine
stände und Zustände giebt, welche den meisten Menschen und zu
Gefühl der Lust hervorrufen (gleichviel durch
fast allen Zeiten das
welchen psychischen Process) und zwar zum Theil solche Gegen-
,

und Zustände, die der Mensch erringen kann, insofern als sein be-
wuster Wille und seine verschiedenen Bethätigungsweisen Factoren
zu deren Erzeugung bilden. Es ist gar nicht nothwendig, dass
man, wie R. Seidel meint, das Experiment machen müsse, ob
glückliche Menschen zu produciren wären; der Pessimismus leugnet
nicht principiell, dass es nicht ausnahmsweise möglich wäre, dass
in einem Menschenleben die Summe der Lust die der Unlust über-
wiege. Aber die Möglichkeit solcher Existenzweisen unter künst-
lich geordneten und immer nur als Ausnahme realisirbaren Ver-
hältnissen vernichtet die Wahrheit des Pessimismus nicht, wie
J. Sully meint, denn es handelt sich um den Zustand der Mehr-
zahl der Existenzen und um die Verhältnisse, wie sich dieselben
aus den Naturverhältnissen und aus dem historischen Pro-
cess als normal ergeben. Für uns aber fragt es sich jetzt, wie
das Verhältniss derjenigen Fälle ist, wo das Individuum im Besitz
der lusterzeugenden Objecte ist, zu denjenigen, wo ihm dieselben
unerreichbar bleiben. Und da muss denn sicherlich jede vorurtheils-
lose Lebensbetrachtung erwidern: es sind unvergleichlich mehr In-
dividuen unvergleichlich mehrmal in Verhältnissen, wo unlust-
erzeugende Objecte auf sie einwirken, als Quellen der Lust; es
streben und ringen unvergleichlich mehr Individuen nach Ge-
winnung der objectiven Lustquellen, als solche erreicht werden;
in diesen Fällen gesellt sich also zu der mangelnden Lust aus
Mangel an lusterzeugenden Objecten noch die positive Unlust des
unerfüllt gebliebenen Strebens.
Der Sachverhalt ändert sich dadurch nicht, dass man ihn
durch die Brille einer anderen Theorie über die Ursache der Lust
ansieht. Was als lustschaffendes Object bezeichnet wird, ist nichts
anderes, als was uns die Erfahrung als das Ziel des principiell die
Der Pessimismus als angeblich patholog. Empfindungsweise. 199

Lust oder instinctiv-natürlich sein „Wohl" suchenden Willens zeigt:


gesicherte Existenz, günstige Stellung in Gesellschaft und Staat,
Liebe und Freundschaft, Wissenschaft und Kunst u. s. w. Man
kann sie objective Lustquellen nennen —
dass sie es sind, lehrt
uns unser eigenes Wollen und das Streben Aller; das Recept aber,
dass man nach lustschaffenden Objecten, statt nach subjectiver Lust
streben soll, bringt nichts Neues auf den Plan und ist nur ein
Spiel mit Worten. Denn, ob ich die Lust direct oder die Lust-
quelle um der Lust willen will und suche, kommt auf's gleiche
heraus; die Lust ist so wie so der Zweck, das Object, das Mittel,
und der Unterschied ist schliesslich nur ein intellectueller: ob ich
es verstehe, durch kluges Beherrschen meiner momentanen Gelüste
einem Ziel unentwegt zuzustreben, das, wenn erreicht, dauernde
Lust hervorruft —
gleichviel auf welche Weise.
Es ist aber auch nicht zu vergessen, dass mit jedem Object
als Lustquelle auch eine Möglichkeit mehr einer Unlusterfahrung
gegeben ist: es ist damit etwas da, was verloren werden kann, ein
Fleck mehr, wo wir verwundbar sind.

5. Der Pessimismus als angeblich pathologische


Empfindungsweise.

Wir wenden uns nunmehr jener Behauptung zu, wonach die


Abschätzung der von den Pessimisten als eudämonologisch werthlos
verurtheilten Lebensfactoren deswegen als unrichtig erachtet wird,
weil die Pessimisten pathologische Naturen seien, welche dem
Leben und seinen Factoren anders gegenüber stünden, als die maass-
gebende Masse der Menschen.
Schopenhauer zeigt sich in manchen Partien seiner Schriften,
insbesondere auch in seinen „Vorreden" als heftig, zornmüthig und
unduldsam gegen Anderer Meinung; seine Biographen schildern ihn
uns als reizbar und von überaus misstrauischer und ängstlicher
Gemüthsart.
Die Gegner des Pessimismus machen hiervon als Beleg ihrer
Behauptung Gebrauch, und haben dabei des Philosophen eigene
Ansicht auf ihrer Seite: dass der Wille den Intellect, dass also die
characteristischen Eigenthümlichkeiten die Erkenntniss beeinflussen
und modificiren.
Bei Bahnsen mussten wir ebenfalls ein von dem normalen
Empfinden abweichendes, krankhaft überreiztes Gemüthsleben an-
nehmen, um jene Ergüsse des „Pessimisten-Breviers " begreifen zu
können.
200 Die Bekämpfung d. P. v. Standp. d. naturalistischen Optim.

Aber wenn wir hier zwei Pessimisten vor nns haben, die eine
besondere Gemüthsbeschaffenheit zwingt, ihre Aufmerksamkeit fast
ganz ausschliesslich nur auf das Leiden und auf jene Puncte des
Weltprocesses, wo das Alogische seine unheilvollen Siege feiert T
zu richten, so haben wir auch wieder Pessimisten, bei denen wir
nichts dergleichen wahrnehmen.
E. von Hartmann zeichnet sich in seiner Polemik, die ihm
als die Rückseite der Vertheidigung seiner eigenen vielbekämpften
Meinung aufgenöthigt wurde, durch die grösste Objectivität, Ge-
rechtigkeit und Milde aus; nirgends lässt ein gereizter Ton auf ein
verbittertes, finsteres Gemüth schliessen, und Autobiographie*) wie
Mittheilungen der Freunde zeigen uns eine durchaus harmonisch
veranlagte Natur.
Und jene Vielen, die im Laufe der Jahrhunderte das pessi-
mistische Bekenntniss von dem Ueberschuss des Leides über die
Lust ausgesprochen haben, und jene Zahllosen, die ihnen als Wahr-
heitskünder gelauscht und beigestimmt haben, diese Alle, denen die
Welt und das Leben das Gesicht unverschleiert gezeigt, und die
von dessen Medusenblicke nicht versteinerten, sondern muthig und
unentwegt ihre jeweilige Aufgabe zu lösen sich bemühten, sollten
es alles normale, mangelhaft beschaffene Seelen gewesen sein?
Sollten die Pessimisten denjenigen gegenüber, die sich nicht
scheuen, die mürrische Gemüthsart von Schopenhauer's Vater und
die Launen und Schrullen seiner Mutter ins Treffen zu führen, nicht
ebenso berechtigt sein, den Spiess umzudrehen und zu sagen: ihr
seid die Kurzsichtigen, ihr die Verblendeten; ihr die in der Ent-
wickehmg zurückgebliebenen, zur vollen Klarheit des Erkenntniss-
vermögens nicht Vorgedrungenen. „Nur der Stumpfsinnige kann
lachen auf dem Friedhof seiner Vergangenheit, der die Gräber
seiner Eltern, seiner nächsten Angehörigen und Freunde umschliesst;
nur der Leichtsinnige vermag lustig zu sein im Angesicht einer
Zukunft, die ihn selbst und sein Liebstes mit allen Schrecknissen
des erbarmungslosen Räderwerks der Natur und der Gesellschaft
bedroht. Ohne stumpfsinniges Vergessen und stumpfsinniges Dul-
den würden schon die erfahrenen Leiden unerträglich dünken, ohne
leichtsinniges in den Tag Hineinleben würde jedes Unternehmen
ein unberechenbares und furchtbares Wagniss scheinen. Erst die
Vermählung eines gewissen Grades von Stumpfsinn und Leicht-

*) Vergl. E. v. Hart mann: „Mein Entwickelungsgang." Nr. 1 des


Abschn. A. der „Gesammelten Studien u. Aufsätze" 1876. C. Heymons:
JE. v. Hartmann; Erinnerungen aus den Jahren 1868 1882." C. Duncker,
188-'. Ferner Schneide win's „Lichtstrahlen aus E. v. Hartmann's Werken;"
Einleitung p. 14— 19; Dr. C. Schütze: „Ein Besuch bei E. v. Hartmann.*
(„Omnibus" 1874, Nr. 2.)
Der Pessimismus als angeblich patholog. Empfindungsweise. 201

sinn führt Gram und Sorge auf


ein auszuhaltendes Maass zu-
rück, erst der Boden, auf dem die Frucht des Genasses
sie ist
reift und die Knospe der Hoffnung keimt. Der Mensch findet das
Leben um so erträglicher, je stärker Stumpfsinn und Leichtsinn in
seinem Character dominiren, d. h. je näher er den characteristischen
psychischen Merkmalen des Thieres steht. *)
44

Das sind scharfe, einschneidende, bittere Worte; wer aber je


schon einen grossen, echten, vollberechtigten Schmerz getragen,
und dann unter dem Widerspruche gelitten hat, ein mildes Ver-
gessen, ein schlummersüsses Sichgetrösten über sich kommen zu
fühlen, gleichzeitig mit dem Bedauern seinen begründeten
Schmerz, seine berechtigte Trauer nicht fest halten zu können,
gegenüber den Selbsterhaltungskräften seiner elementareren Natur,
der wird den bittern Worten des Philosophen seine Anerkennung
nicht versagen können, wie demüthigend die Wahrheit
auch ist.
Doch werfen wir einmal einen Blick auf die Lebensanschauung
jener Gegner des Pessimismus, welche diesen schon auf dem Ge-
biete des natürlichen Lebens und der unmittelbaren Empfindung
überwinden zu können vermeinen.
Da sieht zum Beispiel E. Dühring („Der W^erth des Lebens",
II. Aufl.) in dem modernen Pessimismus die Weltanschauung der
blasirten,im Genüsse abgestumpften Müssiggänger, die diesen ihren
Lebensekel vermittelst der „ Nichts verhimmelung" mystisch auf-
putzen wollten, und in dieser zur Schau getragenen Weltverach-
tung und Nirvana Verherrlichung einen Kitzel für ihre Eitelkeit
fänden. Das Material, womit der „Katzenjammer" zur philosophi-
schen Weltanschauung aufgebläht werde, sei dem religiösen Wahn
entnommen, wonach das Leben eine Schuld sei.
Nur eine Form des Pessimismus erscheint Dühring berech-
tigt: der Entrüstungspessimismus.
Das Leben nach seinen Naturformen scheint ihm des Lebens
werth und die Empfindungen, um die es der Natur beim Hervor-
bringen der höhern Organismen zu thun war, sind ihm „kein Wider-
spruch gegen die Sachlogik in der Natur". Was die Natur un-
mittelbar der Empfindung biete, sei immer derart, dass die natür-
lichen Leiden zum natürlichen Wohlgefühl im Mindergewichte stehen:
der Krankheit sei weniger als der Gesundheit, des Mangels weniger
als des Genügens. Wo
dies Verhältniss gestört sei, da sei es durch
die Schuld der Menschen, durch die ungesunden, auf Ungerechtig-
keit gegründeten socialen Verhältnisse, den Missbrauch des Kapi-

*)_ E. v. Hartmann's Beitrag zu „Deutsche Dichterhelden. " Abgedruckt


in „Lichtstrahlen," ges. von Schneidewin. pp. 199 200. —
202 Die Bekämpfung d. P. v. Standp. d. naturalistischen Optim.

tals, den Militarismus und den Religionswahn, dass die gewaltige


Summe der Unlust über die Menschen verhängt werde.
Hiergegen, meint Dühring, gelte es zu kämpfen; besonders
der religiöse Wahn müsse einer nüchternen (materialistischen) Natur-
auffassung weichen, denn das Nichtwissen sei zwar kein Unglück,
wohl aber das Falschwissen die Quelle der Unlust.
In der Bekämpfung der Unlust erzeugenden Verhältnisse liege
aber selber eine Quelle der Lust, denn Thätigkeit bringe Wechsel
der Empfindung, und dieser Wechsel zwischen Höhe und Tiefe sei
für den Lebensgenuss wesentlich; daher gehörten auch die Leiden-
schaften mit zum Lebensgenuss; ohne Liebe und ohne Hass sei
das Leben eine Wüste und nur durch die Leidenschaft werde das
Grosse geboren.
Soweit nun bei Schopenhauer der Entrüstungspessimismus
grollt und poltert, und soweit der Weltschmerz eines Byron und
Leopardi mit der rationalisirendeu Unzufriedenheit über das hi-
storisch Gewordene zusammenstimmt, da werden die Genannten ge-
lobt gegenüber dem philosophischen Pessimismus Hartmanns;
die Mängel aber, die Dühring auch bei ihnen findet (z. B. jene
unberechtigte Uebertragung des Schuldbegriffes auf das Weltsein
bei Schopenhauer), die werden dem modernen Pessimismus über-
haupt auf's Kerbholz gesetzt.
Soweit Dühring's Geist unbehindert durch die instinctiven
Illusionen das Leben betrachtet, soweit muss er die thatsächlichen
Zustände beklagen; soweit ist er Entrüstungspessimist.
Aber er bleibt befangen in den natürlichen Illusionen, und
wenn ein Hartmann sich vom Einzelnen zum Allgemeinen, von
der Vielheit des Concreten zur begrifflichen Einheit, von der Wir-
kung zur Ursache erhebt, und wenn sich in dieser weitblickenden
Höhe die Entrüstung nicht mehr zu halten vermag, weil kein verant-
wortungspflichtiges Subject mehr da ist, gegen das man sich entrüsten
könnte, so erscheint dies Dühring als mattherzige Indifferenz.
Der angebliche Optimismus Dühring's ist dieses nur, soweit
er ein zurückliegender, der französischen Aufklärungsphilosophie
verwandter Standpunct ist. Wie diese sucht er zwar allerorts das
Uebel, aber er täuscht sich über die Tiefe, in die dessen Wurzeln
dringen, und er klammert sich an die Hoffnung künftiger Heilung
der Schäden und Unlustquellen.
Soweit er die Leidenschaft als ein Gut preist, verurtheilt er
sich selber als Philosophen, und das Recept, welches er für ein
glückseliges Leben zu geben hat, ist ungefähr dasselbe, welches
auch J. Sully giebt, und welches darauf hinausläuft: dass man
sich im Ringen und Streben nie zur Besinnung kommen lässt,
dass man im zur Anstrengung anfeuernden Zorne über das als bös
Der Pessimismus als angeblich patholog. Empfindungsweise. 203

Erachtete, sowie in der Befriedigung über vielleicht schmerzlich ge-


nug erkaufte Siege nie zur Frage gelangt: wozu letzten Endes
dies Alles?
In vielen Zügen verwandt, aber doch tiefer und mit dem stoi-
schen Ethicismus Fühlung gewinnend, erscheint die Lebensbetrach-
tung J. Duboc's („ Der Optimismus als Weltanschauung"). Duboc
will ganz richtig unterscheiden zwischen Stimmung als Wurzel
einer Weltanschauung und Stimmung als Resultat einer Weltan-
schauung. Nur letztere ist philosophisch gerechtfertigt. Der mo-
derne Pessimismus, wie er von Hartmann herausgebildet ist, soll
nun bloss eine aus einer Stimmung hervorgewachsene Weltanschauung
sein, und zwar aus der Stimmung der Ermüdung; gleichviel, wie diese
letztere entstanden sei. Duboc selbst ist nichts weniger als blind
für dieMängel des Lebens, die Machtlosigkeit des Menschen gegen-
über den Naturmächten und die Rücksichtslosigkeit der letzteren
gegen das Wohl und Wehe des Empfindungssubjects. Er schildert
das Preisgegebensein nicht nur selber ganz gut, sondern citirt auch
verwandte Stimmen.
Er bezeugt auch seine Einsicht in das Aufreibende und Er-
müdende des Lebens dadurch, dass er gegenüber dem, die Hoffnung
des ewigen Lebens als eudämonologisches Moment festhaltenden
religiösen Optimismus, die Schrecken der persönlichen Fortdauer
schildert. *)
Es ist nicht ganz leicht, diese Auslassungen mit denjenigen
zu reimen, wonach das Leben, wie es ist, dennoch positiv werth-
voll sein soll, sobald man nur sich nicht egoistisch auf sich selbst
zurückziehe, sondern seine Interessen dem Ganzen unterordne. „In-
dem der Mensch sein Leben, seinen Schicksalsgang, seine Bedeutung
im Zusammenhang mit der Bedeutung des Weltprocesses und ,

zwar im Sinne des Optimismus betrachtet, indem er sich vor allem

*) „Es ist unzweifelhaft, dass die ununterbrochene ewige Fortdauer,


Niemalsaufhörens, positiv genommen, von so zer-
die Vorstellung des
malmendem Gewicht ist, dass sie dem Menschen völlig unerträglich ist. Dabei
sehe ich von Altersplagen natürlich völlig ab, —
ich rede nur von der nackten
Thatsache der Fortdauer ohne Ende, die in der Vorstellung fixirt und rein
für sich betrachtet einen unüberwindlichen Schauder erweckt. Freilich
nur dann, wenn man sie nicht bloss negativ, als Gegensatz der Vernei-
nung des Lebensprocesses (wobei man von der Dauer absieht)" — als solche
erscheint sie ihm vielmehr höchst verführerisch —
„sondern positiv be-
trachtet. Der Schauder wird nur deshalb bei der religiösen Vorstellung
der Ewigkeit oder der ewigen Fortdauer nicht empfunden weil dieselbe,
,

um dem religiösen Herzensbedürfniss zu genügen, nur negativ, nur als


angsterlösender Gegensatz der Lebensvernichtung, nicht positiv, ihrer un-
begrenzten Dauer entsprechend, vorgestellt wird. Gleichwohl hat sich eine
Anwandlung des damit verbundenen Schauders in der Sage vom ewigen
Juden erhalten."
204 Die Bekämpfung d. P. v. S tan dp. d. naturalistischen Optim.

als Theil des Ganzen weiss, als Moment in einem kosmischen Pro-
cess fühlt, der ihn hält und zum Licht emporhebt, gestaltet sich
der Vorgang in ihm, den ich soeben bezeichnet habe: er wendet
sich von der Individualität ab —
„oder man kann auch die um-
gekehrte Bezeichnung anwenden: die Individualität löst sich von
ihm ab."
Duboc nennt sich selbst einen Atheisten, aber ähnlich wie
Strauss seinem „Alten und neuen Glauben", vertritt er sozu-
in
sagen einen religiösen Atheismus; denn er will das Universum
mit solchen Gefühlen umfangen wissen, dass es in der Stellung
einer Gottheit dem Einzelnen gegenüber steht und von diesem re-
ligiös-ästhetisch verehrt wird.
Während von den ethischen Optimisten (siehe das folgende
Cap.) verlangt wird, dass das Individuum sich mit dem beseligen-
den Bewusstsein der Tugend begnügen und darin sein Glück fin-
den soll, so wird hier mehr die objective Seite des Stoicismus
hervorgehoben: Die Ehrfurcht vor der absoluten Weltvernunft und
die Resignation im Bewusstsein, Theil derselben zu sein und an
ihrer Würde zu participiren. Und nicht nur über das eigene Leid
soll man auf Weise hinweggesetzt werden, sondern auch über
diese
das nutzlose Mitleid mit Andern. „Fühle ich mich zur Trauer ge-
stimmt, verletzt mich an unzähligen Stellen, wohin ich blicke, ein
grenzenloses Lebensleid, dem ich rathlos gegenüberstehe, oder dem
ich durch mein Thun nur wenig Abhülfe gewähren kann, so ist es
doch immer die Menschheit im Ganzen, zu deren Schicksal auch
dies gehört, und wie ich mich Eins mit der Menschheit fühle und
untrennbar zu ihr gehöre, so fühle ich mich auch Eins und un-
trennbar mit diesem Leid verbunden. Es wird mein Schmerz,
mein Leid —
nicht im pathologischen Sinn, als welches es der
Praxis zufällt, und das ich durch practisches Gegenwirken zu be-
kämpfen suche, sondern im ästhetischen Sinne und wie ich kein —
Bedenken trage, gegen mich hart zu sein, so brauche ich auch kein
Widerstreben zu empfinden, ebenso mit diesem Leide abzurechnen
und mich von ihm abzulösen, weil es eben als dem Ganzen ange-
hörig, dem auch ich angehöre, mein Leid ist, meine Wesenheit
trifft." (p. 278.)
Es wird kaum nöthig sein, unsere Leser darauf aufmerksam
zu machen, dass hier der Realist, um den Optimismus zu retten,
das Gebiet der Unmittelbarkeit des natürlichen Empfindens verlässt
und als maassgebendes Moment eine Idee introducirt, welche nur
unter der Voraussetzung einer metaphysischen Einheit des empirisch
Getrennten einen Sinn hat. Abgesehen davon, dass das Gefühl der
Menschheitsliebe und der Solidarität selbst ein Factor des psychi-
schen Lebens ist, welcher auf seinen eudämonologischen Werth hier
Der Pessimismus als angeblich patholog. Empfindungsweise. 205

•geprüft sein will, das Gefühl der Menschheitsliebe und das


ist
selbstlose Interesse an der 'Aufwärtsbewegung des Weltprocesses
nur begreiflich, als der Widerschein der metaphysischen Einheit,
für den Standpunct Duboc's aber zum mindesten ein Problem.
Welchen Werth, welche beseligende Rückwirkung auf das In-
dividuum sollte denn die bewusst gewollte Theilnahme an dem
. kosmischen " .Process haben, wenn derselbe weder ein Mittel für
einen Gott, noch für eine transcendente, geistige Einheit, noch für
die unmittelbare Glückseligkeit der Natur ist?
Hier liegt der Selbstbetrug als Kreisbewegung offen zu Tage.
Entweder die Thätigkeit als solche zu Gunsten des Processes ist
das eudämonologische Element und der „kosmische Process" ist
nur insofern werthvoll, als er das Object, das Vehikel und das Pro-
duct der Thätigkeit der Individuen ist, oder aber es kommt ihm
auf dem naturalistisch-realistischen Standpunct gar kein Werth
zu und die Menschen, die ihm ihre persönlichen Interessen unter-
ordnen, opfern einen Wahn. Soll der Process einen Werth haben,
so muss derselbe, da er ihn nicht mit Rücksicht auf ein Transcen-
dentes haben soll, ihn für die Individuen haben, deren Summe in-
dividueller Innerlichkeit jadann allein die Innerlichkeit des kos-
mischen Processes ausmachen; wenn aber für die Individuen Be-
friedigung nur in der selbstverleugnenden Hingabe zu finden sein
soll, so kann es damit nicht sonderlich weit her sein; denn eine
Weltordnung von real-optimistischer Beschaffenheit könnte nicht
die Selbstverleugnung als oberstes und hauptsächlichstes Mittel
ihrer Realisation verlangen.
Eine Lebensanschauung, nach welcher das Leben, das sich in-
behaupten will, werthlos wird, und nur dadurch
dividualistisch selbst
sich als werthvoll sichert, dass es sich dem Allgemeinen hingiebt,
setzt, um optimistisch sein zu können, einen transcendenten Hinter-
grund voraus; schliesst aber ihre theoretische Philosophie diesen
letzteren aus, so muss früher oder später die täuschende Kreisbe-
wegung durchschaut werden, womit das Motiv der Hingabe lahm
gelegt wird.
Auf dem realistischen Standpunct, mag er immerhin einen
„ästhetisch-religiösen" Aufputz tragen, müsste das Leben für das
Individuum, als dem allein Wirklichen, unmittelbar und schon
innerhalb der natürlich-egoistischen Formen einen eudämonologi-
schen Werth haben, oder es hat auch der kosmische Process
keinen.
Und dass es so sei, dass das Leben schon in den Naturfor-
men an und für sich Ueberschuss an Lust bringe, das ist auch
Duboc's Voraussetzung, wenn er den modernen Pessimismus
der Unehrlichkeit zeiht. Er sagt nämlich: Der Schopenhauer-
206 Die Bekämpfung d. P. v. Standp. d. naturalistischen Optim.

sehe Pessimismus sei noch ehrwürdig gewesen, da er sich von der


Welt, deren Nichtigkeit er erkannt, mit Entrüstung abgewandt
habe und durch die Anerkennung und Seligpreisung der Askese
den Ernst seiner Gesinnung zeigte; wogegen der moderne Pessi-
mismus mit gefährlichem Scharfsinn Nebenwege ausgeklügelt habe,
um nichts entbehren zu müssen, Alles aus der Hand der Natur
annehmen könne, aber mit der Attitüde der Geringschätzung. *)
Nur wenn man annimmt, dass die allseitige Benützung der
Naturmittel im optimistischen Sinne Lust erzeuge, wird es eine
Verdächtigung der Aufrichtigkeit der Gesinnung, wenn zu con-
statiren ist, dass der Pessimist „isst, trinkt, reitet, fährt, Geschäfte
aller Art treibt und sich wie jeder andere Sterbliche verhält." Die
von Schopenhauer gelehrte (nicht geübte) Askese, die dem „ästhe-
tisch-religiösen Atheisten" Duboc so ehrwürdig, dem nüchternen
und consequentern Dühring so widerwärtig erscheint, ist eben
nicht die Forderung und Consequenz des Pessimismus als solchen,
sondern diejenige einer besonderen Auffassung der letzten Prin-
eipien des Seins, und nur insofern Folge des Pessimismus als ihr
eine pessimistische Auffassung des Verhältnisses der Naturvorgänge
zu dem als letztgültig erachteten Zwecke und Ziele des Strebens
zu Grunde liegt.
Wenn den modernen Pessimisten zugestanden werden muss,
dass sie dem Leben und dem was es bietet, wie dem was es fordert,
wie andere denkende Menschen gegenüber stehen, so ist dies doch
auch wieder eine Instanz gegen die Beschuldigung, es entspringe
der moderne Pessimismus einer blossen Stimmung; gerade wenn es
sich bloss um krankhafte Stimmung handelte, so wäre zu erwarten,
dass derselbe sich in der Conservirung der Schopenhauers chen
Velleitäten der Askese gefallen möchte.
Der Hartmann'sche Pessimismus ist nicht das Product einer
Stimmung, sondern dasjenige eines Raisonnements, dem die Stim-
mung des Weltschmerzes nur als Inductionsmaterial untersteht. Die
pessimistische Stimmung ist eine Thatsache, die dem philosophi-
renden Geiste das Problem stellt: die Ursachen und die Bedin-
gungen dafür zu suchen, dass das erste und kräftigst Gewollte (das
Leben) dazu kommen kann, sich theoretisch zu verneinen, während
es nebenher instinetiv fortfährt, sich zu bejahen; die Lösung des
Problems ist der eudämonologische Pessimismus Hartmann 's (ein-
schliesslich des teleologischen Optimismus), der zu der pessimisti-

*)Diese Behauptung steht nicht vereinzelt, sondern wird auch von


Kritikern, die einen andern Standpunkt einnehmen, erhoben. U. A. von
Weygold (Kritik d. wiss. Pessimismus d. neuesten Zeit/ 1875.) „Der mo-
derne Pessimismus musste comfortable sein, ihm dazu verholfen zu haben,
ist das Verdienst E. v. Hartmann's."
Der Pessimismus als angeblich patholog. Empfindungsweise. 207

sehen Erfahrung und der auf diese sich stützende Weltverurtheilung


die theoretische, psychische und metaphysische Erklärung gieht.
Duboc setzt den naturalistischen Optimismus voraus, aber
er vermag ihn nicht festzuhalten; von allen Seiten senken sich
auch vor seinen Blicken die Wolken des Leides und der Noth über
das Leben hinunter und er ist zur Flucht in das Gebiet der Idee
gezwungen, um womöglich an den dort erwachsenden intellectuellen
und sittlichen Befriedigungen Mittel und Material zu gewinnen, um
sich die optimistische Weltanschauung zu retten.
Und ganz dasselbe nehmen wir bei sämmtlichen Gegnern des
Pessimismus wahr, wo immer dieselben den Versuch machen, Hart-
mann's sogenannten empirischen Beweis zu widerlegen. Es werden
stets, im Gegensatz zu Hartmann's sauberer Auseinanderhaltung
der Gebiete unmittelbaren, reinen Empfindens und der durch die
Reflexion vermittelten geistigen Willensbefriedigung, die eudämo-
nologischen Wertheder zur Abschätzung herbei gezogenen Lebens-
factoren mit deren teleologischer Bedeutung und derjenigen
Befriedigung verwechselt, welche da, wo die letztere zum Bewusst-
sein gekommen ist, erwächst.
Schon A. Taubert (d. Pess. u. seine Gegner. 1873.) hat gegen-
5
über den Urtheilen R. Haym's, J. Bona Meyer's, L. Weis auf
diese Verwechselung hingewiesen, und das Gesagte gilt auch für
eine ganze lange Reihe nachfolgender Kritiker.
Es muss zugestanden werden, dass die Bezeichnung „empiri-
scher Beweis des Pessimismus" recht geeignet ist, Verwechselungen
und Grenzverschiebungen zwischen begrifflich verschiedenen psy-
chologischen Gebieten zu gestatten. Empirisch heisst, was erfahren
wird, sei es durch die Sinne als Sinneswahrnehmung, sei es in
reiner Innerlichkeit als Lust und Unlustempfindung. Da nun aber
jede Geistesbewegung, jeder intellectuelle Bewusstseinsact, wie ab-
stract er inhaltlich auch sein mag, und ob er das Resultat eines
spontanen Denkprocesses oder sinnlich vermittelter, von einem
andern Individualgeiste angeregter Gedanke sei, sobald er aufs
practische Gebiet angewandt, nicht bloss als reine theoretische Er-
kenntniss erfasst wird, ein wenn auch oft nur schwaches Gefuhls-
correlat ergiebt, so ist nichts leichter als das Entstehen von Grenz-
verschiebungen zwischen empirischem und theoretischem Gebiet.
Hartmann's Pessimismus zeigt folgende Gliederung:
Absoluter Pessimismus.

Phänomenaler Pess. Metaphysischer Pess.

Transcendenter Pess. Empirischer Pess.


Naturalistischer, Ethischer, Religiöser Pess.
208 Die Bekämpfung d, P. v. Standp. d. naturalistischen Optim.

Jede der verscHe denen Erscheinungsformen des Pessimismus


ist nur Pessimismus, sofern das betreffende Gebiet des Seins, auf
die sie sich bezieht, unter eudämonologischem Gesichtspunct be-
trachtet wird. Man muss streng unterscheiden zwischen Befrie-
digung als rein geistigem Affirmationsmoment einerseits
und dessen .mögliche Gefühlsresonanz als Lust, sowie ferner dieser
selben Lust (resp. Unlust, wenn der Geistesact einen negativen
Inhalt hat) als blosses physiologisch - psychisches Moment ohne
Rücksicht auf die ideelle Bedeutung seines Ursprunges anderseits .*)
In letzterem Sinne gehört die Empfindung dem der eudämonologi-
schen Betrachtung unterliegenden Gebiete an; im ersteren Sinne
aber handelt es sich um Vorgänge im Gebiet des reinen, abstracten
Denkens, von dem aus das Sein nicht unter eudämonologischem
Gesichtspunct betrachtet wird, mithin auch die Begriffe „Werth*
und „Unwerth" ihre wirkliche Bedeutung verlieren. Es besteht
aber die Fälschung dem axiologischen Problem gegenüber
darin, dass die Unterscheidung unterlassen wird und logische
und ethische Werthe schlechthin auch als eudämonologische
dargestellt werden, während beide nicht einmal congruente
Grössenreihen bilden.
Das Alpha und Omega der axiologischen Frage liegt im Ge-
biete des unmittelbaren Empfindens (gleichviel wie die Empfindung
entsteht, ob auf dem geraden Wege der Sinne oder dem gewun-
denen Pfade der Reflexion), indem der eudämonologische Maass-
stab der allein gültige ist. Damit soll keineswegs behauptet sein,
dass es für den Menschen als thätiges Glied der Gesammtheit nicht
einen höheren Maassstab gäbe als den eudämonologischen. enn W
aber der sittliche Maassstab der höhere ist, so ist er es nicht, weil
das Sittliche absolut losgelöst vom allumfassenden Naturgebiet ist,
sondern nur weil in ihm das Urnatürliche, der kosmische Pro-
cess sein höheres Mittel hat; nicht weil es über dem Natür-
lichen im engeren Sinne, sondern weil es über dem Individuell-
Egoistisch-Natürlichen steht.
Der den socialen Entrüstungspessimismus in sich schliessende
Optimismus behauptet die eudämonologisch günstige Beschaffenheit
der Natur im engeren Sinne; ein rationalisirender Naturalismus
findet die dunkle Seite des Lebens gerade in der mangelnden Für-
sorge der Natur für das Wohlbefinden der Creatur. Beide An-
schauungen reissen eine Kluft in das Sein. Das historisch Ge-
wordene der socialen Verhältnisse, sowie der diesem Werdeprocess

*)Die idealistische Lust des in seiner Thätigkeit befriedigten Denkens


und die physiologisch-psychische Lust ist natürlich nur idealiter zu unter-
scheiden, nicht aber ist sie realiter zweifach vorhanden.
Der Pessimismus als angeblich patholog. Empfindungs weise. 209

zu Grunde liegende psychologische Process, ist selbst ein Stück


Natur im weiteren Sinne, hervorgesprosst aus der Natur im engern
Sinne. Es können ja keine Gestaltungen des Seins, welche Em-
pfindung zu verursachen im Stande sind, entstehen, als solche, die
durch die Natur der Dinge und Individuen bedingt und vorbereitet
sind; eine Natur die unlustvolle sociale Verhältnisse aus sich her-
vorzugehen ermöglicht, ist eben selbst eine auf die Unlustpro duction
hin veranlagte. Dabei ist allerdings nicht ausgeschlossen, dass die
Natur im engsten Sinne, abgesehen von ihren höheren Entwicke-
lungsstadien, in den historischen Lebensformen eine Zuständlichkeit
besitzt, welche bei enger räumlicher und zeitlicher Beschränkung
eudänionologisch günstigere Empfindungsverhältnisse bieten könnte,
als unsere factisch vorhandenen Zustände im grossen Ganzen sie
bieten. Was aber unter Bedingungen und Einschränkungen mög-
lich wäre und vereinzelt auch wirklich besteht, das muss im grossen
Ganzen des Weltgetriebes nicht möglich gewesen sein, da gerade
die Erfahrung zeigt, dass die Natur im engern Sinne immer über
sich selbst hinausdrängt, damit aber auch von der Idylle zum
Epos und zur Tragödie fortschreitet.
„Die Welt ist vollkommen überall, wo der Mensch nicht hin-
kommt mit seiner Qual" —
aber dass der Mensch eben „seine
Qual" entwickeln muss, ungeachtet er überall und alleweil das
Gegentheil davon erstrebt, das ist das Traurige, gegen das die
mögliche und zuweilen vorhandene Idylle kein hinlängliches Gegen-
gewicht bildet.
Der Vorwurf der Verkennung des Sachverhaltes in Folge
pathologischer Verstimmung oder abnormalen Empfindungslebens
wird entkräftet durch die Uneinigkeit der Gegner über die eudä-
monologisch günstigeren oder ungünstigeren Seinsgebiete; und
wenn die Vertreter eines naturalistischen, rationalistischen, ethischen
und Optimismus jeweilen das Gebiet, auf welchem die
religiösen
andern Parteien den Schwerpunct zu Gunsten des Optimismus suchen,
dem partiellen Pessimismus preisgeben, so wird durch das Ender-
gebniss solcher gegenseitiger Einschränkungen das Feld für den
absoluten eudämonologischen Pessimismus gewonnen.
Wie auseinandergehend aber auch die Meinungen sind über
das Gebiet, auf welchem der Optimismus seinen ausschlaggeben-
den Sieg zu behaupten vermag, darin ist die Mehrzahl der Geg-
ner Schopenhauers und Hartmanns einig, dass sie deren Be-
urtheilung der einzelnen Lebensfactoren bemängelt, und selbst
wenn sie den positiven Werth eines Lebensfactors nicht zu retten
vermögen, dass sie doch von dem pessimistischen Urtheil etwas
abmarkten. Insbesonders ist es das Urtheil über den eudämono-
logischen Werth der Arbeit und der Liebe, welches den allge-
Plümacher, Pessimismus. 14
210 Die Bekämpfung d. P. v. Standp. d. naturalistischen Optim.

meinsten Widerspruch hervorrief, und wo es den Gegnern des


Pessimismus am leichtesten wurde, einem minder kritischen Leser-
kreis plausibel zu machen, dass man es bei dem Urtheil der Pes-
simisten mit persönlichen Schwächen und Defecten zu thun habe.
Bei der Wichtigkeit des genannten Gebietes für die axiolo-
gische Frage ist eine eingehendere Erörterung dieses Punctes ge-
boten; eine Erörterung, deren Zweck es ist, dem Leser klar zu
machen, wie die von den Gegnern des Pessimismus behauptete
Verkennung des Werthes der Arbeit und der Liebe vom Pessi-
mismus in seiner reifsten Gestalt, so wie er von Hartmann
herausgearbeitet wurde, einzig nur in den Augen der Gegner vor-
handen ist, weil diese mit einer doppelten Verwechselung an diese
herantreten; indem sie erstens die relativen Werthe für abso-
lute, und zweitens die teleologischen Werthe für eudämono-
logische zu nehmen gewöhnt sind.*)

6. Der Werth der Arbeit.

Leben ist Bewegung; Bewegung hat zu ihrem immanenten


Zwecke wieder das Leben; das ist aber keine einfache Kreisbe-
wegung, die wir den Begriff machen lassen, denn unter den Be-
griff der Bewegung ordnet sich auch der Begriff der Arbeit unter,
und die Arbeit hat zu ihrem Zweck zwar auch die Sicherung des
Lebens, aber nicht des Lebens schlechthin, sondern des Lebens in
einer bestimmten, über das unmittelbar Natürliche, Individualistische
hinausreichenden Form, wo es nur noch insofern Selbstzweck ist,
als es auch Mittel für über-individuelle Zwecke ist.

Der Mensch arbeitet in erster Linie für sich, in zweiter Linie


für die Culturentwickelung; aber auch indem er für sich arbeitet
wirkt er indirect für das Allgemeine, weil er sowohl durch die
Arbeit als solche, wie durch deren Resultat in Relationen zum
Allgemeinen tritt. Der Begriff Arbeit
ist in erster, natürlichster
Form des Begriffes Bewegung mit dem specifischen
eine Species
Merkmal, dass während bei einfacher physiologischer Bewegung
der Zweck zugleich mit der betreffenden Action erreicht ist, bei

*) Vergl. hierzu A. Taubert: „Der Pessimismus und seine Gegner/


Abschn. III. (Ende) und IV, als Entgegnung auf die gegnerischen Einwürfe

aus den Jahren 1870 73. Auch seither wurde von fast Allen, die gegen den
Pessimismus schrieben, dies Thema behandelt, insbesonders auch von sol-
chen, die den ethischen Optimismus vertreten (J. Huber, L .v. Golther, We^r-
gold, H. Sommer, Rehmke u. v. A. m ), aber dennoch auch den naturalisti-
schen, eudämonologischen Werth dieser Lebensfactoren zu retten wünschen.
Der Werth der Arbeit. 211

der Arbeit der Zweck ausserhalb der Bewegung liegt und ein
(relativ) dauernder ist. Wenn sich mir eine Fliege auf die Nase
setzt, so scheucht eine Bewegung der Hand sie hinweg und be-
seitigt gleichzeitig den Kitzel durch eine streichende Berührung
der Stelle, wo sie gesessen; wenn ich aber Hand, Arm und Kör-
per bewege, bis ich die Fliege gefangen, so habe ich in Wirklich-
keit eine Arbeit vollzogen, indem ich mich (und wohl auch meine
Zimmergenossen) von einer Unannehmlichkeit dauernd befreite,
obgleich wir nicht gewöhnt sind, dergleichen Manipulationen „Ar-
beit" zu nennen. Sofern die Arbeit einfach als Bewegung in Be-
tracht kommt, hat auf sie Anwendung, was wir schon oben be-
züglich der verschiedenen Actionsweisen sagten; sie befriedigt den
Bewegungstrieb und erzeugt so da, wo dieser als bewusster Wille
vorhanden war, Lust; wo letzteres nicht der Fall war, besteht die
Befriedigung in der Privation der Unlust, als dem normalen
Zustande des sich seinen specifischen Fähigkeiten nach auswirken
könnenden Organismus. Dabei ist natürlich vorausgesetzt, dass
das durch die Arbeit erforderliche Bewegungsmaass übereinstimme
mit dem, was der Organismus fordert. Das Maass oder Quantum
dieser geforderten Bewegung wird nun vielleicht von Hartmann
unterschätzt; aber zugegeben, dass hier und da eine persönliche
Eigenthümlichkeit durchschimmern möchte, so wird dadurch doch
wahrlich nicht gleich die ganze Lebensauffassung schief gezogen.
Kein Mensch wird leugnen, dass fast eine jede Art von
Arbeit entweder mehr Bewegung beansprucht, als der Orga-
nismus für sein Gedeihen nöthig hätte, oder aber die für letz-
teres nöthige oder doch wünschenswerthe Bewegung hindert oder
beschränkt, oder auch eine einseitige Form der Thätigkeit auf-
nöthigt, wodurch die einen Organe zu viel, die andern zu wenig
in Action kommen, mithin eine doppelte Quelle der Unlust erzeugt
ist. In annäherndster Uebereinstimmung mit dem physiologischen
Bedürfhiss nach Bewegung ist fast nur diejenige freigewählte Be-
schäftigung, der man häufig zögert, die Berechtigung auf den
Namen „Arbeit" zuzugestehen, weil sie eines Hauptcharacteristi-
cons der Arbeit ermangelt: erst die Bedingungen des gesicherten
Lebens als Mitglied der jeweiligen socialen Gestaltungen zu
schaffen.
Hartmann betrachtet in der „Philosophie des Unbewussten",
entsprechend der ganzen Anlage seines Werkes, die Arbeit vom
naturalistischen Standpunct aus, seine Gegner aber haben im blin-
den Eifer übersehen, dass wenn auch das Urtheil über den eudä-
monologischen Werth der Arbeit negativ ausfällt, damit doch noch
nichts gegen ihren Werth als Mittel für höhere Zwecke ausgesagt
ist, ihre „Würde" mithin nicht angetastet wird. Eine so eminent
14*
212 Die Bekämpfung d. P. v. Standp. d. naturalistischen Optim.

teleologische Weltanschauung, wie diejenige der „ Philosophie des


Unbewussten," ist gar nicht in Gefahr, die Bedeutung der Arbeit
zu unterschätzen und ihren ethischen Werth zu verkennen; zum
mindesten nachdem uns Hartmann die „Phänomene des sittlichen
Bewusstseins" geschenkt, sollte hierüber kein Zweifel mehr be-
stehen.
In der festen monistischen Geschlossenheit der Hartmann'schen
Weltanschauung, nach welcher vom ersten bis zum letzten, vom
kleinsten bis zum grössten Greschehniss Alles und Jedes seinen
festen Platz in der einheitlichen Idee der Weltentwickelung ein-
nimmt, gewinnt jede Arbeit eine Bedeutung, wie sie eine solche in
einer individualistischeren Weltanschauung gar nicht erlangt, und
es ist dieses Verhältniss auch ein hervorragendes Moment des evo-
lutionellen Optimismus Hartmanns, dessen Elemente seine Geg-
ner nun gerne als Waffe gegen den eudämonologischen Pessimis-
mus gebrauchen möchten. Aber es ist aus verschiedenen Gründen
eine stumpfe Waffe. Die Lust, welche aus dem Bewusstsein von
dem teleologischen und ethischen Werthe der Arbeit sprosst , er-
duldet erstens in alT denjenigen Fällen, wo die Arbeit als Ac-
tion unlustvoll ist, einen ganz erheblichen Abzug, wenn auch nicht
der Intensität des einzelnen psychischen Momentes, so doch als
relativ dauernder Zustand, der das Product der physischen Unlust
und der ideell vermittelten Befriedigung ist; zweitens aber darum,
weil auch diese Befriedigung über den sittlichen, -ökonomischen,
wissenschaftlichen u. s. w. Werth der Arbeit durchaus nicht so
zweifellos gewiss ist, indem auch in diesem Sinne das Ziel oft
nicht erreicht oder der Erfolg der Anstrengung nicht adäquat
ausfällt.
Nur für das philosophische Denken ist jede Arbeit, wie immer
ihr erkennbares Resultat ausfällt, eine That für das Allgemeine,
ein positives Moment des Weltprocesses; für das einfache, natür-
liche Empfinden und den im Dienste des Individuums und der so-
cialen Mittelzwecke thätigen Verstand der grossen Masse kommen
wesentlich nur die vielen concreten Formen als solche in Betracht,
in die gleichsam maskirt der eine absolute Zweck aller Lebens-
thätigkeit zur Wahrnehmungdes endlichen Geistes gelangt.
Eudämonologisch am
günstigsten sind natürlich diejenigen
Verhältnisse, wo erstens die Berufstätigkeit im Gleichgewicht mit
dem Actionstrieb der geistigen und leiblichen Individualität steht;
wo zweitens die individuellen (natürlich-egoistischen) Zwecke ge-
fördert werden, und drittens sich gleichzeitig, als allgemein nütz-
liche Leistung, eine höhere Bedeutung gewinnen.
Aber wie wenig zahlreich sind im Verhältniss zur Masse der
Arbeitenden die Fälle, wo diese Bedingungen zusammentreffen, die
Der Werth der Arbeit. 213

xler Arbeit einen eudämonologischen Werth sichern! In den aller-


meisten Fällen, wo die Arbeit erst die Existenzmittel gewinnen
oder siehern muss, übersteigt sie weit das physiologisch geforderte
Bewegungsmaass und verlangt ein Opfer an physisch-psychischer
Kraft, welches als Ermüdung sich geltend macht, die in unend-
lich vielen Abstufungen und uancirungen die Hauptform der Ar-
beitsunlust darstellt. Wer es bezweifeln möchte, dass „um seinen
Lebensunterhalt arbeiten" nichts anderes heisst, als einen Theil
seines Lebens einsetzen, um das Leben zu gewinnen, der denke an
die statistischen Ergebnisse bezüglich der lebensverkürzenden Ein-
wirkung so vieler Berufsarten. „Und setzt ihr das Leben nicht
selber ein, nicht wird euch das Leben gewonnen sein" — das ist
sicherlich ein tragischer Widerspruch des cultur eilen Lebens.
In den zahlreichsten Fällen ermangelt der Arbeitende des er-
hebenden Ausblickes auf die Gemeinnützigkeit seiner Arbeit und
ihr Zweck erschöpft sich in der Förderung seiner Privatzwecke;
wie mangelhaft werden diese aber in unendlich vielen Fällen er-
reicht! In welchem Missverhältniss steht die gewonnene Lebens-
stellung bei der Mehrzahl der Fabrikarbeiter zu deren Kräfteauf-
wand, und wie unzureichend erweist sich da, wo es überhaupt
vorhanden ist, das Bewusstsein, dass jede Arbeit, auch die unter-
geordnetste, dem Ganzen diene, wenn der Lohn der Arbeit nur eine
gar zu kümmerliche Lebensweise gestattet.
Für das Nichterreichen der individuellen Zwecke zeugen auch
die sich stets mehrenden Umsattelüngen im Berufe, ferner die Aus-
wanderung, mit der in der Regel die letztere verbunden ist, und
die sich häufenden Bankrotte; dass unberechtigte Ansprüche an
Luxus u. s. w häufig die letztern verschulden, ist hier keine Gegen-
instanz, wo es sich nur um die Behauptung handelt, dass das indr-
viduell gesetzte Ziel oft nicht erreicht werde, gleichviel, ob dieses
Ziel berechtigt oder unberechtigt weit gesteckt wurde, ein relativer
Begriff, der in der Regel erst festgestellt wird, wenn der Erfolg
gesprochen hat.
Es ist irrig, wenn St. Gätschenberger (Deutsche Zeit- und
Streitfragen. 125. H.) meint, die Unthätigkeit führe den Reichen
zum Pessimismus, den Armen zum Nihilismus; der „Arme", d. h.
der Besitzlose, hat in unseren Culturverhältnissen nur zu viel
Arbeit im Yerhältniss zum geringen Erfolg. Wo aber der Besitz-
lose unter noch einfacheren Verhältnissen, günstigeren Agrarver-
hältnissen und gutem Klima (z. B. in manchen Theilen der Ame-
rikanischen Südstaaten) ohne schwere und viele Arbeit seinen ein-
fachen, naturgemässen Unterhalt ermüdungslos gewinnt, da weiss
man auch nichts von Nihilismus und socialdemocratischen Ent-
rüstungspessimismus, und wo das pessimistische Bewusstsein den-
214 Die Bekämpfung d. P. v. Standp. d. naturalistischen Optim.

noch erwachst, da hat es ganz andere Wurzeln und fugt sich ge- .

wohnlich in den Rahmen des christlichen contemptus mundi.


Die Arbeit im weitesten Sinne, als Bewegung mit ausser-sub-
jectivem Zwecke, ist nichts Zufälliges, nichts Willkürliches, nichts,
was auch nicht sein könnte; sie liegt im Plan der Welt, wie das
Athmen im Plan der Organismen; und in beiden Fällen ist dieser
Plan nichts unserm innersten Sein von Aussen aufgedrängtes, son-
dern wie die Herzwurzel unseres Seins mit der Weltwurzel eins ist,
so stammt auch die Bestimmung zur Arbeit aus unserem eigensten
Innern heraus. Wir wollen arbeiten, weil wir unserer innern
Natur nach arbeiten müssen, und wir müssen arbeiten, weil wir
arbeiten wollen —
fügen wir als Bekenner der Willensphilosophie
hinzu.
Damit ist vollständig derjenigen Thatsache Rechnung getragen,
welche man den „Segen der Arbeit " nennt.
Die Erfüllung der Arbeitsbestimmung befriedigt die innerste
Seele, aber diese Befriedigung wird in sehr vielen Fällen von der
Unlust durch das Unbefriedigt-bleiben-müssen naturalistisch-indi-
Neigungen und Triebe begleitet.
vidualistischer
Auch die tragische Selbstverleugnung bis zur Selbstvernich-
tung im Dienste einer Idee ist in diesem Sinne Willensbefriedigung,
und doch ist sie Schmerz und nicht Lust; und so kann die Arbeit
die Ruhe-, Friedens- und Segensspenderin, und doch dabei herzlich
mühsam und unlustvoll sein.
Das ist gar kein Widerspruch gegen den Satz der Willens-
philosophie: dassLust die Grefühlsresonanz des befriedigten Willens,
Unlust diejenige des unbefriedigten Willens sei; denn unser
Seelenleben und der Fluss unseres Bewusstseins ist keine homo-
gene, sich einfach fortschiebende Masse, sondern tausend Tropfen
bilden eine Welle, tausend Wellen bilden den Strom, und Lust
oder Unlust als zeitlich messbare Empfindung sind das Product
vieler positiver und negativer Componenten, gleichwie unser Han-
deln, sowie es sich aus Motiv und Ziel, Mittel und Möglichkeit er-
giebt, das Resultat eines sehr complicirten Vorstellungs- und Wil-
lens-Pro cesses ist.
Dass wir arbeiten müssen, beweist auch der „Sport". Er ist
der Versuch, das von der Natur geforderte Actionsquantum zu
leisten mit directem, subjectivem Lustziel und mit Vermeidung jener
Grenze, wo das Zuviel der Action Ermüdung verursacht; während
aber bei der Arbeit in den individuellen Zwecken allgemeine Zwecke
mit gefördert werden, so ist beim Sport das Ziel mit der Lust des
Individuums erschöpft. Aber diese rein individuellen Ziele werden
auf die Dauer nicht erreicht; wo der Sport rein gewahrt werden
soll, da erzeugt er in der Regel bald Ueberdruss und muss nach
Der Werth der Arbeit.
.
215

einiger Zeit gegen wirkliche Arbeit vertauscht werden, wenn das


Leben nicht ein unglückliches, verkümmertes werden soll, es sei
denn, der Sport werde nur neben einer ernstlichen Arbeit getrieben.
Wo aber der auf den Höhen socialer Stellung sich befindende
„Sportsman" ein ganzes Leben lang dieses bleibt, daist der Sport
dieses theilweise nur noch dem Namen nach, theilweise aber zur
arbeitenden Thätigkeit geworden, die mehr oder minder direct eine
günstige Veränderung persönlicher und (local) allgemeiner Ver-
hältnisse zum Ziele hat (z. B. wenn mit dem Rennsport die Pferde-
zucht und -Veredelung verbunden ist). In diesem Falle ist dann
die Begriffssphäre des Sportes gesprengt, indem das Ziel nicht mehr
directe, unmittelbare Lust, sondern die Erreichung objectiver Zu-
stände ist, sei es, dass diese als gut, als angenehm, als vernünf-
tig, als dem Familien-, Volks- oder Landeswohl günstig erachtet
werden, so dass die allerdings erwartete Befriedigung erst intellec-
tuell vermittelt aufzutreten hat.
Manche Optimisten verkennen die Thatsache, dass der Mensch
auf einer gewissen Culturstufe den Satz: dass die Natur im Men-
schen über sich selbst hinaus wolle, dadurch bewahrheitet, dass er
mit Bewusstsein das Unlustvolle will und auf diese Weise ein sehr
schwer in seinen einzelnen Fäden erkennbares Gewebe von posi-
tiven und negativen eudämonologischen Momenten erzeugt; sie ver-
kennen die Thatsache in ihrem optimistischen Glauben: dass die
Welt um der Lust ihrer Empfindungssubjecte willen da sei, wo
jenes alsdann ein Naturwiderspruch sein würde; daher wird die
Unausweichlichkeit der Arbeit und die Unlust des Müssigganges
direct als Beweis für die lustproducirende Eigenschaft der Arbeit
gehalten, was ein falscher Schluss ist.
Wenn es aber trotzdem, dass die Hälfte des gesammten Arbeits-
quantums der Menschheit mit Ueberschuss physischer Unlust ge-
than werden muss, wahr bleibt, dass jede Arbeit, selbst die er-
bärmlichste, einförmigste, unter mannigfaltigen Umständen als
Wohlthat empfunden werden mag (und zwar ohne Bücksicht
auf ihre Folgen, sondern rein nur als zweckthätige Action), so
spricht dies für, nicht gegen die leidvolle Beschaffenheit des Lebens;
denn ihre wohlthätige Wirkung besteht in dem Vergessenmachen
des Selbsts und seines Bestehens, vermittelst der Selbstentäusserung
in der mechanischen Kraft entlassung. Für den bloss relativ eudä-
monologischen Werth der Arbeit mag es aber auch als Beleg
dienen, dass, wo immer gearbeitet wird, auch bei scheinbarer voll-
ster Freiheit (d. h. da, wo die Arbeit nicht des Lebensunterhaltes
oder übernommenen Berufes wegen gefordert ist, so lange nur die
Arbeit noch gleichsam instinctiv übernommen wird, allemal die
künftige Arbeitslosigkeit das Ziel der Arbeit bildet, d. h. dass
216 Die Bekämpfung d. P. v. ISt&ndp. d. naturalis tischen Optim.

man nur arbeitet,um dereinst nickt mehr arbeiten zu


müssen. Nie
wird die Arbeit um der Arbeitsaction willen gewollt,
so lange die
Lebensanschauung noch eine wesentlich optimistische ist, sondern
stets nur als Mittel zu künftigem ruhevollem, passivem Gemessen»
Erst wenn das pessimistische Bewusstsein erwacht ist, erst
nachdem erkannt wurde, dass die Ruhe, der Besitz, um den zu ge-
winnen man gearbeitet hat, nicht begluckender ist als die Periode
der Action und des Strebens sammt ihrer selbstvergessenen Un-
rast, erst dann wird die Arbeit um der Arbeit willen geübt, aber
nun nur mehr mit dem bewussten Verzicht auf positive Lust
und indem man resignirt mit dem relativen Werth vorlieb nimmt.

7. Der Werth der Liebe.

Was schon Jean Paul vom Leben sagte: dass wir es nicht
liebten, weil wir es schön fänden, sondern dass wir es schön fan-
den, weil wir es liebten —
das lässt sich auch speeieil auf die
Liebe anwenden.
Wir lieben nicht, weil es uns Lust gewährt, sondern wir lieben,
weil wir müssen; und weil das Muss aus der innersten, metaphy-
sischen Wurzel unserer Seele stammt, darum fühlen wir Lust, wenn
unser Liebenmüssen, das als Liebenwollen erscheint, ein Lieben-
können wird.
Wie die Lebensfreude die Gefuhlsresonanz des befriedigten
Lebenswillens ist, so ist die Liebeslust die Gefühlsresonanz des be-
friedigten Liebeswillens. Es gilt dies von jeder Art der Liebe: so-
wohl von dem sinnlichen Naturtrieb, als von jenem Sehnsuchts-
zug der Geister, welcher das Hauptmoment der Freundschaft aus-
macht, wie endlich auch von der auf der Grenze des instinctiven Ge-
fühlsgebietes und demjenigen der Reflexion erblühenden Mensch-
heitsliebe.
Jeder, der recht intensiv geliebt hat, wird Momente gehabt
haben, wo er mit Goethe seufzte: „ Liebe, Liebe lass' mich los"; wo
er sein Lieben als einen Zwang, als eine sein egoistisches Wohl-
streben beeinträchtigende Bürde empfunden hat, und wird gedacht
haben: müsste ich doch diese nicht so liebhaben! —
freilich nur
um gleich im folgenden Moment aus tiefstem Seelengrunde mit
einem anderen Dichter zu sprechen:

„Und brächte man mir Lethes Fluth,


Und spräche: „Trink, du sollst genesen sein,
Sollst fühlen, wie so süss Vergessen thut" —
Ich spräche: Nein!"
Der Werth der Liebe. 217

Aber aus diesem Liebenwollen, dem Empfinden des Müssens,


als einem Gewollten, darf man ebenso wenig, als aus der Un-
vermeidlichkeit der Arbeit und der Unlust des Müssigganges,
kurzweg auf den hohen eudämonologischen Werth der Liebe
schliessen; es ist eben hier die Stelle im Empfindungsleben, wo
die beiden Maassstäbe: der egoistisch-eudämonistische und der in-
stinctiv angelegte teleologische und ethische, vom Individuum un-
bewusst wechselsweise an das Gefühl angelegt werden, und in Folge
dessen auch die schmerzlichen, unruhvollen Empfindungen der Liebe
dem privativen Zustand des Nichtliebens vorgezogen werden.
Schopenhauer kennt neben dem in der negativen Sphäre
verbleibenden eudämonologischen Werthe der Liebe nur noch deren
teleologische Bedeutung für die Erhaltung der Gattung; und da
bei ihm die Erhaltung der Gattung keinen von der Vernunft ge-
rechtfertigten Werth hat, sondern seine Bedeutung nur in dem
blinden Willen besitzt, so ist dieser teleologische Werth nur ein
sehr relativer, vom höheren Standpuncte verschwindender.
Hartmann aber anerkennt in vollem Umfang, nicht nur mit
Schopenhauer die teleologische Bedeutung im Naturgebiete, son-
dern auch den ethischen Werth der Liebe.
Bis zum Erscheinen der „Phänomenologie des sittl. Bewußt-
seins
44
war es bei seinen Kritikern gäng und gäbe, diese That-
sache zu verkennen; ja, was A. Taubert von Weis (Anti-Mate-
rialismus, III. B) sagt: dass er dasjenige, was Hart mann in vor-
bereitendem Sinne über die Liebe sage, um zu zeigen, was die
Liebe nicht sei, allen Ernstes als Definition der Liebe nehme,
das gilt für eine grosse Zahl der Hartmann-Kritiker. Neben dieser
groben Verwechselung läuft aber noch die andere nebenher: es sei
mit der vorwiegend naturalistischen Behandlungsweise und Ab-
schätzung der Liebe in der „Phil. d. Unb." Hartmann's Aestima-
tion dieses Gefühles überhaupt erschöpft.
Seit dem Erscheinen der „Phän. d. sittl. Bewusstseins" hat
sich zwar in dieser Hinsicht vieles gebessert, aber volle Klarheit
ist doch noch nicht in die Sache gekommen, und im grösseren Publi-
cum findet man noch öfter ein Echo jener älteren Beurtheilungen.
Die Liebe ist die Brücke aus dem Gebiet der Selbstsucht in
das Gebiet der Sittlichkeit hinüber; indem im Liebesgefühl das Ich
das Du in sich aufnimmt, dessen Wohl und Wehe als das seine
empfindet, sein Ich im Du gleichsam untersinken lässt, wird die
im Natürlichen wurzelnde Liebe zur Triebfeder der Sittlichkeit,
wenn sie auch selbst noch nicht schlechthin sittlich kann genannt
werden.
Es dünkt uns, dass durch diese Auffassung der Liebe ein für
alle Mal den Verkennungen ein Ende gemacht sein sollte; es ist
218 Die Bekämpfung d. P. v. Standp. d. naturalistischen Optim.

aber nicht der Fall. Noch in einer der letzten und bedeutendsten
Kundgebungen gegen Hartmann und den Pessimismus (J. Rehmke,
„Der Pessimismus u. d. Sittenlehre") lesen wir, dass zwar für den
egoistischen Standpunct der Liebe das pessimistische Urtheil gelte;
die selbstlose Liebe aber ergebe ein eudämonistisch günstiges
Resultat.
Der Pessimismus bestreitet den teleologischen und ethischen
Werth der Liebe durchaus nicht. Auch wenn man mit Schopen-
hauer die Liebesleidenschaft als eine Kriegslist der Natur erachtet,
um das egoistische Individuum den Zwecken der Gattung und
damit der Weltentwickelung dienstbar zu machen, so liegt darin
keine Entwürdigung der Liebe, wie Hartmann mit Recht wieder-
holt hervorgehoben hat: noch weniger aber, wenn man zwar deren
eudämonologischen Werth verneint, aber ihre teleologische Bedeu-
tung innerhalb eines vernünftigen, zielvollen Weltprocesses
hervorhebt; denn die Liebe erscheint um so erhabener, je souve-
rainer ihre Macht über der individuellen Wohl- und Weh-Sphäre
steht. Die tragische Liebesleidenschaft, die mit Bewusstsein der
Gefahr des drohenden Unterganges entgegen geht, steht nach der
allgemeinen Schätzung höher da als die Lustspielliebe, welche die
Kraft ihrer Dauer aus dem Bewusstsein schöpft, zu einer lustigen
Hochzeit und einer reichen Mitgift zu führen. Diese Schätzung
wäre aber falsch, wenn der eudämonologische Werth der Liebe
maassgebend für deren Bedeutung und mithin deren Würde wäre.
An dieser Stelle aber haben wir es nicht mit der teleologi-
schen und ethischen Bedeutung der Liebe zu thun, die —
wir
wiederholen es — vom Pessimismus gar nicht angefochten wird,
sondern nur mit dem Yerhältniss von Lust und Unlust, welche
die Liebe, gleichviel welcher Art, ob von bloss naturalistischer oder
ethisch verklärter Beschaffenheit sie sein mag, erzeugt.
Natürlich gilt von der Liebe in ihrer untersten, naturgebunden-
sten Form dasselbe, was von jedem physiologisch-psychischen Vor-
gange: der Wechsel und die Stärkegrade ihrer lust- und unlust-
vollen Momente sind nicht objectiv messbar; ebenso würde auch —
das Unmögliche als möglich genommen —eine vollständige Stati-
stik sämmtlicher Liebesverhältnisse und ihrer Dauer und Ausgänge
nur ein approximatives Resultat liefern; denn dieselben Umstände,
die den Einen zum Selbstmord treiben, führen den Andern einfach
einem andern Mädchen zu; und was für das eine Individuum nur
Festtagsepisode ist, das ist für das andere Centrum der Lebens-
bethätigung. Aber was wir oben von dem zwar engen, aber dafür
um so allgemeiner gültigen Kreise aussagten, innerhalb dessen ein
Urtheil über das Empfinden eines Dritten durchaus zulässig und
sicher sei, das gilt auch für die Liebe. Es beruht ja alle poetische
Der Werth der Liebe. 219

Schilderung auf der Voraussetzung, dass bei Kenntniss der äusseren


Umstände, die Gefühlswirkung geschätzt und vorgestellt, also nach-
gefühlt werden könne; nur unter dieser Bedingung ist der Dichter
Herzenskündiger.
Wenn die Natur auf das Glück der Geschöpfe keine Rücksicht
nimmt, insofern, als zwar überall und auf allen Stufen der Ent-
wicklung die Möglichkeit gegeben ist, dass, wie Schmerz, so
auch Lust hervorgerufen werden kann, nicht aber die Bedingungen
der Dauer garantirt,. so zeigt sich dieser Mangel an Fürsorge recht
auffällig bei der Liebe.
Wir verstehen hier unter Liebe nur diesen Trieb in seinem
ausschliesslich menschlichen, höheren, psychischen Sinne, nicht im
Sinne eines auf die Erhaltung der Gattung gerichteten Instinctes;
denn die pessimistische Beurtheilung der geschlechtlichen Triebe
bloss als solche, hat keinen erheblichen Widerspruch erlebt, ob-
gleich nach unserer Meinung die mit dem Geschlechtsleben in der
Thierwelt verbundene Lust von Hartmann etwas unterschätzt
sein möchte. Zwar nicht diejenige, die mit dem Begattungsacte
selbst verbunden ist, als vielmehr jene, die aus dem gehobenen
Lebensgefühl herrührt, welches während der Brunstzeit besteht und
das wir bei unsern Hausthieren so unverkennbar vorfinden: der
Lebenstrieb ist hochgesteigert, und findet in der gesteigerten orga-
nischen Thätigkeit der Brunst seine Befriedigung.
Die Opposition der Optimisten richtet sich aber nur gegen das
Urtheil über jene Liebe, die die Dichter besingen, und welche bei
den Culturvölkern maassgebend für die Gestaltung der socialen
Verhältnisse geworden ist. Da zeigt sich denn als ergiebigste Quelle
jener Unlust, welche dem Culturmenschen aus den um der Liebe
willen geknüpften Verhältnissen entsteht: das Auseinandergehen
der physischen und geistigen Entwickelung und Reife.
Nun ist es zwar eine Thatsache, dass je höher die intellectuelle
Stufe der Entwickelung ist, auf der ein Volk steht, durchschnitt-
lich um so später die physische Reife beider Geschlechter erfolgt;
trotzdem aber ist noch stets eine zeitliche Differenz vorhanden,
zwischen dem Zeitpunct, wo der Mensch als blosses Naturwesen
die Spitze seiner physischen Entwickelung erreicht und demjenigen,
wo er geistig und characterologisch reif und fertig ist. Damit ist
aber für alle auf Dauer berechneten Verhältnisse (und nur die
Liebe, wo die Dauer des Liebesbandes, gleichviel welcher Art dieses
sei, mit zu den Zielen des Liebeswillens gehört, fallen unter die

Categorie der höheren, sittlich werthvollen Liebe) die Bedingung


der mannigfaltigsten Unlustursachen geschaffen, ohne dass der eine
oder andere Theil eine sittliche Schuld zu tragen braucht.
Beim weiblichen Geschlecht ist es ganz häufig, dass die geistigen
220 Die Bekämpfung d. P. v. Standp. d. naturalistischen Optim.

Fähigkeiten sich erst dann völlig entfalten, wenn der Gipfel der
geschlechtlichen Reife bereits erreicht oder überschritten ist gleich- ;

sam als ob die abstract menschliche Entwickelung des Intellectes


erst ganz freie Bahn erlangte, wenn das Individuum seine Be-
stimmung als geschlechtlich differenzirtes Glied der Gattung erfüllt
hat. Bei dem Manne aber, wo dieser Zwiespalt zwischen dem Leben
im Dienste der Gattung und dem des individuellen Geisteslebens
nicht vorhanden ist, ist das sociale Leben, in seinen mannigfaltigen
Formen und mit seinen vielseitigen Anforderungen an den Bürger
eines Culturstaates, noch mehr als ein Jahrzehnt, nachdem die
physische Reife erlangt ist, eine den Character modeln helfende
Schule, nachdem die eigentliche Schulzeit allgemeiner und Berufs-
bildung zurückgelegt ist.
Wenn nun zwei junge Menschen sich Heben und im Glauben
an die nothwendige Dauer dieser tief und heilig empfundenen Liebe
sich durch die Ehe verbinden, so mögen sie physisch und geistig
ausgezeichnet zu einander passen und doch nach einigen Jahren
durchaus ungeeignet sein, miteinander eine beglückende Ehe zu
fuhren. Beide können sich geistig und characterologisch in diver*
girenden Richtungen entwickelt haben, oder aber auch nur der eine
Theil.
Es kann zwar auch eine Entwickelung zweier Verbundener in
der Weise stattfinden, dass der kräftigere Geist oder Character den
schwächeren beeinflusst und die Entwickelung desselben in seine
eigenen Bahnen lenkt, womit die Bedingung zur glücklichen Ehe
gegeben ist; es kann aber auch eine Beinflussung stattfinden, die
zwar wesentlich bestimmend ist für das „Wie" der Entwickelung
des Andern, ohne doch deren Bahnrichtung gänzlich von ihrer vor-
bedingten Richtung abzulenken. Auch bilden die psychischen und
geistigen Entwickelungspfade keine geraden Linien, die sich mit
den Pfaden derjenigen, mit denen ihre Träger in Lebensverband
traten, in rechten Winkeln schneiden; sondern die Pfade bilden
Kurven, und die erzeugten Winkel sind oft sehr spitz, so dass einem
zeitweiligen Nebeneinanderhergehen und einem Berührungspunct
unter spitzem Winkel plötzlich eine rasche Abweichung folgen kann.
Je jugendlich-unfertiger beide Theile bei der Verbindung waren,
um so grösser die Gefahr in dieser Hinsicht; und selbst wenn zwei
bedeutende Naturen, die beide wahre Originalität besitzen, sich
finden, ist die Gefahr auf solche Weise entstehender Unlustbedin-
gung vorhanden; denn obgleich auf einer gewissen geistigen
Höhe die Differenzen in der Geistestendenz nicht mehr störend
wirken, so bleibt doch die Möglichkeit zu Conflicten auf Grund der
charact erologischen Unterschiede bestehen.
Ein reifer, fertiger Mann von gutem Character, aber bloss
Der Werth der Liebe. 221

mittlerem, durchschnittlichem Verstände, kann ein Mädchen wühlen,


welches ebenfalls reif scheint, weil ihre Weibesnatur allerdings
reif ist, während ihr Geist erst dann seine Schwingen zu entfalten
beginnt, wenn es durch die Ehe in weitere Lebenskreise geleitet
wurde, und seine primitiv-natürlichen Gattungspflichten erfüllt hat;
es kann in solchem Falle das Weib dem Manne geistig über den
Kopf wachsen und unwillkürlich im Laufe der Begebenheiten zur
Kritik des Wesens und des Thuns gelangen, was für beide Theile
eine gefährliche Klippe des ehelichen Glückes darstellt.
Es kann aber auch der Mann das Mädchen höheren intellec-
tuellen Aufschwunges fähig erachten, weil die kräftig entwickelten,
specifisch weiblichen Triebe und Instincte während der Dauer der
ersten Blüthezeit über die Expansionsfähigkeit der physischen Kräfte
zu täuschen vermögen; fallt hernach mit dem Ende der Blüthezeit
das Stimulans der regeren Lebensthätigkeit hinweg, so erscheint
nothwendigerweise die Stagnation auf dem bisherigen geistigen
Standpunct als ein Rückschritt; aus der reizenden Braut ist nach
wenigen Jahren eine Frau entstanden, die eben nichts weiter ist
als ein „ Weibchen " im zoologischen Sinne dieses Wortes.*)
In diesen und vielfach variirten Fällen (Beispiele wird jeder
Leser ohne Mühe finden können) findet nun ein Sterbeprocess
der Liebe in ihrer höchsten Form (als Einheit von Leidenschaft
im Dienste der Erhaltung der Gattung und von einer auf vermeint-
liche geistige Uebereinstimmung basirten Freundschaft) statt; zieht
man nun die Dauer der unlustvollen Seelenvorgänge hierbei in
Betracht, so ist die Summe der hierdurch erwachsenden Unlust der-
jenigen sicherlich nicht nachstehend, die aus solchen Verhältnissen
resultirt, wo die erstrebte Vereinigung überhaupt nicht zu Stande
kommen konnte, oder nicht auf eine dem Liebestrieb genügende
Weise und Dauer. Dabei braucht die Tragik nicht minder gross
zu sein in einem innerlich gelockerten Verhältniss, welches äusser-
lich in allen Schranken bürgerlicher Gehörigkeit und Anständigkeit
verharrt, als in einer endenden Liebesromanze,
wo die gesteigerte Lebensintensität inmitten des leidenschaftlich-
tragischen Seelensturmes ein Gegengewicht (freilich nur ein auf der
negativen Seite der eudäm onologischen Scala verbleibendes) zu dem
Liebesschmerze bildet.
Das Gefühl von dem furchtbar ernsten Character der Liebe
und der auf deren Grunde erwachsenen, sittlich formirten Verhält-
nisse, ist allgemein vorhanden und findet seinen Ausdruck in der
Beschaffenheit der dieses Thema behandelnden Literatur und dem

*) Solche Metamorphose schildert Bogurail Goltz (Naturgeschichte


d. Frauen) schneidig aber wahr.
222 Die Bekämpfung d. P. v. Standp. d. naturalistischen Optim.

nicht erlahmenden Interesse, welches das Publikum dem Ehestands-


drama und Roman entgegenbringt. In wie verschwindender Minder-
heit ist die Liebesidylle, wo vom Beginn bis zum Ende der Ueber-
schuss der Lust über der Liebe Bangen unzweifelhaft ist, gegenüber
den Nachtgemälden der Leidenschaft und jenen Stimmungsbildern,
wo nach langem Ringen wohl die Ruhe und der Friede, aber nicht
die Lust gefunden wurde.
Im modernen Lustspiel ist das sich Suchen und mit fröhlicher
Verlobung endende Finden nur von nebensächlicher Bedeutung für
die Wirksamkeit des Stückes. Ein einfach glückliches, das heisst
durchweg lustvolles Liebesleben ist, wenn poetisch dargestellt, für
den Zuschauer wehmutherregend, oder, wenn realistisch vorge-
führt, langweilig; es erklärt sich dies dadurch, weil im ersteren
Falle wir uns der Seltenheit von dergleichen Lebenszuständen
bedauernd bewusst werden; im zweiten Falle aber erstlich, weil
wir an die Dauer des sich als dauernd gebärdenden nicht zu
glauben vermögen, und zweitens, weil unser unbewusst bleiben-
des, instinctives Werthurtheil der Geschehnisse und Zustände, wo-
durch unser Interesse und unsere Theilnahme an denselben bedingt
wird, ein solches ist, dass ein Geschehen, ein Vorgang um so höher
taxirt wird, je ernsterer Natur er ist; ernst aber ist etwas, sofern
es ohne eudämonologische Rücksichten höheren Zwecken dient.
Wenn Hartmann die Ehe als dasjenige Verhältniss schildert,
wo sowohl die geschlechtliche Liebe (Liebeim engeren Sinne), als
auch die Freundschaft ihre schönste Blüthe treiben kann, und in
dieser Liebesfreundschaft zugleich die Form erkennt, worin das
oberste Gefühl der Gefühlsmoral seine ungehemmteste Entfaltung
finden kann, so hat er damit zugleich dasjenige Verhältniss ge-
schildert, wo die Liebe in ihrem beglückendsten, weil friedvollsten,
wunschlosesten Zustande ist. Was sich als reinste, kampfloseste
Manifestation der Liebe als eines sittlichen Princips darstellt, das
ist allerdings auch ein eudämonologisch werthvoller Zustand, indem
er über einem der Kreuzungspuncte liegt, wo das individuelle Inter-
esse und dasjenige der Gattung sich momentan decken. Dies ist
allen denjenigen gegenüber zu betonen, welche geneigt sind, Hart-
mann für unfähig zu erachten, das beglückende Moment der Liebe
zu würdigen. Nach den fatalen Erfahrungen, die man gemacht
hat bezüglich der Häufigkeit des Missverstehens von Hartmann's
wahrer Meinung, ist es aber auch nicht unnöthig, darauf hinzu-
weisen, dass ungeachtet der Verherrlichung der Liebesfreundschaffc
in der „Phän. d. sittl. Bew." nicht das Mindeste an dem pessimisti-
schen Urtheil der „Phil. d. Unb." über die Liebe im Allgemeinen
zurückgenommen worden ist. Denn wenn auch diese Liebe durch
ihrer selbst ebenbürtige, entgegenkommende Gefühle und Ge-
Der Werth der Liebe. 223

sinnungen sittlichund eudämonologisch werthvoll ist, so ist auch


die unglückliche Liebe nicht minder sittlich werthvoll: nicht nur
die Liebe, die im Glücke der Liebe sich sonne, sei schön, sondern
auch jene, die missachtet werde und doch nicht erlahme und nach-
lasse in ihren Liebesmühen, hebt Hartmann hervor.
Die Behauptung Rehmke's, dass das pessimistische Urtheil
über die Liebe nur für die egoistische Liebe Geltung habe, ist so
unzutreffend, dass in vielen Fallen das Gegentheil wahrer ist.
„Egoistische Liebe" ist eigentlich ein schiefer Begriff; die Liebe
ist gerade die Sprengung der egoistischen Abschliessung der Seele.
Was man so im gewöhnlichen Leben „egoistische Liebe" nennt,
das erscheint nur so, wenn der Liebende zu kurzsichtig, zu be-
schränkten Geistes ist und daher den Gegenstand seiner Liebe nicht
nach dessen Facon will selig sein lassen, sondern ihn quält, nach
seinem Willen zu sein und zu thun, zu kommen und zu gehen.
Eine solche kurzsichtige Liebe kann für beide Theile zum Kreuze,
ja zum Unheile werden, und dabei doch ihrer Gefühlsseite nach
echte, reine Liebe seine.
Oder „egoistische Liebe" ist ein Verhältniss, welches zwar äusser-
lich die Merkmale eines Bundes der Liebe zeigt, aber eigentlich nur
ein aus egoistisch-practischen Gründen eingegangenes Arrangement
ist, worin die Schätzung des Andern sich nach den Annehmlich-
keiten richtet, die dem Einen daraus erwachsen; z. B. wenn ein
Mann heirathet, um an der Frau eine gute Haushälterin oder eine
feine Köchin zu haben, oder ein Mädchen einen ihr sonst gleich-
gültigen Mann, weil er reich ist und ihr ein bequemes Leben
sichert. Ein solches Verhältniss ermangelt auch da, wo es ein in
seiner Art gutes, d. h. durchaus friedvolles und sogar durch gegen-
seitige Dankbarkeit sittlich geadeltes ist, der Lust und der tiefen,
beseligenden Befriedigung echter Liebe; es kennt dafür aber auch
nicht das unter Umständen tödtliche Herzeleid, wenn die auf das-
selbe gestellten Erwartungen nicht erfüllt werden, sondern nur den
Aerger, welcher zwar auch Unlust ist, aber solche von leichterem
Caliber und eher corrigirbar. Man kann es endlich „egoistische
Liebe" nennen, wenn das sinnliche Moment der geschlechtlichen
Liebe um seiner selbst willen gesucht wurde; löst sich nun ein
bloss aus diesen Rücksichten geknüpftes Band, so wird es in der
Regel auch mit Unlust verbunden sein, aber diese stammt mehr
von äusseren Umständen her, als aus dem Aufhören des bestandenen
Liebesgefühls, denn dieses ist oder ist nicht mehr, und ist wie nie
gewesen, wenn es aufgehört hat.
Dagegen hat der echt Liebende an dem Objecte seiner selbst-
losen Liebe ein erweitertes Feld, wo er von Schmerz und Leid ge-
troffen werden kann und fühlt in manchen Fällen das Ungemach,
224 -Die Bekämpfung d. P. v. Standp. d. naturalistischen Optim.

welches das geliebte Wesen trifft doppelt schmerzlich weil sich ,

ihm in der Liehe sein eigenes Wesen gleichsam verdoppelt.


Wenn daher eine echte Liebesleidenschaft zu Ende geht, so
ist das ein unsäglich peinlicher Sterbeact; um so peinlicher, je
selbstloser geliebt wurde, weil man dann den Wandel seines Ge-
fühls im Andern als Beraubung sympathisch mitempfindet.
Auch bleibt das Sehnen nach einem Liebesverbande entweder be-
stehen, aber das Object, an das bisher die Sehnsucht sich heftete,
genügt den an ein solches gemachten Ansprüchen nicht mehr, oder
aber das Sehnen selbst erlischt; dann aber bleibt ein Gefühl der
Oede und Leere zurück und die Freiheit, nicht lieben zu müssen,
wird, wenn Liebe vorherging, nicht sowohl als Freiheit, sondern
als Verarmung gefühlt.
Man begegnet häufig der Ansicht, es würde sich der eudämo-
nologische Werth
der Geschlechtsliebe dadurch steigern lassen, dass
die Ehe, als derjenigen Form unter der die Liebesbündnisse staat-
lich und gesellschaftlich anerkannt und wesentliche Factoren der
socialen Gestaltung der Menschheit werden, einigen Modificationen
unterworfen würde. Erstens indem das Eingehen derselben da-
durch erleichtert würde, dass die Erziehung der Kinder (auch die
physische) vom Staate übernommen würde; zweitens indem die
Ehescheidung noch mehr als bereits geschehen erleichtert würde.
Erstere Ansicht wird auch von einem Philosophen der Schopen-
hauerschen Schule, Lazar B. Hellenbach, beredt anempfohlen,
weil dadurch die Liebesheirathen im Verhältniss zu denjenigen,
welche aus Interessen, die mit der Liebe nichts zu thun haben, ge-
schlossen werden, sich erheblich vermehren würden was der phy- ,

siologischen und intellectuellen Veredelung der Gattung zu gut


kommen möchte.
Nach der zweiten Richtung hin tendiren alle unsere neuern
Ehegesetze, und ihren consequentesten Ausdruck findet die Ansicht
in dem Ideal der freien Liebe mancher socialdemo er atischer Pro-
gramme. Sofern beide Modificationen der bisherigen Form der
Ehe wirklich eudämonologisch werthvoll sein sollten, so wäre es
nur dadurch: dass die Liebe ihres höheren, speeifisch menschlichen
Characters allmählich wieder verlustig ginge durch die Angewöh-
nung, sie wesentlich nur von ihrer sinnlichen Lustseite zu be-
trachten. Nur wenn man den Accent des eudämonologischen
Werthes auf die Befriedigung des blossen Naturtriebes legt, nur
dann kann man von solchen Modificationen, welche die Ehe der
im Thierreich herrschenden, ausschliesslich auf den Geschlechtstrieb
basirten Paarung wieder nähern, eine Verminderung der mit
der Liebe und ihren Bündnissen verknüpften Unlust erwarten.
Keine Unterschätzung der Liebe ist es, wenn der moderne
Der Werth des Schönen. 225

Pessimismus auch die Lebensfactoren der Ehe, sowie die, das Mo-
ment der Erweiterung und Ausdehnung des „Ichs" auf das „Du"
mit der Liebe theilende Freundschaft, nicht von dem allumfassen-
den Urtheile ausnimmt. Es unterscheidet derselbe nur klar zwi-
schen relativen und absoluten Werthen und ist über den Irrthum
hinaus, aus der Stärke des instinctiven Wollens auf den eudämo-
nologischen Werth des Gewollten zu schliessen.
Auch dem Pessimisten ist die Liebe „die Krone des Lebens",
soweit das Individuum in natürlicher, aber vollbewusster Hingabe
an das Leben und seine directen und indirecten Zwecke sich in
sich selbst zum Selbstgenuss zusammenfasst. Aber diese bewusste
Zusammenfassung ist nicht abhängig vom positiv eudämonologi-
schen Werthe des so bejahten, sondern einzig von seinem relativ
unendlich reichen Inhalt, gegenüber der, der Selbstzersprengung
der Ichsphäre im Liebesgefühl ermangelnden anderen Formen der
Lebensbethätigung und Kraftauswirkung. Darum sind alle Decla-
mationen gegen den Pessimismus vermittelst der Lobpreisung der
Liebe wirkungslos, weil sie nur vertheidigen können, was der mo-
derne Pessimismus, d. h. der Pessimismus, wie er von E. von
Hartmann herausgearbeitet wurde, gar nicht anficht.

8. Der Werth des Schönen.

Bei weitem einfacher und durchsichtiger als bei der Liebe und
ihren Formen gestaltet sich das Verhältniss der ästhetischen
Empfindung zur Weltschätzung, welche ebenfalls gegen den
Pessimismus in's Treffen geführt wird.
Die Verwechselung von eudämonologischen und sittlichen oder
Werthe ist hier ausgeschlossen; denn wenn
evolutionell-kultur eilen
auch die ästhetische Empfindung ein mächtiges Moment der Cul-
turentwickelung darstellt, so ist sie doch dieses nicht im Gegen-
satze zu ihrer eudämonologischen Stellung, sondern wesentlich und
gerade als eudämonologischer Lebensfactor.
Die ästhetische Empfindungist etwas ganz einfaches und ganz
ursprüngliches; sie an sich schon, als Empfindung des Schönen
ist
Lustempfindung, gleichviel welcher Art ihr Object auch sei, ob
Naturgegenstand, realer Vorgang oder Kunstwerk; ja auch gleich-
viel, ob das Object als solches, abgesehen von der ästhetischen
Empfindung, die es auslöst, einen an sich lustvollen Zustand re-
präsentire oder nicht: auch die ästhetische Reaction, die das tra-
gische Object in der Seele erzeugt, ist eine Lustempfindung.
Aus diesem Grunde möchte der ästhetische Standpunct recht
Plümacher, Pessimismus. 15
226 Die Bekämpfimg d. P. v. Standp. d. naturalistischen Optim.

geeignet erscheinen zu einem Angriff auf den Pessimismus, so recht


im Centrum, auf dem Gebiete der unmittelbarsten Empfindung und
Erfahrung. Denn das Schönempfinden ist einfach und unmittelbar,
was es ist; aus unbewusster Tiefe der Seele taucht es auf in den
Lichtkreis des Bewusstseins und alle hinterher folgenden ästheti-
schen Reflexionen können nur versuchen, die Gründe für sein Auf-
tauchen zu erforschen, können es bekritteln, das unerklärlich blei-
bende wohl auch verleugnen, aber es schliesslich so wenig besei-
tigen als es hervorrufen, wo es nicht von selbst dem unerforsch-
baren Mutterschoss alles Empfindens entquillt. Darum ist entweder
die Schönempfindung, oder sie ist nicht, und wo sie ist, da ist sie
Lust; es kann sich also kein Streit erheben, ob das Schönempfin-
den einen eudämonologischen oder einen andern Werth habe. Sein
Werth ist nur ein eudämonologischer und bei der Feststellung der
Bedeutung des Schönempfindens für die axiologische Frage, han-
delt es sich nur darum, ob und in welchem Grade die Dinge
und Umstände dem Zustandekommen desselben günstig
sind oder nicht.
In Bezug hierauf kann man von
ästhetischem Optimismus und
Pessimismus reden, wie denn Hartmannsich selbst, sowie Schopen-
hauer, als ästhetische Optimisten bezeichnet. (Neu-Kantianis-
mus, Schopenhauerianismus und Hegelianismus.)
Aesthetischer Optimismus ist die Anschauung, dass die Welt
derart beschaffen sei, dass sie interesselos betrachtet und rein als
Object der Anschauung erfasst, einen Ueberschuss ästhetischer Lust-
Empfindung über abstossende Gefühle zu erzeugen, vermag. In
einer Welt nun, wo selbst das Tragische und das Furchtbare, das
in seinen Wirkungen auf das organische Leben verderbliche, ästhe-
tisch genossen zu werden vermag, ist dieser Optimismus wohl
a priori verständlich. Aber er ist es eben nur auf dem Standpunct
der reinen interesselosen Betrachtung, und dieser rein betrach-
tende Standpunct ist nicht die letztgültige Weltanschauung; denn
sie bietet nur ein einseitiges Weltbild und ist gerade diese Ein-
seitigkeit die Bedingung der Möglichkeit ihres Zustandekommens.
Ferner ist der Standpunct der interesselosen Betrachtung der
Welt nicht allen Wesen überhaupt erreichbar, und auch von denen,
für die er erreichbar nicht zu allen Zeiten und unter allen Um-
ist,

ständen. Endlich aber ist das Postulat eines beständigen, sieg-


reichen Festhaltens des ästhetischen Standpunctes mit einem imma-
nenten Widerspruche behaftet: denn es könnte die rein interesse-
lose Betrachtung als ausschliessliche nur dadurch festgehalten wer-
den, dass der Mensch, der als solcher und in seinem Thun und
Handeln mit das hauptsächlichste Object der ästhetischen Weltan-
schauung ist, sich theilweise seiner Eigenschaften entschlagen würde,
Der Werth des Schönen. 227

dadurch aber eine Einbusse erlitte, wodurch er für die ästhetische


Anschauung nicht mehr wäre, was er, bei bloss partieller Gültig-
keit der letztern und bei voller Auslebung seiner vielseitigen Inner-
lichkeit ist.

Die Uninteressirtheit ist die Bedingung, dass die ästhetische


Erfassung eines Objectes stattfindet; freilich nicht die Uninteressirt-
heit im Sinne Schopenhauers willensfreier Anschauung; sondern
nur in der Freiheit von practischen Rücksichten und Beschränkung
des Willens auf die Perception um dieser selbst willen. Wo nun
diese Uninteressirtheit ein gar zu weites Feld einnimmt, da stellt
sie einen gewissen Mangel des seelischen Lebens dar.
Aesthetische Wirkung eines (transcendent-real gedachten) Ob-
jectes ist nur eine Partial Wirkung, eine Oberflächenwirkung möch-
ten wir sagen, von secundärer, wenn auch durchaus nicht zufälli-
ger Bedeutung. In ihrer Unabhängigkeit von den anderen Wir-
kungen des Objectes auf das Subject, zu dem es in Relation steht,
beruht ebensosehr ihre eudämonologisch vortheilhafte Stellung
in der Reihe der Erscheinungen, als auch damit ihre Grenze ge-
geben ist.
Der Pessimismus schliesst eine ästhetische Weltbetrachtung
nicht aus und leugnet nicht das immerhin erhebliche Lustquantum,
welches die Schönempfindung darstellt.
Die Reflexion auf das Wesen der Dinge und Vorgänge kann
die Schönempfindung als solche nicht alteriren, nur die Stellung-
nahme des Bewusstseinssubjects zu seiner ästhetischen Empfindung
wird durch die Reflexion beeinflusst. Die Freude an der Freude,
d. h. die reflexiv bewusste Befriedigung über die Lust am Schönen,

der formvollendeten Menschengestalt zum Beispiel, musste getrübt


werden, als man gewohnt war, mit dem Begriff des „Fleisches",
als der Materie dieser Form, denjenigen der Corruption und Er-
niedrigung zu verbinden; aber während (wie wir in Cap. II an-
führten) das Denken die Schönheit als die Blüthe der Weltlichkeit
verurtheilte, war doch die unmittelbare, jeder Reflexion voran-
gehende Empfindung nicht auszulöschen: hierfür legen die Legen-
den von der Versuchung der Heiligen durch schöne Teufelinnen
Zeugniss ab.
Mochte man den schönen Schein der Materie noch so sehr ver-
achten, noch so sehr sich bestreben, nur reiner Geist in verküm-
merter Hülle zu werden, ein blühender Leib, die zur sinnenfälligen
Wirklichkeit gelangte, möglichst ädaequat sich realisirende Naturidee
erzeugte eben doch die süsse Seelenresonanz der ästhetischen Em-
pfindung.
Nun ist aber weder Schopenhauers noch insbesondere Hart-
manns Metaphysik so beschaffen, dass sich unter ihrem Einfluss
15*
228 Die Bekämpfung d. P. v. Standp. d. naturalistischen Optim.

auf das Denken ein Dampfer aufdie ästhetische Anschauung legen,


könnte. Schopenhauer verdient die ihm von Hartmann er-
theilte Benennung „ästhetischer Optimist" dadurch, dass ihm die
ästhetische Anschauung recht eigentlich der Gipfel und Wende-
punkt ist, auf dem der blinde Wille durch sein vollendetstes Pro-
duct der Objectivirung, den Intellect in der Eigenschaft als „ewiges
Weltauge", seine Objectivationen in ihrer reinsten Gestalt, als
„Platonische Ideen", wahrzunehmen vermag. Für Hartmann aber
ist die Schönheit die eine Wirkung des Logischen und theilt mit
diesem die teleologische Berechtigung des „Wie" des Weltprocesses
im Gegensatz zum unberechtigten „dass" der Weltexistenz.
Es war zuerst R. Haym (Preussische Jahrbücher, 1873, B. 31,

Heft 1 3), der den ästhetischen Optimismus gegen Hartmanns
eudämonologischen Pessimismus in s Feld führte, indem er in dem
Schönen einen sicheren Bürgen der Lust sehen, Hartmann aber
der Missachtung des Schönen und dessen eudämonologischer Be-
deutung zeihen wollte. Fast alle späteren Kritiker, soweit dieselben
nicht den Schwerpunct einer optimistischen Weltanschauung aus-
schliesslich auf religiösem Gebiete fanden, heben zum mindesten
die Unterschätzung der aus der Schönempfindung resultirenden Lust
hervor, wobei besonders eine angebliche Missachtung des Natur-
schönen betont wird, und den zahlreichen deutschen Stimmen secun-
diren auch Ausländer, besonders der Engländer J. Sully (Pessi-
mism; auch ins Französische übersetzt).
Ein David Friedrich Strauss wollte im behaglichen recep-
tiven Kunstgenuss ein wirksames Gegengewicht besitzen gegen die
Schauer einer mechanistisch -materialistischen Weltanschauung,
deren Unheimlichkeit er doch nicht hinweg leugnen konnte. Duboc
möchte, wie wir bereits gesehen, die ästhetische Auffassung der
mechanistischen Naturcausalität zum Mittel werden lassen, dass die
letztere religiöses Object werden könnte; ein G. v. Aniyntor
plänkelt in gereimten und ungereimten Novellen für einen christ-
lichen Aestheticismus.
A. Taubert (D. Pess. u. s. Gegner) vertheidigte Hartmann
gegen die Angriffe Hayms; aber die späteren Kritiker zeihen
Taub er t desselben Fehlers, besonders bezüglich des Naturschönen,
wobei wiederholt der Grund hierzu in einer dem Grossstädter eigenen
Unempfindhchkeit für die Reize der Natur im engeren Sinne ge-
sucht wird.
Man thut aber nach unserer Ansicht damit den Grossstädtern
(besonders denen aus einförmigen Gegenden) im Allgemeinen Un-
recht, wenn man ihre Genussfähigkeit der Natur geringe erachtet.
Unsere Erfahrung (welche auch die „neue Welt" umschliesst)
geht eher dahin, dass sie sehr genügsam sind mit ihren Anforde-
Der Werth des Schönen. 229

rungen, besonders an landschaftliche Schönheit: es bedeutet aber


dies nichts anderes: als dass sie schon auf leichte Reize ästhetisch
reagiren. Für den eudämonologischen Werth der ästhetischen Em-
pfindung ist es nun aber gleichgültig, wodurch diese letztere entsteht.
Wir meinen, es spreche mehr für einen feinen Sinn, wenn man auf
einfache, minder bunt abgetönte Landschaftsbilder ästhetisch zu
reagiren vermag, statt dass man hierzu eines Compositums von
Schneebergen, Cascaden, Felsenhängen, Ruinen, Schwanenseeen etc.
bedarf; und da nun einfache Landschaften, ein duftiges Gehölz am
leichtgewellten Hügelzug, eine Matte mit munterem Bach und
zierlichem Erlengebüsch u. s. w. zahlreicher vorliegen und allge-
meiner zugänglich sind als die Mustergegenden der Reisehand-
bücher, so ist die Genügsamkeit auf diesem Gebiet eine eudämo-
nologisch günstiger Zustand, der wahrlich nicht zum Pessimismus
beitragen wird.
A. Taubert hat Recht mit der Behauptung, dass auch beim
Naturgenuss eine Illusion als Mitfactor wirke, sofern besonders
der „Friede" in der Natur genossen werde. Aber das gilt nur
für den Genuss, auf den man reflectirt; die Elemente des Natur-
genusses sind mit keiner Illusion behaftet, denn sie sind reine
Anschauung und reine Lust des befriedigten Anschauungswillens.
Da es nun weder Schopenhauer noch Hart mann einfällt,
den Lustcharacter der Schönempfindung zu bestreiten, so beschränkt
sich die Differenz zwischen dem Optimismus und Pessimismus auf
ästhetischem Gebiete eigentlich (und von Missverständnissen abge-
sehen) nur auf die Schätzung des Verhältnisses zwischen der Summe
dieser ästhetischen Lust zu der Unlust überhaupt.
Hierbei kommt in Betracht: erstens die Ausdehnung des seeli-
schen Gebietes, in dem ästhetische Empfindung auftreten kann;
und zweitens die subjectiven Bedingungen dieses Auftretens.
Ob schon im Thierreiche ästhetische Empfindung vorhanden
ist, ist eine wohl kaum zu lösende Frage. Woes dem Beobachter
scheinen mag, als ob die Schönheit Motiv sei, dass ein Exemplar
einer Species besonders gesucht werde, da darf er nicht vergessen,
dass das, was wir an einem Thier als dessen Schönheit bezeichnen,
immer auch physiologische Vollkommenheit ist, die als solche schon
hinlänglich Grund ist, um geschlechtlich begehrt zu sein.
Ausserhalb der geschlechtlichen Sphäre aber, glauben wir,
kann man den Thieren erst recht die ästhetische Befähigung ab-
sprechen. Versuche an Katzen vermittelst verschiedenfarbiger Woll-
knäuel haben keine Vorliebe für besondere lebhafte Farben wahr-
nehmen lassen, wie solche sich schon beim halbjährigen Kinde un-
zweifelhaft zeigen. Hunde und Katzen, die gewöhnt sind, auf
Teppichen und Polstermöbeln zu liegen, legen sich mit ganz glei-
230 Die Bekämpfung d. P. v. Standp. d. naturalistischen Optim.

chein Behagen auf Strohbündel oder auf schmutzige Wäsche; und


Kätzchen spielen mit derselben Freude mit einem eklen Lappen,
den sie auf der Strasse finden, wie mit einer seidenen Schleife ihrer
Herrin. Für Hunde, Katzen und Vögel ist Musik und Gesang nur
Geräusch und zwar für die ersteren sehr unangenehmes, so dass
gescheite Katzen, sich bemühen, dem Singenden mit der Tatze
den Mund zu schliessen. Den Pferden freilich scheint Musik Ver-
gnügen zu machen; doch dürfte es mehr das physiologisch wir-
kende Moment des Rhythmus sein, welches hier in Betracht kommt:
wobei dann freilich noch nicht erklärt ist, warum Blechmusik kräf-
tiger wirkt. Dahingegen erachten wir beim Menschen die Grenze,
innerhalb welcher Schönempfindung möglich ist, als sehr weit ge-
zogen, vor allem viel weiter, als das theoretische Aesthetisiren, und
auch viel weiter, als das Kunstwerk reicht.
Wo nach unten zu die Linie ist, wo die indifferente speci-
fische Sinnesempfindung des Gesichtes und des Gehörs von der
lustvollen Schönempfindung abgelöst wird, wird auch kaum fest-
zustellen sein; nur das lässt sich bestimmt behaupten, dass sie
tiefer steht bei Kindern und geistig minder entwickelten Menschen
als bei solchen, die dann, wenn überhaupt einmal reagirend, höherer
ästhetischer Empfindungen fähig sind; d. h. Kinder und Wilde
reagiren schon auf elementare Farben- und Klangeindrücke (dem
Kind und dem Wilden dünkt der scharlachene Lappen und der.
Glockenton schön), während der höher Entwickelte erst gewisse
Combinationen als schön empfindet.
„Nur das Unnütze ist schön", sagt R. Wagner (Das Kunst-
werk und die Revolution); das Wort ist richtig, wenn man „Un-
nütz" nicht im reinen Gegensatz zum Nützlichen nimmt, sondern
im Sinne von übernützlich. Nicht das Unnütze im Sinne
von „zwecklos" ist schön, denn nur das, in dessen Materie sich
das Teleologische am ungehindertsten und hat
vollendetsten
durchsetzen können, erzeugt im Subject, dem
Object ist, das
es
Schönempfinden; und selbst die gemeine Nützlichkeit ist nur so
ausgeschlossen, dass das mit dem Bewusstsein erfasste Nützlich-
keitsmoment als solches nicht ästhetisch wirkt; sondern ästhetisch
wirkt nur das, was über die Nützlichkeit hinaus ist. Ein Gemälde,
ein Tonstück ist zwar im engern Sinne unnütz, aber eine Vase,
eine Lampe u. s. w. kann nützlich und doch schön sein. Das Ueber-
nützliche aber beginnt schon da wo der Pfahlbaubewohner auf
,

dem thönernen Spinnwirtel seiner Liebsten einen Mäander einrizt


und mit schwerer Mühe und grosser Geduld sein Steinbeil mit
Strichen und Halbmonden verziert; und wo das Ueb ernützliche
und Ueberflüssige erzeugt wird, da ist Zeugniss gegeben, dass es
auch ästhetisch genossen und der ästhetische Genuss mit Bewusst-
Der Werth des Schönen. 231

sein erstrebt wurde. Darum geht A. Taubert wohl über das Ziel
hinaus mit der Behauptung, ganze Racen, z. B. die Chinesen, Ja-
panesen seien von der Schönheit verlassen. Es ist unberechtigt,
Völkern, die innerhalb ihrer eigenthümlichen Formen ein so hoch-
entwickeltes Kunstgewerbe besitzen, den Schönheitssinn abzuspre-
chen, bloss weil das, was sie ästhetisch gemessen, von unsern ästhe-
tischen Theorien nicht gebilligt wird. Bezüglich des eudämono-
logischen Werthes des Schönen, resp. der Schönempfindung, han-
delt es sich ganz und gar nur um das subjectivste Empfindungs-
moment; wenn das Individuum nur irgend etwas als schön em-
pfindet, wenn es nur von jenem nicht in Worte zu fassenden, nicht
zu beschreibenden, sondern nur zu erfahrenden Gefühl überkommen
wird, so genügt es. „De gustibus non disputandum est" gilt un-
eingeschränkt, wo es sich um die eudämonologische Bedeutung des
Schönen in Kunst und Natur handelt.
Nicht die Enge des seelischen Gebietes, innerhalb dessen die
Lust des Schönempfindens blüht, ist es, welche nach unserer An-
sicht den ästhetischen Optimismus unfähig macht, den eudämono-
logischen Pessimismus zu überwältigen; denn dieses Gebiet ist immer-
hin ein sehr weites und breites, wenn auch seine Grenzen noch
lange nicht die der Schmerz empfindungsmöglichkeit erreichen:
vielmehr sind es die Bedingungen, unter denen die Schönempfin-
dung nur auftreten kann, worin die Beschränkung des eudämono-
logischen Werthes des Aesthetischen liegt.
Die Affection, welche das ästhetische Object auf das Subject
übt, ist eine partielle, eine Oberflächenwirkung; die Empfindung,
mit der das Subject reagirt, ist in erster Linie freilich nicht auch
eine partielle, denn es giebt keine partiellen primären Empfindun-
gen, sondern die Empfindung als solche ist immer ein ganzes, ein-
faches Moment, und was man „gemischte Empfindungen" nennt,
das ist der rasche Wechsel der einzelnen Empfindungsmomente
innerhalb einer willkürlich begrenzten Zeit, welche das reflexive
Bewusstein zum Rahmen für eine Summe von Eindrücken macht.
Nun zeigt aber die Erfahrung, dass die Schönempfindung bei
den gewöhnlichen Menschen eine schwache Empfindung ist. Da-
mit beabsichtigen wir nicht die Hartmann sehe Lehre: dass das
Bewusstsein keine Grade habe (Ph. d. Unb., Cap. III, pag. 52 u. f.)
zu verneinen; was wir als Schwäche bezeichnen müssen, weil es
sich in der Vorstellung als solche giebt, das mag vielleicht in der
Kürze der dem psychischen Vorgang correlativen Nervenreizaus-
lösung, oder auch in dem beschränkten Complex der reagirenden
Gehirnsubstanz seinen Grund haben, also die sogenannte Schwäche
nur zeitliche Eigentümlichkeit der Schönempfindung sein. Um
die Schwäche der ästhetischen Empfindung zu prüfen, gehe man
232 Die Bekämpfung d. P. v. Standp. d. naturalistischen Optim.

nur mit Zahnweh in's Concert oder mit Leibgrimmen in die Gemälde-
gallerie, oder versuche seekrank den Sonnenuntergang auf bewegter
See zu gemessen.
Wo aber die Befähigung zur ästhetischen Reaction ausnahms-
weise so stark vorhanden ist, dass sie sich noch in solchen Fällen,
wo bei den Dutzendmenschen die Gemüthlichkeit aufhört, sieg-
reich behauptet, da ist sie die Begleiterin einer so sensiblen Nerven-
organisation, dass nun auch die unangenehmen Empfindungen inten-
siver auftreten; dieses Verhältniss hebt bekanntlich Hartmann
hervor.
Die practische Interesselosigkeit, die man, damit die ästhetische
Wirkung eintreten kann, dem schön- wirkenden Objecte soll ent-
gegen stellen können, die muss auch nach den Hauptrichtungen
des Seelenlebens bezüglich anderweitiger Objecte vorhanden sein;
wo lebhaftes Sehnen, Fürchten, Bangen, Zürnen in der Seele
Wellen schlägt, da kann die ästhetische Empfindung nicht zu jener
dominirenden Stellung im Bewusstsein kommen, dass sie zu einem
positiven eudämonologischen Factor wird. Nun ist aber das Leben
so beschaffen, dass nur gar zu viele Menschen gar zu oft von
diesen lebhaften Affecten bewegt sind. Der ästhetische Optimis-
mus setzte also,damit er positive Bedeutung haben könne, schon
eine friedvollere Lebensbeschaffenheit voraus; stünde das Zünglein
der Lust- und Unlustwaage schon im Gleichgewichte, dann würde
allerdings das Vorhandensein des Schönen den Optimismus be-
gründen. Aber jene, das Zustandekommen der ästhetischen Em-
pfindung hemmenden Affecte sind nicht nur da, sondern so wie
die Welt einmal beschaffen ist, müssen wir bis zu einem gewissen
Grade unsere Seele von ihnen bewegen lassen; denn aus ihnen
heraus entwickeln sich die Motive desjenigen Thuns, womit wir
am Werk unserer Zeit und unseres Lebenskreises theilnehmen.
Nur wo ein ausgesprochenes Kunsttalent vorhanden ist und
deutlich als bestimmter Lebenszweck das Schaffen oder Fördern
des Schönen erkennen lässt, da ist das sich Einspinnen in die
Welt des schönen Scheins berechtigt; wer aber bloss zu dem
Zwecke, sich ein harmonisches, optimistisches Weltbild zu sichern,
sein Auge einseitig auf die interesselose Anschauung beschränken
und sein anderweitiges Gefühlsleben kühl setzen will, der verzichtet
auf zwei Drittheile des Reichthums seines Seelenlebens. Denn da-
mit er die schöne Welt schlechthin zur besten Welt erheben
kann, muss er sowohl gegen die sittlichen Einwände sein Ohr ver-
schliessen, sobald das vom sittlichen Standpunct aus Nichtseinsollende
nur eine ästhetische Seite hervorzukehren vermag*), als auch auf
*) Es ist eine gefährliche Kunst, die sich mit Vorliebe mit dem „schönen
Laster" beschäftigt; sobald das Nicht- sein- sollende mit zu glänzenden Far-
Der Werth der Illusion. 233

die philosophische Betrachtung des Lebens und auf das durch die
Reflexion vermittelte Mitleid verzichten, sobald das Leid seiner
Mitcreaturen keine ästhetische Seite hervorzukehren vermag.
Mit dem, was E. von Hartmann in der „Phän. d. sittl. Bewusst-
seins" (A. I. 6. pag. 148 —
162) über Geschmacks-Moral und ihre
Grenze sagt, ist auch das Gebiet bezeichnet, auf dem der ästheti-
sche Optimismus zu Recht besteht und die Grenze, wo er diese
Berechtigung verliert; zugleich aber auch diejenige Grenze, wo
überhaupt die ästhetische Empfindung die Macht verliert, sich zu
behaupten gegen die von allen Seiten andrängenden Unlustempfin-
dungen des ernsthaft mitgelebten nicht bloss mitangeschauten
Kampfes um die Existenz und die bewusst und unbewusst gesetzten
Lebensziele.
Wo der Wille, eine schöne Welt zu schauen und in der schönen
Welt sich schön zu geriren, nicht mehr hinreicht, um sich sittlich,
den Weltzwecken entsprechend zu bethätigen, da ist auch der Punct
erreicht, wo sich die Welt und das Leben als ein zu spröder, stach-
lichter Stoff erweisst, um sich bloss von seiner ästhetischen Seite
erfassen zu lassen, und wo derselbe auch demjenigen, der den Wunsch
hat, sich egoistisch in sein ästhetisches Schneckenhaus zurückzu-
ziehen, noch seine Tücken und Schmerzen fühlbar zu machen weiss.

g. Der Werth der Illusion.

Mit den Einwänden gegen1|die pessimistische Auffassung des


normalen Lebensgefühls, der Arbeit und der damit verbundenen
mannigfaltigen Actionen, der Liebe in ihren vielen Formen und
der Empfindung des Schönen sind auf dem naturalistischen Gebiet
die Einwendungen gegen den Pessimismus erschöpft. Das Be-
wusstsein unserer Gebildetenist durch Popularphilosophie undKirchen-
lehre zu sehr daran gewöhnt, Reichthum, weltliche Macht und Be-
friedigung des Stolzes und der Eitelkeit dem lauten Bekenntniss
nach für chimärische Güter zu erachten, als dass gegen deren Ver-
urtheilung seitens des Pessimismus principiell etwas einzuwenden
ewesen wäre. Nur unter der von E. Dühring gepriesenen
eidensch'aft mögen auch sie mitbegriffen sein.
Der Leidenschaft schlechthin, gleichviel, was ihr Inhalt sei,

ben, zu reizvollen Formen geschildert wird, so ist die Entrüstungs-Tendenz


zum mindesten zweifelhaft; so z. B. bei Byron's „Don Juan," so bei man-
chen modernen Bildern unsittlicher Ueppigkeit und grausamer Wollust von
der Art der „lebenden Fackeln Neros" u. s. w.
234 Die Bekämpfung d. P. v. Stanclp. d. naturalistischen Optim.

inhärirt insofern ein eudämonologisches Moment, als sie ein inten-


siveres Lebensgefühl mit sich bringt und, soweit dieses sich be-
friedigt sieht, auch diese Befriedigung vergrössert. Aber sie ist
auch die Treibhaustemperatur, worin nicht nur die Zierpflanze Lust
zu höherem und üppigerem Wachsthum zu gelangen vermag, son-
dern worin auch das Unkraut Leid und Schmerz überwältigend in s
Kraut schiesst und erstere zu ersticken droht.
Wir haben uns damit nicht weiter zu befassen; dagegen haben
wir zum Schluss dieses Capitels noch einen Blick zu werfen auf den
eudämonologischen Werth der Illusion.
Den zahlreichen Bemerkungen gegenüber, dass eine aus Illu-
sionen erblühende Lust auch echte Lust sei, erinnern wir bloss
daran, dass Hart mann dieses selbst und nachdrücklich an ver-
schiedenen Orten sagt (z. B. Phil. d. Unb. IL B. der 7. u. folg.
Aufl. pag. 290.; Neu-Kantianismus, Schopenhauerian. und Hegelianis.
A. 17 u. 18.) So lange eine Illusion standhält, ist die aus dieser
Quelle stammende Lust vollgültig; nicht die Lust, die aus einer
Illusion erwächst, ist min der werthig, nur die illusorische Lustquelle
ist es, weil sie eine solche Quelle ist, deren Versiegen man stets
zu gewärtigen hat, und die mit der steigenden Intelligenz immer
spärlicher fliesst.
Was die principielle Illusion einer optimistischen Weltan-
schauung betrifft, so plaidiren für deren Conservirung J. Vaihin-
ger, Th. Fr. Vischer, J. Volkelt und Dr. Frederichs unter
der Voraussetzung und zum Zwecke, dass die gewahrte Illusion
mit dahin wirke, das real empfundene Leben eudämonologisch werth-
voller zu machen.
Wir können hier den Leser auf das verweisen, was Hart mann
in „Neu-Kantian., Schopenhauerian. und Hegelianismus" (oben cit.
Stelle) über diesen Selbsttäuschungsversuch sagt. Hartmann weist
nach, wie irrthümlich es ist, wenn man die Illusion mit dem schönen
Schein in der Kunst zusammen wirft, indem der schöne Schein im
Kunstwerk nie etwas anderes sein will als Schein, das Wesen der
Illusion aber gerade darin besteht, Wahrheit und Realität sein zu
wollen. Der erstere kann also in freier Hingabe an den Schern
erhalten werden, die letztere künstlich erhalten zu wollen, hiesse
die Lüge zum Princip machen; es gehorcht aber auch der Ge-
danke einem kategorischen Imperativ und auch der Verstand hat
ein Gewissen, und deshalb thun die auflösenden Kräfte nur ihre
Schuldigkeit, wenn sie den Schein der Illusion zersetzen.
Wir wollen nur noch hervorheben, dass die eben Genannten
mit ihrer Verteidigung der Illusion das Wort Caro's, des franzö-
sischen Kritikersdes Pessimismus: die Theorie ist Optimist mit
Hintenansetzung der Erfahrung, bestätigen. So sagt J. Vaihinger
Der Werth der Illusion. 235

(„Hartmann, Dühring und Lange"): „der Pessimismus hat, wie der


Materialismus, ein ungemein hohes Verdienst, nämlich den ihm
entgegengesetzten Dogmatismus vernichtet zu haben." „Wir müssen
zwar den Optimismus festhalten, aber mit dem Bewusstsein, dass
er nur eine Art bewusster Selbsttäuschung, wissentlich verfälschte
Einbildung ist und nur ein Gedicht, dem keine Wirklichkeit ent-
spricht." (pag. 179 und 181.) Der Pessimismus sei das treue Ab-
bild der Wirklichkeit, daher die Anschauungsweise des Werktages,
während die Seele am Sonntag mit dem Optimismus Staat mache.
(181.) TL Fr. Vischer aber ruft: „die Illusion ist das Gut der
Güter"; wenn Vischer wirklich meint, was er damit sagt, so ist
auch er an nüchternen Wochentagen Pessimist; denn nur dann
wird man die Illusion so hoch stellen können, wenn man Grund
hat, die Wirklichkeit nicht besonders hoch zu schätzen.
Auf J. Volkelt 's Versuch, den Optimismus zu retten, kommen
wir im letzten Capitel dieser Schrift zu reden; dagegen sei hier
noch einer im Phil. Verein zu Berlin (31. Oct. 1874) von Dr. Fre-
derichs gehaltenen Hede gedacht.
-Vom philosophischen Standpunct aus kann man allerdings
sagen, das irdische Glück sei eine Illusion; aber ein illusorisches
Glück, eine eingebildete Lust ist so lange wirklich Glück und
wirklich Lust, als dem, der solchem nachjagt, nicht die Augen auf-
gehen. Da nun dies bei den Wenigsten der Fall ist, so ist der Satz,
dass die Summe der Lust der Erdengeschöpfe viel grösser ist als
die der Unlust, richtiger." „Trotzdem bleibt die Wahrheit des
Pessimismus für alle tiefer Denkenden insofern bestehen, als dieses
Erdenleben ein Leben voller Mühen und Leiden ist, dass jede rela-
tive Befriedigung nur ein kurzer Erholungspunct ist zu neuen
Mühen und Leiden."
Damit ist also auch der Pessimismus als die Wirklichkeit dem
Optimismus als der Illusion gegenüber gestellt; wenn der letztere
trotzdem soll behauptet werden, so soll es —
komischer Weise —
durch die intellectual-pessimistische Behauptung geschehen: dass die
Mehrzahl der Menschen nicht fähig sei, sich zur philosophischen
Wahrheit durchzuringen. Es läuft in diesem Falle aber auch der
Irrthum neben her, als ob die Illusion über die Weltbeschaffenheit
(die Illusion des Optimismus) die Empfindung noch anders als bloss
durch die Hoffnung beeinflussen könne. Derjenige, der am Dogma
von der besten Welt festhält, ist dem wirklichen, gegenwärtigen
Geschehen gegenüber durchaus nicht besser gestellt als der Pessi-
mist; bloss die Lust der Hoffnung wird ihm etwas reichlicher
blühen, weil er gläubiger ihren Einflüsterungen lauscht, dafür aber
trifft ihn dann auch um so häufiger und wuchtiger die Nichter-
füllung seiner Erwartungen, und so kommt es dann wohl wieder
236 Die Bekämpfung d. P. v. Standp. d. naturalistischen Optim.

im Ganzen auf eins heraus. Nicht der beglückend rückwirkende


Einfluss der Illusion auf den Empfindungszustand ist es, der das
Bollwerk des optimistischen Dogmas bildet, sondern wesentlich nur
die Beschaffenheit des drängenden Lebens, welches so viele verhin-
dert, inmitten seiner Unruhen und Stürme sich Rechenschaft zu
geben über das Soll und Haben ihres Lustcontos.
Nicht der Ueberzeugung nach, nicht auf Grund der Erfahrung
ist die unphilosophische Menge optimistisch gesinnt, sondern nur dem
Wunsche und dem von Wunsche getragenen Glauben nach. Muss
die Philosophie zugestehen, dass die Erfahrung für den Pessimis-
mus spricht, so muss sie dem Pessimismus die Ehre, Wahrheit zu
sein, zugestehen oder darauf verzichten, Philosophie zu sein; im
letzteren Falle muss ein auf sein bestes Prädicat verzichtendes
Denken dann aber auch darauf verzichten, den philosophischen
Pessimismus zu kritisiren und zu bekämpfen.
VII. Capitel.

Die Bekämpfung des Pessimismus vom


Standpunct des ethischen Optimismus.
i. Das Kriterion der Sittlichkeit.

Um den Werth und die Bedeutung der gegen den Pessimis-


mus von Seiten des ethischen Optimismus erhobenen Einwendungen
abzuwägen, hat man sich vorerst über zwei Puncte ins Klare zu
setzen: erstens über den Begriff des Sittlichen selbst, d. h. man
hat sich über das Kriterion zu einigen, wodurch eine Handlung
als sittlich erkannt wird; und zweitens über den Werth, resp. die
Solidität der objectiven Begründung der Forderung der
Sittlichkeit, vermittelst der Stellung der Letztern im Weltprocess.
Bezüglich des ersten Punctes wird wohl ziemlich allgemein
zugestanden werden, dass das natürliche Gefühl nie im Zweifel
darüber war, was sittlich oder nicht sittlich sei. Dem gesunden
Menschenverstände, dem durch keine Theorie denaturirten Gefühl
galt es zu allen Zeiten und bei allen Völkern als Merkmal der
sittlichen Handlung: dass deren Subject (Träger) mit ihr nicht
das Seine sucht. Die Selbstlosigkeit, die Selbstverleug-
nung, die Selbstopferung — als die verschiedenen Stufen der
Ueberwindung des Egoismus — im Dienste eines Andern (gleich-
viel ob eines Einzelnen oder einer Mehrheit), das ist es, was immer
ohne Zögern als sittliche That erachtet, unter Umständen gefeiert
wurde. Nur der grübelnde Verstand konnte zu Gunsten ander-
weitig scheinbar unentbehrlicher Theorien sich diesem Gefühlsur-
theil gegenüber zweifelnd verhalten, oder gar Bestimmungen der
Sittlichkeit aufstellen, als deren Consequenz das natürliche Urtheil
Lügen gestraft werden sollte; Theorien und Bestimmungen, deren
Schwachheit sich schon dadurch erweist, dass ihre Vertreter doch
238 Die Bekämpfung d. P. v. Standp. des ethischen Optim.

nicht umhin können jene, vom natürlichen Empfinden als sittlich


bezeichnete Handlungen ebenfalls als solche anzuerkennen, so
schlecht es zu ihren Theorien passt, und so viele und so künst-
liche Winkelzüge sie unternehmen müssen, um denselben gegen-
über ihre Stellung behaupten zu können.
Zur Erhellung des hier Gesagten denke man daran, dass für
die griechische Philosophie die Ethik egoistische Glückseligkeits-
lehre (Individual-Eudämonik) war; wenn nun das natürliche Gefühl
in der Preisgebung der Antigone, in der Opferwilligkeit der
Iphigenie sittliches Thun erblickte, so konnte zwar der Indivi-
dual-Eudamoniker solchem gleichsam geheiligten Urtheil nicht ent-
gegen treten, er musste aber zur Rettung seiner Theorien und
um den diesen entsprechenden Motivationsprocess nachweisbar zu
machen, so umständliche psychologische Vorgänge supponiren, die
im ßewusstsein zu produciren, die Thäter der in Frage stehenden
Handlungen der Selbsthingabe viel zu naiv, viel zu sehr Natur-
kinder gewesen wären.

Sittlichkeit: es ist die Dar an-


Es giebt nur ein Kriterion der
gäbe des Egoismus. Nicht schlechthin unsittlich ist der Egois-
mus, sondern vorerst nur rein natürlich, als unausweichlich, als
eo ipso mit der Individuation gegeben, und er wird erst zum Gegen-
satz der Sittlichkeit, zur Unsittlichkeit, zum Bösen schlechthin, wenn
er die feine Grenze, welche das „Ich" vom „Du" scheidet, zu Gun-
sten des ersteren überschreitet und seine Zwecke auf Kosten des
Nächsten fördert. Nicht ein Gegensatz schlechthin zum Ethischen
bildet der Eudämonismus; nicht weil eine Handlung das Wohl
sucht, ist sie nicht sittlich (ich sage: ich sage
„nicht sittlich",
nicht: „unsittlich"), sondern sie ist nur deswegen nicht sittlich,
d. h. natürlich, weil das bezweckte Wohl ein solches ist, welches
dem handelnden Individuum zukommen soll. Wird aber das Wohl
für ein Anderes gesucht, so ist die Handlung sittlich, obgleich sie
eudämonistisch ist. Alles sittliche Streben sucht ein Wohl, ein Gut
zu erstreben, gerade wie das natürliche Streben; der Unterschied
liegt nur darin, dass das rein natürliche Handeln nur auf das un-
mittelbar eigene Interesse gerichtet ist, im sittlichen Thun aber
das Subject nur vorhanden ist, sofern es handelndes Subject ist,
und das Object des Strebens nur insoweit die eigene Wohl- und
Wehsphäre berührt, als das handelnde Subject in Mitleid oder
Mitfreude, oder in der Begeisterung für eine Idee die Schranken
der Ichheit durchbricht.
Die Ethik als Individual-Eudämonik ist Pseudo-Moral; eine
genügend umfassende Einsicht in die Weltverhältnisse einerseits und
Das Kriterion der Sittlichkeit. 239

können bewirken, dass


in die psychologischen Processe andererseits
die Pseudo-Moral Thaten erzeugt, welche äusserlich denen echter
Sittlichkeit durchaus gleich sind,so grundverschieden ihr Moti-
vationsprocess und in Folge dessenauch ihre innere, rückwirkende
Thätlichkeit ist. Die Ethik kann auch individuell-eudänionistisch
bleiben, wenn das pessimistische Bewusstsein schon so gesteigert
ist, dass die Bedingungen zur erstrebten Eudamonie nicht mehr in
sinnlich vermittelten Verhältnissen, sondern lediglich in Geisteszu-
ständen gesichert erscheint, oder wenn das ganze irdisch-natürliche
Leben als werthlos verurtheilt und das Glückseligkeitsspiel nur im
Jenseits, sowie in der Anwartschaft auf jenes gesucht wird.
Die Pseudo-Moral kann autonom sein (Individual-Eudämonis-
mus Epikur's und der Stoa) und sie kann auch heteronom (Judais-
mus, Mohamedanismus, Christenthum) sein; aber die Autonomie
und Heteronomie bilden nach unserer Ansicht kein zweites Krite-
rion der Sittlichkeit, d. h. wir können Hartmann in diesem Falle
nicht unbedingt beipflichten, wenn er heteronome Moral eben-
falls Pseudo-Moral nennt. Allerdings entspricht dem wohlabge-
rundeten Begriff der Sittlichkeit in ihrer auf die absolute Imma-
nenz gegründeten Gegensätzlichkeit zur Religion nur die Autonomie
ihrer Principien, aber aufgehoben wird sie durch die Heteronomie
der letzteren nicht. Wenn ich die Gebote der christlichen Sittenlehre
halte, um des dafür in Aussicht gestellten Lohnes willen, der auf
sie gesetzt ist, weil sie dem Willen Gottes entsprechen, so handle
ich allerdings nur pseudo-sittlich; aber nicht weil ich den Willen
Gottes zu thun vermeine, statt mit Bewusstsein meinem eigenen
innersten Drange zu gehorchen, sondern weil ich egoistisch, weil
ich lohnsüchtig handle. Thue ich aber den vermeintlichen Willen
Gottes einzig, weil es eben dieser ist, ohne alle selbstsüchtige
Lohneshoffnungen, so handle ich sittlich, weil ich meinen eigenen
Willen anti-egoistisch im Interesse eines Anderen —in diesem
Falle Gottes — activ werden lasse. Mag das Was und Wie der
sittlichenThat noch so äusserlich an mich heran kommen (wie
z. B. die Gebote des jüdischen Ceremonialgesetzes), so ist es doch
letzten Endes ein —autonomes Princip, welches mein Thun be-
stimmt, nämlich Liebe, Dankbarkeit, Ehrgefühl, Pietät etc.,
wie immer die Gefühle heissen mögen, die das religiöse Gemüth
seinem Gotte entgegen bringt.
Dass in den kanonischen Schriften des alten und neuen Testa-
mentes nicht nur neben wahrer Sittlichkeit, welche die Tugend um
der Tugend, die Liebe um der Liebe willen thun heisst, auch die
Sittlichkeit um des Lohnes willen, der ihr als das Gott wohlgefäl-
lige verheissen ist, anempfohlen wird, sondern dass auch das letz-
tere dem uns vorliegenden Wortlaute nach die Regel bildet, ist
;

240 Die Bekämpfung d. Pess. v. Standp. d. ethischen Optim.

nicht zu leugnen. Dies führte dazu, dass innerhalb der christlichen


Culturwelt eine Verquickung der antiken (z. B. stoischen) Ethik
mit der christlichen in dem Sinne entstehen konnte, dass das Prin-
cip des sittlichen Strebens individual-eudämonistisch autonom war,
das Princip der Inhaltsbestimmung der Handlungen sich aber nach
dem heteronomen Gebote richtete, und solche Verquickung ergiebt
nun allerdings Pseudo-Moral, nachdem das Moment, welches die
bewusste Ergreifung des heteronomen Gebotes selbst zur auto-
nomen That macht, durch die egoistische Rücksicht verdrängt wurde.
Nothwendig, d. h. mit dem Princip gegeben, aber ist die Verbin-
dung der heteronomen Moral mit egoistischem Eudämonismus
nicht; ebensowenig, als die Religion, weil sie ursprünglich aus dem
eudämonistischen Streben (in Wechselwirkung mit den pessimisti-
schen Erfahrungen) hervorging, im Eudämonismus stecken bleiben
musste; vielmehr zeigt dieselbe gerade da ihre erhabensten For-
men, wo ein hochgradiges pessimistisches Bewusstsein alle indivi-
dual - eudämonistischen Hoffnungen als illusorisch über Bord
wirft. *)

Doch wenden wir uns zurück zum Verhältniss von Sittlich-


keit, Egoismus und Eudämonismus.
Es herrscht noch eine so grosse Verwirrung der Begriffe auf
diesem Gebiet, dass man einerseits Kants lebensentfremdeten,
ab-
stract ausgehöhlten Rigorismus, zu dem ihn seine Purification
der
Ethik vom Princip des Egoismus trieb, verwirft, und andererseits
doch vermeint, „ Eudämonismus " schlechthin als Tadelswort ge-
brauchen zu dürfen.
Dieser Unklarheit ist E. Pf leider er s „Ehrenrettung des Wohl-
princips" („Eudämonismus und Egoismus," Barth, Leipzig, 1880)
zu steuern bemüht.
Pfleiderer entwickelt, dass „das Genus vom Begriff des
Eudämonismus völlig tadellos, und verbunden mit der richtigen
differentia specifica sogar höchst werthvoll sei", während nur die-
jenige differentia specifica der Verwerfung unterliege, die man
usuell dazu denke, ohne sie zu nennen, ohne sie mit auszudrücken"
diese diff. spec. ist aber der In di vi dual- Eudämonismus.
Pfleiderer acceptirt Hartmanns Ansicht, dass „Lust und
Leid das einzige Definitivum in der Welt seien", über welches
man nicht hinausgehen könne. Wenn Eudämonismus also nichts
anderes bedeutet, als die Behauptung, dass alles Wollen Wollen
eines Wohls, eines Werthes sei, alle „Werthe" aber dieses nur in

*) In „d. relig. Bewussts. d. M." erkennt E. v. Hartmann als Verdienst


der heteronomen Gesetzesreligion an, dass damit für die Ethik der Eudä-
monismus im Princip überwunden sei.
Die Begründung der Sittlichkeit. 241

ihrer Relation zu den hervorzurufenden Empfindungsreflexen sind,


so bezeichnet Eudämonismus nichts Verwerfliches, sondern consta-
tirt nur eine Thatsache, deren Uebersehen die Schwäche des Kant-
schen Rigorismus ist. Das Verfolgen z. B. von social-eudämonisti-
schen Zielen ist so weit sittlich,- als das handelnde Ich sein Inter-
esse aus sich heraus und in andere Subjecte hinein verlegt, wo-
mit der Uebergang vom natürlichen zum sittlichen Handeln be-
zeichnet ist. Bekanntlich konnte auch Kant den Eudämonismus
nicht absolut von seiner Ethik fernhalten, da er als Genus einmal
unabtrennbar damit verbunden ist, sondern musste ihm, wenn auch
nicht in der Position des Zweckes, so doch als unbeabsichtigtes
Resultat postuliren, was natürlich auf einen Widerspruch hinaus-
führt. Warum soll denn das Handeln sittlich sein, dessen Maxime
zum allgemeinen Gesetz erhoben werden könnte, als weil durch
dieses Gesetz der Wohl-Zustand des Allgemeinen gefördert würde?
Und warum anders soll dieses Wollen des allgemeinen Wohles
sittlich und nicht bloss natürlich sein, als weil es Erhebung über
den Egoismus ist?
Wenn nun das von keiner philosophischen Theorie voreinge-
nommene Gefühl einstimmig das Kriterion der Sittlichkeit in der
Ueberwindung der Selbstsucht sieht, wenn die philosophischen Mora-
listen der verschiedensten Standpuncte nicht umhin können, die
diesem Kriterion gemässen Handlungen ebenfalls als sittliche zu
bezeichnen, so drängt sich die Frage auf, wie letzteres möglich sei,
und was das unsichtbare Band dieser von ganz verschiedenen Prä-
missen ausgehenden Anschauungen sei, welches es ermöglicht, dass
ungeachtet des Ausganges von so verschiedenen Puncten man sich
doch beim „Wie" des concreten Falles in Harmonie begegnet.
Diese Frage spitzt sich aber zu der von uns als Nummer zwei
hingestellten und nunmehr zu erörternden zu, nämlich zur Frage
nach der objectiven Begründung der Forderung der Sitt-
lichkeit.

2. Die Begründung der Sittlichkeit.


Der nicht philosophirende aber sittlich veranlagte Mensch
,

hat in seinem reflectir enden Bewusstsein für das „Soll" der Selbst-
verleugnung der sittlichen That keine Begründung. Ihm genügt
sein Gefühl, dass das Allgemeine seinem Ich unendlich an
Werth überlegen sei; und da „das' Allgemeine" nicht als Abstrac-
tum", sondern als „seine Nächsten" mit ihm in Berührung kommt,
so handelt er diesen gegenüber so eudämonologisch correct, als er
es vermag (und wie er wünscht, in gleicher Lage behandelt zu
werden). Je nachdem hierbei jene psychischen Factoren, die man
Plümacher, Pessimismus. 16
242 Die Bekämpfung d. Pess. v. Standp. d. ethischen Optim.

als die natürlichen Triebfedern zur Sittlichkeit zu bezeichnen pflegt


(Liebe, Gerechtigkeit u. s. w.), bei einem Individuum
Mitgefühl,
den Stärkegraden nach combinirt sind, je nachdem wird das „Wie"
seines sittlichen Thuns eine besondere Färbung erhalten. Dieses
Gefühl der Verpflichtung zur Unterordnung gegen den Nächsten
als concreten Repräsentant des „Allgemeinen" hat nun die im Dienste
des religiösen Gefühls thätige Phantasie in Gott hinausproji-
cirt als dessen Wille. So handelt nun das Subject sittlich, und
indem es sich selbst vergisst, auch religiös, weil es im Liebes- und
Ehrfurchtsgefühl zu Gott handelt. Der Eudämonismus als berech-
tigtes Genus ist auch hier gewahrt, denn das sittliche Thun wird
nun als ein solches erachtet, womit man Gott, dadurch dass man
ihm den Willen thut, etwas angenehmes erweist. *)
Für die nicht-religiöse Reflexion weist sich das „Wohl Aller"
zwar alsbestimmtes und vorläufig hinreichend motivations-
ein
kräftiges Ziel des sittlichen Strebens; dagegen ist es noch keine
objective Begründung der Sittlichkeit. Es gilt nun erst die
Frage zu beantworten: warum denn das Wohl des Allgemeinen
die Hingebung des Einzelnen fordern dürfe. Diese Frage kann
abschliessend und vollbefriedigend nur der Monismus beantworten.
Es giebt nur eine endgültige Begründung, nämlich die, wenn die
Sphäre der Individuation nur phänomenal, der Wesenheit nach aber
das Individuum Eins mit allem Sein ist. Die Wurzeleinheit
alles individuell Getrennten, dies allein ist die erschöpfende
Begründung des Sollens, dadurch erhält das Urgefühl des sittlichen
Triebes seine logische Begründung, die einzige, bei der der
denkende Mensch sich für die Dauer beruhigen kann.
Nur wenn Alle dem Wesen nach Eins sind, ist es logisch
gerechtfertigt, dass der Einzelne, der doch das jeweilig einzige Con-
crete ist, sein ganz concretes Interesse den Vielen unterordnet, die
doch als „Viele" vorerst nur eine Abstraction sind. Vom Stand-
punct des Monismus, und zwar Monismus des Geistes (denn ein
materialistisch-mechanistischer Monismus ist nur Pseudo-Mouismus,
d. h. nur Monismus der Action) zeigen sich nun auch die instinc-
tiven Triebfedern der Sittlichkeit als wohlgeordnete Glieder in der
Teleologie des All-Seins, und zeigt sich auch die religiöse Hinaus-
projicirung des sittlichen Willens in die Gottheit als die vorstel-'

lungsmässige Form, in der das wirkliche Verhältniss des Sittlichen


zum Weltsein ahnungsvoll zum Bewusstsein gelangt. Weil der

*) Dieser Gedanke findet in seiner negativen Fas.^unj sein Denkmal in


den an verschiedene Localitäten geknüpften Legenden von der „Noth Gottes",
wo Gott als unter dem Ungehorsam und der Unsittlichkeit der verstockten
Menschen leidend (weil in seinem Willen contrahirti gedacht wird.
Die Begründung der Sittlichkeit 243

Pluralismus des absoluten metaphysischen Bandes zwischen den


Einzelnen und der Allgemeinheit ermangelt, darum muss er, die
wahre Natur des Sittlichen verleugnend, eine Moral auf egoistischer
Basis zu gründen versuchen, vermittelst einer über ihre Grenzen
getriebenen Verwerthung der psychologischen und erkenntnisstheore-
tischen Thatsache, nämlich der unmittelbaren Eingeschlossenheit
des Individuums in seine Welt der Vorstellung und die Sphäre
seiner Empfindung.
Wir betrachten nun die Stellung unserer systematischen Pes-
simisten zur Sittlichkeit und deren Begründung.

a. Hartmann.

Wie bekannt ist Hartmann's theoretische


Philosophie eine
erkenntnisstheoretische, naturphilosophische und metaphysische
Begründung eines Monismus des Geistes, und zwar, nach Hart-
mann's Bezeichnung, des concreten Monismus, d. h. eines
solchen in welchem die Individuen nicht blosser Schein
, son- ,

dern objective, räumlich-zeitliche Erscheinung des sich in seinen


Acten real individualisirenden All-Einen sind. D. h. das All-Eine
Wesen individualisirt sein Wollen und Vorstellen derart, dass es
in seinen peripherischen Actions-Centren sich selbst bewusst wird,
während nach dem abstracten Monismus diese Vielheit nur eine
Vielheit des Scheins, nur eine täuschende Vorstellung im Centrum
des All -Seins selbst (Trug der Maja bei den Indiern und bei
Schopenhauer) ist. Somit besitzt Hartmann 's Ethik die voll-
gültige objective Begründung das sittliche Sollen: die Sitt-
für
lichkeit ist die Rückbeziehung des Individuums auf seinen
Wesensgrund, wie er in der Individuation existirt und hinter
und über derselben subsistirt.
Hartmann eröffnet seine „Phänom. d. sittlichen Bewusstseins"
bekanntlich mit den Worten: „der Kern des practisch sich bethä-
tigenden Menschen ist der Wille; der Wille ist Streben nach Be-
friedigung, oder da die Befriedigung des Willens, wenn sie zum
Bewusstsein kommt, Lust heisst, so ist das Wesen des Willens
gleichbedeutend mit dem (gleichviel ob bewussten oder unbewussten)
Streben nach Lust, mag dieselbe nun positiv oder blosse Nega-
tion einer gegebenen positiven Unlust sein." Da nun das sittliche
Wollen auch nur innerhalb des allgemeinen Willengebietes vor
sich gehen kann, so bekennt hiermit auch er sich zum Eudämonis-
mus aber eben nur zum Genus desselben, wogegen ihm das
,

Sittliche darin besteht, dass der Wille einen solchen Inhalt hat, der
nicht mehr, wie beim unmittelbar natürlichen Wollen, die Lust
(das Wohl) des Trägers des Willens bezweckt, sondern ein ausser
der Sphäre des Subjectes gelegenes Wohl. Sittlichkeit ist die
16*
244 Die Bekämpfung d. Pess. v. Standp. d. ethischen Optim.

Ueberwindung des egoistischen eudämonistischen Strebens zu Grünsten


der sich stufenweise darbietenden Wohl- und Weh-Sphären: erstens
des Nächsten, zweitens des Allgemeinen und drittens (auf Grund
der Erkenntniss der Wesensidentität) des All-Einen Wesens. So
heisstdenn Hartmann's oberstes Princip der Sittlichkeit: „mache
die Zwecke des Unbewussten zu Zwecken deines Be-
wasstseins".
Das pessimistische Bewusstsein tritt nun auf verschiedene Weise
zu diesem Princip in Relation; erstens vermittelst der unmittel-
baren gefühlsmässigen Motivation; zweitens durch die Einsicht,
dass auch die erfolgreichste eudämonistische Bethätigung kein po-
sitiv befriedigendes Resultat hervorzubringen vermöge sondern
,

dass, je consequenter der Egoismus vorgehe (z. B. im Cynismus),


das Leben nur um so ärmer, um so weniger des Lebens werth
werde; endlich vermittelst dieser Einsicht durch Setzung eines
(speculativen) letzten Zieles negativ-eudämonologischen Characters,
in dessen Dienste alle unmittelbaren Zwecke nur wieder Mittel zu
sein bestimmt sind.
Es ergiebt nun eine pessimistische Erkenntniss ersten Grades,
dass die Instincte, denen zu gehorchen die Natur antreibt (indem
sie die Illusion erzeugt, dieselben seien individual-eudämonologisch
werthvoll), mehr Unlust Lust im Gefolge haben, mithin der
als
kluge Egoismus dieselben unterdrücken sollte. Eine weitere Stufe
der pessimistischen Erkenntniss führt aber zur Einsicht, dass die
Verarmung an Lebensinhalt in Folge des Verzichtes auf die durch
die Naturtriebe und Instincte vorgezeichneten Beziehungen zu den
Mitgeschöpfen eudämonologisch auf noch niedrigerer Stufe steht, als
das mit der Instincte Lust und Leid erfüllte natürliche Leben.
Hartmanns oberstes Princip (die Erhebung der Zwecke des Un-
bewussten zu Zwecken des Bewusstseins zu machen) fordert die
Restitution der vom Standpunct eines klugabwägenden Egoismus
als illusorisch verurtheilten Instincte; aber allerdings eine Restitu-
tion modificirter, zur Wahrung des Gleichgewichtes gebändigter,
vor Ausschreitungen der Einseitigkeit gewahrter Instincte im Dienste
der sittlichen Weltordnung, als dem höheren secundär-natürlichen
Niederschlag der Welt-Teleologie.
Beide sittliche Forderungen verlangen also ein Opfer: vom
natürlichen Menschen die Beschränkung der Instincte, vom Pes-
simisten die Hingabe an die eudämonologisch als trügerisch er-
kannten Naturtriebe. Hier ist nun aber der Pessimist im Vortheil
vor dem Natur-Optimisten; denn während diesem die Forderung
der Beschränkung seiner natürlichen Selbstbehauptung in den In-
stincten etwas Positives abverlangt, so findet dagegen beim Pessi-
misten der Vorgang (nämlich der Streit zwischen der egoistisch
Die Begründung der Sittlichkeit. 245

geforderten Unterdrückung und sittlich-geforderter Hingabe an die


Instincte) bereitsauf eudämonologisch negativem Gebiet statt.
Der Optimist bat mit dem Individual-Eudämonismus erst zu reebnen,
wogegen der Pessimist diese Species des Genus bereits beseitigt
bat, die in ibrem Dienste bisan befindlicben Kräfte mithin zur Be-
tbätigung auf einem andern Gebiet des Genus frei hat. Das be-
rechtigte Genus Eudämonismus ist nun freilich, wie wir bereits
wissen, nur ein theils relatives, theils absolut negatives: insofern
keine Glückseligkeit erstrebt wird, weder für das All-Sein im Zu-
stand des Ideals der sittlichen Weltordnung, noch für das über-
seiende All-Wesen.
In der Annäherung an das Minimum der Unlust des Seins
vermittelst der Annäherung an das Ideal der sittlichen Weltord-
nung ist ein relatives eudämonologisches Moment gegeben, und die
Ueberzeugung von der Möglichkeit des Erfolges repräsentirt den
evolutionellen Optimismus Hartmann's innerhalb seines eu-
dämonologischen Pessimismus. Das letzte absolute, metaphysische
Ziel aber, die Befreiung des Willens vom Wollen, die Ermög-
lichung der Rückkehr des All-Einen-Wesens aus dem Zustand des
Wollen-Müssens zum Wollen-Können und Nicht -Wollen -Können,
istdas negative eudämonologische Pessimismus - Ziel, als dessen
letztes —
eventuelles —
Realisations-Vehikel nicht mehr die äussere
That, sondern nur der vom Negationswillen getragene absolut pessi-
mistische Bewusstseinsact des individualisirten und diese Individua-
tion negirenden Geistes fungirt; ein Geistesact, der insofern ab-
solut sittlich ist, als er absolut anti-egoistisch ist.

b. Schopenhauer.
Auch bei Schopenhauer ist der Pessimismus, wie er die
Achse des ganzen Systems bildet, auch das Alpha und Omega
der Ethik, welche letztere aber auch zweispaltig ist, wie seine Philo-
sophie überhaupt.
Die Ethik zerfällt bei ihm in eine exoterische und eine eso-
den Zustand der Willensbejahung, die
terische; die erstere gilt für
letztere ist der „Zustand der Gnade", wo die Individuen nicht nur
die absolute unheilbare Unseligkeit des Weltwollens zu erkennen
vermögen, sondern wo ihr Wille damit zu beginnen vermag, das
unselige Weltwollen zu verneinen. Die exoterische Moral hat als
ihr oberstes Princip, aus dem allein Schopenhauer vermeint alles
zur Aufstellung einer Sittlichkeits- und Rechtsordnung Nöthige
wie aus einer Zauberbüchse hervorholen zu können, das auf der
Erkenntniss des alldurchdringenden Leides gegründete Mitleid.
Die esoterische Moral dagegen ruht auf der Anschauung, dass das
246 Die Bekämpfung d. Pess. v. Standp. d. ethischen Optim.

Weltsein eine Verschuldung sei, welche die Busse und Sühne


der Lebensverneinung fordere, als deren Mittel nicht nur die willige
Unterwerfung unter das von den Verhältnissen bereits gebotene
Leid genügt (Resignation in das teleologisch gerechtfertigte Leid
bei Hartmann), sondern als kräftigeres Mittel zur Mortification des
Willens die Askese gefordert ist.
Für die exoterische Moral bleibt auch bei Schopenhauer
„die Abwesenheit aller egoistischen Motivation das Kriterium einer
Handlung von sittlichem Werth". (Schopenhauer verwechselt
aber Motiv und Ziel [Zweck] einer Handlung, so dass hier der
Zweck einer Handlung im Interesse des Wohls eines Anderen ge-
meint Schopenhauer gründet durch die Erhebung des
ist.)

Mitleids zum obersten Princip die Moral auf das Gefühl, und
tritt energisch gegen die, die Berechtigung und fundamentale Be-
deutung dieser letzteren verkennende Vernunft-Moral Kant's in
die Schranken. Für Schopenhauer ist das Gefühl des Mitleids,
woraus sich erst die andern sittlichen Triebfedern, sowie secundär
die vernunftgemässen Institutionen der Sitte und des Rechtes ent-
wickeln sollen, ebenso objectiv begründet, als es die Vernunftmoral
in einem rationalistischen System sein kann; nämlich es ist die
Wesenseinheit der bloss subjectiv - phänomenalen Creatur, welche
als Mitleid sich im Gefühl ins Bewusstsein drängt: im Mitleid
zerreisst momentan der „Schleier der Maja".
Der Widerspruch aber, welcher sich zwischen Schopenhauer's
Erkenntnisstheorie und dessen Willensmetaphysik einschiebt, wirkt
auch in seiner Ethik fort und zwar vermittelst des unvollendeten,
schwankenden Begriffs der Individuation. Raum und Zeit als
Principia individuationis sollen —
im Anschluss an Kant 's „trans-
cendentale Aesthetik" —nur Formen des Intellectes sein, nicht
aber dem „Ding an sich" zukommen, mithin die Vielheit nur ein
Schein, in welchem das Eine, in den „Trug der Maja" gerathene
Willens-Wesen sich selbst zur Erfahrung kommt. Aber dieser
Auffassung widerspricht der Willensrealismus der Naturphilosophie
und der Realidealismus der Aesthetik mit ihrer Welt der platoni-
schen Ideen, in deren ästhetischer Erfassung der Zustand der Ver-
neinung des Willens vorübergehend anticipirt sein soll. Schopen-
hauer's Bekenntniss: nicht entscheiden zu können „wie tief die
Wurzel der Individuation reichen könnte", gestattet auch innerhalb
seines Systems eine objective Basis für die Forderung der Sittlich-
keit zu suchen, indem man gegen seine Erkenntnisstheorie und für
seinen Willensrealismus sich entscheidet. Denn nur dann, wenn
das „du" und „die Andern" reale Existenzen sind und nicht nur
„meine Vorstellung", nur dann hat das Kriterion der Sittlichkeit
einen Sinn.
Die Begründung der Sittlichkeit. 247

Die vermittelst des Gefühls des Mitleids auf die Einheit des
Wesens gegründete Moral ist nun, wie schon bemerkt, nur die
Vorstufe zur esoterischen Ethik; auf dem Gipfel der pessimistischen
Erkenntniss angelangt, giebt es nur noch Ein Ziel: die einzelne
Erscheinung des sich zur Qual verurtheilenden Willens gleichsam
durch einen Seitensprung aus dem feurigen Kreislauf des Daseins
zu retten. Die Inconsequenz dieser obersten Lehre der Schopen-
hauer'schen practischen Philosophie springt in die Augen.
Entweder das Individuum ist nur Schein und befreit das Wesen
in keiner anderen Weise als jeder natürliche Todesfall, der ja auch
die Aufhebung (die Verneinung) des Scheins einer individuellen
Existenzform ist; oder aber, wenn die Vielheit in dem Sinne täu-
schender Schein wäre, dass im solipsistischen Ich das ganze Eine
Willenswesen sich erschöpfte (mithin die Willensverneinung nicht
wie in dem vorher angenommenen Falle in der Schein-Peripherie,
sondern im mährenhaften Seins-Centrum stattfände), so müsste eine,
vermittelst der auf die Spitze getriebenen Askese (freiwilliges Ver-
hungern) erreichte Lebensverneinung das Weltwesen selbst er-
lösen. Das letztere Verhältniss ist nun nicht anzunehmen, denn
Schopenhauer giebt selbst zu, dass unter den indischen Büssern
und christlichen Askesen solche Willensverneinungen merklich statt-
gefunden hätten; da die Welt nun thatsächlich noch besteht, so muss
hier ein Fehler stecken: entweder das Verhältniss der Askese zur
Welterlösung ist falsch gefasst oder der Solipsismus, der die un-
ausweichliche Consequenz des subjectiven Idealismus ist, und den
auch Schopenhauer nicht überwunden hat, obgleich er ihn ins
Narrenhaus verweist, muss falsch sein.*)
Wenn nun aber der erkenntnisstheoretische subjective Idealis-
mus falsch ist, wenn
die Individuen räumlich-zeitlich reale, deta-
chirte Thätigkeiten des Einen Wesens sind, unter welcher Be-
dingung ein sittliches Sollen erst möglich ist, dann wäre die indi-
viduelle Flucht aus der Existenz keine sittliche Handlungsweise,
weil sie dem von Schopenhauer bekannten Kriterion nicht ent-
spricht, sie wäre dann ein Act eines negativen Individual-Eudämo-
nismus. Schopenhauer übersieht dies, weil er Lebensbejahung
und Lebensverneinung unter den Begriff von Schuld und Sühne
befasst, sowohl für das Weltsein als Ganzes, wie auch da, wo er
zu Gunsten der Möglichkeit einer objectiven Grundlage der Sitt-
lichkeit seinen Monismus pluralistisch zersprengt, d. h. für die Indi-
viduen, deren Leben-wollen als freie That aufgefasst wird.
Den unhaltbaren Begriff der Freiheit im esse übernahm Scho-

*) Vergl. über Solipsismus: Hartmann: Gmndzüge des transcenden-


talen Realismus; und J. Volkelt: Kant's Erkenntnisstheorie.
248 ' Di e Bekämpfung d. Pess. v. Standp. d. ethischen Optim.

penhauer bekanntlich von Kant, und als eine solche freie That 7
und damit toto genere verschieden von der exoterischen Sittlich-
keit (und deren Kriterion) innerhalb der determinirten Sphäre der
Willensbejahung,*) will er auch die Verneinung des Willens ver-
standen wissen.
Auf die Schwächen seiner exoterischen auf das Mitleid be-
gründeten Moral, sowie auf die Widersprüche der esoterischen
Moral mit ersterer kommen wir später zurück;, hier genügt vor-
läufig der Hinweis, dass diese Mängel nirgends dem Pessimismus
als solchem entspringen, sondern theils mangelhafter psychologischer
Induction, theils dem Steckenbleiben in den scholastischen Begriffen
von Freiheit, Schuld und Sühne. Aus dem Pessimismus ergiebt
sich im Gregentheil auch für Schopenhauer nur die von jeden
gesunden ethischen Standp unct zu erhebende Forderung: Aufgeben
des Egoismus und der Individual-Eudämonie und Unterstellung
des Handelns unter die Principien der theoretischen Erkenntniss.

c. Julius Bahnsen.
Ebenso wie Hartmann und Schopenhauer findet auch
J. Bahnsen das Merkmal der Sittlichkeit wie auch des „ Helden-
thumes " **) in der Abwesenheit des Egoismus, in der Drangabe des
Selbst an das Allgemeine oder an die Idee. Das rücksichtslose
Einsetzen der Person und deren Wohl und Weh in den Dienst all-
gemeiner Ideen —
gleichgiltig vor der Hand, welcher Art diese
sind — kennzeichnet die sittliche Handlungsweise; in dieser Hin-
gabe der Person an die Idee wurzelt die Würde des ersteren, und
aus dem nicht ausbleibenden Kampf der vom Willen getragenen
Ideen erwächst, dem sittlich strebenden Individuum der tragische
Conflict, wenn es, um der einen getreu zu bleiben, die andere ver-
rathen muss. Bahnsen ist also mit Schopenhauer und Hart-
mann in Uebereinstimmung bezüglich des Merkmales, welches
eine Handlung zur sittlichen macht, und ebenso energisch betont
er das „Sollen" derselben. Der objective Grund des Sollens
aber ist bei ihm ein ganz anderer als bei den Monisten
Schopenhauer und Hartmann, weil Bahnsen pluralisti-
scher Individualist ist. Ihm ist das Individuum nicht bloss eine

*) Bezüglich der Kritik des Begriffes der Freiheit im esse verweisen


wir auf die treffliche Erörterung bei Hart mann, „Phän. d. sittl. Bewussts.",
das Moralprincip der transcendentalen Freiheit III. 6, p. 469 485. —
**) „Mosaiken und Silhouetten*. Leipzig, Wigand, 1877. No. I.
Hauptwerk: „Der Widerspruch im Wissen und Wesen der Welt - Princip ;

und Einzelbewährung der Realdialectik. Grieben's Verlag. Leipzig. 2 Bände.


1880 und 1882.
Die Begründung der Sittlichkeit. 249

Summe zeitlich-räumlich bestimmter Actionen des Einen Wesens,


sondern eine in sich und für sich subsistirende Monade, oder
wie er sagt, um das Aufeinanderbezogensein der Vielen mit
zu bezeichnen, eine Henade. Der kategorische Imperativ, das
Sollen der Sittlichkeit entbehrt also hier der monistischen Begrün-
dung der wurzelhaften Einheit; dagegen ist die Henade allerdings
als Eine unter Vielen auf diese angewiesen, indem sie so wie sie
ist nur ist, weil auch die Andern so sind wie sie sind, und die
henadische Abhängigkeit Aller von Allen, die, bis in die real-
dialectische Wurzel reichende Bezogenheit der „Wir" begründet
die Forderung der Beschränkung des in's Unendliche tendirenden
Egoismus. In der real-dialectischen Natur des Individuums aber
hegt auch ebenso wurzeltief der Grund des sittlichen Triebes: der
Kern jeder Henade ist ja der Widerspruch des Wollens und Nicht-
Wollens; das Egoistische entspricht nur einer Seite des Grund-
wollens, es ist die geradlinige logische Auswirkung ihrer selbst,
sofern sie eben Eins, ein Einzelnes ist; aber der Riss des Wider-
spruchs, der „mitten durchs Herz der Welt geht", ergiebt auch,
dass jedes Wollen nicht nur seine individuelle Selbstbehauptung,
sondern auch seine Selbstverneinung in der Selbstverleugnung an-
strebt, indem es das Interesse der Andern, der Vielen will. Und
umgekehrt, indem das sittlich, d. h. selbstlos wollende Individuum
das Wohl der Andern will, bejaht es sich selbst als sittliches Sub-
ject. Im sittlichen Handeln bethätigt sich das Individuum ent-
sprechend seiner Natur als real-dialectische Henade; es ist das
sittliche Handeln das für das Einzelne das höhere, vollendetere
Thun als das gerad-linige Selbstbehauptungsstreben des Egoismus,
weil damit die Zerspaltung in das velle und non-velle des An-sich
des Seins im Reich des Bewusstseins reproducirt wird; es ist das
sittliche Thun das höhere, weil dabei das Interesse der Vielen ge-
wahrt wird, welches Interesse aber nicht etwa ein schlechthin
eudämonologisches ist (denn der dialectische Wille will ja zwar die
Lust und das Wohl, aber auch die Unlust und den Untergang),
sondern was im Interesse Aller liegt, sind nur die Bedingungen
zur vollkommensten Auswirkung der Einzelnen innerhalb ihrer
Abhängigkeit in der Vielheit.
Weil jedes Wollen auch ein Nicht-Wollen seines Inhaltes ist,
so haftet jeder sittlichen, d. h. selbstlosen That, doch auch ein
Moment an, wo der Selbstlose sich selbst bejaht, das Seine will,
wenn auch nur als Befriedigung seines Mitgefühls mit den Andern;
und auf der andern Seite beruht die Reue darin, dass der Wille,
der die unsittliche Handlung hervorrief, diese zugleich auch nicht
wollte, also in seiner einen (sittlich positiven) Seite nicht befriedigt
wurde.
250 Die Bekämpfung d. Pess. v. Standp. d. ethischen Optim.

Die Real-Dialectik kann ans ihrem Princip heraus auf plurali-


stischer Grundlage das Vorhandensein einer Sittlichkeit, die mehr
ist, als blosse egoistische Klugheitsmoral, allerdings erklären, d. h.
ihr Vorhandensein begreiflich machen; Begründung dafür,
eine
warum die Sittlichkeit sein soll und gefordert werden darf, hat
sie doch wohl nicht zu geben vermocht oder ihrem Princip nach
nicht zu geben erstrebt. Zwar liegt in erster Linie der Grund für
.

das „Sollen" in der gegenseitigen Bezogenheit der Henaden auf


einander; da aber in jeder Henade mit dem Willen zur Selbstbe-
hauptung und der möglichst vielseitigen Geltendmachung (welches
durch das sittliche Verhalten der Mit-Henaden garantirt werden
soll) auch der Contre- Wille der Beschränkung und Vernichtung zu-
sammen geht, so fehlt doch das zu der Selbsthingabe treibende
Motiv: ein allseitig Werthvolles mit der Sittlichkeit zu fördern. Der
Einzelne aber kann in Bezug auf die All- und vollseitige Auswir-
kung seiner Natur als real-dialectisch zerspaltenes Willewesen und
als Eins unter Vielen, sich auch dadurch Genüge thun, dass er den
Egoismus, die rücksichtslose Selbstbehauptung bis auf jene Spitze
treibt, wo letztere sich umbiegt und die Selbstbehauptung zur Selbst-
vernichtung führt. Wenn jedes Wollen auch das Nichtwollen seines
eigenen Inhaltes in sich schliesst, so wäre es doch wohl letzten
Endes blosse Geschmackssache, der gegenüber es kein „Sollen" giebt,
ob man das Ineinander der Selbstbejahung und Selbstverleugnung
dadurch darleben wolle, dass man sich in der Selbstverleugnung
der Hingabe an ausser dem Ich liegende Interesse selbst gewinnt,
oder dadurch, dass man die Selbstbehauptung preisgiebt durch Pro-
vocirung der Opposition gegen zu schroffen Egoismus.
Mit der Verneinung eines allgemeinen eudämonistischen Zieles
und Zweckes der Sittlichkeit verliert diese auch den Boden, auf
dem sie den Einzelnen als etwas zu forderndes entgegen steht.
Wenn das „Gute" und das „Wr ohl", welches die Sittlichkeit för-
dert, bloss ein zwar empirisch allgemein Verlangtes, aber für die
philosophische Erkenntniss doch nur oberflächenhaftes, einseitiges
Wollen der Wesen wäre, so wäre auch das Sollen der Sittlichkeit
nur empirisch begründet; es wäre nur ein „Sollen", wo das Wollen
als keines Grundes bedürftigen schon gesprochen hätte, aber es
verhallte machtlos gegenüber dem real - dialectischen Speculiren,
wenn das im Princip ja auch gegründete negative Wollen (dessen
Bezeichnung als negatives eigentlich ja auch nur eine willkürliche,
einseitige ist) sich das eigene und das allgemeine Nicht- Wohl als
den Inhalt des gleichsam untergründigen Wollen der Henaden, zum
dir e et zu erstrebenden Ziel egoistischen Drauf loswirthschaftens
machen wollte.
Wie das real-dialectische Princip der in Wollen und Nicht-
Die Begründung der Sittlichkeit. 251

Wollen zerklüfteten Henaden naturphilosophisch unfruchtbar


ist (wenn wirklich mit der Idee des Widerspruchs im Herzen
des Seins voller Ernst gemacht wird), so erscheint es uns auch
für die Begründung der Sittlichkeit unfruchtbar. Entweder das
„Ja" und „Nein" sind vor der höchsten Instanz: dem seine eigene
Natur und sein Grundwesen erkennenden Geiste absolut gleich-
werthig, dann sind auch Sittlichkeit und Egoismus gleichwerthig,
oder es giebt doch ein Uebergewicht auf jener Willensseite,
welche durch die Sittlichkeit in ihrer Auswirkung gefährdet wird,
und dann sprengt die Ethik die Metaphysik Bahnsens aus-
einander.

d. Philipp Mainländer.

Mainländer's Weltanschauung ist pluralistisch und er zieht


bei der Begründung der Sittlichkeit unentwegt die Consequenz des
Pluralismus: er verwirft unser Kriterion und erklärt alle Hand-
lungen, die das Individuum überhaupt thun kann, als dem Egois-
mus entstammend; somit „sittlich" nur als eine Bezeichnung für
eine gewisse Inhaltrichtung des natürlichen Wollens ist, nicht für
eine Grenze, wo das Wollen aufhört primitiv natürlich zu sein.
„Sittlich" ist nach Mainländer diejenige Handlung, die das „wahre
Wohl" des Individuums fordert und die gerne geschieht. Legal
ist dagegen eine Handlungsweise, die das im allgemeinen Interesse
der Vielen gegründete Gesetz vorschreibt, und die als Zwang em-
pfunden gegen die Neigung der jeden Zwang und Fessel hassen-
den Natur doch geübt wird; dieselbe Handlungsweise wird sittlich,
wenn das Individuum erkennt, dass es im allgemeinen Wohl sein
eigenes mitfördert und nunmehr die legale Handlung nicht mehr
als Zwang empfindet, sondern gerne thut. Das Ziel des allge-
meinen Strebens, erst unbewusst, dann bewusst, ist der ideale
Staat, als der möglichst günstige Schauplatz für die individuelle
Erlösung aus der Existenz, damit ist denn auch der vollständigste
Gegensatz dessen erreicht, was Kant unter dem Begriff des Sitt-
lichen versteht: die Abwesenheit der Neigung; und die Ethik wird
wieder — wie bei den Alten —zur egoistischen Glücks eligkeits-
lehre — freilich mit dem negativen Ziel, wie der Pessimismus
es steckt.
Was nun die Weise betrifft, wie die Erlösung vermittelst der
Virginität und der dadurch verhinderten Wiedergeburt ermöglicht
werden soll, so steht und fällt diese mit Mainländer's brüchiger
Naturphilosophie und Ontologie, in deren Grundconception ohne
Zweifel der Schopenhauer'sche Begriff der transcendenten Schuld
-

252 Die Bekämpfung d. Pess. v. Standp. d. ethischen Optim.

hineinspukt, wie denn auch die Virginität aus der Schopenhauer


sehen esoterischen Morallehre mit hinüber genommmen wurde in
ein System, in welchem sie, falls der Begriff des Weltseins als
Schuld nicht gelten soll, wie die Askese überhaupt keinen logisch
gerechtfertigten Platz hat.
Wie derjenige Hartmann's umschliesst auch Mainländer's
Pessimismus einen socialen Optimismus in der Ueberzeugung von
Realisations - Möglichkeit eines „Ideal-Staates", in dem alle die
Mängel unserer jetzigen (und vergangenen) socialen und politischen
Zustände endgültig gehoben sind, womit die Unlust, die sich jetzt
an die einzelnen Factoren unseres Culturlebens heftet, aufgehoben
sein wird, sich aber dafür um so concentrirter auf das Daseinsleid
als solches wirft.

3. Die angebliche Unmöglichkeit einer pessi-


mistischen Ethik.

Wenden wir uns nun zu der oppositionellen Partei der ethi-


schen Optimisten; diese richten ihre Einwendungen zumeist an die
Adresse Hartmann's und nur im Anschluss an diesen hervor-
ragendsten Vertreter des philosophischen Pessimismus wird auch
Schopenhauer in den Kreis der Kritik gezogen.
Hartmann sagt in der Vorrede (p. VI.) seiner Schrift „Zur
Geschichte und Begründung des Pessimismus"*): vor dem Erscheinen
der „Phänomenologie d. sittl. Bewusst." habe man als Hauptvor-
wurf gegen den Pessimismus erhoben, derselbe sei nothwendig und
wesentlich ethiklos; nachdem er mit der „Phän. d. sittl. Bew."
eine Ethik des Pessimismus hingestellt habe, so werde der Spiess
umgedreht, so dass nun diese Ethik nichts taugen soll, weil sie
die Ethik des Pessimismus sei.
Die erste Meinung (es sei der Pessimismus wesentlich ethik-
los) gründet sich auf die folgende Behauptung: der Werthmesser,
den Hart mann an die Welt lege, sei der eudämonologische und
an diesem Maassstabe gemessen müsse die Beschaffenheit der Welt
allerdings als unzulänglich befunden werden; es schliesse aber auch
die Benutzung dieses Maassstabes die Ethiklosigkeit der Hart-
mann'schen Philosophie in sich. Oder nach anderer Version: die
Weltanschauung gestaltet sich für Hartmann pessimistisch, weil
er nichts höheres kennt als natürlich-eudämonologische Werthe,

*) C. Duncker, Berlin 1880.


:

Die angebliche Unmöglichkeit einer pessimistischen Ethik. 253

weil ihm das Verständniss für die höheren Befriedigungen des


ethischen Strebens abgeht.
Das zweite Urtheil (wonach Hartmann 's Ethik nichts taugen
soll, weil sie auf pessimistischer Grundlage aufgebaut ist), stützt
sich auf folgendes Raisonnement: Wenn keine positiven Werthe
existiren und wenn egoistischen Rücksichten ausgeschlossen
alle
sein sollen, so fehlt es am
Motiv zum egoistischen Streben; das
letzte absolut-negativ-eudämonologische Princip Hartmann's sei
eine metaphysische Chimäre ohne Motivationskraft; soweit also
Hartmann echte Sittlichkeit lehre, finde diese nicht in seinem
Princip Begründung, sondern beruhe in Widerspruch mit demselben
auf optimistischen Voraussetzungen, d. h. auf psychologisch ge-
rechtfertigter Restitution des egoistischen und eudämonistischen
Strebens.
Beim ersten Urtheil findet die irrführende Verwechselung statt
erstens zwischen dem Individual - Eudämonismus als Ziel des
Handelns und zwischen Eudämonismus als Werthmesser, und
zweitens zwischen Individual-Eudämonismus und Eudämonismus
des Absoluten — resp. des All-Seins.
Ungeachtet der zwar knappen aber durchaus durchsichtigen
diesbezüglichen Auseinandersetzungen wird übersehen, dass Hart-
mann schon in der „Phil. d. Unb." den Individual-Eudämonis-
mus verwirft, und zwar zu Gunsten des Opfers im Dienste des
negativ-eudämonologischen Zieles des Weltprocesses. Im zweiten
Urtheil, wo nach dem Erscheinen der „Phänomenologie des sittl.
Bewusst." dies letztere Missverständniss nicht mehr möglich war, wird
nun eben so irrthümlicher Weise angenommen, es müsste mit dem
Individual-Eudämonismus als Ziel auch jeder Werthmesser, sowohl
der sittliche als der eudämonologische abhanden kommen.
Dies alles bezieht sich aber erst auf das Verhältniss des Pessi-
mismus zur Sittlichkeit; es kommt aber auch umgekehrt das
Verhältniss der Sittlichkeit zum Pessimismus in Betracht,
und da lauten nun die Oppositionsstimmen dahin: dass erstens durch
die subjective Wirkung des sittlichen Strebens die Lust- und Un-
lust-Bilance für das Subject der sittlichen That zu Gunsten der
Lust modificirt würde, und zweitens auch die objectiven Resultate
der sittlichen Bethätigung eudämonologisch günstigere sociale Ver-
hältnisse herbeizuführen vermöchten, so dass durch die äussere Cau-
salität die dem axiologischen Urtheil zu Grunde liegende Empfin-
dungen und Vorstellungen im optimistischen Sinne modificirt
würden.
Wir betrachten zuerst die Einwände, welche gegen das Ver-
hältniss des Pessimismus zur Sittlichkeit erhoben worden sind.
254 Die Bekämpfung d. Pess. v. Standp. d. ethischen Optim.

Was hier nun den ersten Punct betrifft, nämlich den Vor-
wurf: der Pessimismus sei das Resultat eine» anti-sittlichen Indi-
vidual-Eudämonismus, resp. eines idealistischen Zielen entfremdeten
naturalistischen Hedonismus, so haben wir uns darum gar nicht
weiter mehr zu kümmern, indem diese Behauptung nach dem Er-
scheinen der „Phänomen, des sittlichen Bewusstseins" nicht mehr
haltbar ist. Es participiren aber an der von Hartmann gelie-
ferten Rechtfertigung des Pessimismus überhaupt alle pessi-
mistischen Philosophien, soweit sie sich zu Hartmann 's Kriterion
des Sittlichen bekennen. Die sorgfältigste Ausscheidung der indi-
vidual-eudämonologischen, mithin egoistischen Motive aus den ver-
schiedenen gefühl- und verstandesmässigen Principien geht als
rother Faden durch die ganze „Phänomen, des sittlichen Bewusst-
seins" hindurch, und zeigt zusammen mit der systematischen Ein-
theilung in egoistische Pseudo- und in echte Moral, wie fest Hart-
mann an der Gegensätzlichkeit von Individual-Eudämonismus und
Sittlichkeit festhält. Die älteren, ausschliesslich gegen die prac-
tisch - philosophischen Andeutungen der „Philosophie des Unbe-
wussten" gerichteten kritischen Ausfälle haben wir daher gar nicht
mehr zu behandeln, dagegen aber den zweiten Punct, der gleich-
sam die Kehrseite des erstem bildet; nämlich die Behauptung,
dass mit dem Individual-Eudämonismus als Ziel auch der Werth-
messer und mit dem Egoismus das Motiv verloren gehe —
eine
Behauptung, welche also einer Verwerfung unseres Kriterions
der Sittlichkeit gleichkommt. Der Streit über das Verhältniss
zwischen Sittlichkeit und Egoismus ist nur insofern mit der Pessi-
mismusfrage verknüpft, als der Pessimismus den Anspruch erhebt,
dadurch die Sittlichkeit zu fördern, dass durch seine Erkenntniss
der Egoismus gebrochen werde. Hätten nun die Vertheidiger des
Egoismus recht, so wäre die Schwächung desselben (wenn sie nicht
nur ein Wahn, sondern Realität wäre), die Schwächung einer Kraft,
die damit auch der Sittlichkeit entzogen wäre.
In diesem Sinne schreibt Hugo Sommer (Preussische Jahr-
bücher B. XLIII, Heft 4, „Die Ethik des Pessimismus"): „Egoistisch
nannte man nach der bisher üblichen Bedeutung dieses Wortes
einen Menschen, der auf Kosten Anderer sein eigenes Wohl
durchzusetzen sucht nicht denjenigen
, der unter sorgsamster
,

Respectirung der Ansprüche anderer desjenigen Theiles Güter des


Lebens, welche ihm von Gott und Rechtswegen zukommen, neid-
los sich freut und das Streben danach zum Beweggrund seines
Handelns macht. Es ist bisher Niemanden eingefallen, denjenigen
egoistisch zu nennen, der mit heller Freude das Erwachen des
Frühlings begrüsst und dadurch Niemanden den gleichen Genuss
entzieht, der Liebe seiner Angehörigen und Freunde, der Erfolge
Die angebliche Unmöglichkeit einer pessimistischen Ethik. 255

seiner wirthschaftlichen oder wissenschaftlichen Arbeit, seiner Tu-


gend sich freut und dem Glücke, welches ihm die grössere oder
geringere Erreichung seiner individuellen Lebensbestimmung ge-
'

währt, mit ganzer Seele sich hingiebt, der im ästhetischen Genüsse


oder in religiöser Erhebung sich beseligt und erhoben fühlt über
dem Lärm und der Last des Alltagslebens; egoistisch doch wahr-
lich nicht der, der die Erlangung der vorausgefühlten Werthe all'
der bezeichneten Güter als motivationskräftiges Ziel seines Han-
delns auf sich einwirken lässt, noch weniger egoistisch der, der
jedem das Seine giebt und mit Hintenansetzung des eigenen
Wohles dasjenige Anderer deshalb zu' fördern strebt, weil er
sich bewusst ist, dadurch ein sittliches Gebot zu erfüllen, dessen
gefühlter Werth ihm unendlich viel erhabener dünkt als alle
andern Güter des Lebens."
Dieser Bandwurm von einem Satze giebt den Schlüssel zu
einer, dem fraglichen Vorwurf zu Grunde liegenden Irrthums-
quelle: nämlich der Unklarheit über die Begriffssphäre Egoistisch
und Sittlich. Sommer, wie eine Menge Anderer, fasst den Be-
griff „egoistisch" einestheils zu enge, anderseits auch zu weit.
Er unterscheidet nicht den sittlich indifferenten natürlichen
Egoismus (wie er mit der Individuation schlechthin gegeben ist)
von dem zum Moralprincip erhobenen Egoismus des Individual-
Eudämonismus und meint, weil Hartmann den Letztern als
,

Pseudo-Moral verurtheilt, er wolle damit auch den sittlich indiffe-


renten Egoismus als unsittlich verurtheilen, welcher in erster Linie
nichts anderes ist als der Selbsterhaltungstrieb im weitesten Sinne,
so wie er sich in unseren complicirten Culturformen tausendfach
gestaltet. In dem citirten Satze sind ganz verschiedene Zustände
zusammengepackt. Den Menschen, der sich freut, wenn der Lenz
erwacht, wenn die Genüsse der Kunst sich ihm bieten, wenn sein
Liebes- und Freundschafts-Trieb befriedigt wird, wenn sein Schaffen
und Wirken Früchte bringt, den nennt man allerdings nicht einen
Egoisten — auch Hartmann nicht, wie Sommer anzunehmen
scheint. Auch der selbstloseste Mensch, ebenso auch der einge-
wird sich der Blüthen des Lenzes, der Liebe
fleischteste Pessimist
und der Kunst erfreuen und diese, wie auch eine gesicherte Exi-
stenz wohlthätig empfinden; der Pessimist erst recht, weil er solche
Befriedigungen nicht so ohne Weiteres als selbstverständlich (als
von Gott und Rechtswegen ihm zukommend) hinnimmt. Nicht der
philosophische Pessimist, der sich der Sittlichkeit befleissigt, son-
dern nur der griesgrämige, nörgelnde Miserabilist (worin wir eine
subjective krankhafte Entartung des Fühlens und Denkens erken-
nen zu müssen glauben) wird vor dem Lenz die Fensterladen zu-
schliessen und nur der verbohrte Asketiker (oder der, der diese
256 Die Bekämpfung d. Pess. v. Standp d. ethischen Optiin.

Rolle spielt) wird eine Grimasse schneiden, wenn er Fasan und


Champagner gemessen soll. Ein Mensch, der des Angenehmen
sich freut und das Unangenehme scheut, fällt damit noch nicht
unter die ethische Betrachtungsweise; er reagirt eben einfach na-
türlich auf natürliche Reize.
Setzt sich hingegen ein Mensch die Gewinnung der Lebens-
güter und Genüsse mit vollem Bewusstsein zum Ziele seines
Strebens, so nennt ihn zwar der gemeine Sprachgebrauch noch
nicht ohne weiteres einen Egoisten, der Philosoph aber muss ihn
so nennen, zur Unterscheidung von Demjenigen, der die Ziele
seines Strebens ausser sich setzt. Damit ist der erstere noch
nicht als unsittlich verurtheilt; es ist nämlich verschiedenes mög-
lich: er kann neben dem starken Triebe eudämonologischer Selbst-
behauptung auch starke sittliche Triebfedern besitzen; dann wird
sein egoistisches Streben häufig dadurch unterbrochen werden, in-
dem er unter dem AfFect der Liebe des Mitleids der Dankbar-
, ,

keit u. s. w. ganz selbstvergessen sittlich, die gerade Bahn seiner


eigenen Interessen durchkreuzend, handelt. Er kann aber aus-
nahmsweise auch so glücklich situirt sein, unter so günstigen Um-
ständen handeln, dass er sein eigenes Behagen fördert, seine eigene
Genusssphäre erweitert, indem er das Wohl der Andern fördert.
Dann mögen die, welche seine günstige Einwirkung auf Andere
wahrnehmen und dabei das Princip seiner Handlungsweise nicht
kennen, ihn einen Tugendhelden preisen, während er in Wirklich-
keit durchaus nicht sittlich, sondern nur sitthch indifferent na-
türlich-klug handelt.
Weiter kann der Egoist Handlungen ausfuhren, die, wenn
selbstvergessen gethan, sittliche wären, um sich das Vergnügen zu
verschaffen sich selbst als sittlich zu bewundern, oder um der nach-
träglichen indirecten Folgen willen; er betritt damit 'das weite Ge-
biet der Pseudo-Moral. Sittlich sind solche Thaten werthlos, als
legale können sie sehr werthvoll sein; eudämonologisch ist ihr
Werth zweifelhaft: denn erstens beruht die Freude über die da-
mit bezeugte Sittlichkeit auf einer Illusion, die kaum lange vor-
hält; zweitens kann die erwartete indirecte günstige Wirkung aus-
bleiben und dann hat man zur übernommenen Unlust des pseudo-
sittlichen Opfers noch den Verdruss am unrechten Orte in „Sitt-
lichkeit gemacht" zu haben.
Wer also unter dem Princip des Egoismus handelt, wird am
ehesten und mit dem subjectiv befriedigendsten Erfolge legale,
sittlich-scheinende Handlungen ausführen, wenn er den Lohn
seines Thuns erst im Jenseits erwartet, weil dann kein Aerger über
das Ausbleiben zu befürchten ist. Auch wird er, weil er nicht
auf irdischen Lohn, weder auf objectiven noch auf den subjectiven
Die angebliche Unmöglichkeit einer pessimistischen Ethik, 257

der stolzen Gefühle lauert, eher Zeit finden, sein Interesse auf
ausser ihm Liegendes zu richten, so dass nunmehr echt sittliche
Handlungen mit den pseudo-sittlichen abwechseln werden.
Darin liegt der grosse Fortschritt des transcendentalen Eu-
dämonismus über den empirischen, wie auch Hartmann wieder-
holt hervorhebt. Es muss aber auch anerkannt werden, dass sich
dem pseudo-ethischen Streben, welches die sittliche That nur thut,
um sich den Genuss zu verschaffen, sich im Bewusstsein seiner
Sittlichkeit zu sonnen, insofern ein echtes sittliches Moment bei-
mischt, als dieser eudämonologische Motivationspro cess schon die
Achtung vor der Sittlichkeit als solchen voraussetzt, hier also
ohne Zweifel die Brücke aus der Pseudo-Moral zur echten, der
Hingabe an die Idee, hinüberführt.
Was der gemeine Sprachgebrauch einen „Egoisten" nennt,
das muss nun weiter der Philosoph als unsittlichen Egoisten be-
zeichnen, in welchem Falle dann aber das „unsittlich" nicht bloss
im privativen Sinne als „nicht sittlich" (gleich einfach natürlich)
gemeint ist, sondern als positiver Gegensatz zur Sittlichkeit.
Wie der theoretische Egoist, entgegen seiner Theorie, im Drange
seiner gut veranlagten Natur im einzelnen Falle sittlich handeln kann,
so kann der, welcher den Egoismus theoretisch verurtheilt, momentan
seinen egoistischen Instincten unterliegen; die Reue wird nach-
folgen, wenn dieselben zu unlegalen oder sonst wie die Nächsten
schädigenden Handlungen geführt hatten, der Rückfall in's privativ
nicht-sittliche Gebiet wird sich aber in der Regel der Kritik des
sittlichen Bewusstseins entziehen, wenn sie sittlich indifferent ausfallen,
d. h. wenn sie keinerlei Pflichten verletzen, dem Nächsten harmlos
bleiben und keine üblen psychologischen Wirkungen erkennen lassen.
Diese innern Unterschiede des äusserlich sich gleich darstellen-
den und äusserlich verschiedenen bei innerer Gleichheit weist Hart-
mann an zahlreichen über die „Phän. d. sittl. Bew." zerstreuten
Beispielen aufs Feinste nach, was sich H. Sommer entgehen lässt,
welcher meint, er müsse das weite Gebiet des Natürlichen, des
Sittlich-Indifferenten retten, wo es gar nicht in Gefahr ist. „Unser
Philosoph" — meint Sommer — „vermischt alle die specifischen,
unter sich ganz incommensurablen himmelweiten Unterschiede,
welche das Streben nach eigenem Wohl in des Wortes umfassend-
ster Bedeutung in sich schliesst, und bezeichnet alles Streben
nach eigenem Wohl ohne Ausnahme als egoistisch: mag dasselbe
übrigens auf das Wohl im Diesseits oder in einem erträumten
Jenseits gerichtet sein." Gewiss und mit vollem Rechte. Wie es
das umfassende Merkmal des Sittlichen ist: nicht das Seine zu
suchen, so ist es das Merkmal des Nicht-Sittlichen, das Eigene zu
erstreben; aber dass das Nicht-Sittliche schon eo ipso das Unsitt-
Plümacher, Pessimismus. 17
258 Die Bekämpfung d. Pess. v. Ständp. d. ethischen Optim.

liehe sei, das behauptet nicht Hartmann, sondern nur eine aske-,
tische Moral verdammt das Natürliche als das Unsittliche.
Die Grenze zwischen einfach natürlichem Thun und solchem,
welches der sittlichen Beurtheilung unterliegt, muss strict aufrecht
erhalten werden, sonst verliert man für das ganze autonome Gebiet
das Kriterion des Sittlichen: denn entweder man hält daran fest,
dass Selbstverleugnung sittlich sei, und kommt dann ohne die An-
erkennung der Naturberechtigung zum asketischen Gebot „so
dir Jemand auf die rechte Backe schlägt, so halte ihm auch die
linke hin" (welche Forderung eine indirecte Unsittlichkeit enthält,
indem man den Nächsten zum Unrechtthun einladet); oder man
verwirft das obige Kriterion und seine unvernünftigen einseitigen
Consequenzen und ist dann genöthigt, alle unschädlichen Absurdi-
täten, welche zufällig Einer „als sein wahres Wohl" zu erkennen
vermeint, unter die Rubrik „sittliches Streben" aufzunehmen. Man
ist aber auch gezwungen, den klugen, alles erwägenden Egoismus
auf den höchsten Thron zu erheben, welcher kluge Egoismus zwar,
wie Hart mann*) sehr schön auseinandersetzt, unter hohen Cultur-
verhältnissen und in Zeiten, wo die Gesetze sich behaupten können
und die öffentliche allzu corrumpirt ist, zu legalem
Meinung nicht
Verhalten Ausnahmsfällen aber, unter gelockerten
hinreicht, in
Rechtsverhältnissen alle Gräuel sanetionirt. Wenn bei mangelnder
Auseinanderhaltung von rein natürlichem Nicht- Sittlichen und
Unsittlichen auch das Kriterion der Selbstlosigkeit für das Sitt-
liche verloren geht, dann muss zum Frincip der Heteronomie
Zuflucht genommen werden, dann muss, um nur überhaupt festen
Grund zu gewinnen, das Handeln nach dem Princip der Autori-
tät als das Wesentliche des Sittlichen declarirt werden.
Als Beispiel hierfür kann J. H. von Kirchmann dienen;
auch er vollzieht nicht die Trennung zwischen dem sittlich-indiffe-
renten natürlichen Egoismus und dem Egoismus als Moralprincip
und kommt daher zu folgendem Ausspruch: „Der Egoist ist ein
Mensch wie alle anderen; es ist also nicht abzusehen, weshalb er
als Mensch nur für die Andern sorgen solle, selbst wenn er
und sie im Wesen nur Eins sind. Offenbar müsste dann folge-
recht der Andere auch wieder für ihn sorgen. A muss die
Suppe für B kochen und B muss die Suppe für A kochen; sollte
dieses Ziel nicht einfacher erlangt werden, wenn jeder die Suppe
für sich selbst kocht?" Wenn jeder die Suppe kochen kann, so
soll es jeder für sich selbst thun; er handelt dann einfach natür-
lich unter natürlichen Verhältnissen, die immer noch ein weites

*) r Phän. d. sittl. Bew." Erste Abth. I, 1. p. 14—21.


Die Sittlichkeit als Werthmesser der Welt. 259

Feld behaupten können, obwohl die Steigerung der Cultur es all-


mälig verengert. Wenn aber A zwar eine Suppe kochen kann,
B aber nicht, weil er nicht das Nöthige dazu hat, so hört das
Normale, die Natürlichkeit auf und indem A
aus Mitgefühl für
B's drohenden Mangel für diesen auch die Suppe kocht, erhebt er
sich über die blosse Natürlichkeit: handelt er sittlich; klug- egoistisch
und sittlich-indifferent würde er handeln, wenn er bloss so verführe,
weil für seine Suppenlieferung B ihm das Wasser geben müsste,
weil der Brunnen des B noch läuft, der des A
aber versiegt ist
— nach dem Sprichwort: giebst du mir die Wurst, so lösch' ich
dir den Durst.
Es nimmt aber auch v. Kirchmann bei der Ehrenrettung
des Egoismus diesen Begriff zu weit, so dass er z. B. auch die
Liebe unter die egoistischen Triebe rechnet. Die Liebe steht aber
auf der Grenze der sittlich-indifferenten Natürlichkeit und des Sitt-
lichen —
oder richtiger gesagt: sie bildet den Schritt vom einen
ins andere Gebiet hinüber. Die gewöhnliche Liebe will ja aller-
dings die eigene Lust, aber in der Regel nicht ohne dass auch
der Gegenstand der Liebe Lust empfinde; kann die eigene Lust
nur mit der Unlust des anderen Theiles erkauft werden, dann tritt
die echte Liebe entsagend zurück; ist der Dämon des Naturtriebes
aber hierzu zu mächtig, so schwindet auch die Lust, und die Liebe
ist dann die Leiden schaffende Leidenschaft.
Will man dem Egoismus, um ihn zu erheben und ihn zum
Moralprincip zu machen, auch die Liebe mit all' ihren möglichen
Formen der Selbstverleugnung einfügen, so wird der Begriff des
Egoismus so ausgeweitet, dass er seine Sphäre ganz zersprengt,
und das Wort nunmehr nichts anderes mehr bezeichnet als die
Thatsache: dass der Wille seinen Inhalt will, dass nur meine Vor-
stellung (Idee, Gedanke, Empfindung und Gefühl) Motiv meines
Willensactes werden kann. Hieraus folgen dann so schwächliche
Grenzbestimmungen von Natürlich, Legal und Sittlich, wie sie z. B.
Mainländer aufstellte, nachdem er auch in die psychologische
Mäusefalle gegangen war, welche die mangelhafte Unterscheidung
zwischen Motiv und Ziel einer Handlung bildet.

4. Die Sittlichkeit als Werthmesser der Welt.

Wir wenden uns nun zum Eudämonismus als Genus und


Species und betrachten zuerst die Forderung: Die Sittlichkeit,
nicht aber den Eudämonismus, zum Werthmesser der Welt zu
machen.
17*
260 Die Bekämpfung d. Pess. v. Standp. d. ethischen Optim.

Die Forderung konnte auf zwei verschiedene Arten gemeint


und verstanden werden, sie ist doppelseitig. Man könnte nämlich
die Welt derart am Begriff der Sittlichkeit messen, dass man zu
erwägen trachtete: ob mehr Sittlichkeit oder mehr Unsittlichkeit
in der Welt vorhanden wäre; oder man könnte aus dem Wesen
des Sittlichen und aus dem Weltleben und seinen Formen und
Factoren zu ergründen und zu beweisen suchen: dass die Welt, so
wie sie ist, die bestmögliche Welt zur Realisation der Sittlichkeit
sei. Entsprechend der ersteren Seite müsste dann die Formel des
ethischen Optimismus lauten: Die Welt ist positiv werthvoll, weil
in ihr mehr Sittlichkeit als Unsittlichkeit enthalten ist; die Formel
der zweiten Seite aber: Die Welt ist die beste Welt, weil so, wie
sie ist (und nur so), echte Sittlichkeit möglich wird.
Die erste Formel hat sonder Zweifel wenig Aussicht für —
die Gegenwart wenigstens —
von unseren ethischen Optimisten
acceptirt zu werden. Denn es ist gerade der „sittliche Entrüstungs-
pessimismus " diejenige Form der pessimistischen Weltbetrachtung,
welche vom ethischen Optimismus in der Regel bei der Verurthei-
lung des Pessimismus ausgenommen wird. Es möchte aber auch
sehr schwer halten, diese Formel zur Geltung zu bringen, weil das
Abwägen von Sittlichkeit und Unsittlichkeit noch unendlich grössere
Schwierigkeiten bieten müsste, als die schon so stark bezweifelte
Möglichkeit einer Abschätzung des Lust- und Unlust- Verhältnisses.
Es soll also ohne Zweifel die zweite Formel gelten. Es leug-
net nun aber der philosophische Pessimismus die Priorität der Sitt-
lichkeit unter den relativen Werthen durchaus nicht; was er be-
streitet, ist nur deren absoluter Werth. Diesen absoluten Werth
und zwar als einen von jeder eudämonologischen Schätzung un-
abhängigen zu beweisen, ist also die Aufgabe des den Pessimismus
bekämpfenden ethischen Optimismus.
Die heteronome religiöse Ethik begründet scheinbar den posi-
tiven Werth der Sittlichkeit dadurch, dass sie letztere als den
Willen Gottes erklärt. Hiernach ist das, was wir jetzt sittlich,
mithin „gut" nennen, dieses nur, weil es Gottes Wille ist, und
wäre auch dessen conträres Gegentheil „sittlich", wenn es von
Gottes Willen getragen würde. Diese Begründung kann aber nicht
diejenige unserer modernen ethischen Optimisten sein; denn diese
heteronome Sittlichkeit und diese Weise der Rechtfertigung des
„Wie" und „Was" des Sittlichen gehört zu denjenigen Puncten
der Theologie, die man gerne in den dunkelsten Winkeln des künst-
lichen Gewölbebaues der Dogmatik stehen lässt.
Aber lassen wir selbst diesen Beweis gelten, —
wird dadurch
die Sittlichkeit in einen absoluten Gegensatz zum Eudämonismus
gesetzt? Durchaus nicht. Entweder das „Was" und „Wie" des
Die Sittlichkeit als Werthmesser der Welt. 261

Sittlichen istohne Beziehung auf die menschliche Eudämonie, d. h.


die Sittlichkeitist, so wie wir sie als immanente und vermeint- —
liche — supernaturale Offenbarung besitzen, ohne einen aus den
Weltverhältnissen erwachsenen Grund und könnte ebenso gut an-
ders sein, dann müssen wir mit ihr Gottes Willen erfüllen, weil
Gottes Willensbefriedigung Gottes Lust ist.
Oder aber der die Sittlichkeit wollende Wille Gottes will die
Sittlichkeit, weil sie das Wohl der Welt ist; und dann fördert
die sittliche Welt in Gottes Willensbefriedigung ihr eigenes soli-
darisches W^ohl. Also auch vom Standpuncte der religiösen hete-
ronomen Moral aus ist Sittlichkeit letzten Endes Mittel der Eudä-
monik, aber der absoluten Eudämonik im Gegensatz zum nicht-
sittlichen Individual-Eudämonismus.
Doch die autonome Ethik des ethischen Optimismus verzichtet
auf solche heteronome metaphysische Begründung und soll eine imma-
nente, vernunftgemässe Begründung besitzen. Es ist keine Begrün-
dung, zu sagen: es soll Sittlichkeit geübt werden, weil Sittlichkeit
sein soll. Oder: Sittlichkeit soll sein, weil Sittlichkeit das Gute ist.
Denn: warum ist sie das Gute, und was ist überhaupt „gut"? „Gut
ist, was sittlich ist" — da wäre der Zirkel fertig. Aus diesem giebt
es kein Entrinnen, als wenn man den als Werthmesser der Welt
verschmähten Eudämonismus wieder hervorzieht und ihn nun an
die Sittlichkeit selbst anlegt. Das Sittliche ist das Gute, das Gute
ist das, was dem Wohle der Welt als eines Ganzen (Einheit von
Existenz und Subsistenz) zu statten kommt; sei es positiv durch
Mehrung der Summe der Lustmomente, sei es negativ, durch
Minderung der Unlust, welches beides wieder direct oder indirect
geschehen kann.
Wenn Kant den Satz aufstellt: „handle so, dass die Maxime
deines Thuns ein allgemeines Naturgesetz sein könnte", so ist da-
mit der Individual-Eudämonismus ausgeschlossen, nicht aber die
absolute Eudämonik. Denn warum soll es das Höhere sein, der
Weltordnung gemäss zu handeln, als der eigenen Empfindung ge-
mäss? Doch nur, weil bei Respectirung und Förderung der Ord-
nung und Gesetzmässigkeit das Wohl der Welt gefördert wird und
weil die Welt als Summe aller Individuen ein grösseres Recht auf
Wohl hat, als das Individuum als solches. (Seinem nicht-individu-
ellen Wesen nach, wie der Monismus es annimmt, geschieht im All-
gemeinen auch letzterem sein eigenes Recht.)
So bleibt es denn bei der Hartmann'schen Lehre, dass die
Sittlichkeit zwar für das menschliche Thun insofern das Höchste
sei und die Darangabe des individualistischen Luststrebens fordern
könne, weil sie das höchste Mittel zum absoluten Zweck bilde,
nicht aber weil sie selber letzter Zweck sei. Den letzten Zweck
262 Die Bekämpfung d. Pess. v. Standp. d. ethischen Optim.

sind wir nun aber einmal nicht im Stande anders zu fassen als
eudämonologisch, gleichviel ob positiv oder negativ, ob in der Welt
oder ausser ihr in ihrem metaphysischen Grunde. Weil nun die
organische Welt das uns allein zugängliche Sensorium des Seins
ist, darum sind wir auch berechtigt, den W^erth oder Unwerth des

Seins nach dem Resultat der Lust- und Unlust-Bilance zu beur-


theilen. Damit wird der Sittlichkeit nicht zu nahe getreten, wenn
man nur nicht Eudämonik mit Individual-Eudämonismus verwech-
selt. Der letztere ist der Gegensatz zur Sittlichkeit, weil er Egois-
mus ist; die Eudämonik des Absoluten aber ist der ob jective Grund
der Sittlichkeit, und daher auch der endgültige Werthmesser gegen-
über dem Sein, in dessen Formen der Factor der sittlichen Be-
thätigung bereits mit eingeschlossen ist. So steht denn auch
J. Rehmke, obgleich er ein Vertreter des ethischen Optimismus
ist, Hartmann bei gegen jenen Vorwurf, einen unberechtigten
W^erthmesser zu gebrauchen: die Hartmann daraus einen Vorwurf
machen wollten, vergässen, dass hinter dem Wort Glückseligkeit,
welches zum Werthmesser genommen werde, doch ein anderer Ge-
danke stehe, als der aus cynischen und cyrenischen Principien zu-
sammengesetzt sei; ein anderes sei es, die Lust zum Werthmesser,
ein Anderes sie zur treibenden Ursache zu machen.
Indem also der Pessimismus dem Egoismus die Unfruchtbar-
keit des individual-eudämonistischen Strebens nachweist, beeinträch-
tigt er das sittliche Streben nicht, welches ja in einem höhern
Dienste als der individuellen Glückseligkeit steht; indem er aber
das Verhältniss der Sittlichkeit zur absoluten Welteudämonik fest-
hält (gegenüber einer Anschauung, welche das Ethische zum halt-
losen in -der -Luft -Schweben verurtheilt, indem es sie gegen ihre
Natur zum Selbstzweck machen will), bleibt er den psychologi-
schen Thatsachen gerecht, und rechtfertigt durch die Theorie
das instinctive Ergreifen des Begriffes der Sittlichkeit, wonach diese
Streben nach einem ausser dem Individuum und ausser seiner Wohl-
und Wehsphäre gelegenen Ziele ist.

5. Der Begriff „das Gute".

Es ist ganz besonders characteristisch für die Hartmann -Kritik,


dass die verschiedenen Parteien sein System immer von zwei gegen-
sätzlichen Seiten angreifen. Z. B. bezüglich des letzten Princips
tadeln die Hegelianer, dass er der Idee den Willen als coordinirtes
Attribut zugesellt, und die Schopenhauerianer tadeln es umgekehrt,
dass er dem Willen die Idee als Inhalt giebt. In der Naturphilo-
Der Begriff „das Gute. 263

sophie sehen die Theisten Materialismus, die Naturalisten aber


Occasionalismus und Mysticismus. Hier im Gebiete der practischen
Philosophie sehen nun innerhalb der einen Gruppe der ethischen
Optimisten die Einen die Gefahr des Pessimismus für die Ethik
darin, dass der Eudämonismus der Sittlichkeit übergeordnet, die
Anderen darin, dass mit der pessimistischen Zersetzung des Eudä-
monismus die Sittlichkeit durch Entziehung der Motive geschä-
digt werde. So scheint Adolf Horwicz*) der Meinung zu sein,
Hartmann verwerfe den Eudämonismus, weil in seinem Pessimis-
mus kein Raum für den Begriff des Guten sei. Wir haben
uns soeben bemüht zu zeigen, wie gerade Hart mann die Ethik
dadurch auf festen Boden stellt, dass er sie in den Dienst des posi-
tiven, absolut „Guten", nämlich der Weltteleologie stellt. Wenn
daher Horwicz sagt: „Der Begriff des Sittlichen hat keinen Sinn
ohne das Gute und dieses darf nicht ein scheinbares, eingebil-
detes Gute, eine conventioneile menschliche Illusion sein, sondern
es muss ein objectiv allgemein-nothwendiges Gut, reale Macht und
Wesenheit sein", so stimmen wir durchaus bei („Reale Macht und
Wesenheit" als irreleitende Ausdrücke jedoch ablehnend); dagegen
ist es ein Irrthum, wenn Horwicz nun fortfährt: der „Pessimis-
mus ist ethisch ganz impotent und kann nie dahin gelangen, eine
practisch brauchbare Sittenlehre zu entwickeln, weil ihm die Idee
des Guten fehlt, oder vielmehr mit seinem Grundprincip in unver-
söhnlichem Gegensatz steht. Die Ethik des Pessimismus ist daher
ebensolch' ein hölzernes Eisen, ein sich selbst aufhebendes und in
sein Gegentheil verkehrendes Könens, wie die Metaphysik desselben
mit ihrem Noumenon der Unvernunft."
Die optimistische Ethik lehrt das Suchen des Guten; die pes-
simistische Ethik lehrt den Kampf gegen das Böse. Um
das Gute
zu gewinnen muss das Böse überwunden werden; wenn der Pessi-
mist Böses hinwegräumt, so hat er Gutes gethan. Da kein Op-
timist das Vorhandensein des Bösen und des Uebels leugnen kann,
und am wenigsten der ethische Optimismus, der, um die Sittlich-
keit auf den höchsten Thron zu heben erst recht energisch ihren
Gegensatz und Kampfobject, das Böse, hervorheben muss, so ist
in der Praxis dem concreten Falle gegenüber das Verhalten des
sittlich handelnden Optimisten und Pessimisten das Gleiche. Der
besonnene Optimist weiss, dass er auch im günstigsten Falle immer
nur relative Güter gewinnt, weil alle realen Werthe innerhalb der
Welt nur relativ sind; ihm ist also auch Resignation den Unvoll-
kommenheiten gegenüber geboten, gerade wie dem Pessimisten,

*) „Die psychologische Begründung des Pess." Phil. Monatshefte.


B. 16. H. 4 u. 5.
264 Die Bekämpfung d. Pess. v. Standp. d. ethischen Optim.

der zu dieser Resignation jedenfalls leichter gelangt, weil er auch


mit seinen Erwartungen und Anforderungen bescheidener ist. Für
den Optimismus wie für den Pessimismus ist nur Eins innerhalb
des Seins das vollkommen Gute: das ist der „sittliche Wille%
als das Urmoment des sittlichen Thuns, rein als solcher mit seinem
eigenen Maassstab gemessen und abgesehen sowohl von seinem
Object als von seinem Erfolg in der Realisation.
„Auch der rigoroseste Moralist" —
meint Horwicz weiter —
„kann weiter nichts verlangen, als dass man den höchsten Gefühlen
und obersten Willensrichtungen folge, dass man sein wahres wesent-
liches und dauerndes Heil erstrebe. Die engelgleichste Tugend
vermag nicht mehr zu thun, als den Gesetzen und Interessen ihres
wahren Wesens zu dienen. Es übertyrannt den Tyrannen und
malt den Himmel blauer als er ist, wenn man vom sittlichen
Wollen verlangt, dass der absolute Werth des Guten von ihm nicht
auch individueller Werth empfunden werde."
als Auch dieser
Hieb trifft nicht die Ethik des Pessimismus; er hat bloss der über
das Ziel hinausschiessenden Ethik Kant's (und seiner oft unbe-
rufenen Nachbeter) gegenüber Bedeutung, gegen welche Schiller
seine bekannten Xenien*) richtete, und welche Schopenhauer
zur ausschliesslichen Erhebung der Gefühlsmoral provocirte, und
welche Hartmann in der „Phän. d. sitt. Bewusst." einer so vor-
züglichen Kritik unterzieht.
Das ist eben der sittliche Wille, dass er durch die objectiven
(die sind doch wohl hier mit den „absoluten" gemeint) Werthe
motivirt wird, dass also objective Werthe zu subjectiven wer-
den; das ist ja gerade das Moment des Unterschiedes zwischen
dem natürlichen Wollen und dem sittlichen Wollen, dass ersteres
das Object will, weil es sein Object ist, im sittlichen Acte es aber
als solches für sich ins Interesse des Subjectes eingeschlossen
wird.
Hart mann insbesondere ist ein viel zu feiner Psychologe, um
einer pessimistischen Theorie zu liebe sich so zu versteifen, dass
er leugnete, dass die Befriedigung des sittlichen Wollens Lust
gewährt. Seine Ansicht ist nur die, dass wenn die irgend welchem
Moral-Codex conforme Handlung um der mit deren Realisirung
verbundenen individuellen Lust willen beschlossen wird, ihr sitt-
licher Character zur Illusion wird, weil deren Triebfeder eine in-
dividual-eudämonistische ist; die aus der Befriedigung der sittlichen
That resultirende Lust ist dem Individuum nur insofern gewisser
als irgend welche aus andern Bestrebungen stammende, als das

*) „Gern dien' ich dem Freunde, doch thu' ich es leider mit Neigung»
und so wurmt es mich oft, dass ich nicht tugendhaft bin."
Der Begriff „das Gute", 265

sittliche Wollen vermöge seiner Losgelöstheit vom, und Er-


hebung über den psychischen Naturgrund auch dann als psychische
Action die Befriedigung seiner Selbstbehauptung und der mit letz-
teren verbundenen Lustempfindung durchsetzt, wenn seine äussern
Erfolge durch die Ungunst der Verhältnisse gleich Null zu bleiben
verurtheilt sind. Aber diese aus der Sittlichkeit resultirende Lust
und Unlust ist bei der allgemeinen Lust- und Unlust-Bilance schon
in Rechnung gebracht (ein Punct worauf wir noch zu sprechen
kommen).
Dass man den „höchsten Gefühlen" und „obersten Willens-
richtungen'' folge, heisst nichts anderes als: der Wille folgt dem
wirksamsten Motiv; dies bestreitet kein Mensch (er versuche denn
das Steckenpferd des lib. arbit. indiffer. zu reiten); dagegen sagen
diejenigen Pessimisten, welche die Abwesenheit des Egoismus zum
Kriterion der Sittlichkeit machen, dass eben erst dann das sittliche
Wollen zu constatiren sei, wenn die „höchsten Gefühle", das kräf-
tigste Motiv nicht ein individual-eudämonistisches ist.
Was heisst hier bei Horwicz „das Heil seines wahren Wesens?"
Soll im pluralistischen Sinne „Wesen" mit Bewusstseins - Ich zu-
sammenfallen, oder unter „Wesen" im monistischen Sinne der allem
gemeinsame Seinsgrund gemeint sein? Ohne Zweifel das Erstere,
und da ist denn ein Handeln, welches das „wesentliche" Heil er-
strebt, allerdings das höhere, weil klügere, vernunftgemässere als
dasjenige, welches nur die Lust des jeweiligen nächsten Augenblicks
zum Ziele hat; aber wie der roheste Hedonismus ist auch der ver-
feinertste und rafinirteste Individual - Eudämonismus nur natür-
lich, denn das treibende Motiv ist in beiden Fällen das Bei-
sich-stehen-bleiben, gleichviel ob das, was erstrebt wird, im
Himmel oder auf Erden, ob es sinnliche und materielle Förderung
oder geistiger und seelischer Gewinn sei. Der Unterschied ist
bloss Species-Unterschied, bedingt durch die intellectuelle Ent-
wicklung des Subjectes und der Culturverhältnisse, unter denen es
handelt; es ist aber Natürlich und Sittlich ein Genus-Unter-
schied,*) unabhängig von niedrigerer oder höherer Intelligenz.
Der Wille kann immer nur sich selbst wollen, und insofern wird
allerdings der „absolute Werth des Guten" zum individuellen Werth,
aber der sittliche Wille will seinen Inhalt, weil er ihn als objec-
tiven Werth vorstellt, und dadurch giebt er sein Ich an das All-
gemeine, den Nächsten, an die Idee hin, statt das Allgemeine, den
Nächsten, die Idee in sich zu verschlingen.

*) Man miss verstehe diese Worte


nicht: „natürlich" ist zwar nicht unsitt-
lich, und aber das Sittliche ist gleichsam die
„sittlich" ist nicht unnatürlich;
Efflorescenz des Natürlichen, wo dieses aus seiner individualistischen Verloren-
heit sich wieder zu seiner urwesentlichen Einheitlichkeit ahnend zurückfindet.
266 Die Bekämpfung d. Pess. v. Standp. d. ethischen Optim.

Im socialen Leben macht es freilich einen bedeutenden Unter-


schied für den socialen Werth eines Menschen, ob dessen Nei-
gungen auf physisch-sinnliche Dinge gerichtet sind, oder auf solche,
die allgemein nützlich werden. Wenn A. sich keine Mühe ver-
driessen lässt, um die feinsten Weine in seinem Keller zu sammeln,
und wenn B. sein Vermögen ausgiebt, um Kunstschätze zu sammeln,
und diese dann dem Publikum zugänglich macht, weil es seiner
Eitelkeit schmeichelt, sich seines Besitzes wegen geehrt und be-
neidet zu sehen, so handeln beide nicht sittlich, sondern natürlich
aus ihren Neigungen heraus; aber B. ist ein werthvolleres Glied
der Gesellschaft, weil er Andern Genuss bereitet und die Kunst
fördert. So ist das Schaf ein nützlicheres Thier als der Steinbock,
obgleich es keine sittliche That ist, Wolle und Lammbraten zu
liefern. Wenn also Horwicz sagt „unsere ganze Sittlichkeit be-
ruht subjectiv auf höheren, wärmeren und reineren Gefühlen" so
heisst das in Wirklichkeit nichts weiteres als, „unsere Sittlichkeit
besteht darin, sittlich zu sein", denn was gewisse Gefühle allgemein
als „höhere", „reinere" anerkannt werden lässt, ist, weil sie dem
halb unbewusst auf sie angewandten Kriterion der Selbstlosig-
keit entsprechend erachtet worden.
„Nicht das ist wahre Tugend, was der strebenden Tugend
widerwillig abgerungen wird, sondern was gern und freudig und
mit Lust gethan wird." Hartmann bezeichnet selbst die Tugend
als die Virtuosität in der Sittlichkeit, d. h. eine Weise, den Geboten
der letzteren nachzukommen, welche keine Ueberwindung mehr
kostet, wo das sittliche Streben zur andern, zweiten Natur gewor-
den ist. Es bleibt aber auch die selbstlose That im Interesse An-
derer oder aus Respect vor einer Idee, was sie ist, mag ihr Mo-
tivationsprocess ein einfacher oder ein complicirterer sein; dass
die selbstlose That überhaupt geschieht, zeigt ja, dass das sittliche
Motiv schliesslich siegte, mithin das kräftigste war was man—
mit andern Worten auch so ausdrücken kann: dass der Character
ein solcher ist, dass der Wille leichter vom sittlichen als vom na-
türlich-egoistischen Motiv bewegt wird.
Die Meinung, dass der Pessimismus der Sittlichkeit die Motive
entziehe, und dass mithin der Anspruch desselben, die beste theo-
retische Vorbedingung für die Ethik zu bieten, auf einer Ver-
kennung der psychologischen Gesetze beruhe, stammt wesent-
lich aus einer von der unsrigen abweichenden Fassung der Begriffe
„Individuum", „Ego" und „Wesen". Diese Meinung hätte nur
dann Berechtigung, wenn das Wesenhafte sich im „Ich" erschöpfte,
wenn hinter dem Bewusstseinsindividuum bloss die geistlose Aus-
dehnung (der „Stoff") stände. Denn der Wahrheitskern derselben
ist der: dass das Wesen (die Substanz) nicht aus seinem Wesen
Der Begriff „das Gute". 207

I
heraus kann; diese Wahrheit ist aber gewahrt im Monismus,
wo der Egoismus der vielen Iche in der sittlichen That überwun-
den werden kann, und doch dem Wesen das Actionsfeld seiner
eigenen Wesenheit (über welches es allerdings nicht hinauskönnte)
gewahrt bleibt.
An deu Irrthümern H. Sommers und A. Horwicz' partici-
pirt auch E. Kreyenbühl: „Mit der Verwerfung aller Lust, mit
der Aufhebung alles individuellen Wohlseins in jeder Gestalt ist
die Wirksamkeit der unser Handeln bestimmenden Motive sistirt,
und ein quietistisches „laissez faire, laissez aller" ist im günstigsten
Falle das Verhalten, welches der consequente Pessimist dem Welt-
lauf gegenüber einschlagen kann". Der Pessimismus behauptet
nicht, es gebe keine Lust in der Welt, sondern nur, es sei der
Unlust mehr als der Lust; er behauptet auch nicht schlechthin
das Wohl-Streben sei nicht sittlich, sondern nur, es beginne das
Sittliche erst da, wo ohne Rücksicht auf das eigene Wohl gehandelt
werde. W^enn daher Hart mann z. B. in dem Abschnitt, der das
Princip des Mitgefühls behandelt, das Freudeschaffen als sitt-
liches Thun bezeichnet, so setzt er sich auch von Ferne nicht in
Widerspruch mit seiner Theorie; weder dort, wo der Werth des
Freudeschaffens im engsten Kreise, noch wo die social-eudämoni-
stischen und culturellen Bestrebungen behandelt sind, verlässt
seine ethische Theorie den Boden des Pessimismus und die Be-
hauptung Kreyenbührs „dass Hartmanns Ethik nur so weit
eine solche sei, als sie dem Pessimismus untreu werde, und auf-
höre, Ethik zu sein, wo sie sich mit der pessimistischen Metaphysik
decke", ruht auf einem Gewebe von Missverständnissen.
Das „laissez faire, laissez aller" wird nur da Forderung des
Pessimismus, wo dieser auf einem erkennfnisstheoretischen Illusio-
nismus fusst, d. h. wenn die Welt wesentlich deswegen als mangel-
haft und das tiefste Sehnen unbefriedigt lassend erachtet wird, weil
die Welt nicht wahrhaftiges Sein, sondern nur Schein, subjectiv
täuschendes Phantasma ist (so wie es der Brahmaismus und der
Buddhaismus meint mit dem Welttrug der Maja), oder aber auch
aus der unberechtigten Hineinverlegung des Begriffes der Schuld
in die Weltsatzung, welche Idee Schopenhauer mit den Indiern
und gewissen Formen der christlichen Gnosis theilt. Der Pessi-
mismus als solcher hat mit diesen erkenntnisstheoretischen und
metaphysischen Theoremen nichts zu thun; er führt zwar letzten
Endes zur Aufstellung metaphysischer Hypothesen, nicht aber er-
wächst er aus solchen, sondern ruht auf dem empirischen Funda-
ment äusserer und innerer (psychologischer) Thatsachen. Wenn
das — eventuelle — letzte Ziel, die Verneinung des Weltseins,
sich auch als oberstes Vernunftsziel für den philosophischen Pessi-
268 Die Bekämpfung d. Pess. v. Standp. d. ethischen Optim.

mismus ergiebt, so ist damit keineswegs mit dem Begriff des Nicht-
sein-sollens desGanzen auch der Begriff des Nicht-sein-sollens für
jedes einzelne Moment des Seins (wenn das Sein als Ganzes doch
nun einmal ist) gegeben. Innerhalb des nun einmal real Vorhan-
denen bleibt der Begriff des Werthes auf die Momente anwend-
bar, und es bleibt sich auch gleich, ob man diese negativ oder
positiv ausdrückt, d. h. ob man etwas als „minder schlecht" oder
„besser" bezeichnet. In unserer Sehnsucht nach vollkommener
Befriedigung (welche die vollkommene Glückseligkeit wäre) tragen
wir einen Maassstab in uns, obgleich wir diesen ersehnten Ideal-
zustand nur vermittelst doppelter Negation ahnungsweise als Ge-
fühl in uns finden. Auf die Motivation hat aber die negative
oder positive Bezeichnung keinen Einfluss, weil das am ahnungs-
voll gewonnenen Maassstab Gemessene, um überhaupt Motiv zu sein,
immer „das Beste" (resp. bei negativer Bezeichnung das „mindest
Schlechte") sein muss; und gilt dies sowohl für die Motivation im
Gebiete des privativ-sittlichen, natürlich-egoistischen Strebens, wie
in dem des Sittlichen.

6. Das angeblich schwache Motiv.

Ein interessantes Beispiel theoretischer Verwirrung bei


practisch correctem Streben (wobei man an das Goethe' sehe
Wort vom „dunklen Drang des guten Menschen" erinnert wird)
liefert L. B. Hellenbach. Die Fächphilosophie wird, ja muss
seiner theoretischen Unklarheiten wegen diesem so thätigen Schrift-
steller keine grosse Bedeutung zugestehen, während sein warmes
Gefühl für die socialen Uebelstände und die Energie seines Stre-
bens, practische Lösung der brennenden Tage^fragen zu finden,
ihn der weitesten Theilnahme werth machen.*)
„Liebe deinen Nächsten wie dich selbst und die Menschheit
über alles," soll nach Hellenbach das oberste Princip des sitt-
lichen Strebens sein. Die Welt, die socialen Verhältnisse kranken
am Egoismus, dessen Gegensatz die Sittlichkeit, als die selbstlose
Liebe im Dienste der Menschheit ist. Die Forderung also, die
Hellenbach an das practische Verhalten stellt, fällt zusammen
mit der (vorläufigen) Forderung der Ethik des Pessimismus; es

*) L. B. Hellenb ach: „Phil, des gesunden Menschenverstandes" „Der ;

Individualismus im Lichte der Biologie und Philosophie"; „Vorurtheile der


Menschheit", 3 Bände; „Aus dem Tagebuch eines Philosophen". L. Rosner.
Wien. Vergl. auch meine Schrift: „Zwei Individualisten der Schopenhauer'-
schen Schule". L. Rosner, Wien 1881.
"

Das angeblich schwache Motiv. 269

theilt aber auch Hellenbach die Anschauung des Letzteren, dass


die selbstlose Hingabe Aller an das Wohl Aller immerhin nur eine
Verbesserung der bestehenden Verhältnisse, nicht aber einen
solchen Zustand hervorzubringen im Stande sei, dass für die em-
pirische Welt das axiologische Urtheil des Pessimismus aufgehoben
würde.
Aber diese Uebereinstimmung in der Formulirung des Sitt-
lichen mit der Ethik des Pessimismus ist keine principiell ge-
gründete, sondern eine accidentielle. Hellenbach verlangt
zwar auch die Darangabe des Egoismus, weil das Ich nur subjec-
tives Phänomen sei, aber das Wesen zu dessen Gunsten das Ich
abdanken soll, ist nicht das All-Eine-Wesen, sondern nur wieder
eine andere Sorte „Ich", nämlich die Seele des empirischen Indi-
viduums, welchem gegenüber sie sich verhält gleich einer substan-
tiellen Monade, obgleich naturphilosophisch diese monadologische
Beschaffenheit zum mindesten zweifelhaft bleibt. Der gemeine,
auf's empirische Ich gehende Egoismus wird mithin nur um einen
Schritt zurückgesetzt und die Rücksichten eines „ metaorganischen
Individualismus und Particularismus sind es doch, welche im Sinne
einer höhern Klugheitsmoral die Hingabe an das Allgemeine um
seiner Rückwirkung aufs Individuum willen verlangt.
So erklärt es sich denn, dass Hellenbach, der in den „Vor-
urtheilen der Menschheit" so energisch gegen den Egoismus zu
Felde zieht, nunmehr in dem „Tagebuch" gegen Hartmann's
Ethik Einwendungen erhebt, woraus hervorgeht, wie unklar er über
das Wesen des Sittlichen ist und wie er theoretisch nicht über
einen Individual-Eudämonismus hinauskommt, wenn auch allerdings
einen hinter die Coulissen der empirischen Weltbühne, ins Reich
des „Metaorganischen" zurückgeschobenen. „Mir ist" — meint
er — „gar nicht darum zu thun, ob Hart mann oder Irgendje-
mand, mich miteingeschlossen, eine meiner Handlungen für mora-
lich erklärt, sondern es handelt sich bei mir nur darum, ob die
in dem Glauben und den Ansichten der Menschen gangbaren Motive
zureichend sind, die Menschen im grossen Ganzen so handeln zu
lassen, dass Wohlwollen und Cultur über Hass, Druck und Leiden-
schaft die Oberhand bekommen. Mir liegt daran, dass das Wohl
Aller gefördert werde, und frage ich den Teufel danach, ob meine
Handlungen moralisch sind oder nicht; wohlwollend und heil-
bringend sollen sie sein, der Rest ergiebt sich dann von selbst.
Liebe deinen Nächsten wie dich selbst — das kann genügen."
Und weiter meint er: „Hartmann giebt sich einer Selbsttäuschung
hin, wenn er glaubt, dass seine Ethik keinen Himmel habe; sie
hat ihn. Nur ist es ein negativer, schlechter, langweiliger Himmel,
der die Menschen nicht verlocken wird, ihn bald zu erreichen; es
270 -Die Bekämpfung d. Pess. v. Standp. d. ethischen Optim.

steht daher mit der Entwicklung der Menschheit weit besser,


wenn die Menschen an die Ewigkeit ihrer Tugenden und Laster,
also an die Folgen ihrer Handlungen glauben, als wenn sie von
der unrettbar pessimistischen Erdenwelt ihren Blick nur in ein
unbewusstes Nichts lenken können. Es ist daher eine Wahrheit,
dass die Ethik Hartmanns nichts taugt, nicht darum weil sie
die Ethik des Pessimismus ist, sondern weil sie ein schwaches
Motiv hat".
Das „schwache Motiv * —
das ist ein vielgehörter Einwand
gegen die Ethik des Pessimismus. Die ihn machen, übersahen,
dass die Antwort auf die Frage: ob die Hoffnung auf die Be-
freiung von dem Sein ein starkes oder ein schwaches Motiv sei,
davon abhänge, wie das Sein geschätzt werde, und wie der meta-
physische Glaube beschaffen sei, d. h. ob man an die Möglichkeit
eines Seins ohne Unlust-Ueberschuss glaubt oder nicht. Es handelt
sich nicht darum, ob das Nirwana oder der positiv-freudenreiche
Himmel bei gleich festem Glauben an ihre Erreichbarkeit moti-
vationskräftiger sei, sondern darum, ob das erstere überhaupt noch
Motivations-Kraft besitze, wenn es das einzig Glaubbare ge-
worden ist. Das letztere aber ist ohne Zweifel der Fall, freilich
eben nur für den Pessimisten; dass aber der Pessimisten immer
mehr werden, dafür sorgt der Weltgang.
Das Motiv der Ethik des Pessimismus ist ein schwaches Motiv
für den noch in der optimistischen Illusion befangenen, aber es ist
ein ebenso kräftiges innerhalb seiner Weltanschauung, wie ein irdischer
oder jenseitiger Himmel innerhalb irgend eines -naiven oder eines
transcendentalen Optimismus. Wer nicht im Nebel herumtreibend
sich begnügen mag zu sagen: Sittlichkeit muss sein, damit Sitt-
lichkeit ist, der muss Wesen und Zweck der Sittlichkeit dahin de-
finiren: dass diese das zweckentsprechendste Mittel des
wahren Wohls des allgeme inen Wesens sei; diese Definition
passt aber eben so genau in den Rahmen des Pessimismus, wie in
den einer optimistischen Weltanschauung, soweit nämlich diese
nicht beim Individual-Eudämonismus und einer Egoismus-Moral
stehen bleibt. Wo
immer daher der Pessimismus mit der Waffe
bekämpft werden soll: er vermöge wegen des Mangels an einem
wirksamen Motiv nicht eine wirksame Ethik zu produciren, da
liegt eine petitio principii zu Grunde, indem seine Motive und
Principien der Moral nicht an seinen eigenen Voraussetzungen,
sondern an denen seiner Gegner gemessen werden.
Anknüpfend an unsere Behauptung, dass die Motivation nicht
dadurch beeinflusst werde, ob der Intellect die einzelnen Seins-
momente mit negativen oder positiven Werthzeichen versehe,
möchte sich der Einwand erheben: wenn es sich so verhalte, so
Das angeblich schwache Motiv. 271

gehe hiermit der Pessimismus auch seines Anspruchs verlustig, die


günstigste Vorbedingung der Ueberwindung des Egoismus zu sein.
Hierauf ist zu antworten: der Superlativ „günstigst" schliesst
noch nicht die Behauptung in sich, dass der Pessimismus überall
und unter allen Umständen den Egoismus (als den Gegensatz der
Sittlichkeit) beseitige, es wäre solche Behauptung wieder ein sich
Verlieren in optimistische Illusionen. Für ein Individuum, in
welchem das Gefühl der Einzigheit und des Für-sich-seins sehr
energisch vorhanden ist (welches mit Schopenhauer zu sprechen:
sehr fest in den Schleier der Maja verwickelt ist), wird durch die
Erkenntniss, dass vermöge der metaphysischen Beschaffenheit des
Seins absolute Befriedigung nicht erreichbar ist, die Richtung des
Strebens nicht verändert; es wird sich nun seine Energie auf das
Erreichen des Minimum der Unlust richten und so kann es zum
selben Abschliessungsverfahren gelangen wie ein glücksgläubiger
Egoist*)
Aber das ungewöhnlich starke Gefühl der Ichheit wird durch
den Pessimismus doch wenigstens gedämpft. Der Pessimismus
wirkt raumschaffend; er räumt nicht nur auf mit den Illusionen
über die Werthe der Lebensfactoren, wie sie aufs Subject wirken,
sondern auch mit der Illusion über den Werth und die Bedeutung
dieses Subjectes bezüglich seiner Stellung im Weltganzen und zu
seinen Mit-Subjecten. Indem nun aber weniger nach den als illu-
sorisch erkannten Gütern gestrebt wird, und die Spontaneität des
Thätigkeitstriebes aber (unter Voraussetzung normaler gesunder
psychisch-physiologischer Beschaffenheit des Individuums) dieselbe
bleibt, so sieht sich das Subject gedrängt, ausser seiner eigenen
Wohl- und Weh-Sphäre Objecte seiner Bethätigung zu suchen,
und wendet den sich ihm darbietenden sittlichen Zielen nunmehr
jene Theilnahme zu, die der Glücksgläubige für so viele Illusionen
des Lebens erfolglos verpufft.
Dazu kommt noch, dass viel mehr Menschen der Ueberwin-
dung des Egoismus durch Mitleid fähig sind, als eines Opfers zu
Gunsten der Freude eines Andern, und dieser letztern Art thätigen
Mitgefühls dann noch am ehesten, wenn sie die mit dem eigenen
Opfer zu erkaufende Lust des Nächsten als diesem sozusagen
von Rechtswegen zukommend, d. h. durch eine grössere Summe

*) Hartmann macht schon in der „Phil. d. Unbew." darauf aufmerk-


sam, dass der Pessimismus in der Verbindung mit dem Monismus es
sei, der zum Förderer der Sittlichkeit berufen sei; und auch bei Schopen-
hauer ist es immer das Zerreissen des Maja-Truges, worauf das Haupt-
gewicht fällt. Die Befreiung von der Maja (wenigstens der Theorie nach)
wird aber durch die pessimistische Erkenntniss eingeleitet und begünstigt.
272 I>ie Bekämpfung d. Pess. v. Standp. d. ethischen Optim.

vorausgegangener Unlust „verdient" erachten. Der Pessimismus


wirkt raunischaffend, denn er reutet das kleine Unkraut der
Bagatell-Sorgen und Ofenwinkel-Kümmernisse hinweg, wodurch die
Glücksgläubigen oft genug das, was sie vor Tausenden voraus
haben, nicht mehr zu erkenaen vermögen und zu schätzen wissen,
und in deren Hinwegräumung auf ihre Weise sie nun ihre ganze
Kraft erschöpfen, weil sie nicht einsehen, dass diese kleinen Leiden
nur auf die eine Art unschädlich gemacht werden können: dadurch,
dass man ihrer nicht Acht hat im Hinblick auf die unendlich
grosse Leidenssumme des allgemeinen Seins.
Ferner giebt es eine ganze Menge scheinbar kalter Welt-
menschen, die nur deswegen so ganz im Cultus ihrer Ichheit auf-
gehen, weil sie nicht an das Elend denken, welches rings
um ihre relativ glückliche Lebensinsel gähnt; sie denken aber nicht
daran, weil eine optimistische Umgebung von ihrer Jugend an be-
müht gewesen ist, mit optimistischen Phrasen eine chinesische
Mauer zu ziehen zwischen ihnen und einer unbequem werden
könnenden Aussenwelt.
Es ist allerdings ein wahrer Satz, dass wir einen Zustand,
worin wir andere Menschen (oder auch Lebewesen überhaupt) vor-
finden, nicht ohne weiteres und unbedingt so abschätzen dürfen,
wie wir, wenn wir in dieser Lage wären, ihn selbst empfinden
würden; aber dieser wahre Satz hat wie jede Wahrheit seine
Grenzen, über die hinaus getrieben er zur Unwahrheit wird und
dann eine auf ihn sich stützende optimistische Lebensbetrachtung
ergeben kann, die das Schopenhauer'sche Urtheil „ruchlos
herausfordert. Jene Verlockung zum „laissez faire, lassez aller",
zu welchem der Pessimismus führen soll, sie stammt recht eigent-
lich aus dem Gebiet des Optimismus, wie alle jene social-politischen
Einrichtungen, wie Freihandel, unbedingte Gewerbefreiheit u. s. w.,
die scheinbar der Freiheit dienen, in Wirklichkeit aber die
Schwächeren der unbeschränkten Ausbeutelung und Unterdrückung
von Seite des Stärkeren und Gewissenloseren preisgeben.
Wiewiederholt bemerkt, will Schopenhauer das Mitleid
als oberstes Princip der Moral darstellen: Hartmann zeigt trefflich
die Unzulänglichkeiten desselben und seine engen Grenzen, über
welche hinaus geführt es sogar schädlich werden kann. Aber so
richtig das auch ist und so sicher die Vernunftmoral dasselbe und
noch mehr zu leisten bestimmt ist, so sicher ist es auch, dass es sehr
viele Menschen giebt, die echter, autonomer Sittlichkeit vermittelst
der Triebfeder der Liebe nur fähig sind innerhalb eines sehr be-
schränkten Kreises, und ausserhalb dieses Kreises nur auf Grund
des Mitleides fähig sind selbstvergessend zu handeln. Die Mit-
leidsfähigkeit steigern heisst die Sittlichkeit fördern; zu dieser
Die Sittlichkeit als Garantie des Glückes. 273

Steigerung trägt aber ausser der durch die Culturentwickelung sich


ergebenden erhöhten Sensibilität des Nervensystems (also einem rein
physiologiscKen Factor) der Pessimismus das Meiste bei. Er schafft
den faulen Trost hinweg, „dass der Aal des Schindens gewohnt
werde", hinter welcher optimistischen Anschauung die Selbstsucht
«inen so bequemen Schlupfwinkel findet.

7. Die Sittlichkeit als Garantie des Glückes.

Wir wenden uns nunmehr zu jener Seite der Opposition,


welche in und mit dem Streben nach sittlicher Bethätigung einen
auch eudämonologisch positiv (nicht bloss relativ) werthvollen Zu-
stand gesichert erachtet.
J. Rehmke*) macht den Einwurf: ferne davon, dass die
.„Phän. d. sitt. Bewussts." dem Pessimismus eine Stütze liefert,
stellt sie vielmehr die „blankeste, schneidigste Waffe gegen den-
selben dar." Nur für den Egoisten, der die Welt als für ihn
bestehend erachtet, ergiebt sich der Pessimismus; wer dagegen er-
kennt, dass im Gregentheil er für die Welt bestimmt ist, für den
wird sich ungesucht eine den Optimismus rechtfertigende Summe
von Lust ergeben. Rehmke citirt die oben angeführten Ein-
leitungsworte der „Phän. d. sittl. Bewussts." und knüpft hieran
folgendes Raisonnement: da es das Wesen des Willens ausmacht,
seine Befriedigung zu suchen, diese Befriedigung aber als Lust
empfunden wird, so habe der Wille nur nöthig, sich einen con-
stanten Inhalt zu geben, dessen Befriedigung nicht behindert werden
könne; da nun Hartmann die Möglichkeit anerkenne, dass der
Wille ein nicht egoistisches, sondern ein sittliches Ziel zu er-
streben fähig sei, so zeige er ja selber gleichsam den Weg, der
aus der „schlechtesten" in die „beste Welt" hinüberführe ob- — ,

gleich er als „blinder Theoretiker" nicht merke, dass er in dem


Paradiese, welches er für Illusion erkläre, selber mitten drinne
sitze.
Diese Einwendung, die gleichsam als immanente Wahrheit aus
Hartmanns Auffassung des Verhältnisses von Wille und Lust zu
erwachsen beansprucht, möchte für Viele sehr bestechend sein, und
lohnt es daher wohl, etwas länger bei ihr zu verweilen.
Die Bedingung ist unvereinbar mit irgend einer Weltan-
schauung, welche den Wullen als Princip des Seins anerkennt

*) Glossen zur „Phän. d. sittl. Bewussts." Zeitschrift für Phil, und


phil. Kritik. Band 74., Heft 2.
Plümacher, Pessimismus. 18
274 Die Bekämpfung d. Pess. v. Standp. d. ethischen Optim.

Gerade dann nur, wenn der Wille ein einfaches, der Psyche ein-
wohnendes Moment wäre, —
gleichsam „ein Mensch im Menschen %
um ein Bild Rehnikes zu wiederholen —
könnte dieser einfache
Wille constant auf Ziele werden, deren Erreichbarkeit
gerichtet
dadurch, dass sie im Weltplan liegen, garantirt ist, und die ihrem
Träger beständige Befriedigung und mithin Glückseligkeit ge-
währten.
Nun ist aber nicht ein einfacher Wille in uns, sondern wir sind
ganz und gar ein Strom, ein System von Willensacten, nach
unserer psychologischen wie nach unserer physiologischen Seite
hin. Indem sich das Individuum als sittlicher Mensch über die
Natur erhebt, hört er doch nicht auf in der Natur zu wurzeln;
nur mit den höchsten Spitzen seines Bewusstseins taucht er aus
dem Strom des Egoismus auf. Mit dem sittlich indifferenten Natur-
grund ist ein unerschöpfliches Feld primärer Unlust gegeben,
welches auch die höchste Sittlichkeit nicht zu bewältigen ver-
mag, obgleich es theilweise als Leidensfeld des Nächsten das erste
Object ihrer Thätigkeit bildet.
Gerade das wurzelhafte Einssein der als Individuen getrennten,,

welches erst das für- und auf-Andere-Wirken ermöglicht, lässt


den sittlichen, nicht das Seine suchenden Menschen im Andern
am egoistischen Streben participiren. Ein einfaches Beispiel möge
hier erläutern. A strebt egoistisch (z. B. aus Herrschsucht) nach
einer bestimmten dominirenderi Stellung; B erachtet es für das
Gemeinde- oder Corporations-Wohl günstig, wenn A die Stelle er-
hält, und arbeitet, hierdurch motivirt, mit Hintansetzung seiner
eigenen Interessen, mit selbstloser, also sittlicher Hingabe für
A, in dessen Interesse er ein allgemeines Interesse verkörpert sieht.
A erreicht aber sein Ziel nicht. Die Unlust, die ihm aus dem
Fehlschlagen seiner Wünsche erwächst, mag der ethische Optimist
als gerechten Lohn seines egoistischen Strebens auf die leichte
Schulter nehmen; aber B, der selbstverläugnend, sittlich handelte,,
duldet ebenfalls Unlust: erstlich durch das Nichterreichen seines
Willeninhaltes, zweitens im Mitleid mit demjenigen, mit dem er seine
Wünsche identificirte. Hier ist also Unlust Resultat sittlicher Be-
thätigung, und wäre bei egoistischer Beschränkung vermieden
worden.
Nun kann freilich eingewandt werden, was unbefriedigt ge-
blieben sei, sei nur secundärer Art gewesen; der primäre Wille,,
sich sittlich zu bethätigen, sei befriedigt worden, und diese
Befriedigung habe also Lust hervorgerufen. Das Bewusstsein, sitt-
lich gehandelt zu haben, und die Ueberzeugung, unter allen (vor-
gestellten) Umständen und zu jeder Zeit so handeln zu können,
mag durch die Befriedigung des fundamentalen sittlichen Willens
Die Sittlichkeit als Garantie des Glückes. 275

eine dauernde Lustquelle darstellen; ob aber diese Lust die grosse


Summe Unlust, die aus der Behinderung des concreten Inhalts
des sittlichen Willens entstehen kann, immer überwiegt, ist jedenfalls
mehr als nur zweifelhaft.
Nur wenigen geistig Höchststehenden wird es möglich sein,
eine so ausgedehnte Ueberschau über das Allgemeine zu gewinnen,
dass, mag das Resultat ihrer sittlichen Bestrebungen ausfallen wie
es will, sie zu erkennen fähig bleiben, dass sie ihr Ziel, das allge-
meine Wohl zu fördern, doch nach der einen oder andern Seite
hin erreicht haben, wenn auch ganz anders, als sie voraussahen
und beabsichtigten. Gerade für diese aber tritt dann ein neues
Unlustmoment hinzu, resultirend aus der Nichtbefriedigung des
Erkenntnis s willens, wenn glauben mussten, absolut ver-
sie
nünftig gehandelt zu haben, und nun durch den Misserfolg belehrt
werden, dass sie die Factoren nicht alle kannten, die Verhältnisse
nicht genügend überschauten, die Kräfte nicht richtig taxirt hatten.
Und diese so hervorgerufene intellectuelle Unlust kann sehr hohe
Grade erreichen.
Also auch der sittliche Wille, als Verbindung von formalem
und concretem, inhaltlichem Streben, ist einer constanten Befrie-
digung nichts weniger als gewiss; nur den einen eudämonologischen
Höherwerth hat der sittliche vor dem sittlich indifferenten Natur-
willen voraus, dass er immer das Lustmoment sichert: das „Sollen"
erfüllt,aus seiner innersten bessern Natur heraus sich behauptet
zu haben, während bei den übrigen Willensbethätigungen das
bloss formale Moment für das Bewusstsein wegfällt, und zum
Aerger, das Ziel nicht erreicht zu haben, sich wohl gar noch die
Unlust der Reue gesellt.
Dass das erfüllte Leben das beste ist, fallt keinem
sittlich
Pessimisten ein zu leugnen; nur führt die Sittlichkeit, wenn auch
aus der Hölle heraus, doch noch nicht in's Paradies hinein; sie
sichert nicht das Glück, sondern nur den Seelenfrieden. Selbst
der Tugendvirtuos, der die Unlust des Schwankens zwischen sitt-
lichen und egoistischen Motiven nicht mehr erduldet, gewinnt da-
durch noch nicht einmal für sein unmittelbares Empfinden
eine „beste Welt"; man darf auch nicht vergessen, dass in dem-
selben Grade, als der Tugendvirtuos der Unlust des Kampfes
zwischen „Sollen 14
und „Mögen" enthoben wird, auch die Be-
friedigung darüber, dass schliesslich der sittliche Wille siegte, sich
dem Bewusstsein entzieht, dass er daher bezüglich der aus der
Willensbefriedigung resultirenden Lust fast ausschliesslich auf die
Realisation des Inhaltes des jeweiligen Willensactes angewiesen ist.
Je grösser ferner die Selbstlosigkeit um so grösser auch der
Raum für das Mitgefühl mit der Creatur, deren Natur und Be-
18*
276 Die Bekämpfung d. Pess. v. Standp. d. ethischen Optim.

Stimmung es ist, voll und ganz im Reich des natürlichen, des


sittlich-indifferenten Egoismus, als der Bedingung ihrer individuellen
Erhaltung, zu verweilen, und für bloss instinctives Thun und
Streben die Unlust der gekreuzten Willensacte doch voll er-
tragen muss.
Es kann keine „beste Welt" worin um
den erträglichsten
sein,
Zustand hervorzubringen, jeder Einzelne verleugnen
sich selbst
muss um des Allgemeinen willen, während dieses Allgemeine doch
nur die Summe der Einzelnen ist und in ihnen sein Sensorium
hat; hieraus folgt denn auch, dass, selbst das Ideal der sittlichen
Weltordnung als möglich vorausgesetzt, für die Gesammtheit der
bewusst-geistigen Wesen noch kein positiver, constanter Glück-
zustand, sondern nur Abwesenheit des Unglücks, also das, was
Hartmann den „Nullpunct der Empfindung" nennt, resultiren
würde. Davon ausgeschlossen wäre dann noch immer die bloss
natürliche Welt, die nie zur Sittlichkeit kommen kann. Damit
aber wäre auch der Mensch nach seiner vegetativen animalischen
Seite hin vor wie nach Zielscheibe der Einwirkungen der Natur-
kräfte im weitesten Sinne (physiologische Processe) und Beute
natürlich bedingter Schmerzen.
Wenn J. Rehmke, der, wie bereits bemerkt, dem Pessimis-
mus das Recht zugesteht, den eudämonologischen Maassstab an
das Sein zu legen, meint, vermöge und in der Sittlichkeit einen
Ueberschuss der Lust zu gewinnen, so versteht er darunter wirk-
liche Lust, d. h. jenes Gefühl, welches unbedingt und entsprechend
dem allgemeinen Sprachgebrauch gemäss Lust genannt wird;
dagegen ist dasjenige, was J. Hub er ( n d. Pessimismus" München,
1876) und Prof. Schaarschmidt („Ueber den Werth des Lebens".
Bonn, 1878) sowie manche Andere unter der Lust des Sittlichen
verstehen, eigentlich gar keine Lust mehr; es ist eine schmerzlich-
süsse, resignirteSeelenruhe, die, wenn sie innerhalb des Seins
als das Höchste anerkannt werden muss, damit schon Zeugniss
ablegt für die eudämonologisch missliche Beschaffenheit des Seins.
Hub er thut dem Pessimismus unrecht, wenn er meint, dessen
Vertreter beachteten nicht hinlänglich die Macht des Idealen,
würdigten nicht genug die beglückende Macht der ethischen Ideen.
Er meint ferner: das Bewusstsein der guten That verleihe eine
grössere und andauerndere Freudigkeit als jeder andere ideale
Genuss und dabei könne zur Erhebung durch die ethische Idee
auch derjenige gelangen, dem die Erhebung an Kunst und Wissen-
schaft unzugänglich sei, sie sei auch der Idealismus der geistig
Armen. Mit Recht fügt er dann hinzu: „Die Ideale und Ideen
sind nicht wie der Materialismus (z. B. Hellwald) meint, blosse
Illusionen; alle Schöpfungen der Menschheit, wodurch diese sich
Die Sittlichkeit als Garantie des Glückes 277

über die Thierheit erhebt, sind Verwirklichungen von Ideen; der-


jenige, vor dem die Ideen der Wahrheit und des Rechts nicht als
erhabenes Ziel stehen, der nicht daran glaubt, sie in's Leben ein-
führen zu können, wird auch seine Kräfte nicht daran setzen, darum
muss der Glaube daran erhalten werden, soll nicht die Cultur wieder
zu nichts werden. Durch Kunst und Wissenschaft werden Güter
erzeugt, die zum allgemeinen Genuss werden können, woran die
Theilnahme des Einen den Andern nicht verkürzt, wie bei den
materiellen Genüssen; hier ereignet sich das Wunder der Brod-
vermehrung in Wirklichkeit."
Dies ist gewiss ganz wahr, es bildet aber auch gar keinen
Gegensatz gegen die Anschauungen des Pessimismus; Hartmann
spricht sich an verschiedenen Stellen seiner Werke ganz in diesem
Sinne aus. Aber wenn auch das Wunderbrod des Idealismus noch
so grosse Nährkraft hat, den ganzen Hunger des Seins stillt es
doch nicht; denn es ist eben die Natur des Ideals nur immer zu
sein, wo die Sehnsucht ist, ewig zu locken, immer zu werden,
nie ganz zu sein; als Ideal aus jeder scheinbaren Erfüllung sich
immer neu zu gebären.
Es sagt nun aber Hub er ferner: Mag die Noth des physi-
schen Daseins in das Gemüth Angst und Kummer werfen, die
Glückseligkeit des gereiften Geistes wird nie ganz verdüstert werden
können, weil derselbe sich in eine höhere Welt, erhaben über das
physische Dasein und seine Bedrängniss erhoben hat. Da verlieren
die Scheinwerthe des Lebens ihren Zauber, das Herz bleibt frei
und ruhig und die Schrecken des Geschickes vermögen es nicht
mehr zu brechen." Und im gleichen Sinne meint Schaarschmidt:
„Statt des blossen Genusses, dem der Pöbel sclavisch huldigt,
muthet uns die Pflicht freilich die Entsagung persönlicher Inter-
essen zu, aber wir finden doch eine höhere Befriedigung durch
sie, nur der Lust nachjagendes Leben bieten kann, da die
als ein
Anerkennung allgemeiner sittlicher Zwecke und deren Ausübung,
so weit dies gestattet ist, den edleren Instincten unseres Daseins
entspricht."
Es bestreitet nun aber der philosophische Pessimismus nicht
von ferne den Werth der Sittlichkeit für das Dasein, da dieses
nun einmal da ist, er bestreitet nur die Vernünftigkeit der An-
nahme: es sei Zweck des Daseins, dass darin unter Leid und
Schmerz Sittlichkeit geübt werde.*) Hartmann lehrt („Die Be-

*) Tn der ihm eigentümlichen kühlen Weise, die es zuweilen liebt bei


den wichtigsten Erörterungen die Beispiele oder Gleichnisse dem alltäg-
lichsten Leben zu entnehmen, sagt Hartmann: „Die Behauptung, dass die
Welt da sei, um sich in ihr sittlich zu betragen, steht logisch genommen
auf gleicher Stufe mit derjenigen, dass ein Ball darum gegeben werde, damit
278 Di e Bekämpfung d. Pess. v. Standp. d. ethischen Optim.

deutung des Leids") die Versöhnung mit dem Leid innerhalb des
Lebens, vermittelt durch die Erkenntniss, dass es ein Mittel zur
Erziehung zur Sittlichkeit, die Sittlichkeit aber Mittel zur Ueber-
windung des Weltübels werde. Mithin bekämpft das Uebel sich
selbst, und der Glaube hieran bildet den logisch-ethischen Optimis-
mus innerhalb Hartmann 's Pessimismus, und ein ähnliches opti-
mistisches Element ist auch in dem Pessimismus Schopenhauer 's,
noch mehr bei dessen Jünger Deussen, sowie auch bei Main-
länder zu constatiren, indem es die pessimistische Erkenntniss ver-
bunden mit der sittlichen Bethätigung ist, welclie zum Erlösungs-
Wege werden soll. Aber so gut es ist, dass das Uebel selbst
wieder zum Mittel seiner Vernichtung wird (resp. innerhalb des
empirischen Seins: zur Minderung wird), so wäre es doch noch
besser, wenn solche Selbstbekämpfung nicht nöthig und nicht
möglich wäre, weil Object und Subject gleicherweise mangelten.
Man darf nicht vergessen, wenn man die Sittlichkeit zum Mittel
höherer Befriedigung und somit eines höheren Optimismus machen
will, dass die Uebung der Sittlichkeit einen Mangel, einen zur
Bekämpfung bestimmten Zustand voraussetzt, und Sittlichkeit mit
ihrer Voraussetzung der Selbstverleugnung hätte gar keine Objecte
in einer „besten Welt". Die Erhebung ins Reich der Ideale, als
Ersatz für den Mangel eines leidlosen Lebens, wie es sein sollte,
um seine Existenz zu rechtfertigen, hat schon die Stoa gelehrt,
und auch diese, wie nicht minder unsere letztcitirten Optimisten
sind nur Quasi-Opti misten, denn sie bringen die Ehrenrettung
des Seins erst auf den Trümmern aller Unmittelbarkeit zu
stände. Der volle ganze Mensch, als Repräsentant des allseitigen
Lebens kann in der künstlich verdünnten Luft der Stoa gar nicht
athmen, ja gerade die „höheren Instincte" der Sittlichkeit hindern
ihn an der Gewinnung der stoischen Ruhe. Die sittliche Bethäti-
gung verlangt ein innigstes Eingehen in die Gesammtheit; je selbst-
verläugnender das sittliche Individuum ist, um so mehr lebt es im
Nächsten, trägt dessen Sorgen und Leiden mit. Durch dieses Hinein-
leben in die Andern tritt es zwar gewissermaassen aus sich hinaus,
so dass die eigene Verletzlichkeit sich mindert: die zu grosse Reiz-
barkeit, Eitelkeit, Stolz legen sich; grössere Genügsamkeit in Bezug
auf die sinnlichen Bedürfnisse macht, dass pecuniäre Verluste
weniger zu fürchten sind, kurz es kann allen Ereignissen gleich-
müthiger entgegen gesehen werden.
Aber die Hingabe an das Allgemeine macht das Individuum
auch insofern wieder verletzlicher, macht es zu einem um so weniger

die GästeFrack und weisse Binde anlegen und sich der Ballordnung ge-
mäss benehmen." (Phil. d. sittl. Bew.) p. 661.
Die Sittlichkeit als Garantie des Glückes. 279

zu missenden Ziele der Schmerzen, je weiter der Kreis ist, den


seine sittlichen Interessen umspannen. Können auch die Trieb-
federn der Sittlichkeit, die Gefühle, zum Theil ersetzt werden durch
die Vernunftprincipien, so werden doch die Fälle selten sein, wo
letztere die Gefühlsmoral derart überwachsen haben, dass zwar
allen Anforderungen derselben Genüge gethan ist, aber ohne die
subjectiven Affecte. Wo dies aber nicht der Fall ist, wird in einer
Welt von lauter leidensfähigen Subjecten der am innigsten mit-
liebende und mitleidige Tugendhafte die meisten Sorgen und Kümmer-
nisse zu tragen haben. Je reicher an Liebe, je weiter der Kreis
derer mit denen wir sympathisiren, um so grösser die Möglichkeit
in den Geliebten durch die natürlichen, wie socialen und morali-
schen Uebel mit verwundet zu werden.
Wo aber die Vernunft die Gefühle ganz in den Hinter-
grund gedrängt hat, da ist auch das Gefühl der sittlichen
Pflichterfüllung nicht im Stande die innere Leere zu er-
füllen. Wo durch Liebe und Freundschaft und Mitleid die An-
forderungen der Sittlichkeit nicht für das unmittelbare Gefühl zur
Forderung des eigenen Herzens werden, da wird auch das Opfer
an Bequemlichkeit, an Genuss u. s. w. als Opfer empfunden, welches,
wenn es auch für keinen Augenblick ein Schwanken auf dem
Pfade der Pflichterfüllung hervorzurufen vermag, doch die Be-
friedigung über die sittliche Bethätigung einschränkt und ein Ge-
fühl der Ermüdung, eine Sehnsucht nach Ablösung vom (scheinbar)
frei erwählten Posten hervorruft, die bei allem Frieden der Seele
doch weit entfernt ist von dem Zustand, den man mit Recht „Glück"
nennt.
Vernunft - Sittlichkeit ist Selbstvergessenheit: dasjenige Leid,
das der Mensch, welcher sie übt, durch keinen Grad der Befrie-
digung über die objectiven Erfolge los wird, ist das Gefühl der
Einsamkeit; bei der Gefühlsmoral ist dies nicht der Fall, weil
das .Ich" im „Du" derart aufgeht, dass die Selbsthingabe für«
Gefühl wieder zum Egoismus wird, wo es daher wieder zum Schmerz
werden kann, wenn man sich nicht für den Gegenstand der Affec-
tion mühen, opfern darf. Gegenüber der frostigen gefühlsentleerten
Vernunft-Sittlichkeit ist dies der absolut reiche Zustand, aber
dieser Reichthum ist eben die Zielscheibe des möglichen Leides.
In einer Welt, wo die natürlichen Bedingungen solche sind,
dass der Leiden mehr sind als der Freuden, da muss die Summe
des Leides für jeden Einzelnen um so grösser werden, je mehr er
sein Selbst im Andern erweitert; wenn er nun dennoch in solcher
Lebens- und Leidens -Verdoppelung „glücklicher" ist, als der sich
egoistisch Abschliessende, so ist es, weil in dem Leben in den
Vielen der jedem Einzelnen innewohnende Drang nach Leben —
280 Die Bekämpfung d. Pess. v. Standp. d. ethischen Optim.

recht viel Leben! — sein volleres Genüge findet. Dass dieser Weg
zum Genügen der beste Weg ist, das wissen auch die Pessimi-
sten; Hartmann spricht es aus: es ist der Weg
nicht nur des
Lebens froh, sondern auch des Lebens satt zu werden, so dass
auch die Endlichkeit aufhört, ein gefürchtetes Leid zu sein, wie
letzteres in jedem echten, natürlichen Optimismus der Fall ist..
Es erhebt sich nun die Frage: wenn es für die Vergangen-
heit und Gegenwart sich so verhält, wird nicht doch die Zukunft
durch extensive und intensive Steigerung der Sittlichkeit (unge-
achtet der gleichbleibenden physischen und physiologischen Fac-
toren) das Leben für die Empfindung lustvoller gestalten können,
vermittelst der Ausmerzung der direct und indirect durch die Un-

sittlichkeit resp. Nicht-Sittlichkeit —erzeugten socialen Lebens-
formen? Was eine Vermehrung echter Sittlichkeit und die Zurück-
drängung des Egoismus vermittelt der Durchschauung seiner
Illusionen aus unsern irdischen Verhältnissen möglicherweise machen
könnte, haben wir bereits im Cap. VI. zu skizziren versucht. Es
bleibt uns hier nur noch ein Blick zu thun auf die Frage nach
der Wahrscheinlichkeit einer Vermehrung der Sittlichkeit; es
wird uns dies bequem gemacht, denn um unsere Antwort auf diese
Frage zu geben, brauchen wir nur die Ansichten zweier Optimi-
sten, und zwar eines ethischen und eines ethisch-religiösen vor-
zuführen.
E. Pfleiderer meint in „Die Idee des goldenen Zeitalters
tt

(Reimer, Berlin, 1877): die Frage, ob Aussicht vorhanden sei, dass


sich in Zukunft ein Welt- und Lebenszustand realisire, der als die
Realisation der Idee des „goldenen Zeitalters" betrachtet wer-
den könnte, dürfe zwar insofern bejaht werden, als sich auf dem
Gipfel der Menschheitsentwickelung und als Niederschlag der in-
tellectuellen und sittlichen Errungenschaften derartige Culturver-
hältnisse herausbilden möchten, dass sie eine immer allgemeinere
Möglichkeit des sittlichen Lebens biete; „qualitativ und quan-
titativ, ..... bietet sich Gelegenheit überhaupt ein moralisches
Wesen im wahren Sinn des Wortes zu sein" (105). Aber ob diese
„Gelegenheit", welche die, mit der jedem gewährleisteten Freiheit
in religiösem, politischem und socialem Gebiete erblühende Auto-
nomie bietet, auch vollkommen benutzt werde, dies bejahend
zu entscheiden, wagt Pfleiderer nicht; denn die Empirie, auf
deren Boden er bleiben will, zeigt, so weit der Lauf der Geschichte
uns erkennbar ist, keine positive Zunahme der Sittlichkeit. Mit der
Steigerung der Intelligenz und mit der auch in das Gebiet des
sittlichen Bewusstseins dringenden schärfern Reflexion möchte sich
nicht nur das sittlich Gute, sondern auch das Böse schärfer charac-
terisiren (111). Eines nur scheint unserem Optimisten sicher: ein
Die Sittlichkeit als Garantie des Glückes. 281

blosses Wachsthuin des Bösen nicht zn befürchten, „weil das


ist
Böse in seiner innern Haltlosigkeit und Negativität dazu gar nicht
die nöthige Eigenkraft hat" (110). Dass hingegen das Gute den
Kampfplatz der Weltgeschichte schliesslich allein behaupten werde,
ist ein Glaube, den Pfleiderer zwar niemand nehmen will; er je-
doch muss der „Weisheit bestes Theil", die Vorsicht wählen und
die Frage, ob gut ob böse, mit „sowohl —
als auch" beant-
worten.
Auch was den Empfindungszustand dieser Culturstufe betrifft,
so stimmt der Optimist Pfleiderer mit demjenigen Pessimismus
zusammen, der einen evolutionellen Optimismus in sich schliesst
(in erster Linie also Hartmann, dann auch Mainländer u. A.);
nämlich: dass die Menschheit der Gegenwart und Vergangenheit
keinen Grund hätte auf ihre Nachkommen in dem Sinne neidisch
zu sein, als ob diese kurzweg glücklicher sein würden. Auch diese
müssten sich ihre relative Glückseligkeit im guten Kampf erstreiten
und dieser auf sittlicher Grundlage erblühende relativ beste Zu-
stand sei weit entfernt von dem allen Schmerz und Unlust aus-
schliessenden Glücke, wie es wohl dem Vulgär-Optimismus als et-
was ästhetisirtes Schlaraffenland vorschwebt.
Bischof Martensen („Christliche Ethik") sagt: „Die Zeiten
werden besser, nicht in dem Sinne, dass die nachfolgende Gene-
ration gerade eine tugendhaftere sein sollte als die vorangegangene:
denn in jeder Generation muss die Tugend als persönlicher Vor-
zug immer von vorne anfangen bei dem einen und andern Indivi-
duum; aber besser werden sie, so fern das Gute, wenn auch unter
theilweisen Rückfällen, zu immer reicherer Entfaltung und
immer völligerem Bewusstsein kommt, und zugleich durch die
fortschreitende Entwickelung der Cultur, Gesittung und Erfahrung,
in welcher ein sicherer unzweifelhafter Fortschritt stattfindet, eine
immer grössere Mannigfaltigkeit gewinnt von Mitteln und Mög-
lichkeiten, sich zu offenbaren. Die Zeiten werden schlechter,
denn auch das Böse kommt, obgleich unter theilweisen Hemmungen
und Niederlagen, zu reicherer Entfaltung, offenerer und kräftigerer
Vertretung, nimmt zugleich einen immer geistigeren, bewusstern
Character an und empfängt durch die fortschreitende Cultur und
Bildung immer neue Waffen."
Diese Auffassung weicht in keiner Weise von dem ab, was
Hartmann schon in der „Phil. d. Unb." (p. 377—379, 7. u. 8. Aufl.)
in nichts zu wünschen übrig lassender Klarkeit gesagt hat und
wozu zahlreiche Erörterungen über die socialen Aussichten in der
„Phän. d. sitt. B." die Belege und Illustrationen bilden. Sollen
die hier von der Zukunft gelieferten Bilder dem Rahmen einer
optimistischen Weltanschauung eingefügt werden, so ist das nur
282 Die Bekämpfung d. Pess. v. Standp. d. ethischen Opthn.

insofern möglich, als man (wie Martens en) die Ergänzung im


Gebiete des Glaubens sucht und in der Hoffnung besitzt, was einem
in der Realität abgeht, oder aber (wie Pfleiderer), indem man
aus der Urwurzel des Optimismus heraus mit der ihrem wahren
Wesen nach eigentlich tragischen Kampfesfreudigkeit*) (welche
nur eine höhere Form des Triebes zum Sein, des Willens zum
Leben ist) auch solche Zustände zu billigen und bejahen ver-
mag, die, wenn man vermittelst einer Trennung von Gefühl und
Reflexion diesen Trieb wegzudenken vermag, als nicht-sein-sollende
bezeichnet werden müssen.
Alle Un Sittlichkeit ist nur Ausartung und Ueberwucherung des
mit der Individuation gegebenen Egoismus. Selbst der an und für
sich sittlich noch indifferente Egoismus führt zu Reibungen, die
als Unlust bewusst werden. Die höhere Cultur aber ist nichts an-
deres, als eine viel engere Bezogenheit sämmtlicher Lebensfactoren
aufeinander und eine feiner organisirte Ineinanderwirkung der In-
dividuen, mithin eine Vermehrung der Reibung. Will man ein
Bild gestatten, so verhält sich der Cultur-Staat zum jagenden und
nomadisirenden Volkshaufen wie das hochorganisirte Wirbelthier
zum Zellhaufen des Protoplasmas. Wie auch in den höchst organi-
sirten Bionten das teleologische Zusammenwirken nicht verhindert,
dass unter Beeinflussung durch äussere Kräfte gewisse Zellgruppen
und Organgebilde sich der Hegemonie des Organs entziehen und
so zu Gunsten egoistischer Zwecke das Wohlbefinden und den
normalen Lebensprocess des Gesammtindividuums stören können,
und wie sogar die Gelegenheit zu solchen Störungen um so
mehr geboten ist, je complicirter der Gesammtorganismus construirt
ist, so verhält es sich auch im höchstentwickelten Culturstaat mit

der Sittlichkeit, als der Krankheit seines Organismus. Wie die


Krankheiten ungeachtet der Fortschritte der Prophylaxis doch nicht
überwunden werden können, weil ihre Möglichkeit in der Beschaf-
fenheit des höheren Individuums (als einer Individuen - Pyramide)
selbst wurzeln, so ist auch die Unsittlichkeit mit der Vielheit ge-
geben, und wenn auch die steigende Intelligenz und die damit er-
weiterte Umschau über das Leben und seine Zwecke begünstigend
für die Wirksamkeit der sittlichen Motive wirkt, so ist dagegen
auch durch die complicirteren Lebensformen auch der Kampf der
Selbstbehauptung erschwert und damit ist die Gefahr des gelegent-
lich um so rücksichtslosem Auf bäumens der bedrängten Sonder-
interessen gegeben.

*j Wir möchten an Felix Dahn erinnern.


Drei Preisschriften etc. 283

8. Drei Preisschriften: der Pessimismus und die


Sittenlehre.

Das vorhergehende war bereits geschrieben, als uns 3 Schriften


von Hugo Sommer, Paul Christ und J. Rehmke unter dem
Titel: „Der Pessimismus und die Sittenlehre" zur Kenntniss ge-
langten, die ihre Entstehung einer von der „Godgelaerde Genooten-
schap te Haarlem" ausgeschriebenen Concurrenz verdanken, und von
denen diejenigen der zwei erstgenannten Autoren gleichmässig
prämiirt wurden.
Weder Sommer noch Christ bringen in ihren umfangreichen
und eingehenden Arbeiten irgend etwas Neues gegen den Pessimis-
mus vor; es läuft eben auch hier wieder alles auf den Nachweis
hinaus, dass die Ethik des Pessimismus für die Optimisten nicht
acceptabel sei, weil die Beweggründe der Pessimisten die Opti-
misten eben nicht bewege, die pessimistischen Ziele den eudä-
monologisch anspruchsvolleren Optimisten nicht zu Motiven der
sittlichen Thätigkeit werden könnten.
P. Christ sagt: „das Moralprincip „„die Zwecke des
,

Unbewussten zu Zwecken des Bewusstseins zu machen" " steht


etwas anders ausgedrückt, jeder echten Sittenlehre gut an. Aber
wenn wir schliesslich in dem absoluten Endzweck, an dem die
ganze Stufenleiter niederer und höherer Zwecke befestigt sein
soll, ein blosses Hirngespinst entdecken, wenn diese ganze Teleo-
logie auf eine Weltvernichtung hinausläuft, so kann man sich des
Gedankens: viel Lärm um Nichts! nicht erwehren und bekommt
wenig Lust, solchen Zwecken des Unbewussten sich unterzu-
ordnen."
Ganz gewiss! Nur der Pessimist sieht in diesem negativen
Ziele etwas Vernünftiges, etwas Gutes; der Optimist aber, der
die Welt bejaht, muss in deren Vernichtung den Gipfel der Ver-
kehrtheit erblicken.
„Es ist ein grosser Fortschritt" —
fährt er fort —
„über
den ungeschichtlichen, quietistischen Standpunct Schopenhauers
hinaus, dass Hartmann an eine aufsteigende Culturentwickelung
der Menschheit glaubt und zu unablässiger Arbeit an derselben

auffordert; aber wer in aller Welt soll zu dieser Arbeit Lust und
Liebe, Kraft und Muth gewinnen, der dahinter gekommen ist:
All dieser Culturfortschritt soll und kann nur dazu dienen, unser
Bewusstsein dahin zu steigern, dass es das Elend des Daseins, die
Thorheit alles Glückstrebens, das Erbärmliche des Lebens mit all'
seinen Gütern und Aufgaben immer völliger einsehe und der
284 Die Bekämpfung d. Pess. v. Standp. d. ethischen Optim.

ganzen Narrenthei znletzt ein Ende mache? Wer wird an solch*


trostloser und unendlich langer Todtengräberarbeit Gefallen finden
können?"
Die Optimisten haben Recht, dass es zur Aufstellung einer
wirksamen Sittenlehre absoluter Werthe bedarf, aber sie haben
Unrecht, wenn sie meinen der Pessimismus ermangle solcher, weil
er nicht an die positiven eudämonologischen Werthe im Sinne der
Optimisten glauben kann; es ist ein Vorurtheil der Optimisten,
dass nur ihre Werthe absolute, allgemein gültige Werthe sein
können.
Dem Pessimisten das negative Ziel, welches er sich als das
ist
letzte Princip seiner sittlichenBethätigung setzt, hinlänglich moti-
vationskräftig, hinlänglich positiv, positiv in seiner Negativität;
denn seine Positivität besteht in der Negation einer von seinem
axiologischen Urtheil getroffenen Position, ganz in Ueberein-
stimmung mit demjenigen Optimismus, welcher die Sittlichkeit von
dem Vulgär-Eudämonismus und Utilitarismus gereinigt und die
Sittlichkeit als Selbst- und Eigenwerth anerkennt wissen will, und
welchem daher der positive Werth der Sittlichkeit als Solcher auch
nur insofern ein „positiver" ist, als er die Negation einer verur-
theilten Position (der bloss natürlich-egoistischen Lebensbeschaffen-
heit und ihrer realen und idealen Mängel) ist.
Mit „Liebe" kann man auch am negativen Zwecke arbeiten,
sofern dieser für den Pessimisten (und nur für Pessimisten ist die
Sittenlehre des Pessimismus berechnet) ein gutes Ziel und ein
vernünftiges Ziel ist; auch mit etw elcher „Lust", weil der Cultur-
process ein logischer Process ist und wir logischen Wesens sind,
demnach im Culturkampf einen Tummelplatz für unseren Geist
finden: last but not least aber mit „Lust und Liebe" gerade so
sehr, als wir sittlich handeln wollen und in der bewusst-activen
Betheiligung am Weltprocess unsere sittliche Aufgabe erkennen.
Ob uns das „Wie" und „Was" dieses Processes, die Mittel und
Wege, die dem „Zwecke des Unbewussten" dienen, gefallen oder
nicht, das ist für den sittlichen Standpunct von gar keiner Be-
deutung; Pflicht und Schuldigkeit einmal als solche erkannt, bleiben
was sie sind, auch wenn man geneigt wäre, sie als „verfluchte
Pflicht und Schuldigkeit" zu bezeichnen. Dass die Forderung der
Sittlichkeit eine tragische Forderung ist, erhebt zwar die Sitt-
lichkeit als solche, dass es sie aber erhebt ist nur, weil das Welt-
gesetz ein tragisches ist.
Vermittelst des Streites über die „Werthe" und „Ziele" des
Pessimismus lässt sich gegen die Ethik des Pessimismus nicht auf-
kommen. Es handelt sich darum, ein dem Optimismus und Pessi-
mismus gemeinsames rein formalistisches Kriterion der Sittlich-
Drei Preisschriften etc. 285

keit festzustellen; vermögen dann die Werthe des Pessimismus


den Pessimisten zu den diesem Kriterion entsprechenden Hand-
lungen zu motiviren, so ist der Pessimismus fähig, Sittlichkeit zu
begründen. Nicht die Existenz der Sittlichkeit hängt von der
axiologischen Weltanschauung ab, bloss das „Wie" und „Was"
der Sittlichkeit wird dadurch modificirt.
Ueber das Kriterion der Sittlichkeit aber herrscht auch in den
„ Preisschriften " völlige Unklarheit, und zwar liegt der Grund der-

selben in der schwankenden Auffassung der Persönlichkeit und


deren Stellung zur Welt.
H. Sommer möchte die Persönlichkeit gern verabsolutiren,
um damit die Berechtigung für einen mit Idealismus aufgeputzten
Individual-Eudämonismus zu gewinnen; P. Christ, der Theologe
aus der Schule Biedermanns, der den Persönlichkeits-Begriff für
Gott fallen lässt und zugesteht, die pessimistische Verneinung der
persönlichen Fortdauer brauche die Sittlichkeit nicht zu beein-
trächtigen, ist zwar bescheidener, aber darum nicht minder unklar.
Christ meint, die Sittlichkeit verlange sowohl als Subject wie
als Object ein Wesen, das nicht blosse Erscheinung und blosses
Mittel zu höheren Zwecken sei, sondern das Substantialität, selbst-
ständige Bedeutung und einen Zweck in sich selber habe; er muss
sich aber gleich wieder selbst einschränken. Denn nicht zu unbe-
dingtem Selbstzweck dürfe man den Menschen machen, sondern
man müsse zugeben, dass er auch wieder Mittel zu höheren
Zwecken, und wo diese es verlangten, verpflichtet sei, sein indi-
viduelles Wohl zu opfern.
Damit ist nun aber kein Gegensatz constatirt; der Hart-
mann'sche Pessimismus bestreitet durchaus nicht, dass das Indivi-
duum, nicht nur die sittliche Person (wenn auch diese in erster
Linie), in beschränktem Maasse Selbstzweck sei; aber eben Selbst-
zweck, als so und so specificirtes reales Phänomen des Wesens,
und gerade insofern in seiner Specialisirung Selbstzweck, als es in
dieser Besonderung Mittel für den höhern Zweck ist. Es ist dies
aber gerade eines der pessimistischen Momente des Seins, dass
dem Individuum, umauch nur als Mittel sich behaupten zu
können, der absolute Selbstbehauptungsdrang und die Illusion des
unbedingten Selbstzweckes von der Natur muss mitgegeben sein,
welche in dem zum sittlichen Bewusstsein gereiften, und damit
zur Erkenntniss der nur relativen Behauptungsberechtigung ge-
reiften Menschen nur vermittelst schmerzlicher Resignation über-
wunden werden können.
Es ist endlich auch kein Gegensatz gegen den Pessimismus
Hartmanns constatirt, wenn H. Sommer sein Buch mit den re-
capitulirenden Worten schliesst: „die Voraussetzungen der Ver-
286 Die Bekämpfung d. Pess. v. Standp. d. ethischen Optim.

nunft, des Gewissens und der religiösen Gefühle sind selbst das
höchste Wirkliche, welches wir kennen; sie sind das Maass der
Dinge, die obersten Kategorien aller Werthe und aller Wirklichkeit;
sie bilden das unverrückbare Centrum unseres Lebens und unseres
Erkennens, welches allem Leben und allem Erkennen erst Be-
deutung, Einheit und Zusammenhang giebt."
Die höchste Wirklichkeit der Vernunft, des Gewissens und
der religiösen Gefühle leugnet der Hartmann'sche Pessimismus
nicht. Die Vernunft ist ihm ebenfalls das Maass der Dinge, und
er ist philosophischer Pessimismus, d. h. die denkende Verar-
beitung und Entwickelung des Weltschmerzes dadurch, dass er
nicht bloss beim primären Empfindungsurtheil stehen bleibt. Er
sagt nicht: die Unlust ist unlustig, das Uebel ist übel; er sagt
die Unlust ist unvernünftig, und wenn er erkennen muss, dass
die Unlust eo ipso mit dem Sein gegeben ist, so sagt er: das
Sein ist unvernünftig. Die Vernunft wird auch nicht schlechthin
mit dem Logischen identificirt; Hartmann polemisirt im Gegen-
theil gegen den formalistischen Panlogismus,*) der das Empfinden
als ungerechtfertigt von der Weltbetrachtung ausschliessen möchte.
Eür Hart mann ist das teleologisch Vernünftige das Logische an-
gewandt auf ein Alogisches; dieses Vernünftige aber ist ihm das
Maass aller Dinge, das höchste Wirkliche deshalb, weil hier am
ehesten —
wenn überhaupt irgendwo —
das objectiv Seiende mit
dem Subject - Seienden Eins-und- dasselbe ist, nicht bloss
weset.
Aber auch das Gewissen, resp. die Stimme des religiös-sitt-
lichen Bewusstseins ist Hartmann ein Höchstes, denn es ist die
gefühlsmässige Resonanz der Vernunft im Dienste der sittlichen
Weltordnung. Und dass das religiöse Gefühl vom Pessimismus
nicht verkannt wird, sollte doch wohl hinlänglich daraus erhellen,
dass für Hartmann die letzten Principien der Sittlichkeit zu re-
ligiösen Principien werden.
Allerdings liegt das religiöse Gefühl und das religiös-sittliche
Princip des Gottes-Mitleids weit ab von der primitivsten Form der
Gottessehnsucht und Gottes -Vorstellung: als der Leben garan-
tirenden Macht. Aber der Gott, zu dem der Indianer betet: „Grosser
Geist, gieb Büffel, viele Büffel", ist ja auch nicht mehr der Gott,
den der ethische Optimist will; desshalb kann der Grad der Ab-
weichung der religiösen Formen, welche innerhalb des Pessimismus
noch möglich sind, von den bisher unter optimistischen Voraus-
setzungen conservirten wahrlich eben so wenig ein Grund sein,
den Pessimismus der Verkennung der religiösen Gefühle zu zeihen,

i:

)
Neu-Kantianismus, Schopenhauerianismus und Hegelianismus. C.
Drei Preisschriften etc. 287

als die Verschiedenheit der Motive und Ziele seiner Ethik ein
Grund sein können, dieser ihre Berechtigung abzustreiten.
Interessanter, weil origineller als die beiden prämiirten Ar-
beiten, ist die. unprämiirte von J. Rehmke.
Der empirische Pessimismus, der Eigenlust-Pessimismus —
meint Rehmke —
sei wahr; d. h. der Eigenlust- Wille erntet immer
den Ueberschuss der Unlust über die Lust; er dient der Sitten-
lehre als prophylactisches Mittel gegen den Egoismus. Aber er
selber führt nicht zur Sittlichkeit; die Selbstverleugnung, zu
der er führen kann, ist (wenn consequent durchgeführt) der Selbst-
mord; die Sittlichkeit erwächst nicht aus der Selbstverleugnung,
welche etwas durchaus negatives ist, sondern aus dem ethischen
Optimismus.
Der ethische Optimismus Rehmkes ist aber etwas ganz
anderes, als was gemeinlich darunter verstanden wird. Man ver-
steht darunter in der Regel, dass wenn auch zwar das natürlich-
egoistische Streben dem Menschen nicht einen Zustand zu ge-
währen vermöge, in welchem die Lust die Unlust überwiege, dieses
letztere Verhältniss doch resultire, sobald der Mensch sein Wollen
sittlich bestimme. In diesem Sinne hat es auch Rehmke noch
gemeint, als er die „ Glossen" schrieb.
Jetzt meint er freilich etwas anderes. Ethischer Optimismus
soll nun heissen: dass der Mensch als sittlich wollender schon
glückselig ist, und nur sofern er glückselig ist, sittlich wollen
kann.
„Glückseligkeit und menschliches Wollen sind also stets bei
einander, und wenn man das Wollen des Menschen eintheilen
wollte, so Hesse es sich zwanglos in diese zwei Unterabtheilungen
bringen, ]. Glückseligkeitswollen und 2. glückseliges Wollen. In
der ersteren würde unterzubringen sein alles Wollen, welches die
Glückseligkeit zum Zwecke hat, also vom glückseligkeitsüchtigen In-
viduum ausgeführt wird; in der zweiten alles Wollen, welches auf der
Basis der Glückseligkeit vor sich geht, also vom glückseligen
Individuum unternonmien wird; jene Abtheilung wird sich durch-
aus decken mit dem egoistischen, und diese mit dem sittlichen

Wollen", (p. 116 117.) „Darin hat Hartmann durchaus Recht,
wenn er behauptet, dass das sittliche Streben die Glückseligkeit
(des Individuums) nicht zum Ziele habe; er schiesst aber über das
Ziel hinaus, wenn er deshalb die Glückseligkeit auch für das sitt-
liche Individuum verneint und die Wahrheit des ethischen Opti-
mismus leugnet. Dieser Optimismus kann wahr sein, ohne dass
die Glückseligkeit das Resultat des sittlichen Wollens sein müsste,
und der sittlich Wollende kann in sich diese Glückseligkeit tragen,
ohne dass er als Zweck das Glückseligsein in sein Handeln auf-
288 Die Bekämpfung d. Pess. v. Standp. d. ethischen Optim.

nehmen müsste, wie ja das „sittliche" Handeln dann überhaupt


nicht mehr sittlich sein würde." (p. 113.) Rehmke meint ferner:
der Glaube würde nur dann sittlich hemmend wirken, wenn Glück-
seligkeit und Eigenwille in einem solchen Verhältniss stünden, dass
erstere das Resultat und das Ziel des Letztern sein könnte, wenn
also der Gedanke an Glückseligkeit unmittelbar die egoistischen
Neigungen des Menschen wach riefe und stärkte, nicht aber werde
die Sittlichkeit dadurch gefährdet, dass der sittlich Handelnde Glück-
seligkeit geniesse. Es sei die grösste Verwirrung der Geschichte der
Sittenlehre, das Bestreben, die Glückseligkeit aus der Sittenlehre
ausschliessen zu wollen; dem richtigen Grundsatz entsprungen, dass
der sittlich Strebende niemals eine zu erreichende Glückseligkeit
im Auge habe, gehe sie zu weit, wenn sie jede Verbindung von
Sittlichkeit und Glückseligkeit leugne und nicht eben die Möglich-
keit erwäge, dass Sittlichkeit ihrerseits die Folge der Glückseligkeit
sein könne. „Erst wenn der Mensch die Glückseligkeit besitzt, so
kann er sittlich handeln. Bevor er die Glückseligkeit besitzt kann
er nur selbstsüchtig wollen, d. h. die Glückseligkeit suchen. Der
Wunsch nach Glückseligkeit liegt dem Menschen im Blute und er
kann denselben nicht in die Schanze schlagen; wo es der Fall
scheint, wo ein sittlich Handelnder auf die Glückseligkeit zu ver-
zichten scheint, da besitzt er sie eben einfach schon." (117.) „Nie-
mals wird man im wirklichen Leben einen Menschen finden, welcher,
obwohl er nicht glückselig ist, sittliches Wollen zeigt; Alle, welche
etwa von sich das Gegentheil behaupten, täuschen sich, indem sie
entweder in ihrem Wollen wirklich nicht sittlich sind, sondern
egoistisch, dass heisst auf ihre noch nicht erlangte Glückseligkeit
ihr Wollen richten, oder wirklich sittlich wollen, aber dann auch,
ohne dass sie sich dessen selbst deutlich bewusst sind, auf
jenem andern Wege schon die Glückseligkeit gewonnen
haben, nämlich auf dem Wege des Glaubens, der ihnen das
Bewusstsein ihrer Persönlichkeit als eines Kindes Gottes aufge-
schlossen, und sie dadurch mit Glückseligkeit erfüllt hat." (118.)
Hier ist nun vor allem erstens zu bemerken, dass eine Glück-
seligkeit deren man „sich nicht deutlich bewusst ist", keine Glück-
seligkeit ist, da Lust und Unlust, Glückseligkeit und Unglückselig-
keit subjective Zustände sind, die ganz und gar nur in der
Subjectivität sind und ihr Wesen erschöpfen. Von einem gegebenen
Standpunct aus kann man allerdings sagen: „glückseliger Mensch,
dass er sittlich sein kann"— weil man es für sein wahres Wohl oder
für seine Würde zuträglich hält, dass er sittlich handelt; gerade
in dem Sinne wie die Christen der ersten Jahrhunderte denjenigen
glücklich priesen, der als Märtyrer sterben konnte. Aber diese
Glückseligkeit ist kein eudämonologischer Begriff mehr.
Drei Preisschriften etc. 289

Zweitens müsste das Kindschaftsverhältniss (oder sagen wir


lieber: das Zugehörigkeitsgefühl des Individuums zum Absoluten
und dessen Zwecke) als die Sittlichkeit bedingend nur dann als
„Gnade" bezeichnet werden, wenn der Mensch nicht schon durch
seine sittlichen Triebfedern zur sittlichen, d. h. selbstlosen Hand-
lungsweise befähigt wäre. Rehmke's kränkliche, mit dem christ-
lichen Dogma von der Gnade liebäugelnde Theorie unterschätzt
die vorbewusste Tendenz der Natur zur Sittlichkeit. Kraft der
natürlichen Triebfedern der Sittlichkeit kann der Mensch selbst-
vergessen handeln, auch wenn er sich durchaus unglücklich weiss,
sobald er überzeugt ist, dass dieses Unglücklichsein unaufhebbar
ist und durch die Unterlassung der sittlichen Handlungsweise zwar
noch vermehrt werden kann, nicht aber durch die Ausübung der-
selben vermindert wird. Der Mensch kann sich objective, ausser
seiner Wohl- oder Weh-Sphäre gelegene Ziele setzen, ohne sich
mit Gott in einem Intimitätsverhältniss zu wissen, ja ohne die
objectiven Zwecke, die ihn seine Vernunft setzen lässt, als gött-
liche Zwecke vorzustellen. Man kann sittlich handeln, ohne das
absolute Sein als Gottsein zu fassen und ohne sich in seiner Zu-
sammengehörigkeit mit dem absoluten Sein beseligt zu fühlen,
wenn sich das Zusammengehörigkeitsgefühl auf das Bewusstsein
der Gemeinsamkeit des Leidens stützt. Worauf es ankommt ist
das Bewusstsein der Verpflichtung gegenüber ausser dem
Ich gelegener Zwecke; die Definition der Sittlichkeit, „dass diese
die Realisation der individuellen Lebenszwecke sei", wird durch
die andere umfasst: dass der individuelle Lebenszweck der sei, die
allgemeinen Zwecke als die seinen zu erfassen und nach seinen
Kräften zu fördern.
Rehmke meint „der Verzicht auf Glückseligkeit ist Verzicht
auf die eigene Persönlichkeit"; das hat nur einen Sinn, wenn man
unter Persönlichkeit das individuelle Subject der Willensaction ver-
steht und sagt: der (gezwungene) Verzicht auf jede Willensbefrie-
digung lähmt auch die Willensregung. Die Möglichkeit, dass
ein Wille durchgesetzt und damit Befriedigung des bestehenden
Triebes erlangt wird, muss bestehen, sonst wird das Handeln (die
bewusste Thätigkeit) verhindert. Aber diese Willensbefriedigung
braucht noch lange nicht Glückseligkeit zu sein, welche ein das
ganze Empfinden umfassender dauernder Zustand ist, während die
Befriedigung über sittliche Bethätigung bestehen kann, ohne dass
dadurch der Gesammtzustand eines Menschen ein solcher ist, wo
die Lust die Unlust überwiegt.
Auch grosse religiöse Innigkeit kann bestehen, ohne dadurch
den Menschen über das Unglück zu erheben; Marie, die hochbe-
gnadigte, tragt als „Mater dolorosa" unter dem Kreuze des Sohnes
Plürnacher, Pessimismus. 19
290 Die Bekämpfung d. Pess. v. Standp. d. ethischen Optim.

sieben Schwerter im Herzen, und gerade in ihrem rein -mensch-


lichen, natürlichen Schmerz die Bittträgerin der Leidenden.
ist sie
Die religiösen Optimisten lieben es den Begriff „Glück" um-
zutauschen gegen den der „Glückseligkeit". Mit |Glück bezeichnet
man klar und einfach einen Zustand mit erheblichem Ueberfluss
von Lust; Glückseligkeit aber, wenn durch die Brille einer reli-
giösen Weltanschauung betrachtet, braucht nichts weiteres zu sein
als ein für das „Seelenheil" vortheilhafter Zustand, wenn auch noch
so sehr von Schmerz durchtränkt. Wie Rehmke von „angewand-
tem Pessimismus" spricht, wonach die Welt nur unter gewissen
metaphysischen Voraussetzungen als vom Uebel erscheint, so muss
man bei seiner Theorie des ethischen Optimismus von einem „an-
gewandten Optimismus" reden. Diese Gotteskindschaft-Glückselig-
keit des Sittlichen ist eine nahe Verwandte von dem Glück des
tugendhaften Stoikers auf der Folter. Die Kinder Gottes Rehmke 's
unter dem Druck der natürlichen Nöthen und Schmerzen des Lebens
können glückselig geschätzt werden unter gewissen Voraussetzungen
über Gott und Welt, zu denen, wohl zu merken! —
auch der
empirische Pessimismus gehört, der es erst rechtfertigen muss,
dass man den privativen Zustand des Friedens mit einem, seinem
ursprünglichen Sinne nach, positiv-eudämonologischen Namen be-
zeichnet.
Der sittliche Friede, als das Bewusstsein seiner Zugehörigkeit
zum Absoluten und der Dienstbarkeit gegenüber der sittlichen
v
Weltordnung, mag immerhin als „Gnade" bezeichnet werden, gegen-
über dem Zustand egoistischer Isolirung. (Doch darf man den
sittlichen und den bloss natürlichen Zustand nicht zu weit aus-
einander halten, da vermittelst der Triebfedern der Sittlichkeit
jenem, über das Naturbedürfniss des Individuums auf das der
Gattung und der Weltentwickelung gerichteten Instincte eine
Brücke von dem einen zum andern Gebiet gespannt ist.) In
diesem „begnadigten" Zustand vermag der Mensch sittlich zu
wollen, weil er höhere Ziele zu erkennen vermag und weil
er wollen muss, activ sein muss, aber nicht, weil er nichts für
sich zu wollen hätte, wennan die Realisirbarkeit solchen eudä-
er
monistischen Wollens glauben könnte. Der Zustand des sittlichen
Wollens ist ein relativ „glücklicher", d. h. im allgemeinsten
Sinne günstiger, aber diese „Glückseligkeit" eines zu Sittlichkeit
fähigen Menschen ist noch nicht eo ipso ein eudämonologisch
hochstehender und keine Instanz gegen den eudämonologischen
Pessimismus der Hartmann'schen Lehre von der totalen Gegen-
sätzlichkeit des Sittlichen und Individual-Eudämonistischen.
VIII. Capitel.

Die Bekämpfung des Pessimismus


vom Standpunct des religiösen Optimismus.

i. Der Pessimismus als irreligiös verurtheilt.

Neben der Gegnerschaft des ethischen Optimismus ist es be-


sonders diejenige des religiösen Optimismus des Theismus,
welche sich mit den zahlreichsten Stimmen gegen den Pessimismus
und speciell gegen die pessimistische Philosophie E. v. Hartmann's
erhebt.
Der Vorwurf der Irreligiosität wird dem modernen Pessimis-
mus von Seite des Theismus in zwei Formen gemacht. Nach der
einen Version soll die pessimistische Weise, die Welt und das Leben
zu betrachten, die religiöse Gesinnung untergraben; nach der
anderen Version soll es der Mangel an religiöser Energie sein,
welche zum Pessimismus führt, weil mit der Fähigkeit religiös zu
empfinden, der eudämonologisch werthvollste Factor aus dem mensch-
lichen Leben ausgeschieden sei.
In diesem letzteren Sinne sagt Eug. Lorenz Fischer („Ueber
d. Pessimismus". Zeitgemässe Brochüren. 1880) mit starken Worten,
entsprechend seiner das Kräftige liebenden Partei: „Ja, wenn die
Religion, wenn das Christenthum aus dem Leben des Einzelnen,
wie der Gesellschaft gänzlich schwindet, dann bekommt der Pessi-
mismus vollständig Recht; denn dann verbleichen und verwesen
alle Ideale, nachdem das höchste Ideal zertrümmert ist: dann wird
das Leben mit seinen tausend Qualen und Leiden eine unerträg-
liche Last; dann geht die Tugend und Sittlichkeit mit Riesenschritten
abwärts und aus den leeren Tempeln werden gefüllte Zuchthäuser;
dann versumpft die Wissenschaft in der schalen Materie und giebt
dem aufwärts strebenden Geiste keine Befriedigung mehr; dann
senkt der Genius der Kunst trauernd die Fackel am Grabe der
19*
292 Die Bekämpfung d. Pess. v. Standp. d. religiösen Optim.

idealen Muse weinend; dann wird die Menschheit alterschwach und


lebensmüde und sehnt sich nach dem Tode." Ebenso meint
K. F. Edmund Schädlin (Der mod. Pessimismus. 1878): Der
Pessimismus sei eine Weltanschauung hervorgegangen aus dem un-
berechtigten weltlichen Standpunct des Eudämonismus und Egois-
mus, während practischer Materialismus —
„ Mammonismus " wie
Schädlin sagt — Ursache sei, dass er so viele Gläubige linde.
die
Nach der ersten Version des verwerfenden Urtheiles wird der
Pessimismus einfach um seiner Folgen willen verurtheilt und zu
unterdrücken versucht unter der Voraussetzung, dass nicht nur
Religion überhaupt, sondern speciell christlicher Theismus sein
müsse. Aber das pessimistische Bewusstsein ist eine Macht für
sich; isteinmal das geistige Auge geöffnet für die All-Gegenwart
der Leiden und Uebel, ist der Intellect einmal vollbewusst dem
gähnenden Abgrund gegenüber gestanden, welcher „zwischen Wunsch
und Wonne klafft", solässt sich der denkende Mensch nicht mehr hin-
dern, zu suchen und zu forschen, zu constatiren, zu urtheilen und zu
verurtheilen. Stimmt der so neugewonnene Bewusstseinsinhalt
nicht mehr mit den bisher gehegten religiösen Vorstellungen, so
werden diese unter der Einwirkung der pessimistischen Reflexionen
modificirt, oder, wenn ihre Form eine derartige ist, dass sie jede
Modification als Gefährdung des kunstvoll verschlungenen dogma-
tischen Baues ausschliesst, so gilt es durch Deutung und Um-
deutung die beiden in Opposition getretenen Bewusstseinsinhalte
— des pessimistischen und des religiösen Bewusstseins —
in Ein-
klang zu bringen. Wir haben in der Einleitung angedeutet, wie
das pessimistische Bewusstsein einen wesentlichen Factor des er-
wachenden und sich entwickelnden religiösen Bewusstseins bilde,
wie aber allerdings dasselbe auch zur Auflösung bestimmter Dog-
men diene; beides ist eigentlich derselbe Vorgang, bloss auf ver-
schiedenen Stufen sowohl des pessimistischen wie des religiösen
Bewusstseins. Wer Religion kurzweg mit Christenthum iden-
tificiren will, wer geneigt ist, Jeden als irreligiös, ja als Atheisten
zu bezeichnen, welchem es nicht gelingt, die reale Weltbeschaffen-
heit mit dem Begriff eines selbstbewussten, allmächtigen, allgütigen,
die Welt aus reiner Liebe erschaffen habenden persönlichen Gottes
in Einklang zu bringen, der muss allerdings in der Lehre des
Pessimismus eine grosse Gefahr für das religiöse Leben erblicken;
er mag mit einigem Rechte sagen: der Pessimismus führe zum
Atheismus — wie z. B. R. 0. Anhut („Das wahnsinnige Bewusst-
sein u. d. unbewusste Vorstellung", 1877) es ausspricht.
Als ein Beispiel des Ringens der pessimistischen Erkenntniss
mit der christlich- theistischen Gottes Vorstellung führen wir hier
die Worte eines englischen Philosophen und eines deutschen Phy-
Der Pessimismus als irreligiös verurtheilt. 293

siologen an; wobei die Auslassungen des ersteren uns besonders


noch deshalb interessant sind, weil manche Kritiker Hartmanns
darin einen Fehler entdeckt haben wollten, dass derselbe die eudä-
monologischen Wirkungen der Natur nicht berücksichtigt hätte.
J. Stuart Mill betrachtet nun gerade dieses von Hart mann
in der „Phil. d. Unb." übergangene Gebiet,*) und zwar unter ver-
schiedenen Gesichtspuncten, und sagt unter Anderem: „Nächst der
Grösse der Erdkräfte ist die Eigenschaft, welche jeden, der sich
nicht verblenden will, an ihnen auffallt, die vollkommene und un-
bedingte Rücksichtslosigkeit, mit der sie verfahren." „In nüchterner
Wahrheit werden all' die Thaten, für welche man Menschen als
Verbrecher hängt oder einkerkert, jeden Tag von der Natur be-
gangen. Das Tödten, von den menschlichen Gesetzen als die am
meisten verbrecherische Handlung angesehen, vollzieht die Natur
einmal an jedem lebenden Wesen, und in unzähligen Fällen nach
solchen langen Torturen, wie sie die grössten Scheusale, von denen
wir lesen, jemals absichtlich an ihren lebenden Mitmenschen be-
gangen haben. Wenn wir durch einen willkürlichen Vorbehalt
nur das als Mord ansehen wollen, was eine gewisse Zeit abkürzt,
von der man meint, sie sei dem menschlichen Leben zugemessen,
so thut dies die Natur, mit Ausnahme eines kleinen Procentsatzes,
jedem Leben an; sie thut einer gewaltthätigen und
es in solch'
arglistigen Weise, wie es nur die schlimmsten menschlichen Wesen
untereinander thun. Die Natur pfählt und rädert den Menschen,
wirft ihn den wilden Thieren zum Frasse vor, verbrennt ihn, zer-
malmt ihn mit Steinen, gleich den ersten christlichen Märtyrern,
lässt ihn Hungers sterben, lässt ihn erfrieren, vergiftet ihn durch
das schnell oder langsam wirkende Gift ihrer Ausdünstungen, und
hat hundert andere entsetzliche Todesarten im Rückhalt, wie sie
die erfinderischste Grausamkeit eines Nabis oder Domitian niemals
übertraf ..." „selbst wenn sie nicht tödten will, so verhängt sie
mit scheinbarer Muthwilligkeit dieselben Torturen." „In Folge
der unbeholfenen Vorkehrungen, welche sie für die immerwährende,
durch ihre schnelle Tödtung eines jeden Individuums nothwendig
gemachte Erneuerung des thierischen Lebens getroffen hat, kommt
kein menschliches Wesen zur Welt, ohne dass nicht ein anderes
menschliches Wesen buchstäblich stunden —
ja, tagelang auf die
Folter gespannt wird, der nicht selten der Tod folgt." „Nach der
Tödtung (ihr aber gleich nach der Meinung einer hohen Auto-
rität) kommt die Entziehung der Mittel, durch welche wir leben,
und diese setzt "die Natur gleichfalls im grössten Maassstabe und
mit der verstocktesten Gleichgültigkeit ins Werk. Ein einziger

*) „Ueber d. Natur". Aus d. Nachlasse.


294 Die Bekämpfung d. Pess. v. Standp. d. religiösen Optim.

Orkan zerstört die Hoffnungen einer Jahreszeit; ein Heus ehr ecken-
schwarm oder eineUeberschwemmung verwüstet einen Landstrich;
der geringe chemische Wechsel in einer essbaren Wurzel bringt
Millionen von Menschen dem Hungertode nahe." „Gleich den
Banditen rauben und eignen sich die Wogen der See den Reich-
thum des Reichen und die ärmliche Habe des Armen mit den-
selben Zuthaten von Ausplünderung, Verwundung und Tödtung
an, wie ihre menschlichen Gegenbilder." „Selbst die Liebe zur
Ordnung, welche man für eine Nachfolge der Wege der Natur
hält, steht thatsächlich im Widerspruch mit derselben. Alles was
man gewöhnlich als Unordnung und ihre Folgen anklagt, ist ein
genaues Gegenstück der Wege der Natur. Anarchie und Schreckens-
herrschaft werden durch einen Orkan und eine Pest an Unge-
rechtigkeit,Ruin und Tod übertroffen."
Mill möchte Natur im weitern und engeren Sinne unter-
scheiden. Im weitern bedeutet sie alle in uns oder ausser uns
bestehenden Kräfte und alles was durch diese Kräfte geschieht.
Im engeren Sinne bezeichnet Natur dasjenige, was ohne das frei-
willige und absichtliche Wirken des Menschen vor sich geht. Im
erster en Sinne haben wir gar keine Macht, etwas wider die Natur
zu thun, als was Natur will; es ist überflüssig, einem anzuempfehlen,
man solle der Natur gemäss leben und handeln. „Jede Thätig-
keit ist die Ausübung irgend einer natürlichen Kraft, und ihre
Wirkungen sind ebenso viele Naturphänomene, hervorgerufen durch
die Kräfte und Eigenschaften irgend eines Naturobjectes, bei pünet-
lichem Gehorsam gegen irgend ein Gesetz der Natur. Wenn ich
meine Organe dazu benütze, um Nahrung zu mir zu nehmen, so
geht dieser Act und seine Folgen gemäss den Naturgesetzen vor
sich; wenn ich aber statt der Nahrung Grift verschlucke, so ist
der Fall genau derselbe."
Bezüglich der zweiten Definition der Natur heisst es von der-
selben: „Alles Lob der Civilisation, der Kunst, der Erfmdsamkeit,
ist ebensoviel Tadel* der Natur, ist ein Zugeständniss, dass dieselbe
Unvollkommenheiten enthalte, an welchen einen bessernden und
mildernden Versuch zu machen, des Menschen Pflicht und Ver-
dienst ist."
Mill vergisst hier, dass die, die Natur im zweiten engeren
Sinne bekämpfenden sog. freien Kräfte des Menschen nach der
Natur definition im weitern Sinne ja auch Naturkräfte sind, dass
also, wenn die Natur unmittelbar mangelhaft ist, sie doch dafür
das Maass und Mittel zu ihrer Correctur auch in sich selber trägt.
Wie man also sagen kann: das Lob der Natur schliesst einen Tadel
der Culturhandlungen und willkürlichen Thätigkeiten der Menschen
in sich, so kann man auch sagen: das Lob der Cultur schliesst ein
Der Pessimismus als irreligiös verurtheilt. 295

Lob der Natur ein, weil die Kräfte, die sich zu Culturformen ob-
jectiviren, auch Kräfte der Natur im weitern Sinne sind.
Aber trotz mangelhaften Bestimmung des Begriffes
dieser
„Natur" kann auch der eifrigste Naturschwärmer die
gewiss
Correctheit des von Mill gegebenen Bildes nicht bestreiten; und
ebenso unbestreitbar richtig ist von einem Standpuncte aus, der
die eudämonologischen Zwecke mit in die Teleologie eingeschaltet
sehen möchte (wie der Optimismus, der seinem Namen entsprechen
will, es muss), die weitere Behauptung Mills: dass die Natur
1

nicht dadurch entschuldigt werden könne, dass all diese bösen


Dinge und Vorgänge die Eigenschaft besässen, gute und weise Zwecke
zu fördern: indem der Zweck niemals das Mittel heilige.
Der Schluss nun, den Mill aus den Thatsachen zu ziehen
sich berechtigt hält, ist dieser: die Natur kann nicht das Werk
eines Gottes im Sinne des Theismus sein; denn wäre ein bewusster
Gott -Schöpfer allmächtig, so wäre er nach der Beschaffen-
heit der Welt zu schliessen nicht allgütig; wäre er aber allgütig,
so muss er, der Beschaffenheit der Natur nach, nicht allmächtig
sein.*) „Die einzige zulässige, sittliche Schöpfungstheorie ist, dass
das gute Princip nicht auf einmal und vollkommen die bösen
Mächte, seien sie physischer oder moralischer Art, überwinden
kann; dass das gute Princip die Menschheit nicht in eine Welt
zu versetzen im Stande war, die frei gewesen wäre von der Not-
wendigkeit eines beständigen Kampfes gegen die bösartigen Mächte,
noch auch ihr stets den Sieg zu verschaffen vermöchte; dass jedoch
das gute Princip wohl die Fähigkeit hatte, und auch in der That
bewies, die Menschheit so auszustatten, dass sie den zu führenden
Streit mit Kraft und mit stets fortschreitendem Erfolg durchfechten
kann." „Wenn wir nicht zu dem Glauben gezwungen sind, die
Thierschöpfung sei das Werk eines Dämons, so ist es deshalb,
weil wir nicht anzunehmen brauchen, sie sei durch ein Wesen mit
unbeschränkter Macht hervorgerufen."
Mill bleibt ganz und gar im Dualismus stecken: naturphilo-
sophisch zwischen Materie und Geist, metaphysisch aber in dop-
pelter Hinsicht. Erstens, indem er die Schöpferkraft in deistischem
Sinne dem an sich seienden Schöpfungs-Eoh-Material gegenüber
stellt; zweitens aber darin, dass er das schöpferische Princip als
der Welt transcendent, als von aussen wirkende Kraft auffasst.
Daher ist keine Versöhnung mit der eudämonolgisch so rück-

*) Schon David Hume formulirte das Dilemma: Will Gott das Uebel
hindern und kann es nicht, so ist er nicht allmächtig; vermöchte er es aber
und will es nicht, so ist er übelwollend; besitzt er aber Allmacht und All-
gütigkeit, woher dann das Uebel?
296 Die Bekämpfung d. Pess. v. Standp. d. religiösen Optim.

sichtslos handelnden Natur für ihn möglich; und ganz im Sinne


des vom Manichäismus inficirten alten Christenthums ist ihm
„natürlich" und „unsittlich" synonym. Er kommt daher zum Schluss:
„dass die Pflicht des Menschen mit Rücksicht auf seine Natur
ganz dieselbe ist, wie mit Rücksicht auf die Natur aller Dinge:
nämlich ihr nicht zu folgen, sondern sie zu verbessern".
Zu einem verwandten Resultat kommt Fechner („Ueber die
Seelenfrage"). Nach einer Betrachtung über die üble Beschaffen-
heit des Lebens fährt er fort: „Nach all' dem ziehe ich eben so
wohl wegen ihrer einfachen Klarheit als ihrer Tröstlichkeit, wie
als natürliche Folge aus unserem Princip die andere Ansicht vor,
dass der allgemeine Grund des Uebels, so weit solches in der Welt
besteht, unabhängig zwar nicht von Gott, aber von seinem Willen
besteht, sein Wille vielmehr nur die Tendenz hat, es immer mehr
zu bessern und zum Mittel des Bessern selbst zu machen, nicht
anders als der rechte Menschenwille, nur in dem anders, was der
Begriff des Höchsten anderes aus ihm macht, das ist, dass er in
dieser Hinsicht eine Alles überragende und schliesslich Alles besie-
gende Macht hat: nicht im Augenblicke, nicht über jedes Uebel
einzeln, vielmehr, unendlich wie er ist, erst in der Unendlichkeit
des Raumes und der Zeit am ganzen Zusammenhange dessen, was
darin ist, sich erfüllt. Unstreitig heisst das etwas von der All-
macht, zwar nicht Gottes, denn Alles was geschieht, geschieht
immer nur durch Gott, in Gott aber etwas von der Allmacht seines
Willens opfern. Aber es heisst nur soviel opfern, dass uns mög-
lich wird, wahrhaftes Vertrauen auf seinen Willen in jeder höch-
sten und letzten Instanz zu behalten. Wer das Uebel, sei es durch
Gottes freien Willen oder freie Zulassung entstanden, bestehen
lässt, damit nichts seinem Willen entzogen sei, der sieht in seinem
Willen eben damit etwas, was das Uebel will oder willig zulässt."
D. Hume meinte durch das Dilemma genöthigt zu sein, an-
zunehmen: dass keine Gottheit, sondern nur die blinde Natur —
als ein ungeistiges, mechanisch wirkendes Princip die Wurzel —
des Seins sei. Wäre dieser Schluss richtig, so wäre die pessimi-
stische Natur- und Lebensbetrachtung wirklich der zur Auf- Weg
hebung der Möglichkeit religiöser Bethätigung und Religion, denn
einem ungeistigen, blind mechanisch wirkenden Seinsgrund gegen-
über kann man nicht religiös empfinden. Aber der Schluss ist
verfehlt; er berücksichtigt nicht die psychologische Genesis des
'

Gottesbegriffes, welche es zwar vollkommen erklärlich macht, wes-


halb die Prädicate der Allmacht und Allgüte so hochwichtig er-
achtet werden, dass schon der Wegfall des einen derselben die
Möglichkeit der Gottesvorstellung zu gefährden scheint; aus welcher
aber auch die Möglichkeit hervorgeht, einen diese Attribute nicht
Der Pessimismus als irreligiös verurtheilt. 297

umschliessenden Begriff des Weltgrundes doch in einem Lichte zu


erblicken, welches religiöse Reactionen auszulösen im Stande ist.
Auf einer niedrigen Stufe geistiger und besonders gemüthlicher
Entwickelung wird das Prädicat der Allmacht weniger zu ent-
behren sein, da die Macht gegenüber der Ohnmacht des Menschen
das erste ist, was die Gottheit zur Gottheit macht. Ein Hiob hielt
sich besonders die Macht und Grösse seines Gottes vor Augen, als
er durch die Thatsachen gezwungen wurde, seine eudämonologi-
schen Ansprüche zu beschränken; und wir haben schon daraufhin-
gewiesen, wie ohne die dominirende Rolle, welche der Machtbegriff'
bei der Formulirung der Gottesvorstellung spielt, Gestalten eines
Moloch u. s. w. unverständlich wären. Das moderne Empfinden
aber giebt eher die Allmacht preis als die Weisheit und Güte.
Mills Naturpessimismus degradirt Gott zum Demiurgos, der
den rohen Naturstoff, als in seiner An ti- Geistigkeit schwer zu mo-
delnde und dienstbar zu machende Macht, als seine Schranke vor-
findet.
Das Princip der logischen und sittlichen Weltordnung in die-
sem Sinne aufgefasst ist allerdings nicht mehr der christliche Gott,
aber es kann Object der religiösen Bethätigung sein und sittlich
fruchtbar gemacht werden, ungeachtet der grossen Gefahr, auch
für die Sittlichkeit, die darin liegt, dass die „Natur" durch den
Dualismus der Principien in einen Gegensatz zur Vernunft ge-
rückt wird.
Philosophisch bedeutend höher und dem christlichen Dogma
näher, als die Ansicht des englischen Logikers, steht diejenige des
deutschen Physiologen. Er hält die Fahne des Monismus hoch,
und flüchtet sich in den Ideenkreis eines J. J. Böhme
und Send-
ling: in Gott das Prädicat des allgütigen, eigentlich göttlichen
Willens unterscheidend von der blossen, noch nicht göttlichen Macht.
Ist bei Mill etwas ungöttliches neben Gott gesetzt, so hier etwas
ungöttliches in Gott; ist dort ein starrer, naturphilosophisch un-
fruchtbarer, äusserlicher Dualismus, so ist letzterer hier gemildert
zu einem innern Dualismus der Prädicate und Actionsmodi. So
correcturbedürftig, philosophisch betrachtet, diese anthropomorphi-
sirende, psychologische Zerklüftung des Absoluten noch ist, so lässt
sich ihr gewiss nicht schlechtweg die religiöse Brauchbarkeit ab-
streiten, und ebensowenig die Befähigung, als transcendentales Fun-
dament der Forderung der Sittlichkeit zu dienen.
Als ein Curiosum unter den zahlreichen Productionen, die der
Streit zwischen Optimismus und Pessimismus seit dem Erscheinen
der Phil, des Unb. erzeugt hat, ist Eduard Jankowski's „Pan-
prosopismus" zu bezeichnen; eine Schrift, welche das religions-
psychologische Interesse hat, dass sich darin ein Vorgang zur
298 Die Bekämpfung d. Pess. v. Standp. d. religiösen Optim.

Darstellung bringt, der sich ähnlich, aus ähnlichen Gründen, wie-


derholt und verschiedenen Ortes in der religiös-activen Völkerpsyche
vollzogen hat.
Jankowski sagt: „Wenn dem Absoluten nicht die Wesen-
heiten der Heiligkeit, Güte und Liebe beigelegt werden können,
so kann es auch kein Gott genannt werden; eine allmächtige Per-
sönlichkeit ist nach unseren modernen Begriffen noch kein Gott;
ohne Liebe ist Gott für uns nicht denkbar". Nun ist Jankowski
aber durchaus empirischer Pessimist: „Wenn wir all' unsere Er-
fahrungstatsachen dir e et auf das Absolute beziehen wollten, dann
wäre das Absolute ein absoluter Satan." (p. 38.) Diesen dem-
Menschen unerträglichen Pessimismus oder Satanismus entgeht man
nur, wenn man die, durch den freien, bösen Willen der Menschen
nicht hinlänglich zu erklärenden Uebel und Leiden durch die Frei-
heit „böser Weltintelligenzen" entstanden annimmt: „wenn wir
Gott nicht für Satan halten wollen, so bleibt nichts übrig, als
wieder an Satan neben Gott zu glauben." (p. 150.) Diese böse Macht
ist für uns in erster Linie der „Erdgeist", „und sollte es sich er-
weisen lassen, dass auch auf allen Gestirnen unserer Welt dieselben
Gesetze herrschen wie bei uns, so wäre anzunehmen, dass unsere
ganze Welt unter der Herrschaft einer endlichen rein - geistigen
Weltintelligenz bösen Willens stehe, welcher die gesammte sicht-
bare Welt als Prüfungsstation angewiesen wäre, so dass wir dann
von einem bösen Weltgeiste sprechen würden, der freilich auch
der Fürst dieser Welt wäre."
Ueber diesen Sachverhalt tröstet Jankowski sich nun da-
durch, dass ja alles Gute von Gott komme, während der freie
Wille des Erdgeistes (eventuell Weltgeistes) die Veranlassung zu
den schlechten Prädispositionen aller Art sei; „So leben wir also
in einer Welt Satans, und hoffen auf eine jenseitige Welt Gottes.
Durch diese Auffassung wird der wirkliche Pessimismus [soll heissen:
pessimistische Beschaffenheit] des irdischen Daseins auf eine Weise
erklärt, dass wir den Glauben an eine sittliche Weltordnung nicht
aufzugeben brauchen."*)

Lieb mann („Zur Analyse der Wirklichkeit") weist auf Lichten-


*)
berg hin bezüglich eines ähnlichen Gedankens. „Sei die Gottheit imma-
nent oder transcendent, wird nicht ihr erhabenes Idealbild besudelt vom
Blute unschuldig gemordeter Hekatomben? Kampf, Krieg bis aufs Messer
zwischen den höchst civilisirten Nationen; ewiger Vernichtungskrieg zwi-
schen Mensch und Thier und Pflanze; Tod und Verstümmelung zahlloser
Lebewesen durch furchtbare Naturkatastrophen, wie Schiffbruch, Wasser-
noth, Eisenbahn-Unglücksfälle, vulkanische Ausbrüche etc., während jedes
lebendige Individuum zum Leben und Dasein organisirt, berechtigt, ja mit
innerer Nothwendigkeit darauf angewiesen, mit allen Fangkrallen seines
Herzens sich an das Leben anzuklammern! Weshalb sind Pompeji und
Die religiöse Apathie der untersten Bevölkerungsschichten etc. 299

Wir haben wohl nicht nöthig, noch besonders darauf auf-


merksam zu machen, wie mit diesem Einschieben einer freien,
bösen Macht die Schwierigkeit nur zurückgeschoben wird, und sich
nunmehr nur die Frage erhebt: warum erlaubt Gott dem Erdgeiste
(Satanas) solche verderbliche Freiheiten? Und wenn er sie erlauben
muss, wenn seine Macht nicht hinreicht sie zu hindern, so ist eine
solche, von einer bösen Gegenmacht beschränkte Gottheit nur
wieder ein schwacher Rückhalt für eine dem Erdgeist zum Trotz
postulirte sittliche Weltordnung.. Auf den Begriff der „Zu-
lassung" kommen wir später zurück; hier galt es nur vorläufig
an modernen Beispielen zu zeigen, wie zwar allerdings pessimi-
stische Erkenntniss am christlichen Gottesbegriff mit Zweifeln
rüttelt, religiöse Energie aber —
wo solche mehr oder minder
kräftig vorhanden ist —sich dadurch nicht hindern lässt, son-
dern nur nach andern Formen ringt.

2, Die religiöse Apathie der untersten Bevölkerungs-


schichten angeblich die Folge des Pessimismus.

Es ist eine Thatsache, die von niemandem wird bestritten wer-


den können, dass gegenwärtig immer breitere Schichten der Ge-
sellschaft dem kirchlichen Leben entfremdet werden; ganz besonders
ist es der vierte Stand, die Fabrikarbeiter, das Proletariat der
Grossstädte und der Industriebezirke, bei denen der Mangel reli-
giöser Gesinnung ganz auffallend hervortritt.

Herculanum verschüttet worden, weshalb Lissabon zerstört worden? Kommt


man mir etwa mit Sodom und Gomorrha?" „Wo bleibt die Moral?! müsste
nicht jeder ehrliche Theist, von tödtlicher Beängstigung über diesen furcht-'
baren Widerspruch durch alle Regionen des Gedankens .vergeblich umher-
gehetzt, am letzten Ende auf jene bizarre Idee Lichtenberg^ verfallen,
dass nicht der höchste Gott, sondern ein subalterner, ungeschickter diese
Welt auf dem Gewissen habe?! Und dann —
(Euch Pantheisten sei's gesagt!)
die Allmutter, Isis, die immanente Gottheit — eine Rabenmutter! ^t^q
övo/urjTrjQl Sie wirft nicht nur Millionen ihrer Kinder, wie die Sperlings-
mutter, aus dem Neste heraus, sie zermalmt und verschlingt sie! Weshalb
müssen an der Lampe vor mir auf diesem Gartentische Hunderte von Mücken
sich den Tod holen? Erinnert euch an Werther und versucht sein Räthsel
zu lösen, ehe ihr den immanenten &soq auf den Schild erhebt! Oder unter-
scheidet sich euer heidnischer d-sog so gar vom christlichen Satanas? Hier
hier steckt die wahre, die schwere, die bittere Antinomie. Gottheit, Welt-
seele, natura naturans sie muss, wenn überhaupt, dann infallibel gedacht
werden, ja als das einzig Infallible. Und —
sie ist es nicht; für unsern
Verstand, für unser Herz ist sie es nicht!"
300 Die Bekämpfung d. Pess. v. Standp. d. religiösen Optim.

Die Meinungen über die Ursache dieser Erscheinung gehen


auseinander. Diejenigen religiösen Optimisten, welche Wurzel und
Wesen des Pessimismus hauptsächlich darin suchen, dass die ma
teriellen Güter und die sinnlichen Genüsse und Freuden ungebühr
lieh überschätzt würden und der Ausfall daran zu falscher Anklag
der Weltordnung führe, diese sehen in der Ueberhandnahme pessi
mistischer Anschauungen innerhalb jener Stände die Veranlassung
dazu, und mithin in der Thatsache selbst einen Beweis für die
Berechtigung ihrer Behauptung: der Pessimismus erzeuge Irreli-
giosität. Bevor wir hierauf eingehen, haben wir im Vorbeigang
einer andern, zu dieser sehr oppositionellen Meinung Rechnung zu
tragen: nämlich derjenigen gewisser Optimisten der Aufklä-
rung und des Fortschrittes, nach welcher die Entfremdung von
der Kirche ein intellectueller Fortschritt sein soll, der, wenn
er auch jetzt noch nicht abzuleugnende ungünstige Erscheinungen
mit im Gefolge habe, doch um seiner künftigen Entwickelung
willen, als ein für die Menschheit günstiges Moment zu betrachten
sei. Wir machen uns dabei nur scheinbar einer Abschweifung von
unserem Thema schuldig; in Wirklichkeit ergeben sich aus unserer
ablehnenden Stellung zu dieser Behauptung unmittelbar auch die
Einwendungen, welche wir gegen die Auffassung des reli-
giösen Optimismus zu machen haben.
Gegenüber der Meinung des Auf klärungs - Optimismus muss
man vor allem fest im Auge behalten, dass mit Ausnahme der
wissenschaftlich und philosophisch gebildeten Spitzen der Bevölke-
rung es vorzugsweise die ungebildetsten, rohesten Schichten des
Volkes sind, welche sich am auffallendsten kirchenfeindlich und
irreligös zeigen; während es in den mittlem Regionen mehr ein
unsicheres Tappen nach neuen Formen für das alte Sehnen
ist, welches sich als religiöse Gährung bemerklich macht.

Aus dem Mangel an einem vermittelnden Uebergang glauben


"wir aber mit Recht auf eine ganz verschiedene Ursache für diese
äusserlich etwelche Aehnlichkeit zeigenden Verhältnisse schliessen
zu dürfen, und glauben wir nicht zu irren, wenn wir in der Er-
schlaffung des religiösen Triebes bei unserem modernen Proletariat
die Erscheinung eines Rückbildungsprocesses im Gemüth-
und Geistesleben dieser untersten Klassen erblicken; ein Rück-
bildungsprocess in Folge des übermässig erschwerten Kampfes
um die baare materielle Existenz, unter dem dieselben leiden,
Nicht die Reflexion auf die Widersprüche der Dogmen unter
sich oder gar auf die immanenten Widersprüche mancher dogma-
tischen Begriffsformulirungen ist es, welche das Proletariat unserer
Industriecentren zur religiösen Indifferenz, die geistig lebhaftem
zum trotzig bekannten Atheismus führt. Wären es logische Be-
Die religiöse Apathie der untersten Bevölkerungsschichten etc. 301

denken oder ein gemüthliches und sittliches Emporgewachsensein


über die dem Alterthum und dem Mittelalter adäquaten Religions-
formen, welche dieselben dem religiösen Leben entfremdeten, so
ginge nicht die sittliche Verwahrlosung auf so traurige und
eclatante Weise mit der religiösen Indifferenz Hand Hand, m
während die Erfahrung lehrt, dass in den höhern Schichten der
Grad der sittlichen Energie, so weit dieselbe sich in der Lebens-
führung darstellt, unabhängig ist von der Stellung zur Kirche.
Im fernem aber müsste sich dann das Auditorium der Reform-
Pfarrer erheblich aus dem 4. Stande recrutiren; dies ist aber durch-
aus nicht der Fall.
Die gläubige Gemeinde der freisinnigen Reform - Geistlichen
bilden die halb und ganz gebildeten Männer, deren Denkfähigkeit,
mit oder ohne Beeinflussung durch die Kenntniss der kritischen
Leistungen auf dem bezüglichen Felde, sie dahin geführt hat, die
Hinfälligkeit der orthodoxen Dogmen zu durchschauen, die aber zu
wenig speculative Begabung haben oder deren geistige Energie
anderweitig —
durch Fachstudium oder Berufsthätigkeit zu —
stark in Anspruch genommen ist, um die Halbheiten als solche
zu erkennen, in welche die Reform-Kirche nach Ausmerzung der
schroffsten, dem modernen Empfinden anstössigen Dogmen verfallen
ist,und welche Halbheiten sie doch sorgfältig conserviren muss,
wenn sie als Kirche nicht vollständig in die Brüche gehen will.
Es sind die gebildeten, geistig regen und gemüthvollen Frauen,
deren sittliche Instincte der Liebe und des Mitleids vor dem fin-
stern Dogmen der Prädestination u. s. w. zurückschrecken, Frauen,
deren lebhafter Geist durch den philosophischen Duft, den die
geistvolleren der Reform-Prediger über ihre Vortiäge zu breiten
wissen, angenehm erregt wird, und deren Trieb nach Fortschritt
und geistiger Entwickelung Befriedigung findet durch das Bewusst-
sein, Widersprüche des „alten" Glaubens überwunden zu haben,
deren Scharfsinn aber bei den mit poetischen Phrasen überklei-
sterten Schwächen und Breschen des modernen Glaubens nicht
Stich Frauen und Männer endlich, deren eudämonistisch
hält.
exceptionelle Stellung*) sie besonders geneigt und geeignet für die

*) Der Ausdruck „eudämonistisch exceptionelle Stellung" aus der Feder


eines Pessimisten befremdet vielleicht und erfordert eine Erläuterung. Es
giebt in unserer Zeit und in unseren Culturverhältnissen, innerhalb unserer
gesellschaftlichen Ordnung Reservationen, in denen relativ zahlreiche
Existenzen möglich sind, an welche das Leid des Lebens nur in seinen
mildesten Formen herantritt, und zwar nicht nur seiner äusseren Form
nach, sondern hauptsächlich auch nach den innern Quellen desselben; so
dass sogar die absolut unvermeidlichen Leidensformen, welche die un-
besiegbare Natur einem Jeden aufdrängt: Krankheit und Tod seiner Ange-
302 -Die Bekämpfimg d. Pess. v. Standp. d. religiösen Optim.

Reformkirche macht, welche die Welt im rosigen Schleier des


logischen und den blauen Wölkchen des ästhetisirend-naturalisti
sehen Optimismus zeigt.
Der Proletarier aber will nichts von dieser Kirche wissen
nicht weil er die Halbheit ihrer Lehren durchschaut, nicht weil er
zu „aufgeklärt" ist für irgend eine Form des Christenthums,
nein! So weit das Christenthum innerhalb des vierten Standes et
was von dem verlorenem Terrain wieder zurückerobert, da ist es
die allereinfachste Evangelienauslegung, die realistische Darstellung
undenkbarer Geschehnisse, wie sie in den „ Stündlein " von zum
Theil gänzlich ungebildeten Predigern vorgetragen wird, welche
abermals die Mühseligen und Beladenen an sich zieht. Dass die
handgreiflichsten Widersprüche, die gröbsten Verstösse gegen den
gesunden Menschenverstand heute noch in so zahlreichen Secten-
Versammlungen gelehrt und geglaubt werden, und dass diese
Versammlungen, in denen oft genug Flickschuster und Weber und
dergleichen einfache Leute Sprecher sind, hauptsächlich das reli-
giöse Element des Proletariats umfassen, das zeigt deutlich, dass
die Religionslosigkeit der untersten Classen nicht ein Uebergangs-
stadium des Fortschrittes ist, sondern ein Product geistiger
Rückbildung, unter dem Drucke der äussern Verhältnisse, unter
denen dieselben stehen.*) Ein solcher Rückbildungsprocess wird
durchaus begreiflich, wenn man bedenkt, dass manchen Orts so-
wohl der Fabrikarbeiter als der ländliche Tagelöhner, inmitten der

hörigen, eigene Krankheit, Unlust unerwiderter Liebe u. s. w., u. s. w., durch


allerlei den Geist zerstreuenden Beiwerks und durch Abdämpfung und Nieder-
haltung des Empfindungslebens einen Theil ihrer Bitterkeit verlieren. Diese
wohl temperirten Menschen, denen es in ihrem ruhigen Innern so behaglich
ist, wie in ihren wohlgeordneten socialen Verhältnissen, die kaum eine
Verlockung zur Sünde, viel weniger zum Verbrechen haben, weil ihre Nei-
gungen durchaus in Harmonie stehen mit dem ihnen Sichern, und deren
Geist doch nicht die nöthige Expansionskraft besitzt, um sich die Gründe
klar zu machen, warum ihre glückliche Ausnahmsstellung eben nur als
Ausnahmsstellung eine relativ so glückliche sein kann, wie ganz und
gar sie auch als innere Menschen das Product ihrer Verhältnisse sind, und
wie sich mit jeder Verrückung ihres Ausnahmsstandpunctes auch ein ganz
anderes Weltbild präsentiren muss —
diese Leute sind hauptsächlich die
Anhänger der Reformkirche.
*) Mit dieser unserer Auffassung stimmt es dann auch überein, was vom
Standpunct der Fortschritts-Optimisten ein Paradoxon ist: dass es nämlich
für Leute dieser Classe ein Gewinn in jeder Beziehung ist, wenn sie
überzeugungsvolle Glieder einer Sectirer-Gemeinde („Stündler" sagt man in
der Schweiz) werden. Die Männer werden dem Wirthshaus entzogen, die
Frauen werden reinlicher im Hauswesen und in der Kleidung; die Famüien-
bande sittlich befestigter; das Zusammenhalten der Gemeindeglieder er-
möglicht Abhülfe mancher Verlegenheit, und unabwendbare Noth wird
würdiger getragen.
":

Die religiöse Apathie der untersten Bevölkerungsschichten etc 303

Cultur und durch die Cultur und zu Gunsten der Cultur, in einen
Zustand gerathen ist, der insofern zunxStand des Wilden auf dessen
untersten Stufe eine Parallele bildet, als sich der Inhalt seines
ganzen Lebens und Strebens, mit Aufgebot seiner sämmtlichen
Kräfte im Gewinnen der nothwendigsten Nahrung und dem noth-
dürftigsten Schutze vor den Extremen der Witterung erschöpft.
Es ist aber auch nicht der Pessimismus die Ursache für die
Irreligiosität im Proletariat.
Der mehr oder minderem Bewusst-
Proletarier, so weit er mit
sein Socialdemocrat ist und auf die Kirche und die Religion
schimpft, ist bloss „Entrüstungspessimist". Wir haben bereits
früher auseinander gesetzt, wie der „ Entrüstungspessimismus
einen eudämonologischen Optimismus voraussetzt, Und können uns
daher hier ohne allgemeine Erörterungen an den speciellen Fall
halten.
In seiner gedrückten Lage, in seinem aufreibenden Kampfe
gegen die auf ihn eindringende Noth kann der Proletarier gar
nicht zu einem hinlänglich weiten Ueberblick über das Leben ge-
langen, um zu einem objectiv-ruhigen Urtheil über den eudämono-
logischen Werth der verschiedenen Lebensstellungen und Lebens-
factoren befähigt zusein. Der Unterschied zwischen der Gefährdetheit
seines eigenen Lebens, dessen nothwendigsten Bedingungen er nur
durch den aufreibendsten Arbeitskampf —
der nur zu oft wieder
das Leben direct bedroht —
sich gewinnen kann, und dem wirk-
lichen oder scheinbaren kampflosen Besitze aller Naturbedingungen
von Seite der höhern Stände ist so gross, dass es ihm wahrlich
nicht verübelt werden kann, wenn er den Unterschied des eudä-
monologischen Werthes als einen positiven statt nur relativen an-
sieht; denn der Grad des relativen Unterschiedes ist ja unleugbar
so gross, dass er die Lebensgestaltung bis in die tiefsten Gründe
geistiger Entwicklung hinein beeinflusst.
Die Bekenner des modernen philosophischen Pessimismus stam-
men nicht deswegen der überwiegenden Mehrzahl nach aus den be-
güristigteren oder begünstigsten Classen der Gesellschaft, weil die
Blasirtheit in Folge Uebergenusses Vorschub des Pessimismus ist,

sondern weil man erst auf einer gewissen Höhe über der rein
natürlichen vegetativ-animalischen Sicherstellung des Lebens sich
befinden muss, um dieses letztere abwägen und abschätzen zu
können.*)

*) Ralph Waldo Emerson, der unlängst verstorbene amerikanische


philosophische Essayist, sagt irgendwo in seiner geistreich zerfaserten Weise
der Hauptwerth von Reitpferden, Billardspiel und dergl. Sport bestehe darin,
dass die jungen Leute einsehen lernten, dass dieselben das Glück nicht
ausmachten.
304 Die Bekämpfung d. Pess. v. Standp. d religiösen Optim.

Der Proletarier fühlt unmittelbar und stündlich, dass sein


Leben elend ist, elend au» Mangel; er meint, dass wenn der
Mangel, der bei ihm der dominirende und dem ganzen Leben
Farbe and Ton verleihende Zustand ist, gehoben wäre, so müsste
das Leben das Gregentheil von elend, also glücklich sein. Hört
er nun optimistische Phrasen von der für das allseitige Glück der
Menschen wohl eingerichteten Welt, so empört sich sein Gefühl
als grundlos Ausgeschlossener, als Aschenputtel der Weltordnung
und er grollt seinen Mitmenschen und dem Gott der Optimisten,
den er nicht begreifen kann.
Die Rückkehr zur Religiosität —
resp. die Erhebung auf
einen, religiöse Empfindungen ermöglichenden Stand und —
damit zur Ueberwindung des vulgären Entrüstungspessimismus
mit seinem sittlich degenerirenden Einfluss findet das Stiefkind
Fortunas nicht durch die Theorien des optimistischen Rationalismus,
sondern durch die echt pessimistische Kehrseite der gefühlsmässigen
religiösen Voraussetzungen. Der Weg der „Bekehrungen" ist
immer der, dass der Blick sich erweitert und neben dem eigenen
Leid das allgemeine erkennt, dass das äussere Elend zurücktritt
durch die Erkenntniss des innern Elends, dass das „Leid" zum
„Uebel" wird, welches ganz einfach, ohne weitere Speculation, als
Schuld, als Sünde erscheint. Ferne davon also, dass es der Pessi-
mismus ist, der den Verlust des religiösen Empfindens und Strebens
verschuldet, ist es im Gegentheil die Vertiefung des pessi-
mistischen Bewusstseins, der Fortgang von dem unreifen
Entrüstungspessimismus, dem noch die Eierschale seiner materia-
listisch-hedonistisch-optimistischen Abstammung anklebt, zu einer
Form, die eine entschieden höhere ist, weil sie —
obgleich
noch immer ein einseitiges und oberflächenhaftes Weltbild zeigend
— doch bereits nach den innern Wurzeln des Elendes sucht, statt
diese unmittelbar in Aeusserlichkeiten zu sehen.
Den Entrüstungspessimismus trifft der Vorwurf: dass der Pessi-
mismus das Product der Ueberschätzung der materiellen Güter
sei; den Entrüstungspessimismus kann der Vorwurf treffen, dass
der Pessimismus zur Untergrabung der Religiosität führen könne
— „führen könne" sagen wir, nicht einfach: dazu führe, weil der
Entrüstungspessimismus selbst wieder ein Genus ist, welches ver-
schiedene Specien aufweist, und weil die hier in Betracht gekommene
Species des social-democratischen Entrüstungspessimismus selbst Vor-
aussetzungen hat, welche schon als solche, auch ohne Durchgang
durch den letztern, zur Erschlaffung der religiösen Empfänglich-
keit geneigt machen. Den modernen philosophischen Pessimismus
treffen diese Beschuldigungen in keinem Fall, weil es ihm ge-
rade wesentlich ist, sowohl mit dem Entrüstungspessimismus (Genus
I Pessimistische Zugeständnisse des religiösen Optimismus. 305

und Species), als mit seinen optimistischen Voraussetzungen gründ-


lich aufzuräumen.

3. Pessimistische Zugeständnisse des religiösen


Optimismus.

Als E. von Hartmanns „Philosophie des Unbewussten" zu-


erst das scharf und deutlich formulirte Glaub ensbekenntniss eines
philosophisch abgerundeten Pessimismus in die Welt hinaustrug
und die Gemüther in lebhafte Bewegung versetzte, da wurde auch
von Seite specifisch religiöser Optimisten der Versuch gemacht, das
negative Urtheil über den eudämonologischen Werth der Factoren
des natürlichen Lebens zu bestreiten, meist durch den Hinweis
auf die materialistische Ueberschätzung der bloss sinnlichen Seite,
des Lebens und Unterschätzung der sittlichen Bedeutung der be-
treffenden Lebensformen; im ganzen aber wurde besonders von den
Theologen der empirische Pessimismus willig zugegeben, und
in den letzten Jahren mehren sich die Stimmen, welche mit Aner-
kennung des Sachverhaltes: wonach die Weltverachtung Vorbe-
dingung höheren religiösen Empfindens ist, der Hartmann sehen
Kritik des Lebens ihren Beifall zollen.
„Es ist ein in seiner Art grossa,rtiges Capitel", sagt Dr. —
A. Ebrard („E. v. H.'s Phil. d. Unb." 1876) —
„wo er (Hart-
mann) wie ein zweiter Eoheleth in der Gesundheit, der Jugend,
der Freiheit, dem guten Auskommen, der Geschlechtsliebe, dem
Mitleid, der. Freundschaft, dem Familienglück, der Eitelkeit, dem
Ehrgeiz, dem Ruhm und der Herrschaft, dem Laster, der Wissen-
schaft und Kunst, dem Schlaf und Traume, dem Erwerb und be-
quemen Leben, der (irdischen) Hoffnung ein schmerzloses Glück
sucht, und nicht nur ein solches nirgends, sondern überall ein
Ueberwiegen der Unlust über die Lust findet. freilich, wenn
man relativen Gütern sein letztes Ziel und die Be-
in irdischen,
friedigung des absoluten Seligkeitsdurstes sucht, dann findet man
unausbleiblich statt dem Honig Galle." Bischof Martensen
(Christliche Ethik. 1878) sagt: „Der Pessimismus ist die höhere
Anschauung, als er jedenfalls die vom Optimismus verschleierten
Widersprüche zwischen Ideal und Wirklichkeit entschleiert." „Op-
timismus und Pessimismus sind Geschwister und verhalten sich
zu einander wie Unmittelbarkeit und Reflexion." „Es ist lehr-
reicher in ethischer Hinsicht, die unglücklichen Zeiten der Ge-
schichte zu studiren, als die glücklichen, weil die unglücklichen
Zeiten uns über das Finale des natürlichen Menschenlebens be-
Plümacher, Pessimismus. 20
306 Die Bekämpfung d. Pess. v. Standp. d. religiösen Optim.

lehren, uns veranschaulichen, was die Moral der optimistischen


Geschichte sei. Auch
hier gilt das Wort: Respice finem. Daher
ist die Betrachtung des Heidenthums um die Zeit der Geburt
Christi so lehrreich; denn sie zeigt uns das Resultat, zu welchem
endlich die heidnische Völkerwelt durch den langen Verlauf der
Geschichte gelangte: nämlich zu völliger Resultatlosigkeit, reinem
Nihilismus, in welchem das Ganze aufgeht. Der Jammer der
Zeiten ist es, der den Weg
bahnt zur Erkenntniss der Schuld."
Sehr deutlich spricht es auch Ch. E. Luthardt („d. modernen
Weltanschauungen." 1880) aas: „Wenn man nichts kennt als dies
sinnliche Dasein, so ist es ein elendes Dasein." „Es ist das un-
willkürliche Zeugniss für den Adel der Menschenseele, dass auch
die Fülle des irdischen Genusses sie nicht zu sättigen vermag,
sondern das Gefühl der Oede nur steigert." Auch die Hingebung
an die rein-menschlichen Ideen und Ideale retten den Optimismus
nicht: „Man hat in den Idealen der eigenen Vernunft geschwelgt,
und das Ende ist, dass man an allen Idealen irre geworden ist,
weil man das eigentliche Ideal verloren hat."*)
Ebenso sagt Rudolf Pfleider er (in„ der Beweis des Glaubens";
Heft v. Februar u. März, Juni, Juli u. August, 1881): „Es ist der
Pessimismus selbst, welcher die dem Christenthum zugekehrte Seite
der Hartmann'schen Philosophie bildet; das Wahrheitselement
desselben, welches schon das alte Testament durchgefühlt (Prediger),
das Neue in geläuterter Gestalt in sich trägt." „Und so gewiss
es mehr ist, den Widerspruch zwischen Ideal und Wirklichkeit
zu entschleiern, den Stachel des Lebens, den Ernst des Daseins
stark fühlen und hervorheben, als dies alles behaglich ignoriren,
verschleiern, negiren: um so viel ist der Pessimismus die höhere
Weltanschauung gegenüber dem (einseitigen) Optimismus. Daher
und in dieser Hinsicht wohnt diesem ein behäbiger Realismus,
jenem ein, zunächst negativ-idealer Zug inne, welcher sich im
schneidigen Gericht über practischen Materialismus, ordinäre Nütz-
lichkeits-Moral u. s. w., gegen Epikuräismus und Optimismus, kurz
in der grellen Hervorhebung des Widerspruches zwischen Ideal
und Wirklichkeit, in der scharfen Beobachtung und kritischen Be-
leuchtung des Lebens und der Zeitschäden manifestirt."
Diese Zugeständnisse werden aber gleich hinterher wieder
eingeschränkt durch die Behauptung: dass durch das religiöse Leben,
durch den Glauben auf die Einigung mit Gott dieser berechtigte

*) Sehr beachtenswerth was Luthardt über den modernen seichten


ist
Optimist. Rationalismus in Religionund Pädagogik sagt; ebenso über die
Nachtheile der sogenannten modernen Freiheiten; z.B. über die auf'Wirth-
schaften ausgedehnte Gewerbefreiheit; endlich über den Aberglauben des
Socialismus, resp. das socialistische Glückseligkeits-Ideal.
Pessimistische Zugeständnisse des religiösen Optimismus. 307

empirische Pessimismus in den Hintergrund gedrängt werde, indem


sich für den im Glauben Stehenden die Lust aus dieser Quelle als
alle Unlust und Noth überwiegend erweise.
„Der versöhnte Christ ist vom Pessimismus weit entfernt, er
weiss nur, dass er ohne die Versöhnung allerdings ein Pessimist
sein müsste", sagt in diesem Sinne Weygoldt („Kritik d. phil.
Pessimismus der neuesten Zeit." 1875), und ebenso Max Frommel
(„Zeichen der Zeit"): „Es gibt eine Geschichte der Sünde, das ist
des Christen Pessimismus, und es gibt eine Geschichte der Gnade,
das ist des Christen Optimismus; aber die eine Wagschale ist
voller als die andere, die Gnade ist doch viel mächtiger: so gehen
die Christen durch die Zeit als die Traurigen und doch alle Zeit
Fröhlichen, als die Pessimisten und doch allezeit Optimisten."
Nun leugnet der Pessimismus nicht, dass die religiöse Er-
hebung ein erhebliches Gewicht in die optimistische Wagschale
zu werfen vermöge;*) indessen sie macht nur vermittelst der auf
Resignation fussenden Versöhnung mit dem Leid das nun einmal
zu lebende Leben erträglicher, besser, aber sie hebt den Pessimis-
mus —
d. h. das das Sein verurtheilende Denken, nicht auf.
Sogar ein Paulus, dessen starkes, inniges religiöses Seelenleben
niemand bestreiten wird, wurde des Lebens müde und wünschte
abzuscheiden und bei dem Herrn zu sein. Idealiter wird die
Unlust des Lebens allerdings uberwunden durch das Bewusstsein,
dass sie und ihre realen Correlate kein Hinderniss sind für die
Vereinigung des religiös activen Individuums mit Gott, und dass
sie kein Hinderniss sind im Weltplan Gottes. Es wird das Ge-
fühl des Preisgegebenseins, welches bei einer bloss naturalistischen
Weltanschauung so erdrückend wirkt, aufgehoben, indem das reli-
giöse Bewusstsein die eudämonologisch rücksichtslose Naturteleo-
logie als Teleologie Gottes zu höherem Zwecke betrachten lernt.
Es wird auch der Druck der Unfreiheit überwunden, sobald das
religiöse Gefühl sich derart in Gott zu versenken vermag, dass es
nicht nur sagen kann, „nicht mein Wille, dein Wille, Herr, ge-
schehe" —
denn dies ist nur Resignation, die noch sehr schmerz-
lich sein kann —
sondern indem es in Gottes Wille seinen Willen
zu erkennen vermag.
Indem aber das religiöse Leben die Unlust der Welt idealiter
überwindet, bleibt dieselbe realiter doch bestehen, ja sie muss
bestehen bleiben nach der theistischen Weltansicht, wenn anders
die Welt nicht aufhören soll, ihre Aufgabe als Prüfungsstätte der
endlichen Geister zu erfüllen. Das Leid, die Unlust, als das Be-
wusstwerden dessen was dem Ideal und den allseitigen Forderungen

*) Phil. d. Unb. C. Cap. XIII, 6.

20*
308 Die Bekämpfung d. Pess. v. Standp. d. religiösen Optirn.

nicht entspricht, nmss überhaupt bestehen bleiben, wenn das reli-


giöse Leben selbst sein soll: denn dieses ist nicht ein ruhender
Zustand, sondern ein beständiges Ringen und sich Erheben gegen
und über etwas, was negirt wird, und es erlahmt und wird zur
blossen Maske seiner selbst, wenn diese seine Vorbedingung hinweg-
fällt. Mögen die religiösen Optimisten zugeben, dass auch das mit
dem Streben nach sittlichen Zielen und durch die Religion und
ihre Hoffnungen erfüllte Leben nicht das Sehnen des Menschen-
herzens stillt, oder mögen sie den Pessimismus nur für dasjenige
Leben, dem jene höchsten Güter mangeln, zugestehen, jedenfalls
müssen sie das Uebel als Sünde voll und ganz zugeben: denn in
demselben Grade als sie den Pessimismus der Sünde verblassen
lassen wollten, verlöre auch der zu behauptende religiöse Optimis-
mus seinen Glanz. „Ich bin Optimist, weil ich Pessimist bin ." .

„nur durch den Pessimismus gelangen wir zum Optimismus", sagt


F. Mi che Iis (Verhandlungen d. phil. Gesell, in Berlin, 1878);
und der überschwänglichste Erlösungsjubel und Gnaden-Optimismus
ist dies nur in seinem Gegensatz zum Pessimismus, zur Trauer
.

und Entrüstung über die Sündhaftigkeit und die Uebel.


Und doch wird aus der nicht zu leugnenden Thatsache in den
Händen der Pessimisten eine so gefährliche Waffe gegen den
Gottesbegriff des Theismus! Daher sieht sich der religiöse Optimis-
mus in den Widerspruch verwickelt etwas, was er seinem Wesen
als religiöse Lebensäusserung entsprechend in concreto als das
Nicht-sein-sollende bekämpfen muss, in abstracto als das Sein-
können-müssende zu vertheidigen. Wenn die religiösen Op-
timisten auch am Ende den Satz zugestehen können: es überwiegt
in der Welt die Unlust die Lust (eine allgemeine Formel, inner-
halb welcher jede specielle Formulirung des pessimistischen Be-
wusstseins Raum findet), den Folgesatz, „es wäre das Nicht-sein
der Welt ihrem Sein vorzuziehen", können sie nicht zugeben, ohne
ihren Gottesbegriff preiszugeben; in Abwehr gegen diese absolut-
negative Behauptung des modernen philosophischen Pessimismus
laufen nun alle bedeutenden Kritiken des modernen Pessimismus,
resp. der Philosophie E. von Hartmanns auf eine Rechtfertigung
der Uebel, oder eine Rechtfertigung Gottes wegen der Zu*
lassung derselben hinaus.

4. Die Rechtfertigung des Uebels.


In seiner sehr lesenswerthen Schrift „das Leiden, beurtheilt
vom christlichen Standpunkt" (1881) meint Past. Harnisch:
Endziel der Weltschöpfung sei die religiös-sittliche Vereinigung
Die Rechtfertigung des Uebels. 309

persönlicher Geister mit Gott; eine solche Vereinigung aber müsse


ihrem Wesen nach eine freie sein, denn wäre sie necessitirt, so
wäre sie zwar noch eine religiöse, aber nicht mehr eine sittliche.
Ein solches sittliches Werden aber sei nur denkbar durch den
Kampf mit Hindernissen, also durch Leiden und Freiheit zum
Bösen. Nur diese freie Selbstbestimmung zu Gott sei höchste
Seligkeit, nicht das blosse Heranwachsen vermöge einer Natur-
bestimmung; dieses wäre bloss receptives Wohlempfinden, nicht
volle Seligkeit, die nur als Action gedacht werden könne. Die
Leiden und Uebel seien somit kein Hinderniss, Gott als allgütig
zu begreifen, sie dienten im Gegentheil als Unterpfand unserer
hohen Bestimmung, sobald man ihre Bedeutung für die Entwicke-
lung der freien sittlichen Persönlichkeit erkannt habe.*) (p. 83.)
Die Axe, um die sich alles dreht, ist der Begriff der Freiheit. Nun
können wir hier nicht darauf eingehen inwiefern dieser Begriff
philosophisch haltbar oder unhaltbar ist; hier genügt es, sich gegen-
wärtig zu halten, dass die Freiheit als ein Gut, als ein opti-
mistisches Moment aufgefasst wird. Wenn aber die Freiheit nicht
nur darin besteht, dass der endliche Geist sich ebenso von Gott
abwenden wie zu ihm hinstreben könnte, sondern dass aus der
Freiheit f actisch die Gottentfremdung und mit ihr das Leid und
das Uebel entsteht, so wird der eudämonologische Werth, mithin
die optimistische Bedeutung der Freiheit mehr als zweifelhaft.
Wenn es ferner auch wahr ist, dass höchste Seligkeit nur als
activ zu denken ist, so ist damit eben auch zugleich eingestanden,
dass selbst die höchste Seligkeit nur ein relatives eudämonologisches
Gut sei, welches die Unlust. des Kampfes als Correlat hat, mithin
immer nur als ein Uebergangsstadium zu denken ist; dass daher,
wenn das Ziel der Vereinigung mit Gott erreicht wäre, die Selig-
keit als activer Affect doch jener inactiven, schmerz- und lust-
freien Ruhe weichen müsste, welche als bloss „receptives Wohl-
befinden" unter der activen Seligkeit stehen soll. Der Kampf und
die active Seligkeit sind aber nicht immer bei einander; im Kampfe
unterliegen Viele und verfallen der positiven Unseligkeit, während
das bloss „receptive Wohlbefinden", als Resultat eines determinirten
zu Gott-Gelangens, einen so erheblichen Abzug an seinem eudä-
monologischen Werthe nicht erlitten hätte. Die Freiheit ist daher
für die persönlich gedachten endlichen Geister immer ein gefähr-
liches Geschenk, wenn sie auch in den günstigsten Naturverhält-
nissen incorporirt sind; sie wird aber zu einer furchtbaren Bürde,
wenn dieselben in Verhältnissen der Leiblichkeit stehen, wo die

*) Harnisch beruft sich auf A. Schweizer, Glaubens-Lehre I. 307. Marten-


sen, Dogmatik 238; und Christi. Ethik I. 418, 442.
310 Die Bekämpfung d. Pess. v. Standp. d. religiösen Optiin.

herunterziehenden Motive zahlreicher auftreten, als diejenigen zur


sittlichen Behauptung und religiösen Erhebung. Wenn daher
wirklich die Notwendigkeit besteht, dass der endliche Geist sich
selbst erarbeiten muss, wodurch die Nothwendigkeit der Leiden
und Prüfungen dargethan werden soll, so können wir darin nur
eine harte, traurige, für den Pessimismus, nicht den Optimismus
sprechende Nothwendigkeit erblicken; und wenn auch, wie E.
Melzer (Autonomie der Vernunft IL Aufl. 1881) meint, das von
freien Geschöpfen erworbene Gute unendlich das Böse überwiegen
sollte, so wäre der Ausgleich höchstens vom Standpunct des Abso-
luten aus, welches über dem Gut und Böse steht, wahrnehmbar,
nicht aber vom endlichen Standpunct aus, der denselben stets nur
momentan und einseitig-intellectuell während der
erfassen kann;
endliche Geist als Ganzes, cl. Empfindungswesen
h. als vielseitiges
unmittelbar und realiter nur in der vom Uebel beherrschten, kampf-
durchtobten Welt steht, und die Seligkeit in Gott nur in flüchtigen,
momentanen religiösen Erhebungen geniesst, als dauernder Zustand
aber bloss in der Hoffnung anticipirt.
Melzer (an ob. g. St.) führt auch den bekannten theologischen
Einwurf ins Feld: obgleich Gott gewusst habe, dass die Freiheit
der endlichen Geister seine schöne Schöpfung verderben würde, so
falle die Verantwortlichkeit dafür doch endgültig nicht auf ihn,
indem für die Verderb niss der Welt nur der Möglichkeitsgrund
in Gott liege. Aber dies scheint doch nicht ganz stichhaltig zu
sein; denn warum hat Gott einen solchen Möglichkeitsgrund zu-
gelassen? Durch die Zulassung eines Entwickelungsprocesses der
endlichen Geister, welche die zum Bösen-führen-könnencle Freiheit
nöthig macht, wird Gott letzten Endes doch verantwortlich für
das Uebel.*) Die Zulassung ist in Gott, wo Intelligenz und Wille
als Einheit zu denken sein soll, kein rein passiver Zustand; denn
das setzte voraus ,dass in der Creatur eine formerzeugende
Schaffungskraft bestünde, die absolut unabhängig von Gott wäre;
was der theistische Gottesbegriff ausschliesst. Die Zulassung ist
also ein Zulassenwollen, falls nicht ein Zulassenmüssen an-
genommen werden muss; welch letzteres zwar nicht schlechthin die
Allmacht des Absoluten schädigt, wohl aber diese Seite am theisti-
sehen Gottesbegriff modificirt.
*) Melz er wendet das Gleichniss an: der Gärtner pflanze doch den Baum,
obgleich er wisse, dass von den unzähligen Blüthen nur relativ wenige zug-
reifen Frucht sich entwickelten. Uns sei erlaubt zu fragen: wenn ein Vater
seinem fünfjährigen Jungen eine Pistole und scharfe Patronen giebt und
der Junge damit seinen Spielkameraden todtschiesst, ist der Vater dann
deswegen moralisch weniger schuldig am Unglück, weil er den Jungen vor-
sichtig zu sein anempfahl und ihm eine Scheibe, worauf er zielen soll,
zeigte?
Die Rechtfertigung des Uebels. 311

So constatirt denn auch Harnisch wirklich eine Schranke,


wenn er sagt: die Frage, warum schmerzliche Entwickelung der
Geister sein müsse, warum Gott nicht gleich sittlich-religiöse Cha-
ractere geschaffen habe, sei nicht zulässig; denn letztere müssen
eben werden, könnten nicht geschaffen werden. Es heisse den
Begriff der Allmacht überspannen, wenn man mit Lotze behaupte
das Leiden als Erziehungsmittel beschränke Gottes Allmacht, weil
man Leiden nur da gebrauche, wo es keine andern Mittel gebe;
denn — meint Harnisch — der Begriff von Gottes Allmacht
meine nicht, Gott könne auch das Widersinnige, das Undenkbare
schaffen. Die Allmacht werde nicht äusserlich beschränkt, sondern
nur innerlich aus Gottes wahrem Wesen heraus: durch die logische
Notwendigkeit. Harnisch beruft sich dabei auf Weisse, (Phil.
Dogmatik, I. pag. 596) und auf Fechner („ Tagesansicht "): „es
giebt eine logische Notwendigkeit, gegen die Gottes Allmacht
nichts vermag; denn er kann nicht aus 2+2 = 5 machen und
die Gültigkeit des Ludolf sehen Satzes vom Yerhältniss der Kreis-
peripherie zum Durchmesser nicht aufheben".
Dieser Anschauung liegt die Voraussetzung der Philosophie
zu Grunde: dass unsere Denkformen die Formen des absoluten
Geistes, unsere discursive Logik die endliche Erscheinungsform der
absoluten (intuitiven) Logik sei. Es fällt uns nicht ein, hiergegen
eine Einwendug zu erheben; es ist dies die Voraussetzung alles
Philosophirens und wenn wir dieselbe nicht zum mindesten als
,

grösste Wahrscheinlichkeit festzuhalten vermögen, so verfallen


wir dem intellectuellen Pessimismus; es darf aber in diesem
Falle nicht vergessen werden, dass die Wahrscheinlichkeit in dem
Grade wächst, als man sich den Zusammenhang des Endlichen mit
dem Unendlichen als einen innigen, einheitlichen denkt; dass hin-
gegen jede trennende Schranke zwischen Gott und der Welt, wie
sie der Theismus mit der Persönlichkeit und dem selbstständigen
Bewusstsein Gottes setzt, der anderen, ebenfalls denkbaren Möglich-
keit Raum schafft: dass unsere Denkformen nicht die Denkmöglich-
keit in Gott erschöpfen. Doch diese Bemerkung nur beiläufig.
Hingegen ist es für uns interessant, dass auch Harnisch die
optimistische Weltanschauung und die Rechtfertigung der Leiden
und der Uebel doch nur aufrecht zu halten vermag, erstlich durch
die Berufung auf den Glauben an die ausser unserem Gesichts-
kreis liegende Weisheit (vergl. Martensen, Christ. Eth. II), zweitens
aber, indem er mit dem Paulinisch-Augustinisch-Lutherischen Dogma
von der ewigen Verdammniss der von Gott abgefallenen Geister
bricht. Nicht in dem Sinne, dass er die von Origines vertretene,
in der katholischen Kirche wenigstens geduldete Anschauung theilt,
nach welcher dereinst die Verdammten, die gefallenen Engel an
312 Die Bekämpfung d. Pess. v. iStandp. d. religiösen Optim.

der Spitze, selig werden, sondern indem er jene schwankenden Bibel-


worte vom Tode der Seelen, die durch ihre Abwendung von Gott
auch ihre Existenzbefähigung einbüssen, geschickt verwerthet.
Zu der gleichen Abweichung vom alten strengen Dogma sehen
sich auch Ulrici, Bacmeister (der Pess. u. die Sittenlehre. 1882)
und Theodor Trautz (Pessimismus; 1876) gedrängt.

5. Weder die Rechfertigung des Uebels noch die


Theodicee leisten, was sie sollen.

Die geistvollste Vertheidigung des Uebels und die überzeu-


gendste Theodicee kann immer nur folgendes erreichen: wenn
unüberwindliche Gründe zur Annahme eines bewussten Gott-
Schöpfers zwingen, und wenn ebenso zwingende Gründe wären,
um die Erschaffung von abgeleiteten Substanzen (freier endlicher
Geister) plus einer nach mechanischen Gesetzen regierten realen
Welt als unausweichlich nothwendig erscheinen zu lassen,
dann, und nur dann, könnte das Uebel (Leid und Sünde) unter
solchen Gesichtspuncten betrachtet werden, dass es kein Hinderniss
für die den Gottesbegriff zu ertheilenden Prädicate der Allgüte
und Allweisheit sein würde.
Nun führen aber die unter dem Zwange des Causalitätsgesetzes
vorgenommenen transcendentalen Speculationen nur zu einem all-
mächtigen (d. h. alle Macht, resp. Kraft und Realitäts - Setzungs-
Vermögen umschliessenden) und logischen Urwesen; während der
Zwang, die Urwesenheit (das Absolute der Philosophie) als Gott-
heit, als bewusste, die Attribute der Allgüte und Allliebe tragende
Persönlichkeit vorzustellen und zu denken, nur in dem Drucke
unserer Abhängigkeit und in der Sehnsucht nach der Realität
unseres Ideals, sowie in dem Trost- und Hülfe- Verlangen besteht.
Nun ist aber dieses Trost- und Hülfe- Verlangen nur wieder vor-
handen, weil das empirische Dasein dem Individuum die Ansprüche,
die es an das Leben stellt, nicht voll befriedigt. Also erweist sich
die Annahme: das Gemüthspostulat eines allgütigen, alllieben-
den, allweisen und allmächtigen persönlichen Gottes sei eben als
Gemüthspostulat zwingender Grund für diese Form der Gottes-
vorstellung und Begriffsconstruction, als eine höchst wackelige An-
nahme, weil sie den Widerspruch in ihrem Fundamente birgt:
dass eine Thatsache (nämlich das Uebel und Leid der Welt) zur
Annahme einer Position führen soll, die, wenn transc endent-
reale Position, die Thatsache selbst nur vermittelst künstlicher
Weder die Rechtfertigung des Uebels etc. 313

Umdeutimg eines ihrer Prädicat-Begriffe (in sich beschränkte All-


macht) wahrscheinlich erscheinen Hesse.
Warum aber hat Gott die Welt erschaffen? Angenommen
die Freiheit, welche zum Missbrauch und zur Unseligkeit fuhren
konnte und wirklich geführt hat, sei nothwendig, um der echten
Vereinigung mit Gott fähige Geister zu erzeugen; angenommen —
und willig zugestanden —
der Kampf mit dem Leid und dem
Uebel sei Bedingung für die Bildung sittlich-religiöser Charactere:
warum wollte Gott, der doch Alles in Allem, der Inbegriff alles
Subsistirenden und Existirenden ist, eine solche Vereinigung von
etwas, was er doch erst aus sich heraussetzen musste? Die naiv-
optimistische Auskunft: Gott schuf die Welt aus Liebe, ist nicht
stichhaltig, denn sie setzt den Optimismus, dessen Berechtigung
erst bewiesen werden soll, schon voraus, und dann verstösst sie
gegen den Begriff der Liebe. Liebe ist gefühlsmässige Durch-
brechung der Schranke zwischen den Individuen, die relative Ver-
einigung Getrennter in der Einheit des gegenseitigen, auf das an-
dere bezogene Wollen, gleichzeitig mit dieser relativen Einigung
die Sehnsucht nach positiver Vereinigung, die als Vorgang zwi-
schen Individuen doch nicht möglich ist. Gott als Gott hatte
keine Schranke in sich, bevor er die Welt und die endlichen Geister
schuf, keine Schranke, in deren Durchbrechung die Liebe bestehen,
und welche das eine Bestandtheil der Liebe: die Sehnsucht, er-
zeugen konnte.*) Fand aber das Absolute eine Schranke im Ab-

grund seiner Urnatur vor, war der Durchgang durch die Welt-
setzung eine Nottrwendigkeit für sein Gottwerden (das Entlassen
des An-sich-seienden in das Anders-sein zum Zwecke des Für-sich-
seins und Sich - Gott - Wissens, mit Hegel'scher Terminologie zu
sprechen), so ist bei der realen Beschaffenheit des Anders - seins
diese Nothwendigkeit eine tragische, weil sie, was gerade
den Begriff des Tragischen ausmacht, eine von innen heraus zum
Leiden determinirte ist, mag immerhin das nachweltliche, ausser-
weltliche, Jenseits des Weltprocesses als ein Zustand der Glück-
seligkeit gedacht werden; denn Pessimismus und Optimismus
haben es nur mit dem Process, mit der Immanenz, nicht mit der
— allfälligen — weltzeitlichen Transcendenz zu thun. Die Ver-
teidigung des Leides und des Uebels und damit die Rechtferti-
gung Gottes für Schaffung, resp. Zulassung desselben, stellt daher

*) Gott kann die Menschen nicht geschaffen haben, damit er sie lieben
könnte, und um mit dem Liebesgefühl seine Leere, seine Ergänzungsbe-
dürftigkeit auszufüllen, weil er —
nach theistischer Lehre —
ausser der
Welt kein leidender Gott, sondern ein Gott der Herrlichkeit sein soll aus;

Mitleid mit ihrer Liebesbedürftigkeit aber brauchte er die Menschen nicht


zu lieben, wenn er sie nicht geschaffen hätte.
314 Die Bekämpfung d. Pess. v. Standp. d. religiösen Optim.

dem Pessimismus gegenüber nur eine Defensivposition dar, sofern


letztererden Gottesbegriff des Theismus bedroht; als Offensive gegen
den Conclusionssatz des Pessimismus: „die Welt wäre besser nicht''
aber ist sie gänzlich machtlos. Gerade wie der ethische Optimis-
mus nur einem naturalistischen Pessimismus gegenüber, welcher
meinte, dass mit der Unnahbarkeit des eudämonologischen Postu-
lates gleichzeitig auch die Berechtigung der sittlichen Forderung
falle, im Rechte ist, so ist auch der religiöse Optimismus einem
in der Verzweifelung steckenbleibenden Pessimismus der mate-
rialistisch-mechanistischen Weltanschauung gegenüber im Rechte,
weil er die Fahne des Geistes hochhält und auf die mögliche Er-
lösung, resp. Erhebung über das Leid und das Uebel hinweist.*)
Soweit der Optimismus des Theismus im Recht ist gegenüber
einem naturalistischen Pessimismus, bildet der moderne philo-
sophische Pessimismus, wie E. von Hart mann ihn vertritt,
keinen Gegensatz zu ihm. Der Letztere theilt mit dem reli-
giösen Optimismus die Ueberzeugung, dass nicht zwecklose, blinde
Mechanistik den Weltgang bestimmt, sondern dass derselbe die
Auswirkung eines geistigen Principes ist; dass es eine sittliche
Weltordnung giebt, und dass das Leid und das Uebel auch in
deren Dienste stehen; ferner, dass eine ideelle Erklärung, wenn
auch nicht vom Leid, so doch vom Uebel möglich ist, und damit
eine Versöhnung mit dem Leben durch die Einsicht in deren teleo-
logische Beschaffenheit, wonach Leid und Uebel entsprechend —
ihrer dialectischen Natur —
das Mittel ihrer eigenen Aufhebung
werden müssen.
In dieser Hinsicht ist vor allem auf E. von Hartmanns
Essay: Die Bedeutung des Leids**) hinzuweisen; eine Arbeit, von
der man zu erwarten berechtigt ist, dass sie ihrem Verfasser nicht
nur einige Complimente von Seite der Gegner einbringt, sondern
zur wesentlichen Klarstellung der Situation, in welcher religiöser
Optimismus und philosophischer Pessimismus zu einander stehen,
dienen sollte.

Das Nichtsein der Welt wäre dem Sein vorzuziehen. Gegen diesen
Folgesatz des philosophischen Pessimismus kommt man auf philoso-
phischem Gebiete, wo es sich um Wissen und Denken, nicht um
Glauben und Hoffnung handelt, einfach nicht auf. Wenn die Welt
nicht wäre, so brauchte keine mit Unlust erkaufte Sittlichkeit zu

*) Vergleiche hierzu: Hartmann „Die Religion des Geistes". Band II, 2.


pag. 260-263.
**) „Zur Geschichte und Begründung des Pessimismus". Abh. IV.
(speciell No. 7: Die speculative Rechtfertigung des Leids u. seiner provi-
dentiellen Bedeutung).
Die Metaphysik des Pessimismus. 315

sein; wenn Gott nicht aus sich die Welt gesetzt hätte, so brauchte
die wiedervereinigende Rückkehr des Aussersich - gesetzten nicht
unter Leid und Uebel und unter Gefahr des Verlorengehens eines
Theiles erkämpft zu werden.*) Diesen ganz einfachen, klaren Satz
kann man zwar „trivial", „platt" (Melzer) nennen, aber widerlegen
kann man ihn doch nicht. Alle denkbare Seligkeit ist dies nur,
weil sie ein besser gedachtes Sein ist, als das real vorhandene, und
weil das Sein schlechthin gewollt wird. Wäre kein Sein,
so brauchte es nicht „besser" zu sein; wäre das Sein-wollen nicht,
so wäre das Nicht-sein kein Mangel. Ein seliges Sein ist nur unter
der Voraussetzung werthvoll,- dass Sein überhaupt sein müsse oder
gewollt werde; wird es nicht gewollt und muss es nicht sein, so
hat es nichts voraus vor dem Nicht-sein.
Somit ist die Wurzel alles und jedes Optimismus die That-
sache: dass Leben Wille zum Leben, Wille zum Sein ist. Nur
immer unter der Voraussetzung, dass man das Sein wolle, ist das
Weltsein auch dann zu rechtfertigen, wenn Seligkeit minus Un-
seligkeit ist. Das Wollen des Seins weggedacht, ist reines Nicht-
sein besser als Seligkeit minus Unseligkeit, ja sogar Seligkeit minus
Möglichkeit der Unseligkeit.

6. Die Metaphysik des Pessimismus.


Zahlreich und mannigfaltig sind die Einwände, welche gegen
die Schopenhauer'sche und Hartmann'sche Metaphysik erhoben
werden. Zuerst der formalistische Einwand: es sei leicht aus deren
Principien heraus den Pessimismus zu deduciren, nachdem das
Princip vorerst auf pessimistische Voraussetzungen gegründet wor-
den sei; aus dem blinden, vernunftlosen „Willen" Schopenhauers,
aus dem pseudogeistigen „Unbewussten" könne allerdings nur eine
schlechte Welt entstehen. Zum Andern ist es besonders die durch-
*

geführte begriffliche Trennung der Attribute des Willens und

*) Es nach dem Bibelwort, mehr Freude sein über die Rückkehr


soll,
eines Verirrten als über zehn Gerechte. Wo viel Freude möglich ist, da
muss auch viel Trauer möglich sein, es muss daher auch das Verlorengehen
eines Sünders ein sehr grosses Leid verursachen; dieses Bibelwort möchte
seiner ersten Conception nach der Idee entstammen, dass mit dem Ver-
lorenen eine Einbusse an dem Absoluten, in dem die zur Seligkeit gelangten
sind und leben, stattfindet. Der Gedanke des Abbruches, der Einbusse im
Absoluten ist philosophisch natürlich unhaltbar; aber im religiösen Gebiete
möglich, denn er ist factisch vorhanden: wir erinnern an das über „Noth
Gottes" Gesagte.
316 Die Bekämpfung d. Pess. v. Standp. d. religiösen Optim.

der Vorstellung im Absoluten bei Hartmann, welche vielfache


Angriffe aas dem Lager des Theismus erfahren hat, unter der Vor-
aussetzung, dass nachgewiesene logische Fehler in den metaphysi-
schen Constructionen auch für den Pessimismus vernichtend seien,
indem diesem damit die speculative Stütze entzogen werde.
Dass der Dualismus, den die Gegner Hartmanns in seiner
Prineipienlehre finden wollten, durchaus nicht vorhanden ist, son-
dern erst durch irrthümliche Auffassung der Kritik hinein inter-
pretirt wurde, haben wir an anderem Orte*) nachzuweisen ver-
sucht, und ebenso, dass die Gefahr der Vermaterialisirung des
Weltprocesses durch das dem Absoluten beigelegte Prädicat „un-
bewusst" durchaus nicht vorhanden ist; im Gegentheil, dass mit
dem Begriff des „Unbewussten" erst die Möglichkeit gegeben sei,
den Weltprocess als einen rein geistigen, als einen göttlichen Pro-
cess zu erfassen.
Das oberste Princip Hartmanns ist das Resultat und Pro-
duct verschiedener langer, selbst wieder mehrfach combinirter In-
ductionsr einen und separater Speculationen; der absolute unbewusste
Geist mit den Attributen Wille und Vorstellung ist in erster Linie
das Ergebniss erkenntnisstheoretischer und naturphilosophischer
Untersuchungen, welche zur befriedigenden Lösung ihrer Probleme
eines Princips bedürfen, welches die Realität mit der Idealität,
die Geistigkeit mit der Fähigkeit, als Bewusstseinstranscendent ge-
dacht zu werden, vereinigt. Wie die Betrachtung der Natur und
ihrer Vorgänge unter dem Gesichtspunct der Teleologie auch die
Berücksichtigung der dysteleologischen Factoren verlangt, so fordert
die Inductionsreihe aus dem Gebiete der Psychologie auch die axio-
logische Betrachtung des Daseins. So kann man allerdings sagen: Das
Princip der pessimistischen Philosophie sei durch den Pessimis-
mus bestimmt, resp. mitbestimmt. Was für Hartmann gilt, gilt
mit Einschränkung auch für Schopenhauer; bei letzterem sind
es wesentlich erkenntnisstheoretische und psychologische Gründe,
welche ihn zur Aufstellung des „Willens" als letzten Princips
führten, wobei dem pessimistischen Bewusstsein in den psycholo-
gischen Reflexionen allerdings eine hervorragende Wirksamkeit
zugekommen ist. Natürlich kann über den quantitativen, resp. in-
tensiven Antheil den die verschiedenen partialen Welt- und Lebens-
betrachtungen an dem speculativen Denkprocess nahmen, sowie
über deren zeitlich- successive Verhältnisse bei der Entwicklung
der Umrisslinien eines philosophischen Systems niemand etwas be-
stimmtes aussagen als der Philosoph selbst, und dieser ist die
Rechenschaft darüber nicht schuldig.

*) „Der Kampf um's Unbewusste". C. Duncker's Verlag, Berlin 1381.


Die Metaphysik des Pessimismus. 317

Es gilt aber ohne Zweifel von jedem philosophischen oder


religiösen Princip, dass es schon unter Voraussetzungen solchen
Sachverhaltes formulirt wurde, der nachträglich aus ihm deducirt
wird. So kann man gewiss auch dem Theismus dasselbe entgegen
halten.
Der Theismus ist nicht deswegen optimistisch gesinnt, weil
aus seinem Gottesbegriff eine beste Welt deducirt werden muss;
sondern der theistische Gottesbegriff ist ein solcher, der die ideelle
Construction einer optimistischen Welt ermöglicht, weil er das
Product einer geistigen Entwickelungsstufe ist, welche noch das
Postulat der eudämonologischen Beschaffenheit des Daseins als
Garantie für dieselbe ansah. Freilich ist der anfänglich auf das
Verlangen nnd den Wunsch gegründete Ideencomplex, der sich auf
das Absolute bezieht, modificirt genug, und zwar gerade modificirt
durch die wachsende pessimistische Einsicht. Denn der Fortschritt
in der Gottesvorstellung besteht in der Vergeistigung derselben
und in Abstreifung anthropomorpher und anthropopathischer Prä-
dicate; diese findet aber nur Hand in Hand mit der Resignation
auf irdisch - sinnliches Behagen statt, da nur diese lehrt, das
Augenmerk auf geistiges Leben und geistige Selbstbehauptung
zu legen.
Der religiöse Optimismus kann als ausschliesslich reli-
gions-philosophisches Räsoniren den Principien der pessimisti-
schen Philosophie, speciell der Metaphysik Hartmanns nichts an-
haben. Diese kann nur bekämpft werden durch Aufzeigung von
Fehlern im Inductionsmaterial und von falschen Schlüssen aus
demselben. Für die Kritik vom religiösen Standpunct als
solchen aus handelt es sich einzig und allein darum: ob die letzten
Principien pessimistischer Philosophie (gleichviel wie dieselben
genommen sind) sich fähig erweisen, Object religiöser Auf-
fassung zu werden, dadurch dass aus ihnen die Thatsachen des
religiösen Bewussteins erklärt werden können und die Postulate
desselben als berechtigte erscheinen. Die Thatsachen des religiösen
Bewusstseins aber sind: 1) die Empfindung des Druckes der End-
lichkeit und des Mangels; 2) die Empfindung des Uebels, subjectiv
erkannt als Schuld; 3) die Sehnsucht nach Erlösung von Endlich-
keit, Uebel und Schuld. Die Postulate sind: 1) ein absolutes gei-
stiges Wesen, durch welches und in welchem wir erlöst werden,
und 2) eine Seinsbeschaffenheit, welche die Erlösung möglich
macht.
Schopenhauer meint bekanntlich: jede echte Philosophie
müsse Atheismus sein; diese Forderung ist eine Consequenz seiner
subjectiv-idealistischen Erkenntnisstheorie, welche die Speculation
über ein Absolutes ausschliesst; ihre Berechtigung hat sie einem
318 Die Bekämpfung d, Pess. v. Standp. d. religiösen Optim.

Philosophiren gegenüber, welches den gläubig übernommenen fer-


tigen Begriff eines Absoluten als Werg an die Kunkel seines Den-
kens steckt, um aus diesem heraus nun das Gram seiner Weltbe-
trachtung und seiner practischen Lehren zu spinnen. Der religiöse
Trieb fehlt in der Schopenhauer sehen Philosophie nicht, er ist
gerade so weit vorhanden, als dieser Pessimismus, Erlösungssehn-
sucht, Weltverneinung aber es fehlt allerdings an dem Object,
ist,

an dem sich der Trieb anranken kann, es fehlt an Etwas, das als
Object des religiösen Bewusstseins Gott ist.
Mangelt bei Schopenhauer der Gott, weil das Absolute als
Unerkennbares hinter den Coulissen der Empirie verborgen bleibt,
^so ist bei Bahnsen und Mainländer ein Absolutes ganz negirt;
bei ersterem durch den schlechthin seienden, bei letzterem durch
den gewordenen Pluralismus, und der religiöse Trieb ist wesent-
lich als eine Prellerei der Natur zu erachten, da er eine durchaus
einseitige, in's Wesenlose hinaus zielende Action ist.
Ganz anders bei Hartmann. Das oberste Princip seiner
theoretischen Philosophie theilt mit dem Princip des Theismus die
Rein-Geistigkeit, die Absolutheit und das Ineinander von Imma-
nenz und Transcendenz. Damit ist es fähig, vom religiösen Be-
wusstsein unmittelbar als Gott erfasst zu werden, während es
in Folge, der Abwesenheit anthropopathischer Attribute in der
Sphäre seiner Erhabenheit unberührt bleibt durch die eudämono-
logischen Mängel des Weltseins. Die Gefahr, die einem fixirten
Gottesbegriff droht, entspringt stets aus eudämonologischen Be-
denken; d. h. aus der Unfähigkeit, die pessimistischen Erfahrungen
bei Aufrechthaltung eudämonologischer Ansprüche mit der Vor-
stellung von Gott, wie man sie historisch übernommen hat, in
Einklang zu bringen. (Man denke an Hume, Mill u. s. w.)
Das Hartmann'sche Absolute, auch wenn es im Spiegel des
religiösen Bewusstseins zum Gotte geworden ist, bedarf keiner
Theodicee wegen des Leids in der Welt und wegen der Zulassung
des Uebels, weil durch Abstreifung der Persönlichkeit dasselbe
nicht mehr das Leidenverhängende ist, sondern das immanent Selbst-
leidende. Gerade die von der theistischen Kritik so viel getadelten
Bestimmungen der Unbewusstheit und Unpersönlichkeit werden
das Mittel, dem Pessimismus die Möglichkeit zu sichern, das Ab-
solute zum Object religiöser Betrachtung zu machen und die Re-
ligiosität zu wahren, wenn auch die Religion dabei eine andere
wird.
Resume. 319

7. Resume.
Der Optimismus der religiösen, theistischen Weltanschauung
besteht nicht darin, dass er dem Pessimismus beweisen kann: an
dieser oder jener Stelle eueres Weltbildes ist die Farbe zu dunkel
aufgetragen, die Linien zu tief gegraben; wenn der Eine oder
Andere der Partei vielleicht vermeint, solches zu vermögen, so
mag dies für ihn von individueller Bedeutung sein, nicht aber fin-
den principiellen Standpunct. Für diesen besteht der Optimismus
in dem Bewusstsein der Erlösung und Freiheit in Gott; das Leid
wird idealiter überwunden durch die Bejahung desselben als eines
teleologisch berechtigten Moments am Endlichen und Vergäng-
lichen; die Sünde und Schuld wird idealiter überwunden durch die
willige,mit Bewusstsein vollzogene und im frommen Gemüthe ge-
nossene Unterordnung unter den Willen Gottes, den man als seinen
eigenen Willen im Sittengesetz erfasst und zu realisiren strebt.
Die Erhebung über Leid und Sünde findet aber statt durch die
Abdankung des individuell-egoistischen Eudämonismus, durch das
Aufgeben des eigenen für-sich und in-sich Lebens und das hin-
gebende Leben in Gott. Hierzu kommt noch die Hoffnung, dass
diesem zeithchen, idealen Ueberwinden der Welt und des Bösen
ein Jenseits der Vollendung, d. h. der realen Ueberwindung des
Uebels, dem idealen Aufgehen des Ich's in Gott ein wirkliches
Aufgehen in Gott folgen werde: als ein Zustand der Seligkeit,
welche dem an sinnliche Vorstellung gebundenen Geiste als mehr
oder minder materiell-seelisches Leben vorschwebt, von einem
Paulus aber als ein Zustand „wo keine Zeit mehr sein wird" ge-
dacht wird.*) Damit ist denn eine Weltanschauung gegeben, welche

*) Auf unserem gegenwärtigen Stand der geistigen Entwicklung und


unserer derzeitigen Einsicht in die Natur des individuellen Geisteslebens
kann bei der axiologischen Frage der Glaube an ein jenseitiges persönliches
Fortleben nur als ideelles Moment in Betracht kommen, nicht aber die
eventuelle Wirklichkeit eines jenseitigen Lebens; denn ein solches gehörte
eben nicht mehr zu der Welt, um deren Schätzung es sich handelt. Wenn
nun in einer anderen Existenzform ein individuelles, persönliches Leben
ohne die für unser empirisches Leben von einem solchen nicht hinwegzu-
denkenden Leiden und Uebel möglich wäre, dann hätten wir erst recht
Ursache, diese unsere Welt als eine, die besser nicht wäre, zu bezeichnen;
dann wäre sie erst recht nicht die „beste Welt." Doch die Speculationen auf
andere Existenzformen, welche zwar die Individualität und Persönlichkeit
umschliessen, aber ohne die in ihrem Wesen begründeten Eigenschaften,
sind müssig und nicht geeignet, gegen eine philosophische Theorie in's
Feld geführt zu werden. Das wird auch von den bedeutenden Gegnern des
phil. Pessimismus stillschweigend anerkannt, daher nur eben die Hoffnung
auf ein besseres Leben in Rechnung gebracht.
320 Die Bekämpfung d. Pess. v. Standp. d. religiösen Optim.

zur Versöhnung mit der Welt führt und somit im Gegensatz


steht zu den untergeordneten Formen des Pessimismus, mag
dieser nun naturverachtender (weil naturverkennender) contemptus
mundi, Entrüstungspessimismus, Welt- oder Situations - Schmerz
oder philosophischer Miserabilismus sein, nicht aber zum philo-
sophischen Pessimismus Hartmanns, denn dieses ist zwar ab-
soluter eudämonologischer Pessimismus, aber nicht ein Miserabilis-
mus, der jede Versöhnung, jede Möglichkeit idealer und reeller
Erlösung vom Uebel ausschliesst.
In dem intellectuellen Optimismus, das heisst: in der philo-
sophisch gerechtfertigten Ueberzeugung von der Wahrscheinlich-
keit der Welt-Erkenntniss, vermittelst der Uebereinstimmung der
Logik und der Anschauungsformen mit den Auswirkungsformen
des formalistischen Seins-Princips; in der idealen Ueberwindung
des WT
eltleids durch die Erkenntniss von der teleologischen Be-
deutung desselben; in der Befreiung von der Schuld durch die
sittliche Ueberwindung der Selbstsucht und Hingabe an die objec-
tiven Zwecke; in der idealen Befreiung von dem Drucke der Endlich-
keit durch das Bewusstsein der Wesensidentität mit dem Absoluten
und endlich in der philosophischen Berechtigung zur Hoffnung auf
ein Ende der vor der Vernunft nicht zu rechtfertigenden Existenz
besitzt der philosophische Pessimismus ebenfalls sämmtliche Ele-
mente zur Versöhnung mit der nun doch einmal gegebenen Welt,
welche, wenn nicht nur theoretisch mit der vernünftigen Reflexion,
sondern mit dem Gemüt he erfasst und mit gefühlsmässigen Vor-
stellungen das religiöse Leben zu produciren vermag.*)
illustrirt,
Wer nununter Pessimismus nur das Extrem der Weltverzweife-
lung verstanden wissen will, der mag in diesem, die sittlich-religiöse
Weltversöhnung umfassenden eudämonologischen Pessimismus ein
Aufgeben des Standpunctes erblicken; es wäre dann aber dieser
Rückzug nicht erst bei Hartmann, sondern schon bei Schopen-
hauer zu constatiren; denn wenn es auch der Schopenhau ersehen
Philosophie an einem Absoluten fehlt, welches dem religiösen Sub-
ject zum Object oder Gott werden kann, so findet sie doch auf die
Frage nach der Erlösungsmöglichkeit eine tröstliche Antwort:
freilich auf widerspruchsvolle und sehr correctionsbedürftige Weise.**)

*) Diese Eigenschaften anerkennt auch Gr. Krummacher (Deutsch-


evangelische Blätter. 6. Jahrg., Heft IV, 1881), weil er aber Religion mit
Christenthum identificirt, so meint er, es werde die dem Pess. entsprechende
Religiosität zum Christenthum zurückführen.
**) So lehnt R. Koeber (Schopenhauers Erlösungslehre. 1881.) für sich
und Hartmann den Terminus Pessimismus ab, da eine Welt, deren Inhalts-
entwickelung auf eine endliche Erlösung zum seligen Frieden des poten-
tiellen Subsistirens leite, keine schlimmste Welt sei; „ich gestehe, dass ich
in dieser Lehre von der Erlösung, namentlich wenn man sie historisch, als
Resume. 321

Der Pessimismus Hartmanns ist aber thatsächlich eudämo-


nologischer Pessimismus, der durch die Erkenntniss der Logicität
und der teleologischen Beschaffenheit des Weltinhaltes nicht be-
rührt wird, weil diese Teleologie letzten Endes selbst nur eine
solche ist, solange der Weltprocess und sein Ziel unter pessi-
mistischen Gresichtspuncten betrachtet wird, während die Teleologie
zur Disteleologie zerfaserte, sobald man mit optimistischen An-
sprüchen an das Dasein herantritt. Die Hartman n'sche Welt-
anschauung ist zwar sittlich-religiöser-evolutioneller Optimismus,
weil sie das „Wie" der Welt als das Mittel erblickt etwas Nicht-
sein-sollendes zur Selbstaufhebung zu führen; sie ist aber eudä-
monologischer Pessimismus, weil das „dass" der Welt selbst das
Nicht-sein-sollende ist; wäre das „dass" nicht, so brauchte das
„Wie" nicht zu sein, und das wäre noch besser als das immerhin
vernünftige „Wie".
Die religiöse Versöhnung mit dem Leben und dem Leide hebt
den philosophischen Pessimismus als Pessimismus nicht auf, da die
Versöhnung mit dem Leide nur Bedeutung hat bei dessen Be-
stehen, da mithin das religiöse Leben, wenn es den Pessimismus,
d. h. das Bewusstsein von dem Leid und dem Uebel des Seins auf-
höbe, sich selber aufhöbe.*)
In seinem neuesten Werke sagt E. von Hartmann: „Der
Mangel an eudämonologischem Pessimismus und teleologischem
Optimismus ist in gleicher Weise nicht nur ein Mangel, sondern
eine Störung und Untergrabung des religiösen Bewusstseins das ,

sich nur im Widerspruch gegen eine mit solchen Mängeln be-


haftete Weltanschauung behaupten kann." „. eudämonologischer
.

einen Weltprocess unter dem Gesichtspuncfc des objectiven Individualismus


betrachtet, nie eine Spur von einem „trostlosen Pessimismus* habe finden
können."
*) Es ist eine unberechtigte Willkürlichkeit, wenn man den Erlösungs-
Optimismus so einseitig betonen will, dass man zu Gunsten des religiösen
Lebens das logischerweise Nicht-sein-sollende verherrlicht, bloss weil es die
Voraussetzung einer secundären Position ist, deren Bedeutung doch nur
darin besteht, dass sie die andere, primäre Position negirt und idealiter auf-
hebt. In diesem überspannten Sinne sagt Michelet: (Verh. der Phil.
Gesellsch. Berlin, Oct. 1878) „ich bin Optimist, weil ich Pessimist bin, aber
nicht in dem Hartmann'schen Sinne, dass ich das Schlechte zum Guten, das
Nichts zum seienden Princip mache." „Das Böse, das Negative muss sein,
als die dunkle Folie, auf welcher der Diamant des Guten erst recht in seinem
Glänze hervortritt; und je tiefer die Entzweiung, desto höher ist auch die
Versöhnung. Mein Satz ist also: quo pejus, eo melius." Hierauf erwiderte
Lassön mit Recht: eine solche Anschauung sei selbst Pessimismus und es
bedürfe keines Nachweises, dass „diese Gesinnung eine geradezu unsitt-
liche sei."
*
(Man denke an Schopenhauers Wort vom „ruchlosen Optimis-
mus".)
Plümacher, Pessimismus. 21
322 Die Bekämpfung d. Pess. v. Standp. d. religiösen Optirn.

Pessimismus und teleologischer Optimismus decken sich in der


religiösen Weltanschauung haarscharf mit der Erlösungsbedürftig-
keit und Erlösungsfähigkeit der Welt." „Die Welt muss nicht
bloss, so lange sie besteht, erlösungsbedürftig sein, sondern sie
muss auch erlösungsfähig, d. h. so beschaffen sein, dass das Ziel
der Universalerlösung durch sie für sie erreicht wird. Als er-
lösungsbedürftige muss die Welt, so lange sie besteht, vom Uebel
sein, d. h. nicht etwa eine solche, in der nur Uebel und Unlust
ist, sondern eine solche, in der überwiegend Uebel und Unlust,
oder deren eudämonologischer Werth negativ ist; als erlösungs-
fähige muss die Welt gut zur Erfüllung ihres Zweckes sein oder
einen positiven teleologischen Werth haben. Das religiöse Be-
wusstsein postulirt also ebensosehr eudämonologischen Malismus
(ungenau, aber herkömmlich, als Pessimismus bezeichnet), wie den
teleologischen Bonismus, welcher mit Rücksicht auf die ebenfalls
postulirte Allweisheit Gottes sich superlativisch zum Optimismus
steigert." (Die Religion des Geistes. B. II. p. 258.)
Wir sind nicht so sanguinisch zu glauben, dass nach dem
Bekanntwerden der Hartmann'schen „Religion des Greistes" die
bisherigen Gegner dieses Philosophen sich für überwunden er-
klären würden; jedoch möchte sich der Streit fürderhin mehr um
Bestimmungen der Relation von Gott und Welt, Glauben und
Gnade u. s. w. drehen, während in Bezug auf die axiologische
Frage das neueste Werk eine wesentlich versöhnende Wirkung
üben möchte. Den Behauptungen: es untergrabe der Pessimismus
die Religiosität, es sei der Pessimismus die Wirkung irreligiöser
Weltanschauung, und nicht minder der weitern: es stünde der Er-
lösungs-Optimismus dem Pessimismus gegenüber wie die Wahr-
heit dem
Irrthum, diesen möchte doch nun endlich und auf die
Dauer der Boden entzogen sein.
IX. Capitel.

Die Opposition vom Standpunct des

i. Der Optimismus des reinen Denkens.


In den beiden vorhergehenden Capiteln haben wir den Nach-
weis zu erbringen versucht, dass der Pessimismus zwar ferne davon
sei, sich in einen Gegensatz zu der sittlichen und religiösen Welt-
anschauung zu stellen, dass er vielmehr in engster Relation zu der-
selben stehe, indem der empirische Pessimismus gerade die Grund-
lage und Vorbedingung dazu bilde, dass die ethische und religiöse
Lebensauffassung sich siegreich über die naturahstisch-individuell-
eudämonistische erheben könne; dass aber gerade daher auch
weder die Sittlichkeit noch die Religion vermöge, den absolut-
eudämonistischen Pessimismus zu beseitigen. Im fernem, dass die
sittliche und religiöse Weltanschauung nicht schlechthin einen
Gegensatz zum Eudämonismus bilde, sondern nur zum naturalisti-
schen Hedonismus und egoistischen Individual-Eudämonismus; dass
aber Sittlichkeit und Religion selbst im Dienste des absoluten
Eudämonismus (gleichviel ob dessen Ziele positiv oder negativ zu
bestimmen sind) stehen, und dass mithin der Vorwurf: der Pessi-
mismus sei die Folge einer eudämonistischen Weltanschauung eines
stichhaltigen Sinnes entbehre, weil jeder an das Thun wie an das
Sein zu legende sittliche oder religiöse Maassstab letzten Endes
selbst wieder vermittelst des absolut-eudämonistischen Maassstabes
controllirt und diesen entsprechend gefunden werden muss, wenn
sich das Denken endgültig bei ihm beruhigen soll.
Wir kommen nunmehr zu der Opposition des panlogistischen'
Optimismus; dieselbe zerfällt in zwei Theile, von denen der eine
das aufs Immanente, der zweite das aufs Transcendentale gerichtete
reine Denken zum Ausgangspuncte nimmt.
21*
324 Die Opposition vom Standp. d. panlogistischen Optimismus.

Dem iinmanent-panlogistisclien Optimismus zu Folge soll zwar


der Pessimismus für das Gebiet des naturbefangenen Empfindens
seine relative Berechtigung haben; das reine Denken aber soll
durch die Einsicht in den logischen Character des Weltseins
(und mithin der Angemessenheit alles Weltgeschehens, wenn mit
dem Maassstab formalistisch-logischer Vernünftigkeit gemessen) zu
einem das Weltdasein bejahenden Urtheil gelangen.
Wenn irgend ein Standpunct Aussicht haben sollte, ein voll-
berechtigtes Veto gegen das pessimistische Welturtheil zu erheben,
so möchte es die souveraine Macht des reinen Denkens sein, welche
als das specifisch menschliche, höchste Seelenvermögen das erste
Anrecht hat, frei und mit einer weitgehenden Rücksichtslosigkeit
die Regungen der andern. Seelenthätigkeiten zu bejahen oder zu
verneinen. Das reine Denken, die von keinen practischen Rück-
sichten beeinflusste, keinem ausser ihr selbst liegenden Ziele zu-
strebende Geistesaction, welche reine Bewegung nach den ihr selbst
innewohnenden logischen Formalbestimmungen ist, das Idealste,
und doch mit das erste, die Concretheit setzende Moment an
aller Realität, durch das ich mich erst als Ich .erfasse, und durch
das erst die andern Standpuncte der Ideale gesetzt werden, scheint
besonders berufen, die höchste und letzte Instanz abzugeben für
die axiologische Frage; ja, es mag erscheinen, als ob die versuchte
Lösung derselben erst dadurch den Anspruch, philosophisch zu sein,
erheben könnte, wenn sie allein unter dem Gesichtspunct des reinen
Denkens vollzogen würde.
Und doch ist es nicht so!
Bevor wir aber die Gründe für diese unsere Ansicht geben,
haben wir in Kürze den Begriff des reinen Denkens zu erörtern.
Für den Panlogismus ist die Idee, oder der Begriff, das Ab-
solute; die Idee oder der logische Gedanke ist schlechthin, oder —
um das kaum Fassliche fasslicher zu machen —
der Gedanke denkt
sich selbst. Der sich denkende Gedanke ist in ewigem Fluss, und
in diesem Fliessen besteht und entsteht sein Inhalt, welcher logisch
ist. Indem die Idee sich bewegt kraft ihrer eigenen ewigen Natur,
wird sie eine Andere; + a wird —
a, dieses ist der Widerspruch zu

+ a und erscheint als relativ antilogisch; aber a ist ebenfalls im
Fluss und wird nun zum weder -f-a noch —
a und zum sowohl

+ a als auch a, als Synthese -f-A, in der, was im doppelten
Widerspruch entzweit war, als das höhere beider Momente versöhnt
ist. Die Urform des alle Stufen des Seins darstellenden dialectisch-
logischen Vorganges ist die Welt als Process selbst. Das Ab-
solute als Weltursache ist +a (die Idee an sich); indem sie zum
Gegentheil ihrer selbst wird, wird sie zum Weltsein, das Unend-
Der Optimismus des reinen Denkens. 325

liehe zuni Endlichen, die Identicität zum Auseinander, die Idealität


zur Natur (Idee ihrem Anders-sein) aber durch die Natur
in ;

hindurch gelangt die Idee wieder zum Gegensatz der gebundenen


Natürlichkeit: zur freien, selbstbewussten Geistigkeit. Die absolute
Idee ist nun nicht bloss das An-sich der Welt, im Sinne von über-
zeitlich-überräumlichen All-Sein, sondern sie weiss als bewusster
Geist sich als Ursache ihrer selbst (Idee im Zustande des Für-sich-
seins). Unter diesem Gesichtspunct ist das „reine Denken" das
philosophische Denken, welches das Real-seiende nicht sich gegen-
über hat, sondern über demselben steht, als der Schluss des Kreis-
laufes, als die Rückkehr des Idealen zu seiner eigensten Sphäre,
zugleich das Moment, wo der endliche Geist eins ist mit dem abso-
luten Geiste.
Nach der Hartman n'schen Willensphilosophie setzt das Ab-
solute das reale Weltsein nicht vermittelst der blossen Bewegung
des Ideälattributs sondern kraft des Realprincips des Willens,
, ,

und die Idee bildet nur den Inhalt desselben. Alles was real ist,
und dass etwas real ist, hat seinen Grund in der Willensaction
des Absoluten; aber wie etwas ist, das bestimmt das Idealattribut
und bestimmt es aus seiner eigensten logischen Natur heraus; den
realen Fluss des Werdens und' das ewige drängende Sein setzt das
rastlose Streben des Willens, aber das Wie des Fortganges be-
stimmt die logische Idee.
So ist jedes Moment des Seins inhaltlich ganz logisch, es enthält
keinen Widerspruch, denn die Idee ist einfach, was sie ist; indem
aber der Wille die verschiedenen Momente der Idee festhält als
seinen Inhalt, treten sie sich als reale Gegensätze entgegen und
es entsteht der Kampf der Seinsmomente unter einander und die
Unlust als Reflex dieses Aufeinderstossens der real sich gegenüber
stehenden Willensacte. —
Das „reine Denken" ist nun unter diesem
Gesichtspunct erstens der Inhalt des Denkens rein als solcher und
dessen logische Bewegung ohne Reflexion auf die Kraft, welche
die Ursache ist, dass überhaupt eine Bewegung statt hat; denn nur
die Form, in der die Bewegung des Geistes vor sich geht, hängt
vom Idealprincip allein ab —
dass aber die Denkbewegung ist, hat
seinen Grund im Geist, als vorstellender und wollender; zweitens
ist das reine Denken das Denken ohne Rücksicht darauf, wie der
Geist als empfindender und wollender auf reales Geschehen
hinwirkt oder vice-versa durch Reales und dessen Perception affi-
cirt wird.
Der Theismus theilt mit der Hartmann'schen Willensphilo-
sophie die Bestimmung des absoluten weltschöpferischen Geistes
als Idee (Denken des Weltinhaltes) und realisirenden Willens; der
ebenbildliche Geist umfasst ebenfalls Denken und Wollen, wozu
326 Die Opposition vom Standp. d. panlogistischen Optimismus.

noch angeblich drittes Grundvermögen das Gefühl kommt. Das


als
„reine Denken"ist also auch unter diesem Gesichtspunct nie das.
ganze Sein des endlichen Geistes, sondern nur die Bethätigung des
höchsten Seelenvermögens, von keinem practis'che Ziele ver-
folgenden Willen in Bewegung gesetzt, sondern nur im Dienste des
theoretischen Triebes stehende Geistesaction.
Hieronymus Lorm (H. Landesmann) sagt in seinen kritischen
Essays: „Für die Menschenseele in ihrer ganzen Reinheit und Tiefe
giebt es kein glühenderes Streben, kein höheres Sehnsuchtsgefühl
als den Weltprocess zu begreifen; und versteht sie einmal seinen
innersten Gedanken und seinen äussersten Zweck, so muss sie auch
die aus jenem hervorgehenden und durch diesen bedingten Leiden
der Welt als absolut nothwendig erkennen und folglich verzeihen.
Gäbe es für eine reine und tiefe Seele noch Leiden, wenn sie ein-
mal mit dem Verständniss des Urgedankens der Welt einer geistigen
Erlösung theilhaft geworden wäre?"
Lorm ist erkenntnisstheoretischer Idealist; für einen solchen
ist keine Aussicht, dass dieses hohe Sehnsuchtsziel erreicht werde,
und in seinen gedankenreichen Gedichten findet die Klage über
das leid-schaffende Mcht-wissen-können wiederholt schönen Aus-
druck. Dagegen getröstet sich ja jede positive Philosophie der
Erkenntniss eines Weltgrundes und Weltzweckes. Insbesondere
aber ist es der Panlogismus der die Bedingung erfüllt erachtet,
von der Lorm meint, sie müsste den Pessimismus unmöglich
machen. —
Der Panlogismus betrachtet den Kampf in der Welt,
den Widerstreit der mannigfaltigen inter- und intraindividuellen
Strebungen einfach von seiner inhaltlichen, begrifflichen
Seite, und da es der Widerspruch in der dialectischen Selbst-
bewegung der Idee (in Gestalt realer Gegensätze im Sein und Ge-
schehen) ist, der das, was wir „Fortschritt" nennen und als solchen
bejahen, bildet, —weil es der Streit des Gegensätzlichen ist, der
erst recht die reale Vernünftigkeit, die Angepasstheit an die Ver-
hältnisse, als Kern der bloss formalen Logicität herauszuschälen
bestimmt ist, —so gelangt der Panlogist dazu, auch diesen Streit
als solchen als absolut berechtigt zu erachten, um so mehr, als
ja die Empfindung, die fatale Gefährtin des Streites, zu jenem zur
Ueberwindung bestimmten Anders-sein gehört, auf das er, als Re-
präsentant des für sich gewordenen Geistes, herunterschauen darf.
Der Optimismus des Panlogismus ist Studirstuben-Optimismus.
Der Philosoph ist erfreut darüber, dass sich der kategorische Welt-
inhalt annähernd in das sehr elastische Netz seiner dialectischen
Schematik packen lässt, während dasjenige, was nicht hineingehen
Der Optimismus des reinen Denkens. 327

Anderssein des Naturdurchganges begrifflich abgeschlachtet


will, als
wird. So kann jene Täuschung zu Stande kommen, als ob mit
dem „Begreifen" auch schon das „ Versöhntsein " mit der leidvollen
Existenz gegeben sein müsse; eine Täuschung, die innerhalb des
Theismus in den mannigfaltigen Formen der Theodicee auf-
tritt. —
Sofern der Geist eben nichts will als erkennen, und überzeugt
ist, dass er vermöge seiner Stelle in dem All-sein erkennen kann,

kommt es allerdings gar nicht darauf an, was erkannt wird. Auch
die Erkenntniss der pessimistischen Weltbeschaffenheit kann auf
diese Weise dem Philosophen Momente reiner intellectueller Be-
friedigung gewähren, solange nämlich sich seine Seelenkräfte je-
weilen ganz im theoretischen Triebe concentriren*) deswegen
;

hebt aber die pessimistische Erkenntniss doch nicht sich


selbst auf.
Insbesondere aber wird dies der Fall sein, wenn der theo-
retische Trieb zugleich das, was er als das Edelste in sich erachtet,
das Logisch- Vernünftige, als das An-sich des ihm objectiv gegen-
über stehenden Seins erkennen darf. Aber damit steht man dann
auch schon an den enggezogenen Grenzen des logistischen Opti-
mismus in seiner vollen begrifflichen Reinheit. Denn nur so weit
ist ein Optimismus des reinen Denkens vorhanden, als der Geist
absolut nicht auf die, durch seine befriedigende Reflexion hervor-
gerufene Lust zurückschaut und sie in seinem Urtheil mit in
Rechnung setzt. Nur so weit dieser Optimismus nichts weiter be-
deutet als den Syllogismus: „ich bejahe mein logisches Denken,
weil es mein Denken ist; das Weltsein entspricht inhaltlich
meinem Denken, ergo: bejahe ich das Weltsein'', nur soweit ist
er reiner logistischer, panlogischer Optimismus und nach Object
und Methode Gegensatz des Eudämonismus und einer eudämo-
nistischenLösung der axiologischen Frage. —
Aber ist das denn
überhaupt eine Lösung der axiologischen Frage? Sicherlich nicht!
Wir können ein Werthurtheil nicht fällen ohne den Begriff
des „gut", „besser", „best". Sobald wir aber sagen: „mein logi-
sches Denken ist gut; das Weltsein entspricht meinem logischen

*) Das erinnert an jenen französischen Arzt, der behauptete, eine tödt-


liche Kugel veranlasse den Getroffenen, vor dem Umsinken, einige Dreh-
bewegungen zu machen; eine Ansicht die von Collegen bestritten ward.
"Während einer Revolution erschossen, drehte er sich tödtlich getroffen um
sich selbst, indem er rief: ich hatte doch Recht — der Erschossene dreht
sich ! —Ferner auch an jenen Assistenzarzt Prof. Virchow's, der während
der letzten Berliner Cholera-Epidemie eines Morgens mit ganz freudig leuch-
tendem Gesichte zu Virchow in's Zimmer getreten sein soll, rufend: ich habe
die Cholera — ich gehe nach Hause; — erfreut an sich selbst ein Versuch s-
object einer von ihm selbst erdachten Heilmethode zu haben.
328 Die Opposition vom Standp. d. panlogistischen Optimismus.

Denken, ergo ist das Weltsein gut" — so stehen wir vor der
Frage: warum mein logisches Denken gut? Das Logische ist
ist
einfach, was es ist, a = a; wäre das reine Denken, als endliches
Moment des absoluten Denkens, alogisch, so könnte das dem in
der Action des reinen Denkens aufgehenden Geiste ganz gleich
sein, und fände er dann auch das objective äussere Sein alogisch be-
stimmt, und so seinem Denken adäquat, so müsste er die alogische,
wie jetzt die logische Welt, bejahen und ihr seinen Beifall spenden.
So wie aber der Begriff des „gut" oder „besser" mit dem Logi-
schen verknüpft wird, wird auch die Grenze zwischen der rein
logistischen und der eudämonistischen Weltbeurtheilung aufgehoben,
und damit die Anerkennung ausgesprochen, dass es nicht nur für
den noch in den Banden des Naturseins und seiner Zwecke be-
fangenen Intellect und dessen practisches Calculiren, sondern auch
für das theoretische Denken ein zu berücksichtigendes, ausser
ihm selbst stehendes Etwas giebt.
In der That begnügt sich niemand mit der bloss formalistischen
Seite des Logischen, um dasselbe zu bejahen; sondern das Logische
wird bejaht als das Vernünftige, d. h. als das Logische ange-
wandt auf das Unvernünftige. Das relativ Unlogische des Wider-
spruchsmoments in der diabetischen Selbstbewegung der Idee aber
kann dieses Unvernünftige nicht sein, denn wie sollte es als ein
Fremdes empfunden werden, inmitten des allgemeinen Fliessens
des Logischen, wenn es nur eine Form dieses letztern selbst wäre?
So wenig die empirische Welt erklärt werden kann aus dem
einen Princip des blinden alogischen Willens, ebensowenig kann
die von dem Denken nicht construirbare, einzig zu erfahrende Rea-
lität aus dem Princip des Logischen erklärt werden. Der über-
zeugende Nachweis der Nothwendigkeit, die Idee als die Ideal-
thätigkeit eines Wesens, dessen anderes Attribut der realitätsetzende
Wille ist, anzunehmen, ist nach Schelling's Vorgang von E. von
Hartmann erbracht worden.*)
Wie die Naturphilosophie und die Psychologie die Annahme
eines solchen Attributes fordern, welches für die der begrifflichen
Erfassung transcendenten Realität (die bloss negativ - richtig be-
zeichnet wird als „ Anderssein der Idee"), so wie für die von dem
reinen Denken nur zu oft als unüberwindlich empfundene Gefühls-
opposition den Grund abgiebt, so sehen wir auch das reine Den-
ken da, wo es die Weltschätzung vornehmen möchte, auf ein

*) E. von Hartmann: Gesamm. Studien u. Aufsätze. D. p. 663—679,


und 627—629; ,.Neu-Kantianismus, Schopenhauerianismus und Hegelianismus,
p. 268—273; „Phil. d. Unb." 9. Aufl. Bd. II. p. 419—424 u. Bd. I. p. 106-107
und 154.
Der Optimismus des reinen Denkens. 329

ausser und neben ihm stehendes Princip verwiesen, ohne welches


es doch nur ein lebloser Schemen in resultatlosem Kreisen um sich
selbst bliebe.
Eine wie grosse Macht auch das reine theoretische Denken
sei, doch nicht die ganze Seelenthätigkeit. Das Denken wird
es ist
sich bald selbst wieder dessen bewusst, dass es seine vollendetste
Berechtigung erst als practisches Denken gewinnt, das heisst
dadurch, dass das formal Logische als Practischvernünftiges in der
Individual-,und vermittelst derselben in der Weltteleologie
wirkt, welche Weltteleologie eben nicht die blosse Selbstbespiege-
lung der in dialectischen Kreisen tanzenden Idee ist. —
Jener berechtigte logische Optimismus des reinen Denkens,
der die Logicität des Weltgeschehens nach seiner inhaltlichen Seite
erkennend, sich über die Uebereinstimmung der Seins- und Denk-
formen freut, er ist kein Gegensatz zum modernen philosophi-
schen Pessimismus. Wir wissen bereits, dass derselbe Raum findet
innerhalb eines absoluten eudämonologischen Pessimismus, und
dass er das Fundament des sogenannten evolutioneilen Optimismus
in Hartmann 's System bildet, nämlich Fundament jener Weltan-
schauung, wonach innerhalb des Weltseins ein immer grösseres
Quantum bewusster Vernünftigkeit in den socialen, politischen und
individual- ethischen Institutionen objectivirt wird.
Wir haben gesehen, dass weder die Sittlichkeit noch die re-
ligiöse Bethätigung Selbstzweck des Weltseins sein können; eben
so ist die Anschauung: es sei die Welt mit ihrem Ueberschuss an
Unlust auf allen Stufen des Seins nur dafür da, dass in einer
Minderheit höchststehender Individuen der absolute Geist seine
ideelle Insichzurückbiegung intellectuell geniessen solle, während
er wesenhaft überall sich stetig selbst besitzt, eine solche An-
schauung, bei der sich auch das reine Denken nur vorübergehend
beruhigen kann, indem es sich selbst sein unendliches Sehfeld be-
schränkt.
Es ist die Unlust der Welt das schlechthin Unvernünftige.
Das Leid im Einzelfalle mag — abgesehen von der formalen Lo-
gicität des Inhalts des die Unlust verursachenden Seinsmomentes —
relativ vernünftig sein, d. h. einem Zwecke angemessen (ethische
und religiöse Rechtfertigung des Leides und der Unlust) aber dass
;

überhaupt ein Sein sein soll, in dem solche Mittel gefordert sind
zu einem letzten Endzwecke, der selbst nicht mehr bietet, als was
das Nichtsein auch gewährt, das ist das absolut Unvernünftige.
Das Logische ist nur deswegen das „Gute", das „Bessere"
einem imaginirten Alogischen gegenüber, weil es im Dienste des
absoluten Eudämonismus steht, wobei es — als ein recht bitteres
Mittel gegen ein bitteres Uebel — auf Schritt und Tritt die Auf-
330 Die Opposition vom Standp. d. panlogrstischen Optimismus.

Opferung des Individual-Eudämonismus verlangt. Das Logische


angewandt istdas Vernünftige, weil es bezweckt seine
eigene Anwendung überflüssig zu machen!
Wenn ich mir einen Splitter ins Fleisch stosse, den ich nicht
herausziehen kann, und die medicatrix naturae hilft mir, indem sie
Eiterung einleitet und mit dem Eitertropfen den Splitter ausstösst, .

so vermag zwar mein Denken den physiologisch -pathologischen


Vorgang (ausserdem, dass er ein causaler ist) auch als einen teleo-
logischen zu verstehen und als solchen als vernünftig zu bejahen;
aber deswegen habe ich die Schmerzen der Eiterung doch und
wünsche den ganzen Vorgang als nicht seiend; und eine sogar fürs
Tollhaus passende rare Curiosität wäre ich, wenn ich mir absicht-
lich Splitter einstiesse, um den logischen Vorgang des Natur-
heilprocesses rein- denkend zu gemessen. So kann auch das Ur-
theil, dass der Weltinhalt logisch sei und reiche int eile ctuelle
Befriedigung zu schaffen vermöge, nicht den pessimistischen Schluss-
satz aufheben die Welt wäre besser nicht.*)
:

Eine Welt in der die reinen Denkformen einerseits und an-
derseits die Seinsformen (sammt den aus letzteren herauswachsenden
natürlich- sinnlichen Anschauungsformen) auseinander klafften,
wäre allerdings noch schlimmer als unsere Welt**); aber wenn

*) Wir haben schon in der Einleitung bemerkt, wie unpassend der


Terminus „Pessimismus" eigentlich ist, weil auch der absolute eudämono-
logische Pessimismus ihn nicht strict verbal nehmen kann, sondern damit nur
den Begriff „schlechter als keine Welt" verbindet.
**) Wenn daher A.Schweizer (in einer Kritik der Hartmann'schen
„Phän. d. sitt. Bew.") bemerkt, es entpuppe sich der Pessimismus als ge-
brochener Eudämonismus, es sei derselbe nur die Verzweiflung an der posi-
siven Eudämonie an deren Stelle die negative gesetzt werde, so ist das
,

freilichdurchaus richtig; es ist aber damit dem Pessimismus keine Schande


nachgesagt und auch der Hartmann'schen Philosophie keine Blosse aufge-
deckt. Es ist kein Widerspruch: die Verurtheilung des Individual-Eudämonis-
mus und die Proclamation des absoluten negativ-eudämonistischen Princips
des sittlichen Handelns im Dienste der Weltteleologie. Denn die Verbin-
dung ergiebt sich aus der Natur des Idealprincips, des Logisch-Vernünftigen.
Allerdings ist ein .Widerspruch" vorhanden, aber er liegt nicht in Hart-
mann's Weltanschauung, sondern im realen Weltsein, in dessen innerster
Herzwurzel; dass die Vernunft, die letzten Endes das Wohl will, auf ihrem
Wege zu diesem Ziele, der ohnedies zwischen den Dornhecken der Unlust
durchführt, auch noch so oft selbst die Schaffung von Unlust fordert im
Dienste vernünftiger Sittlichkeit, das ist die Folge des Realwiderspruches
des Willens: der erstrebt, was nicht zu erstreben ist. Das Sein ist dafür
verantwortlich zu machen, dass eine pessimistische Ethik zu Gunsten eines
absoluten (negativen) eudämonologischen Zieles die Vernichtung des indivi-
dual-eudämonistischen Strebens fordern muss, was die Vernunft beständig
unsystematisirt in den concreten Fällen thut, wo sie die Unterordnung des
sinnlichen Behagens unter ihre Gebote beansprucht, wenn auch in ihren
Anwendungen auf die untergeordneten Verhältnisse des individuellen Lebens
Der Optimismus des reinen Denkens. 331

keine Welt wäre, wäre auch das Nichtsein des Logischen kein
so
Mangel. Was gegen den Vergleich des Seins mit dem Nicht-
sich
sein sträuht, das ist gar nicht das logische Princip in uns, da
dieses sich nur hejaht unter der Bedingung, dass es ist, nicht
aher sich erstrebt; sondern der blinde Wille zum Sein. Auch
der eifrigste Weltbejaher geht jede Nacht zu Bette mit dem
Wunsche: möglichst schnell in die Bewusstlosigkeit des gesunden,
traumlosen Schlafes zu versinken; und doch ist diese Schlaf bewusst-
losigkeit für das reine Denken des endlichen Geistes gleich dem
Nichtsein. Wäre der Wille quiescirt, so wäre das Nichts gleich-
werthig mit dem Etwas, das Nichtsein so berechtigt wie das Sein.
Man muss nur eine saubere Scheidung vornehmen zwischen dem
Inhaltgebenden, denkenden, und zwischen dem Realitätsetzenden,
Bewegungverursachenden, das Beharren und den Widerstand her-
vorbringenden Willen, um darüber klar zu werden, dass nicht die
Einsicht, dass die Welt logische Entwickelung sei, sich gegen das
Nichtsein sträuben kann, sondern einzig der Wille, der das Sein
auch dann wollte, wenn sein Inhalt alogisch wäre, was der Wille
beständig durch die Zähigkeit beweist, mit der er logisch über-
wundene und zum Untergang in ihrem Gegensatz bestimmte Posi-
tionen festhält.
Am reinsten findet die panlogis tische Opposition in J. Volkelts
Schrift „Das Unbewusste und der Pessimismus" *) ihren Ausdruck.
Volke lt dem Welt-
leugnet nicht die erheblichen Unlustquanta in
sein (obgleich auch er gegen den Hartmann'schen Nachweis des
empirischen Pessimismus zu Felde zieht), er zeigt sogar auf, wie
auch die Hegel'sche Philosophie, vermittelst des Bewegungs-
principes des Widerspruchs, der Thatsache des Weltleides gerecht
werde. Der Widerspruch ist „der Pfahl im Fleische der Idee",
und wenn die Unlust der Gefühlsreflex des real gewordenen, re-
lativ unlogischen Widerspruchsmoments, die Lust aber der Reflex,
der die Widersprüche aufhebenden höheren Synthese ist, so sieht
Volkelt sich doch genöthigt, einzugestehen, dass „das Versöhnte,
Harmonische in viel schwächerem Grade, als ihm objectiv zukäme,
ins Bewusstsein falle"; ein Zugeständniss, welches also ganz mit
Hartmanns Lust- und Unlust -Theorie übereinstimmt, und trotz
der Annahme, dass jedem Entzweiungsmoment sein Versöhnungs-
moment nachfolge, doch allein hinreichte, die pessimistische Be-
hauptung von dem Ueberschuss der Unlust über die Lust zu recht-
fertigen.

ihr Standpunct nur je um eine geringe Stufe über den des elementar-natür-
lichen Augenblicks-Zwecks erhaben ist.
*) Berlin, Henschel, 1873.
332 Die Opposition vom Standp. d. panlogistischen Optimismus.

Der Pessimismus wird von Volkelt als die Weltanschauung


bezeichnet, welche im „Widerspruch stecken bliebe". Da nun
einerseits das Sein seine inhaltliche Mannigfaltigkeit nur durch
den beständigen Ein- und Durchgang durch den Widerspruch ge-
winnt, zum andern das Weltsein als Realität, als Anderssein der
reinen an-sich-seienden Idee der Widerspruch par excellence ist,
so ist die allseitige Berücksichtigung des Widerspruchs in seiner
allerrealsten Wirksamkeit als Unlust sicherlich vollberechtigt.
Denn nirgends giebt es ja eine Stelle im Sein, wo der Widerspruch
nicht wäre, und aller Fortschritt, alle Vermehrung des Formreich-
thums des Seins und alle Verfeinerung des Seins in der Umwand-
lung des nur erst Unbewusstpsychischen zum Bewusstgeistigen und
reinen Für-sich-seins entsteht ja nur dadurch, dass jede höhere
Einheit wieder einen noch schärfer zugespitzten Widerspruch aus
sich gebärt.
Nirgends giebt es ein auch nur relativ dauerndes Schweben
in der reinen Lust über den versöhnten Gegensätzen ausser in dem
abstracten Denken, welches nicht sowohl das reale Sein zu
seinem Objecte macht, als vielmehr nur dessen formales Schema
und ideellen Grundriss. Und darum ist —
wie wir bereits oben
bemerkten —
der Optimismus voll berechtigt für die einseitige
Weltbetrachtung, die bloss den Inhalt, das „Was" und „Wie" be-
rücksichtigt, und sich dabei ihrer willkürlichen Beschrän-
kung auf die eine Seite bewusst bleibt; aber er wird zum
aufgehobenen Moment in einer Weltanschauung, die, wie sie ob-
jectiv auch das „Dass" der Welt in ihren Betrachtungskreis zieht,
auch dem ganzen Menschen auf allen Stufen seines Lebensganges,
von der naturbefangensten Gefühls Unmittelbarkeit bis zur Höhe
des genialen Uebersichselbsthinausschauens gerecht zu werden
strebt. —
Da Hartmann selbst es unternommen hat, die von J. Volkelt
erhobenen Einwürfe gegen den eudämonologischen Pessimismus zu
beantworten (Neu-Kantianismus, Schopenhauerianismus und Hege-
lianismus), so brauchen wir nicht weiter auf die genannte Schrift
einzugehen und können uns nunmehr einer andern Form der auf
panlogistischer Grundlage erwachsenen Opposition zuwenden. Q
Unter „panlogistisch" möchten wir nämlich auch diejenige
Auffassung des Weltgrundes verstanden wissen, welcher zwar nicht
wie der Hegelianismus das Logische schlechthin, oder die Idee,
oder den Begriff für das Absolute selbst nimmt, sondern das Lo-
gische als Attribut des absoluten Geistes auffasst, aber derart, dass
es das Erste und Unbeschränkte ist, welches nicht neben dem
Willen subsistirt Hartmann), sondern Eins mit dem
(Schelling,
Willen sein soll. Besonders die speculative Seite des Hart-
Der metaphysische Optimismus etc. 333

mann'schen Pessimismus wird unter diesem Gesichtspunct ange-


fochten. Das Uebereinstimmende mit dem zuletzt erörterten Angriff
besteht darin, dass der Pessimismus als philosophische Weltan-
schauung bekämpft wird, dass das für das axiologische Urtheil
maassgebende Moment ausschliesslich im Denken gesucht wird,
daher der empirische Pessimismus, wenn auch zugestanden für den
natürlichen Menschen, doch als bloss untergeordnete, provisorische
Lebensanschauuug, und der Optimismus als einzig würdige Welt-
anschauung für den seiner ewigen Wurzelhaftigkeit eingedenken
Menschen behauptet wird. Der Unterschied aber ist, dass es be-
sonders das transcendentale Denken, das speculative Versenken in
das metaphysische Seiende ist, welches den empirischen Pessimis-
mus zum aufgehobenen Moment des Optimismus machen soll.
Während also von dem bis jetzt betrachteten Standpunct aus der
panlogistische Optimismus als absoluter einem, im eudämono-
logischen Pessimismus aufgehobenen (relativen) logisch-evolutionellen
Optimismus entgegengestellt wurde, wird von der im folgenden
Abschnitt zu erörternden Position aus ein metaphysischer Op-
timismus dem metaphysischen Pessimismus gegenüber
gestellt.

2. Der metaphysische Optimismus contra meta-


physischen Pessimismus.
Der metaphysische Optimismus ist die Ansicht, dass, wie immer
auch die Welt bezüglich des Verhältnisses von Lust und Unlust
beschaffen sei, das absolute Wesen in seiner Welttranscendenz, als
göttlicher Geist, in reiner intellectueller Wonne subsistire.
Es stützt sich auf eine solche Auffassung
diese Vorstellung
des Absoluten und seines Verhältnisses zur Welt, wo zwar dem
Wortlaut nach die Immanenz des Absoluten streng festgehalten
werden soll, wirklich aber eine Schranke zwischen dem absoluten
Wesen und seiner immanenten panlogistischen Action dadurch
gezogen wird, dass dem ersteren ein selbstständiges, transcendentes
Bewusstsein zugedacht wird; welches überseiende Bewusstsein die
Summe des innerweltlichen Bewusstseinsinhaltes nur als elemen-
taren Bestandtheil seines göttlichen Denkens in sich aufnimmt. Bei
diesem Vorgang im göttlichen Selbstbewusstsein soll dann entweder
der Schmerz der Creatur, als bloss dem Vergänglichen angehörend,
gar nicht percepirt werden, oder doch nur als ein untergeord-
netes Moment gegenüber der weltschöpferischen Wonne, die das
334 Die Opposition vom Standp. d. panlogistischen Optimismus.

Absolute in seiner Selbst aus Wirkung im panlogistisch gedachten


Weltprocesse finden soll. Der endliche Geist aber, nachdem er
sich zu der speculativen Höhe des metaphysischen Optimismus auf-
geschwungen, soll nun in seiner philosophisch - religiösen Selbst-
losigkeit und in dem erhebenden Gefühl seiner Wesenseinheit mit
dem transcendent-seligen absoluten Geiste die empirischen Mängel,
die ihm, sofern er als Naturwesen davon betroffen wird, Unlust
bereiten und die, wenn allein und ausschliesslich betrachtet, zum
Pessimismus führen müssten, geringe achten lernen; er soll das
Weltleid, wenn es auch realiter unüberwindlich ist, doch idealiter
überwinden, vermittelst der Durchschauung seiner Beschränkung
auf die Endlichkeit, und sich so mit dem Leben um seines trans-
cendenten seligen Reflexes willen aussöhnen. Die in Frage —
stehenden Puncte sind also: erstens der Bewusstseinszustand des
Absoluten, und zweitens die Stellung des philosophirenden Indi-
viduums zu diesem Zustand des Absoluten.
In Hartmann's concretem Monismus ist es der absolute "Geist,
als absolutes Subject-Object, welcher in seinen individuellen Ein-
schränkungen der All-Eine Träger aller Empfindungen ist. Es ist
der All-Eine Geist, welcher in einem Individuum Lust und im an-
dern Unlust empfindet, weil er in beiden actives und passives
Subject ist. Die empfindende Creatur ist das Sensorium des Ab-
soluten; das Bewusstsein des Absoluten ist die Summe von dem
Bewusstsein in dem lebenden Wesen; und zwar empfindet das All-
Eine unmittelbar in den Individuen, d. h. in der durch den indi-
viduellen Existenzmodus bedingten Form, wenn es auch das nicht
mehr individuelle, sondern all-einige Wesen ist, welches die Em-
pfindung trägt. Ausser diesem seinem Bewusstsein in der Welt hat
das Absolute kein inhaltlich bestimmtes, d. h. sich als Subject
objectiv entgegengestelltes Bewusstsein. Dies ist ein Fundamen-
talsatz einesconsequent gedachten Monismus; es ist aber auch
enger bestimmt die Voraussetzung eines concreten Monismus,
d. h. eines Monismus, der, ohne dass er das empirische Individuum
seiner Wurzelhaftigkeit im All-Einen beraubt, ihm doch die em-
pirische, erfahrungsmässige Selbstständigkeit und (scheinbare) will-
kürliche Gegensätzlichkeit gegen den All-Einen Urgrund des Seins
begreifen lässt. Hätte das All-Eine ein Bewusstsein in der Mensch-
und Thierheit, so müsste dieses, wenn das, was man unter monisti-
scher Einheit von Welt und Absoluten versteht (und zu einer
halbwegs vollständigen Natur- und Welterklärung nicht missen
kann), wirklich bestünde, in das Bewusstsein des endlichen Geistes
hineinscheinen. Hiervon frei wäre nur allenfalls ein rein ausser-
Weltliches, leeres Unlustbewusstsein, wie es nach Hartmann das
Absolute in Folge der Ueberlegenheit des unendlichen Willens
Der metaphysische Optimismus etc. 335

über die ihrer Natur nach endliche Vorstellung in sich (ausser


oder hinter der Weltexistenz, ausser-raum-zeitlich) trägt, aus-
d. h.
genommen; weil es vermöge seiner Inhaltlosigkeit nicht
in eine
Bewusstseinsform eintreten könnte, deren Existenz sich auf der in-
haltlichen Gegensätzlichkeit der Idee- erfüllten Willensacte erhebt.
Alle Einwendungen gegen den metaphysischen Pessimismus
Hartmann's sind also eigentlich Angriffe gegen dessen Monismus
und alle Versuche einen metaphysischen Optimismus auf Grund
eines behaupteten transcendenten Selbstbewusstseins Gottes zu retten,
welches, ungeachtet des mehr oder minder willigen Zugeständ-
nisses, dass das empirische Leben ein überwiegend leidvolles sei,
als wonnig erklärt wird, sind eben so viele Attacken gegen den
Monismus überhaupt. Denn indem man dem Absoluten die inner-
weltliche Empfindung abspricht, oder indem man ihm ein ausser-
weltliches Bewusstsein zuertheilt, sinkt das Weltsein zu etwas vom
Absoluten losgelösten hinunter, und wird das zweitheilige Bewusst-
sein zu einer Schranke, jenseits welcher die Welt, wie das Product
dem Künstler, der Gottheit gegenüber steht, oder —
im günstigsten
Falle — als das lebendige Kleid der Gottheit, nicht aber als der
Leib, die Incarnation Gottes sich darstellt, wie es der Sinn
des Monismus ist. —
Die Opposition gegen den metaphysischen Pessimismus tritt
theils in negativer Form auf, indem der Nachweis versucht wird,
Hart mann habe seinen Prämissen gezogen;
falsche Schlüsse aus
theils in positiverWeise, indem Speculation gegen Speculation ge-
setzt, und sogar einige „Vielleicht" und „Möglichkeiten" zur Con-
struction einer metaphysischen Seligkeit mithelfen müssen. —
In ersterem Sinne verfährt J. Rehmke (d. Pess. u. d. Sitt-
lichkeit), indem er die Hypothese der ausser weltlichen Unlust, ver-
möge unerfüllten Wollens im Absoluten, für einen logisch fehler-
haften Gedanken erklärt.
Er meint (p. 70, 71), es sei das „leere Wollen" und damit die
Unseligkeit im Absoluten eine blosse, unverständliche Phrase; ab-
gesehen davon, dass der Begriff des „leeren Wollens" undenkbar sei,
so müsste mit dem Beginn des Weltprocesses die Unseligkeit be-
seitigt sein, da ja nun die Leere erfüllt sei. Denn der aufgestellte
Gegengrund, nämlich die Idee von der Endlichkeit der Vorstellung
gegenüber der Unendlichkeit des Willens, sei ebenso phantastisch
wie der Unbegriff des leeren Willens selbst. „Ohne neue Phan-
tasterei hinein zu mischen, wird „der Wille ist potentiell unend-
lich" doch nur heissen: die Potenz Wille des Unbewussten hört
nie auf zu sein; dann kann aber unmöglich folgen dürfen: „und
in dem Sinne ist das Leere unendlich", denn dieses hört doch wohl
auf zu sein, sobald das erfüllte Wollen, in dem also die Vor-
336 Die Opposition vom Standp. d. panlogistischen Optimismus.

Stellung hinzukommt, eintritt, und zwar müsste jenes so lange


wenigstens aufhören zu sein, als ein erfülltes Wollen des Absoluten
da ist." Angenommen aber auch, das vorweltliche und ausserwelt-
liche Wollen wäre möglich und es bestände dadurch eine ausser-
ordentliche Unseligkeit, so wäre in diesem Falle der Weltprocess
selbst nicht mehr ein weiterer Grund der Unlust des Absoluten,
indem der Weltprocess, als erfülltes Wollen, dem Weltwesen
wenigstens keine Unlust einbringen könne. In der Welt könne
zwar das Individuum Unlust erfahren, sofern dieses in seinem
Wollen gehemmt werde, nicht aber das Absolute, denn das Ab-
solute habe in der Welt seine Willensbefriedigung and sei nicht
Träger der aus den individualistischen Hemmungen entspringenden
Unlust. Man dürfe die dem Individuum erwachsende Unlust nicht
„doppelt anschreiben", da dies eine Vermischung des Gegensatzes
von Absolutem und Individuum sei.
Der erste Punct dieser Einwendung: Die Verwerfung des Be-
griffs des leeren Wollen-wollens (nicht „Wollen" schlechthin,
da Hartmann kein echtes Wollen ohne Inhalt einer Vorstellung
kennt) und der aus demselben resultirenden Unlust hat in erster
Linie die Bedeutung, dass er es ermöglicht, den Weltprocess schon
in seinem Beginn als absolut teleologisch bestimmt zu begreifen;
er dient als Schlüssel zu dem schwierigen Problem: wie aus dem
blinden, alogischen Willen und aus der, an sich bezüglich ihres
Seins oder Nichtseins absolut indifferenten Idee ein logischer Process
entstehen kann; und wie ferner das All-Eine zur actuellen Zer-
spaltung in der Weltexistenz gelangen kann; nicht aber fusst der
metaphysische Pessimismus in dem Sinne darauf, dass letzterer mit
jenen Begriffen steht oder fällt, was Rehmke —
und wie wir
gleich sehen werden auch Borries (d. Pessimismus als Durch-
gangspunct zu einer universalen Weltanschauung) —
anzunehmen
scheint. Ob des Schlüssels krauser Bart seinen soeben genannten
Dienst thut oder nicht, lassen wir hier auf sich beruhen und geben
auch willig zu, dass der Begriff des leeren Wollen- Wollens ein
recht schwieriger, sowie das ausserweltliche Bewusstsein Unlust
auf der Grenze zwischen Uebersein und Weltsein ein befremdender
Gedanke ist. Aber welchen Wahrheitswerth oder Unwerth diese
Partie der Hartmann'schen Philosophie habe, Rehmke 's Kritik
trifft dieselbe nicht, denn sie fusst auf einem doppelten Missver-
ständniss. Rehmke meint nämlich, Hartmann mache sich dabei
eines Missbrauches des Grössenbegriffs schuldig; indem erst
Wille und Vorstellung zu Grössen hypostasirt, und dann die un-
endliche Grösse des Willens der endlichen Grösse der Vorstellung
gegenüber gestellt werde. Das ist aber nicht der Fall. Mit der
Unendlichkeit des Willens gegenüber der Endlichkeit der Vor-
Der metaphysische Optimismus etc. 337

Stellung soll nur die Gegensätzlichkeit der beiden Attribute be-


zeichnet sein, wie sie es eigentlich schon mit dem Begriff der
Alogicität des Willens gegenüber der Logicität der Vorstellung
ist, nämlich die Eigenschaft des Willens: ausser allen Bestimmungen
zu stehen, und daher stets eine jede Form, die ihm durch die
Vorstellung zur Realisation geboten wird, zu überragen.
Rehmke irrt sich, wenn er meint: es könne der Wille ohne
Phantasterei nur als „endlos" im Sinne von nicht aufhörend, be-
zeichnet werden; man braucht sich nicht mit dieser einfachen Be-
stimmung zu begnügen. Beim Willen als Attribut- des Absoluten
ist sie selbstverständlich; für das weltsetzende Wollen glaubt
Hartmann, die Endlosigkeit in dem Sinne wie Rehmke sie
meint, als zum mindesten fraglich nachgewiesen zu haben. Im
Sinne Hartmann's bedeutet aber die Unendlichkeit des Willens
die Ungefügigkeit des Willens unter das Joch des Logischen,
welch' letzteres, sobald es überhaupt ist, nur ist in sich selbst seiner
Form gemäss Beschränktes und Beschränkendes. Fern davon also,
dass ein Missbrauch des Zeit- oder Raum- oder Gross e-Begriffs
vorliegt, soll gerade die Bezeichnung dazu dienen, die Unfähigkeit
des Willens deutlich zu machen, durch zeitlich-räumliches, quan-
titativ-qualitatives Werden und Sein seiner Ganzheit nach erfüllt
zu werden. —
Wir befinden uns hier eben auf dem glattesten Glatteis des
transcendentalen Denkens, welches Glatteis dadurch entsteht, dass
man unräumliches, unzeitliches Geschehen durch Begriffe fassbar
zu machen versuchen muss, bei deren Bildungsprocess räumlich-
zeitliche Vorstellungen bereits mitwirkend waren. —
So sehen wir denn auch Borries (in obengenannter Schrift)
dem Irrthum verfallen, die ausserweltliche Unlust finde nur Stellung
durch falsche Anwendung des Zeitbegriffes.
Borries hat Recht, dass der Zwischenzustand der Initiative
des Wollen-wollens, bis es durch Ergreifung der Vorstellung zum
Wollen-können geworden ist, nur ein Moment ist, und nur durch
missbräuchliche Anwendung des Zeitbegriffes auf Vorzeitliches zum
Stand der Unlust gemacht werden könnte. Aber Hartmann sucht
l'a auch die Unlust gar nicht hier, sondern in der Ausserzeitlich-
keit und Ausserräumlichkeit neben dem zeitlich-räumlichen Welt^
wollen. Das „neben" der Welt und ihrer Zeit-Räumlichkeit aber
ist kein Missbrauch des Raumbegriffs, denn es setzt nur etwas in
Gegensatz zur Innerräumlichkeit und Innerzeitlichkeit; es ist das
„Neben" ein Begrenzungsbegriff, wobei aber das Begrenzende
noch ganz auf innerweltlichem Gebiete bleibt.
Die „Ewigkeit" bezeichnet bei Hartmann nicht die ohne
Ende dauernde Zeit, sondern die Ausserzeitlichkeit, die Nicht-Zeit.
Plümacher, Pessimismus. 22
338 -Die Opposition vom Standp. d. panlogistischen Optimismus.

Nun auch kein Ungedanke, wenn man sich die Unlust des
ist es
ewig unerfüllt bleibenden Willens als „gleichzeitig" (das „Gleich-
zeitig" als auf die Zeitlichkeit angewandtes Gegenstück zum Be-
griff„Neben" gefasst) mit der Zeit des Weltseins begreiflich zu
machen sucht. Das „Gleichzeitig" ist ebenfalls nur ein Begren-
zungsbegriff für das Yerhältniss des Seienden und Nichtseienden —
resp. Ueberseienden. —
Borries stösst sich ebenfalls an der Ueberlegenheit der Exten-
sion des leeren Wollen- wollens über die erfüllende, inhaltgebende
Idee. Er meint der Unendlichkeit des Willens stände ja die un-
endlich reiche Idee gegenüber; der Wille brauche sich nur ganz
in sie zu ergiessen, um volle Befriedigung im Weltprocess zu er-
langen. Es ist bei dieser Meinung (die Borries mit so manchen
Gegnern Hartmann's theilt) übersehen, dass der unendliche Reich-
thum der Idee, solange die Idee nur als attributives Moment im
Absoluten subsistirt, nur in der Möglichkeit gegeben ist; sobald
die Idee aber, durch den zum Wollen sich erhebenden Willen, aus
der Möglichkeit des Seins in das Wirklich-Sein erhoben wird,
wird auch mit ihrer Concretheit ihre räumlich-zeitliche Begrenzt-
heit gesetzt, die eben so ihr Wesentliches ist, wie die Unbe-
grenztheit das Wesentliche des Willens. Als wirklich-wollender
hat sich der Wille verendlicht, indem er selbst in begrenzende
Concretheit eingegangen ist; diese partielle Verendlichung der Con-
cretheit ist der Preis, den der Wille dafür zahlt, dass er vom
Wollen-wollen zum wirklichen Wollen übergehen konnte. Er rea-
girt nun freilich gegen diese Beschränkung durch die Energie,
mit welcher er alle Maassbestimmungen zu nichte zu machen strebt,
und welcher die Idee nur durch die Vervielfältigung ihrer Momente
Rechnung tragen kann; eine Vervielfältigung, der ihrerseits die
Schranke nur secundär durch den Kampf der vielen Willeusacte
mit gegensätzlichen Inhalte gesetzt wird.
Aber ob der Wille im Drange der eigenen Unendlichkeit
Milliarden über Milliarden concreter Momente der, inhaltlich un-
begrenzt reichen Idee realisire, oder nur eines, immer setzt er
damit, dass er einen Inhalt realisirt, sich selbst die Endlichkeit, die
er als bloss Strebender überragt, wie —
um ein Bild zu gebrauchen
— die Zelle den Zellkern oder der kosmische Nebel den aus sich
abgesonderten Kometkern. Der Wille ist überschiessend über die
Realität, weil der Wille alles Maass ebenso ausschliesst, wie die
Idee oder die unbewusste Vorstellung der Urquell aller Begrenzt-
heit, und damit der raum-zeitlichen Concretheit des Seins, ist. Der
unendliche Reichthum der Idee ist nur als Möglichkeit der actuell
werden-könnenden Idee der Unendlichkeit des Willens adäquat;
dagegen könnte der unendliche Reichthum der Idee in der Wirk-
Der metaphysische Optimismus etc. 339

lichkeit des Seins nur in der Zeit, in unendlich zu setzendem Zeit-


lauf werden, weil die Idee, indem sie real wird, was sie an-sich
überseiend ist, dasjenige ponirt, was subjectiv percipirt wird als
Zeit und Raum. —
Das Vorstehende soll nur zeigen, dass mit der Hypothese der
ausserweltlichen Unlust Hart mann sich nicht in Widersprüche
verwickelt; nicht aber soll es dazu dienen, einen metaphysischen
Pessimismus durch Nachweis der Nothwendigkeit der ausserwelt-
lichen Unlust begründen zu helfen.
Es steht oder fällt nämlich der metaphysische Pessimismus
nicht mit der Hypothese des ausserweltlichen unbefriedigten, zur
Unlust verdammten Willens. Der metaphysische Pessimismus ist
vielmehr die einfache Consequenz der monistischen Weltanschauung,
wobei von einer r doppelten Anschreibung" keine Rede ist, wenn
der innerweltliche Ueberschuss der Unlust über die Lust als Grund
des metaphysischen Pessimismus angeschaut wird; ebensowenig wird
das Weltdasein als solches von Hart mann als eine Quelle der
ausserweltlichen Unlust angesehen, denn es hat ja der Wille, soweit
er ideeerfülltes Wollen geworden ist, als primärer Act seine Be-
friedigung in der Welt gefunden und ist der Weltpro cess in diesem
Sinne keine Ursache der Unlust. Aber indem der Wille mit dem
Weltsein „seinen Willen hat," schafft er sich selbst als Wesen die
Unlust in seiner individualistischen Vielheit, vermittelst des Kampfes
der mit gegensätzlichem Inhalt erfüllten einzelnen Willensacte;
eine eo ipso bewusste Unlust, die jenem unbewussten Zustand des
befriedigten Wollen- wollens als etwas Wirkliches dem Unwirk-
lichen gegenübersteht.
Die Unlust, die das Absolute in dem unlustvollen Weltsein
trägt, ist nicht ein Zweites neben der Summe der von dem Indivi-
duum erfahrenen Unlust; sondern die innerweltliche Unlust kann
nur dann als Summe wirklich sein (nicht bloss als ideell gezogene
Summe gedacht werden), wenn ein Subject ihr Träger ist. Die
Unlust in der Welt und die Unlust des Absoluten ist eine und
dieselbe Unlust. Der empirische Pessimismus und der metaphy-
sische Pessimismus haben dasselbe Subject und dasselbe Object,
sowohl Subject als Object von zwei Seiten angeschaut: von em-
pirischer und von speculativer .*) Es ist eine wunderliche Be-
hauptung monistischer Philosophen (Rehmke, Borries und ver-
schiedener anderer), dass die Unlust des Individuums nicht die Un-
lust des Absoluten sein soll; insbesondere dann, wenn man den
Monismus, wie die Genannten, in schärfster Form nehmen will.

*» Vergleiche: „Zur Pessimismus-Frage". Phil. Monatshefte 1883. Heft II


und III. Insbesondere p. 67, Zeile 11—26.
22*
340 Die Opposition vom Standp. d. panlogistischen Optimismus.

und dass Wesen und Actus nicht einmal begrifflich unterschieden


werden sollen, denn es müsste dann das Absolute, in seiner un-
mittelbaren und wesenerschöpfenden Aufgelöstheit in individualisti-
scher Selbstperception, und das Absolute, als sich aus seiner in-
dividualistischen Gefühlsactivität im absoluten Denken zurückneh-
mender Geist, erst recht ein und dasselbe Subject sein.
Wie einst Kant in jüngeren Jahren gegenüber Maupertuis
den empirischen Pessimismus dadurch zu widerlegen suchte, dass
er die Wahrscheinlichkeit eines Ausgleiches von Lust und Ünlust
durch den Ausgleich der Kräfte darzulegen versuchte, so bekämpft
Borries den metaphysischen Pessimismus durch die Behauptung,
Lust und Unlust gleiche sich aus im Absoluten, vermöge der pan-
logistischen Natur seines Absoluten, in dem alle Weltmomente nur
als logische Momente vorhanden sind. Die axiologische „ Frage"
— meint Borries (p. 88 d. g. Sch.) —
„ist nur a priori dahin zu
beantworten, dass im Absoluten sich Lust und Unlust aufheben.
Die Weltseele als der letzte Träger aller möglichen physischen
Empfindungen überhaupt weiss nichts von Schmerz und Glück."
„Das Leben des Individuums kann sich auf der einen Seite einer
seltenen Glücks ertheilung rühmen, oder es kann voll von Weh und
Leid sein. Zwischen diesen beiden entgegengesetzten Standpuncten,
die wohl nie in der Wirklichkeit als strenge Extreme, Pole, vor-
kommen mögen, hegt eine unübersehbare Mannigfaltigkeit von
Mischungsverhältnissen. So auch könnte es sein, dass sich an-
nähernd in dem Leben eines Individuums ein Gleichgewicht her-
stellte in Bezug auf Lust und Unlust. Wollte man hier bemerken,
dass in diesem Falle das einzelne Individuum Gott gleich käme,
so ist zu erwidern, dass das Individuum die pathologischen Quanta
nacheinander und durcheinander, also in der Zeit empfindet, wäh-
rend Gott in der Ewigkeit oder Einszeitigkeit von solchem Wechsel
nichts weiss, sondern aller Schmerz und alle Lust der Welt, des
Universums in seiner Seele zusammenströmen und sich gegenseitig
ewig paralysiren." (p. 89.) „Würde man dem Individuum die
Frage vorlegen: Willst du leben ein Leben, worin Lust und Schmerz
wechseln, und ihm hinterher zu seiner Beruhigung versichern, dass
das Facit der Rechnung am Ende sei X Lust = X Unlust, so
möchte vielleicht das Individuum mit dem Dichter sprechen: Mill
piacer non vogliono un tormento, und lieber ein Nichtsein diesem
Wechsel vorziehen: für Gott aber, als dem Wesen, in dem im
Ewigkeitsmoment d. h. der Einszeitigkeit alle Lust und Unlust sich
gegenseitig Vorscheinen, für Gott kommt diese Frage gar nicht
in Belang. In diesem Verstände ist das Absolute in der That
„das Alles absorbirende Nichts." (p. 89.)
Das Absolute als Kosmos -Logos (wie Borries das All-Eine
Der metaphysische Optimismus etc. 341

Sein anderorts nennt), ist nicht nur der transcendente logische


Reflex, sondern auch die immanente Realität; sollte im Absoluten
ein rein-denkendes, nicht fühlendes Bewusstsein vorhanden sein, in
welchem Lust und Schmerz „erschienen" sind, so wäre dieses nur
neben oder über der Immanenz, innerhalb welcher die noch nicht
„ verschien enen," sondern sehr energisch scheinenden und in ihrem
Schein realen Empfindungen sind. Es wäre also im Absoluten als
Kosmos-Logos nicht nur ein „Weder —
noch," sondern ein gleich-
zeitiges „Weder —
noch" und „Sowohl —
als auch" von Lust
und Schmerz, d. h. im Absoluten als reinem Logos gedacht, wäre
die Compensation von Lust und Unlust zur Empfindungslosigkeit,
und in dem zum Kosmos gewordenen Logos wäre die reale Empfin-
dungssumme von Lust und Schmerz vorhanden. Wäre es aber wirklich
nicht so, wäre das empfindende Subject nicht direct der empfindende
Nerv Gottes, das Menschheitsbewusstsein nicht voll und intact und
„unverschienen" das Bewusstsein des Absoluten, dann wäre auch
der Monismus nicht Wahrheit; es wäre das Absolute nicht Welt-
psyche, es wäre dann Gott nur Grand der Welt, nicht deren
Wesen.*)
In diesem Falle hätten wir dann allerdings kein Recht mehr,
den empirischen Pessimismus auch als metaphysischen Pessimismus
zu betrachten, wie wir dann überhaupt keine Berechtigung zu
transcendenten Speculationen hätten, die selbst ihre eingeschränk-
teste Berechtigung nur unter der Voraussetzung directester Ein-
heit des empirischen Subjects (als Trägers des speculativen Denkens)
mit dem All-Einen Subject besitzen.
Auf den Pessimismus als solchen hätte es nun keinen ab-
schwächenden Einfluss, wenn auch der metaphysische Pessimismus
als philosophisch unberechtigt erachtet werden müsste. Wenn der
Grund der Welt weder deren Lust noch Schmerz percipirte, wenn
er dieser gegenüber gleich dem Nichts wäre, dann wäre er auch
für den empfindenden, und auf der Basis seines Empfindens ur-
theilenden Menschen in dem Sinne „gleich Nichts", dass eine
möglicherweise bestehende intellectuelle Wonne des Absoluten
über der zur Compensation erschienenen Empfindungssumme des
Weltseins das Nichtseiende für uns und sicherlich kein Grund,
unsern Pessimismus zu modificiren, wäre. Ebensowenig aber, als
eine möglicherweise bestehende weltabgetrennte Wonne Gottes die
pessimistische Weltbeurtheilung ändern könnte, ebensowenig änderte
der Gedanke etwas am pessimistischen Urtheil: dass möglicher-
weise „andere Welten" bestehen könnten, in denen das Verhältniss

*j Wie A. E. Biedermann neuerdings das Verhältniss seines abs.


Geistes zur Welt verstanden wissen will.
342 Die Opposition vom Standp. d. panlogistischen Optimismus.

von Lust und Unlust ein vom empirischen abweichendes sei.


„ —Dieser eine Weltprocess ist vielleicht nur logischer Durchgangs-
punct zu einem seligkeitsreichern. Gott konnte nur durch die
leidvolle hindurch die folgende sich freuende Welt verwirklichen".
Der moderne empirische Pessimismus wird zum transcenden-
talen Pessimismus, weil er die Ursache des Ueberwiegens der Un-
lust in dem Weltsein auf die Natur der Realität als Wille
zurückführt und daher calculirt: soweit die Realität geht, soweit
überwiegt die Unlustempfindung über die Lust. Wer sich einmal
genöthigt sieht, das An-sich des Weltseins als Wille und Vor-
stellung zu bestimmen, für den sind, nachdem er einmal zum em-
pirischen Pessimismus gelangt ist, die „andern Welten' worin man
1
,

sich überwiegend freut, nicht einmal mehr „mögliche" Welten.


Was aber die Welten unter andern Realitätsbedingungen betrifft,
so sind eben solche für uns keine möglichen Welten, weil uns
solche andere Bedingungen unvorstellbar sind. Borries stellt die
Frage: warum dem Absoluten Hartmanns „zwei und gerade
zwei" Attribute gegeben würden? Spinoza habe sich an die Er-
fahrung gehalten, als er sein Princip als Denken und Ausdehnung
bestimmt habe, dabei aber doch bemerkt, dass diese beiden neben
unendlich vielen andern eben nur die dem Menschen zugäng-
lichen seien. Hartmann's Verfahren aber sei willkürlich.
So lange man Hartmann nicht nachweisen kann, dass die
Erfahrung auf mehr oder weniger Principien hinweise, so lange
ist die Zweiheit vollkommen berechtigt. Hart mann hat erschöpfend
gezeigt, warum weder der Willen allein (Schopenhauerianismus)
noch die Vorstellung (Idee) allein (Hegelianismus) dem Bedürfniss
des Weltbegreifens genüge, dass aber beide Principien zusammen
durch die Einheit des Wesens verbunden gedacht, das uns zu-
gängliche Sein zu begreifen genügen. Mehr als diese zwei Seins-
principien aber können wir auch nicht einmal probeweise (um zu
sehen, was sich daraus deduciren Hesse) voraussetzen, weil wir sie
eben nicht denken können. Hat Gott mehr weltsetzende Attribute
als Wille und Vorstellung, so bringt er sich diese eben in seinem
Weltsensorium, welches unsere Welt darstellt, nicht zum Be-
wusstsein. Kommen sie einem andern
in W r
eltsein zum Für-
sich-sein, so geht das uns nichts an, da wir nicht beanspruchen
können, göttliche Philosophie zu treiben, sondern uns mit
menschlicher begnügen müssen, für welche es sich darum
handelt, Principien zu finden, die das empirische Leben be-
greiflich machen, indem sie Alles mit Allem, Physisches und
Ideelles und Moralisches im Zusammenhang der Wechselwirkung
zu sehen ermöglichen. Borries weiss weder ein neues Attribut
des Absoluten zu nennen, noch ist ihm der Wille oder die Idee
Der metaphysische Optimismus etc. 343

überflüssig; er acceptirt beide und verwirft nur Hartmanns Dis-


tinction von Potentia- undActu-Sein (ähnlich wieRehmke). Wie Hegel
(und den Hegelianern) ist ihm der Weltprocess ein ewiger; Wille
und Idee, als Eins gedacht, sind das Absolute, in dem „einszeitig"
der Kosmos ruht.
Die „möglichen Welten", in denen Wille und Vorstellung
nicht das An-sich des Seins wären, und die daher nicht eben von
unserer Phantasie vorgestellt werden können, sind einfach nicht
für uns —ob „möglich" oder nicht möglich ist da ganz gleich.
Der Pessimismus sagt nicht: die Welten sind schlechter als keine
Welten, sondern nur: die Welt ist schlechter als keine Welt.
Aber selbst angenommen, die Möglichkeit anderer Welten hätte
grosse Wahrscheinlichkeit für sich, so wäre die Compensation von
Lust und Schmerz zum Nullpunct der Empfindung in Gott wieder
ein Grund, um sie uns durchaus gleichgültig zu machen. Wenn
ein Mensch leidet, so ist es für den auch nur halbwegs Selbstlosen
noch eine Verschärfung des Leids, wenn er Andere mit leiden
sieht; und umgekehrt ist es dem selbstlosen, liebevollen Gemüthe
ein Trost in seinem Leide, Glückliche um sich zu sehen. Beides
aber ist nur möglich, weil vermöge der metaphysischen Wesens-
einheit das Mitgefühl, das Hineindenken des Einen in das Empfin-
den des Andern möglich ist. Nun vermöchten wir aber schon
mit Gott nicht Mitfreude zu fühlen an seiner logischen Befrie-
digung, wenn 'das menschliche Empfinden
von Schmerz und Lust
so weit ab von seinem Herzen zum
Nichts der Empfin-
läge, dass es
dung würde; wie viel ferner aber müsste mir erst jeine jener,
als möglich zu denkenden, freudvollen Welten stehen, zu der ich
mich nicht einmal vermittelst der Gefühlscentralisation in Gott in
Relation denken dürfte? —

3. Die Erlösung vom Sein und die Bedingungen


ihrer Möglichkeit.

Wir haben mit dem Vorstehenden zeigen wollen, dass es den


Pessimismus als solchen nicht alterirt, wenn man aus irgend welchen
Gründen auf den Hartmann'schen metaphysischen Pessimismus
zu reflectiren verzichtet; ja, dass es selbst den Pessimismus nicht
aufzuheben vermöchte, wenn, aus irgend welchen Gründen, ange-
nommen werden müsste, dass über unserer leidvollen Welt ein in
reiner Denkthätigkeit sich freuender Gott subsistirte, weil letzteres
nur unter der Voraussetzung als möglich anzunehmen wäre, dass
344 Die Opposition vom Standp. d. panlogistischen Optimismus.

der Monismus, wie wir ihn verstehen, eine Täuschung, und zwischen
Gott und Welt eine Schranke bestände, welche, wie sie Gott vor
dem empfindungsvollen Erfassen des Weltgeschehens schützte,
viceversa unser sympathisches Versenken in Gott verhinderte. Es —
erhebt sich nun aber die Frage für uns, wie es denn mit der
Hoffnung auf eine Welterlösung beschaffen sei, wenn wir
durch kritische Bedenken gezwungen wären, den metaphysischen
Pessimismus fallen zu lassen.
An die Hartmann'sche Hypothese von der vor- und ausser-
weltlichen Unlust, in Verbindung mit der Bestimmung des Form
und Inhalt gebenden Idealprincips als des absolut Logischen, knüpft
sich nämlich unmittelbar die Folgerung, dass in dem ewigen Welt-
plane die Bedingungen schon mitgesetzt seien, die unserem Denk-
und Gemüthspostulat: dem Ende des unlustvollen Weltseins, Er-
füllung verheissen. Wäre aber der Weltprocess für das überseiende
Absolute ein bloss mit Denkbefriedigung Gewusstes, so wäre die
Dauer der Welt wohl mit in dem ewigen Plane gesetzt. Das Po-
stulat des Weltendes wäre dann nur eine pessimistisch - negative
Umgestaltung des auf naiv-optimistischem Boden gesprossten Po-
stulates irgendwie zu realisirender, dies- oder jenseitiger Seligkeit,
welches trotz seiner Unzerstörbarkeit als Postulat, doch in einer
philosophischen Weltanschauung keine berechtigte Stelle mehr
fände.
Es ist ganz klar, dass man schon eine empirische Form des
Optimismus voraussetzen muss, um zu glauben, dass die Ablehnung
eines metaphysischen Pessimismus die pessimistische Verurtheilung
des Seins erschüttern könnte. Denn wenn der immanente Pessi-
mismus fest steht, so würde im Gegentheil der Wegfall des meta-
physischen Pessimismus, dadurch dass er dem Weltende-Postulat
den Wurzelgrund der Hoffnung auf Realisirung entzieht, den
empirischen Pessimismus nur vertiefen. Der Pessimismus
Bahnsens bietet das Beispiel hierfür. Zwar ist Bahnsens Pessi-
mismus ebenfalls ein metaphysischer, denn die Ursache des Welt-
elendes ist die letzte fundamentale Beschaffenheit der, als absolut
gedachten Henaden; aber in diesen Henaden liegt kein Moment,
welches durch die Erfahrung in der Welt modificirt werden könnte;
daher nennt denn auch Bahnsen die Erlösungstheorien Schopen-
hauers, Hartmann's und Mainländer's: „das vierte Stadium
der Illusion." Die Ueberwindung jeder der vorhergehenden Sta-
dien der Illusion: des egoistisch - irdisch - eudämonistischen, des
himmlisch -jenseitigen und des evolutionellen Optimismus führte
immer zu einer Erweiterung des dem pessimistischen CJrtheil ver-
fallenden Gebietes. Die nothgedrungene Aufgabe der Hoffnung auf
ein dereinstiges Ende des Weltprocesses wäre daher, da das Ge-
Die Erlösung vom Sein etc. 345

biet des Pessimismus nicht mehr erweitert werden kann, eine


Vertiefung desselben.
Wir haben bereits gesehen, dass der metaphysische Pessimis-
mus nicht sowohl darin besteht, dass man eine auss erweltliche
Unlust im Absoluten annimmt, sondern darin, dass es der imma-
nente, empirische Pessimismus ist, der zum metaphysischen wird,
wenn man seih Object, die Welterscheinung und ihre Gefühlsreso-
nanz, von der Seite ihrer Wesenheit betrachtet.
Nun ist der Monismus diejenige philosophische Idee, die den
allergrössten Anspruch auf die Wahrscheinlichkeit machen darf,
dass sie dem absoluten Verhältniss des empirischen Seins zu seinem
Wesen und Grund conform .sei. Die Idee des Monismus ist die
Centraiidee der Philosophie; die Achse, um die sich alles dreht.
Daran, jdass sie objective Wahrheit, dass sie als Idee gedank-
liches Abbild der transcendent-immanenten Wirklichkeit sei, hängt
der Wahrheitswerth der Philosophie überhaupt; ohne Monismus
keine Wahrscheinlichkeit für eine der Wirklichkeit nahe kommende
Erkenntnisstheorie; ohne Monismus aber auch keine Induction. Hat
der Monismus in dem stricten Sinne, dass in Allem, im Kleinsten
und Grössten, im Physischen und Psychischen das Eine Subject-
Object lebt, in allem Wollen will, in jedem Gefühl fühlt, in jedem
Gedanken denkt, und in dem jahrtausend alten Ringen nach philo-
sophischer Wahrheit sich auf sich selbst besinnt, keinen Anspruch
auf die größtmögliche Wahrscheinlichkeit, dann bleibt nichts übrig,
als die theoretische Verzweiflung des absoluten Skepticismus.
Diesem Skepticismus ist dann zwar noch immer die Anschau-
ung gegeben, und die Erfahrung, dass innerhalb des Kreises
affectloser Anschauung die Ereignisse einen logischen, d. h.
einem seinen Denken - müssen conform en Character zeigen; diese
Erfahrung erzeugt natürlich Befriedigung; aber dieses unmittelbar
als sicher Gegebene ist ein schwacher Ersatz für die Unlust des
Bewusstseins , über dieses Angeschaute nie auch nur um einen
Schritt hinaus zu können, nie an die Wurzel dieser (erkenntniss-
theoretisch) immanenten Uebereinstimmung des Denkens und der
Wahrnehmung zu gelangen.
Wir könnten also die Vorbedingung des metaphysischen Pes-
simismus nur dadurch verlieren, dass wir in einen noch viel boden-
loseren empirischen Pessimismus versänken, dadurch: dass wir an
unserer ewigen All-Einen Wesenheit irre würden.
Mit dem metaphysischen Pessimismus aber ist die Hoffnung
auf Ueberwindung des Weltleides vermittelst des Weltendes ge-
geben.
Wenn es das Absolute ist, welches in allem Empfinden empfin-
det, in allem Denken denkt, so ist es auch das Absolute, welches
346 Die Opposition vom Standp. d. panlogistischen Optimismus.

ches in dem mit dem philosophischen Denken selbst anhebenden


pessimistischen Bewusstsein seine eigene Activität kritisirt, und
daher darf die Welt auf das Ende ihres Jammers wenigstens
mit logischer Berechtigung hoffen —
wenn auch die Mög-
lichkeit des Gegentheils, die Ewigkeit des Weltseins, nicht ausge-
schlossen werden kann.
Aber, werden die Optimisten fragen, was ist denn mit dieser
Weltendshoffhung gewonnen, da ihre Realisation, ohne reinem
Wahnsinn anheimzufallen, nur erst in Zeiten erwartet werden kann,
die selbst der Flug der kühnsten Phantasie nicht mehr zu erreichen
vermag? Hierauf ist schwer zu antworten. Wer die Schauer der
Befriedigung noch nicht am eigenen Herzen empfunden hat, den
der Gedanke des Endes, der absoluten Ruhe, gegenüber dem Aus-
blick auf den grauenvollen Jammer und das alles durchdringende
Leid des Lebens gewährt, dem kann es nicht mit Worten klar
gemacht werden.
Und diese Empfindung ist keine krankhafte; denn sie wird
am intensivsten dann erfahren, wenn neben dem hellbewussten
Wissen vom Elend des Seins und neben dem hochflutendsten Mit-
gefühl für die leidende Mitcreatur doch auch das Bewusstsein le-
bendig ist, dass man selbst, vermöge seiner gesunden Natürlichkeit,
im Banne des alogischen Willens steht, und nicht nur instinctiv
das Leben bejaht, sondern jene Momente, wo man gerade von be-
sondern Unlustempfindungen frei ist, wo Willensbefriedigungen der
Naturtriebe und der auf Natur - Verhältnisse gerichteten Bestre-
bungen, als auch Befriedigungen höherer, geistiger Verlangen statt-
finden, ge nies st; wo man aufjubeln möchte: trotz alledem und
alledem — meinem Verstand zum Trotz, ich will leben! wo —
der „unvernünftige Sonnenschein" das Herz durchbebt, trotzdem,
dass ihm das Medusenhaupt aller der seienden und möglichen Furcht-
barkeiten entgegen starrt, welche einem stetig von Nah' und Fern
zum Wissen gebracht werden. In Augenblicken, wo man mit
Schopenhauer den Optimismus als ruchlos verurtheilen muss,
und doch sein eigenes dummes blind - williges Herz vom Optimis-
mus gesundesten Naturempfindens geschwellt fühlen muss, dann,
und gerade dann wird die Quiescirung des Weltwillens
zum Gemüths- und Verstandespostulat, weil man seinen
Lebenswillen gleichsam als ein Unrecht empfindet, als ein Bruchtheil
jener die Zähne ins eigene Fleisch schlagenden, ewig unvernünf-
tigen Macht. —
Man hat Hartmann abgeschmackter Weise angedichtet, er
empfehle einen künftigen Selbstmord der Menschheit. Damit ein
Pessimist auf den Gedanken einer selbstmörderischen Menschen-
vernichtung kommen könnte, müsste er erstlich keine Ahnung von
Die Erlösung vom Sein etc. 347

der Idee des Monismus haben; zweitens müsste er aber sebr wenig
Menscbenkenntniss besitzen und nichts von psychologischen Vor-
gängen verstehen, um an eine solche Möglichkeit glauben zu können.
Der Selbstmord ist immer von aussen motivirt; auch da, wo er,
vielleicht sogar als ererbte, Gehirnkrankheit auftritt, ist der
pathologische Reiz des erkrankten Gehirnes der Seele gegenüber
ein Aeusseres; daher ist das Gebiet des Selbstmordes stets ein
enges. Es ist gar kein Umstand denkbar, welcher, während er —
sagen wir sogar für die Hälfte der Menschheit — zum
Motiv des gemeinschaftlich unternommenen Selbstmordes werden
möchte, sich nicht für eine Minderheit zum Motiv erneuter, inten-
siver Lebensbejahung gestalten könnte; ja der Selbstmord Vieler
möchte selbst wieder zum Stachel zum Weiterleben für Manche
werden, weil sie einen weitern Spielraum für ihren Willen auf der
entvölkerten Erde fänden, oder zu finden wähnten.
Der Impuls des Endes muss aus dem Centrum kommen, wenn
das Ende ein umfassendes sein soll. Ein Vertreter der Idee des
Massenselbstmordes müsste seine Freude daran haben, wenn Natur-
katastrophen, wie die Erdbeben von Lissabon, auf Ischia, in Nica-
ragua und auf Java Tausende in den Tod reissen: denn* wenn ein-
mal das Sterben erfolgt ist, so ist das Resultat des sich Tödtens
oder Getödtetwordenseins dasselbe; es sind aber gerade solche
furchtbare Naturmorde, welche die Sehnsucht nach dem Nicht-
leben-wollen, nicht bloss nach dem Sterben-können was —
ein gewaltiger Unterschied ist —zu lebhafterer Flamme anfachen.
Dabei ist es für Aufrechterhaltung des Weltend - Postulats kein
Hinderniss, dass das „Wie" des Endes nicht vorstellbar ist; man
muss sich nur klar machen, wie eng in Wirklichkeit der Kreis
ist, innerhalb dessen wir das Werden und das Geschehen der Wirk-

lichkeit adäquat vorstellen können, und wie oft wir uns mit selbst-
geschaffenen Bildern behelfen, die als Gleichniss und als Symbol
gesetzt, später reflexionslos für das, was sie bezeichnen sollen, selbst
genommen werden.
Ob man sich mit Hartmann, als letztes Moment vor dem
Ende, die lebensmüde, todesfreudige Menschheit denken kann,
oder ob man mehr naturwissenschaftlich phantasiren und sich einen
allgemeinen Weltenerstarrungsprocess durch Paralysirung der Wel-
tenenergie vorstellen muss (wobei einem aber die Theorie von der
Erhaltung der Energie im Wechsel zwischen Potenzirung und
Actualisirung hinderlich in den Weg tritt), das ist ziemlich gleich-
gültig; Hauptsache ist, dass man sich vermittelst und auf Grund
der Weltprincipien entweder einen unmittelbaren, spontan vom
Centrum des Wesens nach der Peripherie der Erscheinung aus-
gehenden Impuls, oder aber eine allgemeine kosmisch-logische Mo-
348 Die Opposition vom Sfandp. d. panlogistischen Optimismus.

tivirung des All-Einen, als deren Reaction das Nicht-wollen-wollen


erfolgt, zu denken vermag. —

„Die Welt ist möglichen Welten;" mit diesem


die beste der
Satze hat auch Hartmann den Optimismus des reinen Denkens,
soweit derselbe seine einseitige Berechtigung besitzt, anerkannt;
sein Evolutionismus und Teleologismus sind Momente dieses Opti-
mismus, der übrigens schon bei Schopenhauer nicht gänzlich
ausgeschlossen ist, sondern als ein Zersetzungsmoment gegen sein
Princip auftritt, da letzteres für dieselben keinen Raum gewährt.
— Die Welt in der absoluten Logicität ihres Inhaltes ist die Beste
der uns denkbaren Welten, womit schon die Voraussetzung ge-
geben ist, dass kein reales Sein ohne unlustvolle Gefühlsreflexe
möglich wäre. Denn wäre eine Welt ohne Unlust möglich, so
wäre diese Welt, aller Logicität ungeachtet, schlechter als jene
Welt. Da aber das Nichtsein die Freiheit von der Unlust garan-
tirt, so schliesst das Zugeständniss „Die Welt ist die beste der
:

möglichen Welten" das pessimistische Urtheil nicht aus: „aber sie


ist schlechter als keine Welt".
Practisch, endlich, ist der Optimismus des reinen Denkens ab-
solut unfruchtbar: da jedes Seinsmoment, sowohl das positiv lo-
gische, als das relativ antilogische des Gegensatzes logisch gleich
nothwendig ist, so giebt es theoretisch keinen Grund dafür, auf
eines oder das andere practisch zu reagiren. Wenn die Rücksicht
auf die Empfindung wegfällt, so ist alles gleichwerthig, und das
Wort „Alles begreifen, heisst alles verzeihen" müsste bis zur sitt-
lichen Indifferenz ausgedehnt werden, falls der Standpunct strict
eingehalten werden sollte. Da nun die Vernunft selbst sich hier-
gegen sträubt, so ist damit eben wieder der Beweis gegeben, dass
mit der Logicität des Seinsinhaltes als solcher der Werth der Welt
und des Lebens noch nicht schlechthin gegeben, und mit der Be-
jahung des Weltinhaltes von Seite des reinen Denkens die axio-
logische Frage auch nicht endgültig gelöst ist.
Schlusswort.

Wir haben versucht den Pessimismus in seinen verschiedenen


Entwickelungsstadien zu schildern, bis zu derjenigen neuesten For-
mulirung, in welcher sich derselbe fähig erweist, allen Anfech-
tungen gegenüber Rede zu stehen und seinen Standpunct siegreich
zu behaupten.
Es ist diese Entwickelungsform des Pessimismus eine
letzte
denen das pessimistische
solche, die alle die früheren Stufen, auf
Bewusstsein sein Urtheil über die Welt fixirte, sowohl umfasst,
als auch aufhebt.
Der moderne Pessimismus umfasst den antiken Pessimis-
mus des an sich selbst verzweifelnden Individual-Eudämonis-
mus, sofern derselbe nur das negative Resultat des Glücksstreb ens
proclamirt; aber er hebt ihn auf, sofern derselbe dieses Glücks-
streben als Recht des Individuums als solchen behauptet.
Er umfasst den religiösen Pessimismus, sofern derselbe
der Welt die Eigenschaft des Selbstzweckseins abspricht und
sie zum Mittel eines metaphysischen Zweckes macht; aber er hebt
ihn auf, sofern jener den Begriff der Schuld transcendental über-
spannt und das Weltübel, statt als reines Leiden, als Sünde und
Strafe auffasst.
Er bejaht und umfasst den Entrüstungspessimismus, so-
fern dieser ethisches Pathos ist und die dem Gesammtinteresse
hinderlichen individualistischen Grenzüberschreitungen verurtheilt;
aber er hebt ihn auf, sofern jener meint, in den unberechtigten
Uebergriffen Einzelner und einzelner Classen liege die Quelle der
überwiegenden Unlust je einer Culturepoche.
Er umfasst den Weltschmerz, sofern derselbe die Allgegen-
wart des Leids constatirt, mit mitfühlendem Herzen theilnimmt an
dem Schmerz auch der niedrigen Creatur und die namenlose Sehn-
sucht der Menschenseele als das nirgends mangelnde Erb th eil des
Seins proclamirt, und ihrem unstillbaren Durst nach einem, in tau-
send Formen sich maskirenden unnennbaren Etwas, das ewig lockt
350 Schlusswort.

und nie erreicht wird (und gemeinhin „Glück" genannt wird, ob-
gleich gerade in sogenannten „glücklichen Stunden", falls diese
uns zugleich Raum zur Selbstbesinnung lassen, die undefinirbare
Sehnsucht erst recht empfunden wird), ein Denkmal setzt; aber er
hebt den Weltschmerz auf, sofern dieser sich durch sein Unbefrie-
digtsein berechtigt glaubt, sich dem activen Leben schneller zu
entziehen und aus der Klage und der Constatirung des Welt-
elendes Beruf zu machen.
Er umfasst endlich den theoretischen Pessimismus des
Skepticismus, sofern dieser auf der Thatsache der Abhängigkeit
unserer Erkenntniss von unserer psychisch-physischen Beschaffen-
heit und dem absoluten Mangel eines Kriterion für die Frage: ob
das sogenannte Erkennen wirklich transcendent oder bloss trans-
cendentale Bedeutung habe, fusst und diesen Mangel an Ge-
wissheit beklagt; aber er hebt ihn auf, sofern derselbe in dem
Mangel an positiver Gewissheit die Aufforderung zum Verzicht
auf die Nährung des theoretischen Triebes und zu der Versenkung
in das naturalistische Genussleben finden möchte.
Und während der moderne philosophische Pessimismus sich
in dem Wechsel von Bejahung und Verneinung der verschiedenen
Stufen des pessimistischen Bewusstseins herangebildet hat, tritt er
auch auf jeder der Stufen seiner Bejahung und Verneinung in
Connex zu den verschiedenen Formen der optimistischen Welt-
anschauung, wie sie zu den jeweiligen pessimistischen Formen den
jeweiligen Gegensatz bildet; hierbei ergiebt sich aber ebenso
manche relative Affirmation des optimistischen Credos, als pessi-
mistische Formulirungen zu verneinen sind.
Es ist der moderne philosophische Pessimismus als abso-
luter eudämonologischer Pessimismus ethischer Optimis-
mus, gegenüber dem an sich selbst verzweifelnden Individual-Eu-
dämonismus; indem er die Sittlichkeit als relativen Selbstzweck,
gegenüber jener Pseudo - Moral, welche die Sittlichkeit in den
Dienst der Individual-Eudämonik stellt, auf seine Fahne schreibt.
Es ist der eudämonologische Pessimismus religiöser Opti-
mismus gegenüber dem Skepticismus, welcher in dem religiösen
Trieb einen Wahn erblickt, der ferne davon, die Menschheit ihrem
wahren Ziele näher zu bringen, sie nur auf dornenbewachsene
Nebenwege leiten soll, die teleologische Bedeutung der reli-
giösen Bethätigung festhält und in den verschiedenen religiösen
Formen mehr oder minder der Wahrheit adäquate Abbilder des
objectiven Verhältnisses der Welt zu ihrem Grunde erachtet. —
Es ist eudämonologische Pessimismus ästhetischer
der
Optimismus, gegenüber jener religiösen Weltverachtung, die da

Schlusswort. 351

glaubt, ihr Auge der Schönheit verschliessen zu müssen, und der


ein irrthümliches Raisonnement die Lust des Schönempfindens ver-
giftet. — Es ist der eudämonologische Pessimismus evolutioneller
Optimismus gegenüber dem Weltschmerz einer unhistorischen
Weltanschauung, die in der Weltbewegung und deren Haupt-
factoren, dem Menschheitsleben, nur einen „Kreislauf auf feurigen
Kohlen", ohne Fortschritt und ohne objectiven Zweck und Ziel
beklagt.
Der moderne philosophische Pessimismus wird dem natür-
lichen Empfinden gerecht, indem er erstens weder an der Rea-
lität und Positivität der Lust noch der Unlust sophistisch herum-
makelt, um die eine oder andere für blosse Privation zu erklären,
und indem er zweitens denselben ihre welt-centrale Stellung und
Bedeutung gegenüber einem einseitigen Rationalismus sichert.
Er wird aber auch dem rationalistischen Triebe in uns
gerecht, indem er das Empfindungspro duct zum reinen Wissens-
Object, zum affectlosen Inhalt des Geistes umformt, in welcher
Gestalt es zwar aufhört, Erreger lyrisch - poetischer Action und
Production zu sein, nicht aber der Eigenschaft verlustig geht, Motiv
des vernünftig- sittlichen Handelns zu werden.
Seine ideal-reale dialectische Genesis garantirt dem modernen phi-
losophischen Pessimismus seine Unverletzlichkeit und siegreiche Selbst-
behauptung gegenüber sämmtlichen gegnerischen Angriffen; seine
besondere Befähigung, Motiv des sittlichen Handels zu werden, ent-
kräftigt die Behauptung (J. H. v. Kirchmann's) es sei der philo-
sophische Pessimismus nur eine „Doctorfrage", ohne Wirkung auf
das active Leben.
Sämmtliche bloss partielle Pessimismusformen schliessen die
Versöhnung mit der Welt und dem Leben innerhalb ihres Gebietes
principiell aus; es ist aber diese Versöhnung ein ebenso auf tiefstem
Seelengrunde wurzelndes Gemüthspostulat, wie das Ende des je-
weilig als Grund des Weltübels erachteten Verhältnisses und Zu-
standes; es erfolgt daher die Versöhnung mit dem Leben, wenn
sie überhaupt zu Stande kommt, auf Grund einer, den partiellen
Pessimismus zum aufgehobenen Moment hinuntersetzenden optimi-
stischen Idee; d. h. durch Verlegung des Schwerpunctes des Lebens
auf ein Gebiet, welches dem pessimistischen Urtheil noch nicht
verfallen ist. Es vollzieht sich z. B. für den Bekenner des antiken
individual-eudämonistischen Pessimismus die Versöhnung mit dem
Leben auf dem Gebiete der Moral der objectiven Vernünftigkeit
(Optimismus des Stoicismus); für den jüdischen und christlichen
Weltverächter im Glauben an das Reich Gottes oder an die jen-
seitige himmlische Seligkeit; für den Entrüstungspessimisten durch
den Optimismus des Culturfortschrittes. Für den strict durchge-
352 Schlusswort.

führten Skepticismus giebt es keine, für den Weltschmerz nur eine


widerspruchsvolle, kaum auf die Dauer bestehende Versöhnung
mit dem Leben; der erstere kann nur mit Verzicht auf sich selbst
als philosophisches Denken sich der Leitung der Instincte über-
lassen und so das Leben naturalistisch bejahen, ohne mit der Welt
principiell versöhnt zu sein; der letztere kann, bei niedrigeren
Graden der Intensität der Empfindung, sich in den ästhetischen
Optimismus flüchten, und indem er die Schönheit seines eigenen
Empfindens bejaht, indirect die Welt, an der sich dieses entzündet,
ästhetisch gemessen; auf höheren Stufen des Weltschmerzbewusst-
seins aber wird diese Position ironisch zersetzt und nur das ver-
zweiflungsvolle, faustische sich in's Leben Stürzen, zum Zwecke des
taumelvollen Zerscheiterns, ist möglich und mag die Aussenstehen-
den über die Stellung zum Leben täuschen.
Der moderne philosophische Pessimismus, als absoluter eudä-
monologischer Pessimismus, ermöglicht die Versöhnung mit der
Welt nicht durch die Flucht auf ein vom pessimistischen Urtheil
unberührtes Gebiet — denn es giebt für ihn kein solches— son-
dern aus sich selbst heraus; aus der Erkenn tniss heraus, dass das
Leid, welches das die Lust wollende Wollen statt dieser findet,
gerade das Mittel wird, sich selbst in seiner Wurzel aufzuheben.
Indem die Quelle des Leidens alles Seienden im Sein selbst, und
nicht nur in einem accidentiellen So-Sein erkannt wird, wird das
So-Sein, die empirische Welt, das empirische Leben, relativ wieder
acceptabel, gegenüber der Ur-Thatsache, dem unseligen Sein-
Wollen.
Schopenhauer spricht es aus: das Leben sei beschaffen wie
etwas, das einem verleidet werden soll. Wie bezeichnend ist das
gute deutsche Wort „verleiden"! Das So-Sein soll das Sein sich
selbst „verleiden", d. h. durch Leiden das Wollen zur Ruhe
bringen. Das predigt das Leben im Kleinen und im Grossen,
von den Tagen der Kindheit bis zum Alter: sollte da die Philo-
sophie vom blinden Willen und der absoluten Vernunft, die erste-
rem das Wollen „verleiden" möchte, nicht Anspruch darauf haben
die Philosophie der grössten Wahrscheinlichkeit genannt
zu werden?
Das Sein mitsammt seinem Leid ist uns nicht von einem
ausser der Welt stehenden Demiurgos aufgenöthigt worden; darum
erzeugt die Welt keinen Groll; denn das Leid, das wir im Sein
tragen, tragen wir kraft unseres eigenen Sein- Wollens. Wäre
das Sein ein uns von aussen aufgedrängtes, dann könnte auch
die Vernünftigkeit des Leids als Seins-Verleider nicht mit dem
So-Sein versöhnen; aber weil ich, sofern ich hinter meinem Ich
Wesen bin, es selbst bin, welches als Wollendes das Sein setzt,
Schlusswort. 353

so kann ich mir nun auch das So-Sein gefallen lassen und versöhnt
mein Leben leben, obgleich ich weiss, dass ich es nur lebe, um
es sterben zu können.
Wäre der Mensch in seinem Wesenskern nicht Wille zum
Sein, wäre er ohne seinen Willen in's Sein gestellt, dann wäre
es allerdings unbegreiflich, dass er als absoluter Pessimist um
seiner selbst willen noch leben könnte und leben wollte, und die
von einigen Gegnern erhobenen Zweifel der Ehrlichkeit des Be-
kenntnisses des absoluten Pessimismus gewännen einige Berechtigung;
da aber sein Wesens- Kern ebenso blinder Lebenswille ist, wie logi-
sche Idee und Vernunft, und weil dieser blinde Wille als
Action des Absoluten denn doch wohl auch sein grund-
loses Ur-Recht beanspruchen darf, so wird es begreiflich,
dass er den Gegensatz in seinem Bewusstsein zur Einheit erheben
kann: das leidvolle Leben zu wollen, trotzdem dass es als das
„ verleidete Sein als nicht-zu- wollendes zu wünschen und zu er-
44

streben ist.
Eine Versöhnung in letzterem Sinne als die natürliche, sub-
jective des Individuums, sofern dieses als in seiner Besonderheit
Einziges zur Welt Stellung nimmt, schliesst natürlich jene er-
habenere, rein sittliche des Selbstvergessens und Selbstverleugnens
nicht aus; vielmehr zieht sie aus dem Wissen von der Bedeutung
des Sittlichen ihre Lebenskraft, und umgekehrt gewährt sie jener
Stütze und Schutz: sie ist der derbere, naturwüchsige Stecken
neben die zartere Culturpflanze gesteckt. Endlich sprosst aus dieser
monistisch-individualistischen Weltversöhnung auch eine der preis-
werthesten Blumen des irdischen Jammerthaies: der Humor.

Wir haben andern Orts*) bezüglich des letzten Princips der


Hartmann'schen Philosophie bemerkt, dass wir uns nicht in dem
Sinne zu dieser Philosophie bekannten, „dass sie die absolute Wahr-
heit sei, sondern nur so, dass wir sie für die höchste Form der
philosophischen Erkenntniss auf der vom bewussten Geiste in der
Gegenwart erreichten Stufe erachteten"; diesen Satz wiederholen
wir auch in Bezug auf die specalative Seite des Hartmann sehen
Pessimismus: es mag auf einer künftigen Entwickelungsstufe dem
Geiste vorbehalten sein, die Bedeutung des metaphysischen Pessi-
mismus bezüglich des Anfangs und Endes des Weltprocesses, oder
für das Verhältniss von Wesen und Erscheinung anders zu er-
fassen. Sofern der Pessimismus aber nur rationelles Urtheil auf

*) „Der Kampf um's Unbewusste". C. Duncker, Berlin, 1881.


Plümacher, Pessimismus. 23
354 Schlusswort.

iuductiver Grundlage über den Werth des empirischen Seins ist,


ohne Daranknüpfung speculativer Schlüsse, so ist obige kritische
Reserve wohl überflüssig, und man darf den Hartmann'schen
eudämonologischen Pessimismus als absolut höchste Form des
letzteren erklären, in welcher sämrntliche partiale Wertherkennt-
nisse enthalten und gesichtet sind. Wie der Bergsee die hundert
Wasseradern, Bäche und Wildwasser, nachdem sie in seinen Ab-
gründen ihre Trübung und ihren Schutt abgelagert haben, als
krystallheller Strom aus sich entlässt, so klären sich die vielen
Momente des pessimistischen Bewusstseins in Hartmanns tiefen
Geiste von den mannigfaltigen Trübungen und culturfeindlichen
Schutte subjectiver Vorstellungen, welche schiefe Problemstel-
lung, falsche Prämissen und ein durch Instincte und irrige
metaphysische Theorien verdunkeltes Sehfeld in die Werth-
urtheile gebracht hatte.
Alle Anfeindungen des modernen philosophischen Pessimismus,
d. h. des Hartmann'schen absolut - eudämonologischen Pessimis-
mus, stammen letzten Endes nur daher, dass die Kritiker den ge-
reinigten Strom übersehen und einen der noch hinter dem klären-
den See hegenden Wildbäche für denselben halten, und nun dessen
culturgefährdende Strudel dem ruhigen Strome des afFectfreien
Wissens vom Ueberwiegen des Leides andichten.
„Wie die Menschen leben, als ob es gar keinen Tod gäbe,
bloss darum, weil sie überzeugt sind, dass jede Bemühung, ihm zu
entfliehen, schlechthin nutzlos wäre, so werden sie auch practisch
so leben, als ob es kein Leid gäbe, sobald nur erst der Pessimis-
mus in ihnen die Ueberzeugung geweckt hat, dass das Leid, ab-
gesehen von der Form seiner Erscheinung, ebenso unentrinnbar
ist wie der Tod."*)

Der Einsicht von der Bedeutung des philosophischen Pessimismus


für die Culturentwickelung, im allgemeinsten Sinne der Weltentwicke-
lung, steht noch die herrschende Unklarheit über die Bedeutung und
Berechtigung von absolutem Eudämonismus und Eudämo-
nismus des Individuums, und des Verhältnisses des einen zum
andern entgegen. Dazu beizutragen, dass diese Verwirrung, die
practisch ebenso sehr das Zustandekommen partieller
Pessimismusformen befördert, als sie theoretisch die Aner-
kennung der culturellen und welt-teleologischen Bedeutung des ab-
soluten Pessimismus verhindert, sich mehr und mehr löse, und dass
statt der vielen einseitigen Pessimismusformen, welche die Ent-

*) E. v. Hartmann: „Zur Geschichte und Begründung des Pessimism."


No. IV. Die Bedeutung des Leides. Schlusssatz.
Schlusswort. 355

zweiung mit der Welt drohen und den Streit und den Kampf des
Daseins nur hitziger anfachen, der, die Versöhnung in sich tra-
gende, absolute eudämonologische Pessimismus zur Herrschaft ge-
lange, mit der practische Zweck vorstehender Blätter.
ist
Dass es dazu komme, dass wir leben lernen, „als ob es kein
Leid gäbe", d. h. aber: wie ein im Drachenblut gehärteter Sieg-
fried die Bahn der Pflicht wandern, ohne Rücksicht auf die hin-
dernden Dornen am Wege, das walte der das Kreuz des Seins
tragende Gott!
Druck von Gressner & Schramm in Leipzig.

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