Dubbels Figuren Des Messianischen

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Conditio Judaica 79

Studien und Quellen zur deutsch-jüdischen Literatur- und Kulturgeschichte

Herausgegeben von Hans Otto Horch


in Verbindung mit Alfred Bodenheimer, Mark H. Gelber und Jakob Hessing
Elke Dubbels

Figuren des Messianischen


in Schriften deutsch-jüdischer
Intellektueller 1900–1933

De Gruyter
Gedruckt mit Hilfe der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften
in Ingelheim am Rhein und der Johanna und Fritz Buch Gedächtnis-Stiftung, Hamburg.

Die Open Access-Stellung dieser Publikation wurde unterstützt durch das Landesdigitalisierungs-
programm für Wissenschaft und Kultur des Freistaates Sachsen
(vgl. https://sachsen.digital/das-programm/).

ISBN 978-3-11-025823-3
e-ISBN 978-3-11-025824-0

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0
International Lizenz. Weitere Informationen finden Sie unter
http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/.

Library of Congress Cataloging-in-Publication Data

Dubbels, Elke.
Figuren des Messianischen in Schriften deutsch-jüdischer Intellektueller, 1900-
1933 / by Elke Dubbels.
p.cm.-- (Conditio Judaica ; 79)
Includes bibliographical references and index.
ISBN 978-3-11-025823-3 (alk.paper)
1. German literature--Jewish authors--History and criticism. 2. German
literature--20th century--History and criticism. 3. Jewish messianic
movements--Germany. 4. Messianism in literature. I. Title.
PT169.D83 2011
830.9‘8924--dc23
2011035608

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek


Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National-
bibliografie; detailierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de ab-
rufbar.

© 2011 Elke Dubbels, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston


Dieses Buch ist als Open-Access-Publikation verfügbar über www.degruyter.com.

Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen


∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier
Printed in Germany

www.degruyter.com
Inhalt

Einleitung ..................................................................................................... 1

Teil I: Figuren des Messianischen im Sprachdenken

1 Sprachdenken und Theologie ................................................................. 31

2 Franz Rosenzweigs »Sprachdenken« im Stern der Erlösung ................. 41


2.1 Der Nominalsatz in der historischen Erzählung: Die Welt
als »Schöpfung« ............................................................................. 45
2.2 Das Ereignis des Sprechens oder (die) Offenbarung ...................... 52
2.3 In der Sprache singular plural sein oder der messianische Prozess
der Erlösung ................................................................................... 66

3 Sprachtheorie zwischen Skepsis, Mystik und Dialog


(Landauer/Buber) ................................................................................... 73
3.1 Sprachkritik und Mystik beim jungen Gustav Landauer ................ 73
3.2 Von der Evokation zum Vokativ oder vom messianischen Ethos
zur messianischen Ethik: Zur Sprachphilosophie Martin Bubers ... 87

4 Gerechtigkeit als Sprache und Gerechtigkeit als messianische


Kategorie (Benjamin/Scholem) .............................................................. 111
4.1 Klagen, Anklagen, Beim-Namen-Rufen und Reimen:
Schöpfung, Gericht und Erlösung als Sprachformen
bei Walter Benjamin ....................................................................... 111
4.2 Zur messianischen Metaphysik der hebräischen Sprache beim
jungen Gershom Scholem ............................................................... 133
4.3 Die hebräische Sprache und der Zionismus
(Scholem/Rosenzweig) ................................................................... 141

5 Ernst Blochs ästhetischer Geist der Utopie als


Prolegomenon zu einem »System des theoretischen Messianismus« ..... 151
VI Inhalt

6 (De-)Figurationen des Messianischen in Hermann Brochs


Romantrilogie Die Schlafwandler .......................................................... 165
6.1 Drei Offenbarungserlebnisse – drei Figurationen des
Messianischen ................................................................................. 167
6.1.1 Der Messias als Kind oder Geschichte als Prozess der
Reinigung ............................................................................ 169
6.1.2 Ein weiblicher Messias am Kreuz oder Opferbesessenheit ... 173
6.1.3 Von der Imitatio Christi aus atheistischem Geist zur
»Messiashoffnung der Annäherung« als
ethisch-poetischem Prinzip .................................................. 180

Teil II: Figuren des Messianischen im theologisch-politischen Denken

1 »Politische Theologie« ........................................................................... 199

2 Messianische Figuren und Figurationen messianischer Gemeinschaft


bei Martin Buber .................................................................................... 213
2.1 Sabbatai Zwi, Messianismus und Zionismus .................................. 213
2.2 Auf der Suche nach der Substanz: Bubers Drei Reden über
das Judentum .................................................................................. 225
2.3 »Theopolitik«. Buber über jüdischen und christlichen
Messianismus und das Verhältnis von Politik und Religion
nach dem Ersten Weltkrieg ............................................................. 236

3 Sozialismus und Religion bei Gustav Landauer ..................................... 251

4 Mystische, apokalyptische und profane Figuren des Messianischen


(Benjamin, Scholem, Bloch) .................................................................. 277
4.1 Zum Arrangement der Absätze und der Perspektiven in
Walter Benjamins »Theologisch-politischem Fragment« ............... 279
4.2 Scholem, Benjamin und die Mystik ................................................ 284
4.3 Bloch, Benjamin und die Apokalyptik ........................................... 293
4.4 Bild und Entstaltung: Das Verhältnis von Politik und Theologie
im Medium ästhetischer Reflexion ................................................. 298
4.5 »Der Zionismus wird seine Katastrophe überleben«:
Apokalyptik und Mystik in Scholems dialektischer Konstruktion
des Zionismus nach 1923 ............................................................... 303

5 Sub specie aeternitatis: Politik und Religion bei Franz Rosenzweig ..... 323
Inhalt VII

Teil III: Zur Rhetorik der Figuren des Messianischen und ihrer
geschichtsphilosophischen Logik

1 Messianismus und Geschichte – rhetorisch betrachtet ........................... 345

2 Messianismus der Metonymie: Franz Rosenzweig ................................ 347

3 Messianismus des Symbols .................................................................... 359


3.1 Gustav Landauer ............................................................................. 360
3.2 Ernst Bloch ..................................................................................... 375

4 Messianismus zwischen Metapher und prophetischem Symbol:


Martin Buber .......................................................................................... 383

5 Messianismus des dialektischen Bildes: Walter Benjamin ..................... 393

6 Messianismus der Inversion: Gershom Scholem .................................... 405

Schlussbemerkung ....................................................................................... 415

Danksagung .................................................................................................. 423

Abkürzungs-, Siglen- und Literaturverzeichnis ........................................... 425


Abkürzungsverzeichnis .......................................................................... 425
Siglenverzeichnis .................................................................................... 425
Literaturverzeichnis ................................................................................ 426
1 Unveröffentlichte Texte ....................................................................... 426
2 Veröffentlichte Texte ........................................................................... 426

Personenregister ........................................................................................... 451


Einleitung

Anfang des 20. Jahrhunderts wird ein messianischer Ton in der Philosophie
hörbar, der Anfang des 21. Jahrhunderts noch nicht ganz verklungen ist. Die-
ses messianische Echo gehört zur Rezeptionsgeschichte deutsch-jüdischer
Autoren des Kaiserreichs und der Weimarer Republik: Autoren wie Gustav
Landauer, Ernst Bloch, Martin Buber, Walter Benjamin, Gershom Scholem
und Franz Rosenzweig, die im Zentrum dieser Studie stehen. Das nachhaltige
Interesse, das diese Autoren erfahren, überrascht insofern nicht, als sie zur
Elite deutsch-jüdischer Kultur zählen, die in der Weimarer Republik einen
großartigen, viel bewunderten und nicht selten nostalgisch verklärten Höhe-
punkt gefunden hat, bevor die nationalsozialistische Verfolgung und Vernich-
tung jüdischen Lebens einsetzte.1 Damit ist freilich noch nicht erklärt, warum
speziell der messianische Ton und das philosophische Interesse am jüdischen
Messianismus, das diese Autoren teilen, bis heute nachwirken. Was reizt an
dem Rückgriff auf die Theologie unter dem Stichwort des jüdischen Messia-
nismus?
Ein wichtiger Aspekt ist hierbei, dass der Rekurs auf theologische Diskurse,
der sich bei den genannten Autoren findet, einer Phase der Säkularisierung
zuzurechen ist, in der nicht einfach religiöse Konzepte und Funktionen in die
profane Welt übernommen werden, sondern der Rückgriff aus dem Abstand
zur religiösen Tradition heraus erfolgt. Das heißt, dass »aus einer profanen
Welt heraus auf religiöses Erbe zurückgegriffen wird (etwa die Säkularisierung
von Gnosis und Messianismus zu einer Philosophie der Moderne in der Zwi-
schenkriegszeit)«.2 In diesem Sinne gilt für alle von mir behandelten Autoren,

1 Vgl. zur deutsch-jüdischen Kultur in der Weimarer Republik allgemein Michael


Brenner: Jüdische Kultur in der Weimarer Republik. Übers. von Holger Fliessbach.
München: Beck 2000. Vgl. zur Konjunktur deutsch-jüdischer Denker der Weimarer
Republik zu Beginn des 21. Jahrhunderts auch Steven E. Aschheim: Beyond the
Border. The German-Jewish Legacy Abroad. Princeton u. a.: Princeton Univ. Press
2007, besonders S. 81–118 (»Icons Beyond the Border«).
2 Daniel Weidner: Zur Rhetorik der Säkularisierung. In: Deutsche Vierteljahrsschrift
für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 78/1 (2004), S. 95–132, hier: S. 97f.
Weidner nennt letztere Art der Säkularisierung eine »dritte Säkularisierung«, die er
von der Übernahme von religiösen Konzepten und Funktionen in der »zweiten Sä-
kularisierung« unterscheidet, für die der Freundschaftskult der Empfindsamkeit oder
die idealistische Geschichtsphilosophie beispielhaft seien. In der »ersten Säkularisie-
2 Einleitung

dass sie jenseits der religiösen Tradition des Judentums stehen – »jews beyond
judaism«3 hat George L. Mosse sie genannt – und aus diesem »Jenseits der
Tradition« auf Elemente der jüdischen Tradition für eine Philosophie der Mo-
derne rekurrieren. Selbst wenn dies mit einer existentiellen Rückkehr zur jüdi-
schen Tradition einhergeht, so geschieht dies nicht, ohne neu zu definieren,
was Tradition und ein Leben im jüdischen Gesetz überhaupt heißen sollen.
Grundsätzlich gilt, dass der messianischen Philosophie der Moderne alle Glau-
benssätze problematisch geworden sind, ohne dass sich ihr damit die Reflexion
über das Verhältnis von Glauben und Wissen erledigt hätte.
Zur nachhaltigen Resonanz der messianischen Philosophie der Moderne
dürfte entscheidend beitragen, dass sie im Zeichen der Kritik erfolgt. Damit ist
erstens und ganz grundsätzlich Kritik im philosophischen Sinn der Erkenntnis-
kritik gemeint: Viele der genannten Autoren verhandeln alternative Erkennt-
nismodelle, für die der Rückgriff auf theologische (Sprach-)Konzepte konstitu-
tiv ist (»messianische Erkenntnistheorie«). Zweitens ist damit moralische und
politische Kritik gemeint. Auch diese Kritik hat wieder eine philosophische
Bedeutung, insofern sie den Primat des Praktischen in der Philosophie anzei-
gen soll. Sie hat aber auch die Bedeutung der kritischen Stellungnahme im
politischen und gesellschaftlichen Bereich. Konkret heißt dies, dass sich bei
allen Autoren eine Staatskritik findet, die bei den meisten mit einer Kapitalis-
muskritik einhergeht. Auch der bürgerliche Liberalismus, auf den die Emanzi-
pationshoffnungen der Eltern- und Großelterngeneration gerichtet waren, ist
Zielscheibe – allerdings dialektischer – Kritik. Positiv steht der Kritik ein mes-
sianisches Gemeinschaftsdenken gegenüber, sei es anarchistisch, sozialistisch,
zionistisch oder religiös ausgerichtet.
Die Rezeption vor allem der Texte Walter Benjamins hat es mit sich ge-
bracht, dass in den letzten zwei Jahrzehnten »messianisch« zu einer Vokabel in
der allgemeinen intellektuellen Debatte werden konnte. Diffus und unkritisch
verwendet soll diese Vokabel irgendwie das ›ganz Andere‹ gegenüber der
politischen Gewalt- und Machtgeschichte bedeuten. Eine diffuse Verwendung
des »Messianischen« hat bereits Jacob Taubes verärgert. Im Hinblick auf Wal-
ter Benjamins »Theologisch-politisches Fragment«, das mit dem Paukenschlag
»Erst der Messias selbst vollendet das historische Geschehen« (GS II/1 203)
beginnt, stellt Taubes mit Genugtuung fest: »Also, erstens mal ist klar: Es gibt
einen Messias. Keinen Schmonzes, ›das Messianische‹, ›das Politische‹, keine
Neutralisierung, sondern der Messias. […] Keine aufklärungswolkige oder

rung« entlasse die Religion etwas Weltliches aus sich heraus und markiere es als
profan, wie bei der Säkularisierung des Königscharismas in der altisraelischen Pro-
phetie.
3 Vgl. George L. Mosse: German Jews Beyond Judaism. Bloomington: Indiana Univ.
Press 1985. Mosses Studie ist auf Deutsch erschienen unter dem Titel: Jüdische In-
tellektuelle in Deutschland. Zwischen Religion und Nationalismus. Übers. von
Christiane Spelsberg. Frankfurt a. M., New York: Campus 1992.
Einleitung 3

romantische Neutralisierung.«4 Taubes will klarstellen, dass in Benjamins


Fragment die Theologie noch nicht restlos in die Philosophie aufgesogen, der
Messias noch nicht im »Messianischen« »neutralisiert« worden sei. Nun bleibt
diese vermeintliche Klarstellung angesichts eines Textes, der acht Mal das
Adjektiv »messianisch« benutzt, davon drei Mal in der von Taubes diskredi-
tierten Form des substantivierten Adjektivs »das Messianische«, höchst unbe-
friedigend.
Kurz: Es hilft wenig, sich auf die Figur des Messias im religiösen, person-
haften Sinn zurückziehen zu wollen, um den Wucherungen der »Figuren des
Messianischen« im übertragenen Sinn zu entgehen. Diesen »Figuren des Mes-
sianischen« widmet sich meine Untersuchung. Zum einen sind mit »Figuren
des Messianischen« theoretische Figuren gemeint, messianische Denk- bzw.
Reflexionsfiguren, die, so die These meiner Arbeit, im ersten Drittel des 20.
Jahrhunderts hauptsächlich zwei Funktionen haben: Einerseits dienen Figuren
des Messianischen als Reflexionsfiguren im innerjüdischen und jüdisch-christ-
lichen Identitätsdiskurs. Andererseits werden Figuren des Messianischen als
Denkfiguren in drei allgemeinen Theoriefeldern produktiv gemacht, die über
die Grenzen jüdischer Identitätsproblematik hinausweisen: im Bereich des
Sprachdenkens, des theologisch-politischen Denkens und in der Geschichts-
philosophie. Messianische Denkfiguren, die aus theologischen Diskursen ge-
wonnen werden, fungieren als Verstehenskategorien in (allgemein und nicht
spezifisch religiös ausgerichteten) sprachtheoretischen, politischen und ge-
schichtsphilosophischen Diskursen. Dabei säkularisieren die Autoren den
jüdischen Messianismus alle auf die eine oder andere Weise, so dass aus dem
Messias etwas »Messianisches« wird. Das heißt aber, dass man es bei den
Figuren des Messianischen nicht nur mit Denkfiguren, sondern auch mit rheto-
rischen Figuren bzw. Tropen zu tun hat,5 die von verschiedenen Konstellatio-
nen von Sakralität und Säkularität bzw. Übertragungsweisen von Sakralität auf
Säkularität zeugen. Nach dem Muster welcher rhetorischen Figur werden Sak-
rales und Säkulares bei den einzelnen Autoren konstelliert bzw. welcher Tro-
pus ist Modell bildend für die säkularisierende Übertragung? Bestehen doch
große Unterschiede etwa zwischen dem metonymischen Messianismus eines
Franz Rosenzweig, der sich um ein dialogisches, messianisches Seinsverständ-
nis auf der Grundlage der Sinaioffenbarung bemüht, und dem symbolischen
Messianismus eines Ernst Bloch, der den Messianismus im Sinne eines »he-
roisch-mystische[n] Atheismus« (GU 230) deutet.
Zu fragen ist aber auch, welche messianische Tradition bzw. welche
Bruchstücke aus welcher messianischen Tradition der Übertragung zugrunde
gelegt werden. Denn es ist wichtig zu betonen, dass es so etwas wie den jüdi-

4 Jacob Taubes: Die Politische Theologie des Paulus. Hg. von Aleida Assmann und
Jan Assmann. 3. Aufl., München: Fink 2003, S. 98.
5 Auf die Figuren des Messianischen als Denkfiguren und rhetorische Figuren bzw.
Tropen komme ich weiter unten in der Einleitung noch ausführlich zu sprechen.
4 Einleitung

schen Messianismus im Singular nicht gibt, sondern man von einer »Mehrzahl
von historischen Messias-Vorstellungen, -Lehren oder Messianismen«6 ausge-
hen muss. Bevor ich die Methodik meiner Arbeit näher vorstelle, möchte ich
daher einen Überblick über die Pluralität der messianischen Tradition in den
religiösen Quellen des Judentums sowie über die drei paradigmatischen Inter-
pretationen des jüdischen Messianismus in der Moderne geben.

Figuren des Messianischen in Bibel und Talmud

Die Aufsplitterung des jüdischen Messianismus in Figuren des Messianischen


ist keineswegs erst ein modernes Phänomen. Bereits in der Hebräischen Bibel
lassen sich unterschiedliche Vorstellungen über den Messias ausmachen. Spä-
testens in den beiden Talmudim kann man die Tendenz beobachten, dass sich
messianische Denkfiguren von einer individuellen Person des Messias ablösen,
eine Tendenz, die im Judentum dadurch begünstigt sein mag, dass in der mes-
sianischen Erwartung keine Erinnerung an echte Personen mitspielt wie etwa
im christlichen oder schiitischen Messianismus.7 Wieder andere messianische
Denkfiguren kristallisieren sich in der jüdischen Mystik seit der Spätantike
heraus.8 Dabei hat die Kabbala des Isaak Luria (16. Jahrhundert) den für die
Moderne wirkungsvollsten messianischen Mythos von Exil und Erlösung pro-
duziert. Der »Bruch der Gefäße« im Schöpfungsprozess, durch den die göttli-
chen Lichtfunken chaotisch in der Welt zerstreut wurden, erfordert den »Tik-
kun«,9 die »Reparatur«, auf individueller, jüdisch-nationaler und kosmischer
Ebene. An dem Tikkun wirken die Menschen – traditionellerweise durch Voll-
zug der Gebote – mit, wohingegen der Messias als individuelle Person nur
mehr eine untergeordnete Rolle spielt: Sein Erscheinen bildet den Schlussak-
kord im Erlösungsprozess. Der »Tikkun« stellt eine wirkungsmächtige messia-
nische Geschichtskategorie dar, deren Spuren sich in vielen modernen Schrif-
ten jüdischer wie christlicher Provenienz finden, einschließlich der Texte aller
hier behandelten Autoren.

6 Christoph Schulte: Der Messias der Utopie. Elemente des Messianismus bei einigen
modernen jüdischen Linksintellektuellen. In: Menora. Jahrbuch für deutsch-jüdische
Geschichte 11 (2000), S. 251–278, hier: S. 256. Vgl. auch Jacob Neusner: Messiah
in Context. Israel’s History and Destiny in Formative Judaism. Philadelphia:
Fortress Press 1984, S. 227.
7 Vgl. Gershom Scholem: Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum. In:
Ders.: Über einige Grundbegriffe des Judentums. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1970
(Edition Suhrkamp; 414), S. 121–167, hier: S. 142f.
8 Vgl. Moshe Idel: Messianic Mystics. New Haven, London: Yale Univ. Press 1998.
9 Vgl. zu diesem mystischen Konzept Andreas Kilcher: Tikkun. In: Historisches
Wörterbuch der Philosophie. Hg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer. Bd 10.
Darmstadt: Wiss. Buchges. 1998, Sp. 1221–1223.
Einleitung 5

So komplex sich die messianische Ideenwelt ausnimmt, wenn man sich ge-
nauer mit den historischen Quellen beschäftigt, so einfach ist die Alltagsvor-
stellung über den Messias, nach der er eine endzeitliche Retterfigur repräsen-
tiert. In einer aufmerksamen Lektüre einschlägiger Passagen des Traktats
»Sanhedrin« des Babylonischen Talmuds (um 600 n. Chr. fertig gestellt), der
die unterschiedlichen rabbinischen Ansichten über den Messias, die Bedingun-
gen seines Kommens und die Verhältnisse der »messianischen Zeit« versam-
melt, befindet Emmanuel Levinas:
Man hat noch nichts über den Messias ausgesagt, wenn man ihn sich als eine Person
vorstellt, die kommt, um auf wundersame Weise den Gewalttätigkeiten, die diese
Welt beherrschen, der Ungerechtigkeit und den Widersprüchen ein Ende zu setzen
[…]. Dennoch begreift die landläufige Meinung die emotionale Kraft der messiani-
schen Idee. Und wir mißbrauchen täglich diesen Terminus und diese emotionale
Kraft.10

Die »landläufige Meinung« orientiere sich an einem »mythischen Messias«,11


einer endzeitlichen, Wunder wirkenden Retterfigur, die die Geschichte anhält.
Levinas zeigt, dass dieser Messias-Mythos im talmudischen Traktat »Sanhedrin«
sowohl aufgerufen als auch in Frage gestellt wird. Der Messias als ein einzi-
ges, einmalig auftretendes Individuum werde im Babylonischen Talmud über-
stiegen zu »Messias« als einer »Existenzform, deren Individuation nicht in
einem einzigen Wesen liegt.«12 Levinas knüpft seine Deutung an die Diskussi-
on der Rabbinen über die möglichen Namen des Messias (Schilo, Jinnon, Cha-
nina, Menachem) an, die alle eine Erfahrung anzeigen, die mit dem Messias
verbunden wird (Friede, Gerechtigkeit, Gnade, Trost). Diese Erfahrung werde
nicht auf eine ferne oder nahe Zukunft verschoben, sondern soll schon jetzt
gemacht werden können, werde es doch als möglich dargestellt, dass »Messi-
as« der Vergangenheit, der Gegenwart oder der Zukunft angehören könnte:
»Vielleicht ist es Rabbi selbst, oder vielleicht bin ich es, wenn er zu den Le-
benden gehört, oder Daniel wenn er zu den Toten gehört.«13 Vielleicht bin ich
es? Levinas deutet diese Frage so, dass jeder so handeln müsse, als wäre er
oder sie der Messias, denn der Messianismus bezeichne den ethischen Augen-
blick, in dem ich »meine universale Verantwortung erkenne«.14
Die allgemeine Stoßrichtung der philosophischen Lektüre von Levinas, die
auf eine Entmythologisierung des jüdischen Messianismus im Rahmen des
Babylonischen Talmuds selbst zielt, wird durch die historisch-textwissen-

10 Emmanuel Levinas: Messianische Texte. In: Ders.: Schwierige Freiheit. Versuch


über das Judentum. Übers. von Eva Moldenhauer. Frankfurt a. M.: Jüdischer Verlag
1992, S. 58–103, hier: S. 58.
11 Ebd., S. 93.
12 Ebd., S. 92.
13 Babylonischer Talmud, zitiert nach Levinas, Messianische Texte (wie Anm. 10),
S. 93.
14 Levinas, Messianische Texte (wie Anm. 10), S. 95.
6 Einleitung

schaftlich ausgerichtete Studie Messiah in Context (1984) des Judaisten und


Talmud-Experten Jacob Neusner bestätigt, ohne dass dieser sich mit Levinas’
Text beschäftigt hätte. Der ererbte historisch-politische »Messias-Mythos« mit
seiner Vision eines König-Messias als endzeitlicher Retterfigur verschwimme
in der Mischna, der ersten Kodifikation der Halacha (um 200 n. Chr.), und in
den beiden Talmudim, in denen sich ein Judentum konstituiere, das sich in der
Zeit jenseits von ihr begreife. »In all, the eschatological Messiah is difficult to
locate. Messiah defines a category of holy man.«15 Das rabbinische Judentum
betone, dass alles vom Hier und Jetzt des alltäglichen Lebens abhänge, das mit
der Thora in Übereinstimmung zu bringen sei. Neusner meint, die Zerstörung
des zweiten Tempels und schließlich die Niederschlagung des Aufstandes von
Bar Kochba (135 n. Chr.), der von einigen seiner Zeitgenossen, darunter dem
berühmten Rabbi Akiba, als Messias angesehen worden ist, habe dazu geführt,
dass in der Mischna der ererbte Mythos des Messias als eines endzeitlichen
Retter-Königs, der Israel ein für alle Mal aus der Abhängigkeit und Unterdrü-
ckung der anderen Nationen befreit, keine Rolle mehr gespielt habe. Vielmehr
sei die Mischna darangegangen, ein metahistorisches Judentum zu konstituie-
ren, das eine neue religiöse Existenzweise jenseits der Politik und der Ge-
schichte verkörpere.16 Die beiden Talmudim bauen auf der Mischna auf und
passen den ererbten, historisch-politischen Messias-Mythos dem neuen System
an, indem sie die historische Erlösung als Folge eines gerechten, der Thora
gemäßen Lebens ausgeben. Das neue messianische Denken entspricht der
Regel: »›If Israel will do such and such‹ – whatever a given teacher thought
important – ›the Messiah will come.‹«17 So heißt es zum Beispiel an einer
Stelle, dass der Messias kommen werde, wenn ganz Israel den Sabbat einhält.
Mit den mythischen Zügen des Messias rückt der politische Aspekt in den
Talmudim in den Hintergrund, der sich für Neusner nur in der Vorstellung
erhält, dass Israel eine messianische Nation jenseits der anderen Nationen sei.
Der mythische Messias, der endzeitliche Heilsprotagonist, der, folgt man
Levinas und Neusner, in den beiden Talmudim einer Entmythologisierung
15 Neusner, Messiah in Context (wie Anm. 6), S. 130.
16 Vgl. ebd., S. 12: »It is the response of people prepared once and for all to transcend
historical events and to take their leave of wars and rumors of wars, of politics and
public life. These people undertook to construct a new reality, one that focussed on
the meaning of humdrum everyday life. After 70 there was no mere craven or ex-
hausted passivity in the face of world-shaking events. We witness the beginning,
among the Mishnah’s sages in particular, of an active construction of a new mode of
being. The decision was to exercise freedom, autonomous of history […]. It is a
seeking of a world not outside this one, but different from, and better than, the one
formed by ordinary history. This second approach to history is a quest for eternity in
the here and now«.
17 Ebd., S. 186. Neusner gibt in seiner Kompilation der rabbinischen Erzählungen und
Aussagen über den Messias im Babylonischen Talmud auch die unterschiedlichen
Meinungen der Lehrer über die Bedingungen für das Kommen des Messias wieder
(vgl. ebd., besonders S. 172).
Einleitung 7

unterzogen wurde, ist selbst relativ jungen Datums. Denn die ursprüngliche
Bedeutung von »Messias« hat nichts Endzeitliches an sich, sondern »Messias«
ist im alten Israel der Titel des regierenden Königs. »Messias« stammt vom
hebräischen Verb »ʧʹʮ«: »mit Öl begießen, salben, weihen« und bezeichnet
den »Gesalbten« als Kurzform von »Maschiach JHWH«, »Gesalbter
JHWHs«.18 Der König wurde bei seiner Einsetzung vom Priester – seltener
vom Propheten – gesalbt und durch dieses Ritual zum »Gesalbten JHWHs«.
Den Brauch, den König zu salben, haben die Israeliten von den Kanaanäern
übernommen. Durch die Salbung wurde JHWHs Wahl des Königs bestätigt
und vollzogen;19 erst durch die Salbungsprozedur wurde der König zum König
und göttliche Macht auf ihn übertragen.20 Es sollte dem König durch die Aus-
stattung mit göttlicher Macht/Kraft möglich sein, Gerechtigkeit zu üben, die
Feinde Israels abzuhalten und als ›Segenspender‹ für sein Volk zu fungieren.21
Der menschliche König repräsentiert JHWH,22 ohne als substanzgleich mit
ihm angesehen zu werden: Er wird zu ›Gottes Sohn‹ (vgl. Ps. 2,7) qua Adopti-
on, nicht qua metaphysischer Zeugung.23 Bereits der präsentische Gebrauch
des Titels »JHWHs Gesalbter« enthält eine auf die Zukunft verweisende Kom-
ponente, die allerdings iterativ zu denken ist:
Die Erwartung eines Heilskönigs war in der biblischen Zeit […] eine dynastisch ge-
bundene iterative, sich je und je erneuernde Hoffnung. Das heißt, von Geschlecht zu
Geschlecht erwartete man je im neuen König den gerechten und Frieden stiftenden
König.24

Zu einer buchstäblichen Figur der Zukunft wurde der »Maschiach JHWH«


allerdings erst bei den Propheten, deren Schriften aber auch noch keinen ein-
maligen, endzeitlichen und für immer lebenden Heilsprotagonisten ins Auge
18 Vgl. zur Wortgeschichte Sigmund Mowinckel: He that Cometh. The Messiah Con-
cept in the Old Testament and Later Judaism. Übers. von G. W. Anderson. Oxford:
Blackwell 1956, S. 3–9.
19 Vgl. zur Vorstellung der Gottauserwähltheit des Königs ebd., S. 66f. Bereits bei
Saul, dem Begründer der israelitischen Dynastie, wird die Auserwähltheit durch
Gott hervorgehoben, indem Gott einer kinderlosen Frau ein Kind zum Geschenk
macht: den zukünftigen König Saul.
20 Ebd., S. 65.
21 Die Königspsalmen, die offizielle rituelle Texte darstellen, dokumentieren dieses
Herrscherideal, das in Psalm 72 in der oszillierenden Form eines Segens und eines
Versprechens ausgedrückt ist.
22 Vgl. Mowinckel, He that Cometh (wie Anm. 18), S. 80: »He represents Him in the
sense that he receives divine power and equipment from Him, and conveys His
blessing.«
23 Ebd., S. 78.
24 Karl Erich Grözinger: Jüdisches Denken: Theologie – Philosophie – Mystik. Bd 1
(Vom Gott Abrahams zum Gott des Aristoteles). Frankfurt a. M.: Campus 2004,
S. 94. Auch Mowinckel bemerkt, dass das Königsideal im alten Israel einen auf die
Zukunft gerichteten Aspekt kennt (vgl. Mowinckel, He that Cometh [wie Anm. 18],
S. 157).
8 Einleitung

fassen. Verschiedene Faktoren kamen zusammen, dass aus dem präsentischen


König-Messias der ideale Zukunftskönig der Propheten wurde: prophetische
Kritik an den Herrschern, die dem Königsideal und seinen hohen ethisch-
sozialen Anforderungen nicht entsprachen; die Bedrohung durch die Assyrer und
die Zerschlagung des Nordreiches 722 v. Chr.; schließlich die Zerstörung des
ersten Tempels 586 v. Chr., die Erfahrung des Babylonischen Exils und die nache-
xilische Abhängigkeit von anderen Nationen in persisch-hellenistischer Zeit.
[T]he expectation of the Messiah came into existence as a part of Israel’s hope of
restoration […]. The Messiah is the ideal king of David’s line, who reigns in the re-
stored kingdom of his ancestor when the nation has been raised from her degrada-
tion and freed from foreign domination, when justice has been established and god-
liness and virtue again prevail in the land. The Messianic faith developed, along
with the faith in restoration, out of the longing for a future realization of the ideal of
kingship.25

Wenn die Wiederherstellung des Königreiches und die Einsetzung des Königs
sich auch göttlicher Intervention verdanken, so sind König – trotz Belehnung
mit göttlicher Kraft – und Reich doch von dieser Welt. Weder ist der zukünfti-
ge ideale König-Messias ein transzendentes, ›von oben‹ herabsteigendes We-
sen noch ist er unsterblich. Er erneuert die davidische Dynastie, der ewige
Dauer verheißen wird. Wie der Maschiach JHWH der Königspsalmen stellt der
zukünftige Messias kein spezifisches, einmaliges Individuum dar, sondern
einen Idealtypus. »Beyond him we can discern the whole line of ›Messianic‹
successors who have the same ideal character as the first righteous ›Shoot‹
from the stump of Jesse.«26
Die Belehnung des Messias mit göttlicher »ruach« (Geist, Macht) manifes-
tiert sich in übernatürlichen Kräften, die physischer, intellektueller und morali-
scher Natur sind. In der Verteidigung von Land und Leuten zeigt er eine über-
natürliche, heroische Kraft (vgl. Jes 4,5); er sichert den Frieden nach innen und
nach außen (vgl. Jes 9,4; Mi 5,4; Jer 23,6). Die Propheten betonen besonders
den ethischen und sozialen Aspekt der zukünftigen Herrschaft des Maschiach
JHWH.27 Auch eine universale Dimension kommt zum Tragen; so bringt der
Messias bei Sacharja den Völkern der Welt Frieden und vertilgt den »Bogen
des Krieges«28 (Sach 9,10).
Das Bild, das die Propheten vom zukünftigen Messias-König entwerfen, ist
das eines irdischen Herrschers, der zwar von göttlicher Kraft erfüllt, aber nicht
substanzgleich mit Gott ist. Erst im Laufe der Zeit nehmen die mythischen

25 Mowinckel, He that Cometh (wie Anm. 18), S. 157.


26 Ebd., S. 168.
27 Vgl. ebd., S. 178f.
28 Wenn nicht anders angegeben, folgen alle deutschsprachigen Übersetzungen der
Hebräischen Bibel der Ausgabe von Leopold Zunz (Die vierundzwanzig Bücher der
Heiligen Schrift. Nach dem masoretischen Text. Übers. von Leopold Zunz. Tel
Aviv: Sinai 1997).
Einleitung 9

Charakteristika zu, die dem Messias-König und seiner Herrschaft zugeschrie-


ben werden. So taucht sehr vereinzelt auch in der Hebräischen Bibel die Vor-
stellung einer wunderbaren, übernatürlich göttlichen Herkunft/Zeugung des
zukünftigen Messias-Königs auf.29 Der Alttestamentler Sigmund Mowinckel
beschreibt die Mythologisierung als einen graduellen Vorgang: Je mehr die
prophetische Zukunftshoffnung zur Eschatologie und der König über die Sphä-
re der empirischen Realität erhoben wird, desto stärker werden mythische
Elemente in die Konzeption des Königs integriert, so dass sich »Messias«
wieder dem alten orientalischen Gott-König annähert.
It is the longing for a supernatural helper and a growing understanding of the ›other-
ness‹ of the future kingdom and of the divinely miraculous character of its realiza-
tion that lie behind this ›mythologization‹ and emerge in the promises on which they
have left their stamp.30

Hinsichtlich der endzeitlichen Rettergestalten, die in den späteren außerbibli-


schen Texten der hellenistisch-römischen Epoche aufgerufen werden, sind
zwei Traditionslinien geltend zu machen: einerseits die oben beschriebene,
prophetische Erwartung eines irdischen Messias-Königs, die sich zur endzeitli-
chen Königserwartung transformiert, z. B. in den »Psalmen Salomos« (1. Jh. v.
Chr.); andererseits die Erwartung eines himmlischen »Menschensohns«, der
mit dem erst spät aufkommenden Auferstehungsglauben verbundenen ist und
auf die Danielvision (vgl. Dan 7) zurückgeht. Der Menschensohn taucht noch
in weiteren apokalyptischen Texten auf, so in der äthiopischen Henoch-
Apokalypse und im 4. Buch Esra, wo sich die beiden Traditionslinien von
Davidmessias und Menschensohn bereits mischen.31 Sowohl der endzeitliche
davidische Messias-König als auch der Menschensohn sind als einmalige Ges-
talten figuriert, wobei jedoch dem Menschensohn ein himmlischer Ursprung,
dem Messias-König eine irdische Herkunft beigelegt wird.32 Man kann sagen,
dass tendenziell die Gestalt des Menschensohns eher für ein universalistisches
Konzept steht, das »allen Gerechten eine Heilshoffnung zusprechen will«, und
die Gestalt des davidischen Messias-Königs in den nationalen Kontext einge-

29 Vgl. Mowinckel, He that Cometh (wie Anm. 18), S. 183ff.


30 Ebd., S. 162.
31 Vgl. Ferdinand Hahn: Frühjüdische und urchristliche Apokalyptik. Eine Einführung.
Neukirchen-Vluyn: Neukirchener-Verlag 1998 (Biblisch-theologische Studien; 36),
S. 69f.
32 Das impliziert die Sterblichkeit des Messiaskönigs, die jedoch im Laufe der Zeit von
der Unsterblichkeit des »Menschensohns« im allgemeinen Verständnis verdrängt
worden ist. Mowinckel sieht es als ›Kompromiss‹ zwischen der Figur eines himmli-
schen, unsterblichen Meschensohns und eines irdischen sterblichen Messiaskönigs
an, dass in den Texten des späteren Judentums die »messianische Zeit« als ein zeit-
lich begrenztes Interregnum gedacht wird, das zwischen den Äonen dieser und der
zukünftigen Welt platziert ist (vgl. Mowinckel, He that Cometh [wie Anm. 18],
S. 324ff.)
10 Einleitung

bettet ist.33 Da beide Retterfiguren sich jedoch beeinflussen und dem Messias-
könig Charakteristika des »Menschensohns« einverleibt werden, kann auch die
Herrschaft des Davidmessias eine universelle Dimension erhalten.34

Positionen zum jüdischen Messianismus in der Moderne

Bereits dieser komprimierte Überblick über die messianischen Vorstellungen


in der Hebräischen Bibel, in außerbiblischen religiösen Quellen und im Tal-
mud, der keineswegs Vollständigkeit beanspruchen kann, lässt erahnen, dass
die Aktualisierungen des jüdischen Messianismus in der Moderne ganz unter-
schiedlich ausfallen können, je nachdem welchen Aspekt der messianischen
Tradition man hervorhebt: den nationalen oder den universalen, den rationalen
oder den apokalyptischen, den gesetzlichen oder den antinomischen, den poli-
tischen oder den metahistorischen bzw. metapolitischen. Im Unterschied zu
Levinas und Neusner betont etwa Gershom Scholem in seinem berühmten
Aufsatz »Zum Verständnis des messianischen Idee im Judentum« (1959), dass
sich die messianische Apokalyptik auch in der jüdisch-rabbinischen Tradition
erhalten habe.35 Bereits in den 1920er Jahre hat Scholem den apokalyptischen
Aspekt des jüdischen Messianismus historiographisch besonders gewürdigt –
und zugleich vor ihm gewarnt. Scholem hat in der messianischen Apokalyptik
ein vitales Moment erkannt, das er einerseits mit einem subversiven, anarchi-
schen Impuls in Zusammenhang bringt, andererseits mit der Beobachtung, dass

33 Vgl. Grözinger, Jüdisches Denken (wie Anm. 24), Bd 1, S. 194.


34 Vgl. zu der wechselseitigen Beeinflussung der beiden Retterfiguren Mowinckel, He
that Cometh (wie Anm. 18), S. 281. Folgt man Mowinckel, dann liegt es auch an
dem Einfluss der Menschensohn-Tradition, dass dem Messias, etwa in den »Psalmen
Salomos«, ein – im Vergleich zu früheren Texten – aktiverer Part in der Errichtung
des Königreichs zugeschrieben wird (vgl. ebd., S. 314). Speziell hinsichtlich des
kriegerischen Aspektes hält Mowinckel einen Einfluss des »warlike spirit of the
Maccabean line« für plausibel (vgl. ebd., S. 313). Der Messias wird als Kämpfer, als
militärischer Führer imaginiert, der »ungerechte Herrscher zerschmettere,/ Jerusalem
reinige von den Heiden, die [es] kläglich zertreten!/ Weise [und] gerecht treibe er
die Sünder weg vom Erbe,/ zerschlage des Sünders Übermut wie Töpfergefäße./ Mit
eisernem Stab zerschmettere er all ihr Wesen,/ vernichte die gottlosen Heiden mit
dem Worte seines Mundes,/ daß bei seinem Drohen die Heiden vor ihm fliehen«
(Die Psalmen Salomos, 17, 22–25. Bearb. v. Rudolf Kittel. In: Die Apokkryphen
und Pseudoepigraphen des Alten Testaments. Übers. u. hg. von Emil Kautzsch. Bd 2
[Die Pseudoepigraphen des Alten Testaments]. Darmstadt: Wiss. Buchges. 1962,
S. 127–148, hier: S. 146). Aus dem kämpfenden und dem gerecht herrschenden
Messias werden in der frühen rabbinischen Literatur zwei Figuren: der Messias ben
Joseph, der kämpft und stirbt, und der Messias ben David, der gerechte Herrscher
(vgl. Mowinckel, He that Cometh [wie Anm. 18], S. 290f., S. 315).
35 Vgl. Scholem, Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum (wie Anm. 7),
S. 131f.
Einleitung 11

die Apokalyptik die »notwendig sich bildende Gestalt des akuten Messianis-
mus«36 sei. Die Geschichte des jüdischen Messianismus dreht sich für Scho-
lem nicht nur um Vorstellungen und Ideen, sondern handelt eben auch von den
messianischen Bewegungen.37 Auch der Zionismus hat in der Geschichte der
messianischen Bewegungen bei Scholem seinen Ort, wenn auch zu beobachten
ist, dass Scholem in ambivalenter Weise zugleich messianisch und unmessia-
nisch über seinen Zionismus spricht.38
Die rationale Tendenz im Judentum sei, so Scholem, darauf bedacht gewe-
sen, dem Messianismus seinen apokalyptischen Stachel zu nehmen. In der
Moderne sieht Scholem die rationale, antiapokalyptische Deutung des Messia-
nismus eine Verbindung mit der Idee des ewigen Fortschritts und der unendli-
chen Aufgabe der sich vollendenden Menschheit eingehen, deren berühmtester
Repräsentant Anfang des 20. Jahrhunderts Hermann Cohen war. Eine ableh-
nende Haltung gegenüber der Apokalyptik macht Scholem jedoch auch bei
Franz Rosenzweig aus.39 Rosenzweigs Konstruktion eines metahistorischen,
metapolitischen Judentums im Stern der Erlösung steht nun aber dem Fort-
schrittsparadigma der Aufklärung entgegen; Rosenzweig folgt vielmehr einem
ähnlichen Impuls wie ihn Neusner für die Verfasser von Mischna und den beiden
Talmudim geltend macht: Man wendet sich von der Politik und der Geschichte
der Staaten ab, die heillos in Gewalt verstrickt erscheinen, und einer neuen mes-
sianischen Existenzweise zu. Alles hängt vom Hier und Jetzt des alltäglichen
Lebens ab. Bei Rosenzweig geht es dabei nicht einfach um eine Rückkehr zur
Religion, sondern er entwirft eine allgemeine Hermeneutik der Existenz, die sich
gerade nicht auf das religiöse Leben beschränkt wissen will.
In der Moderne umfassen die Positionen jüdischer Wissenschaftler, Künst-
ler, Politiker und Gelehrter zum jüdischen Messianismus ein weites Spektrum.
Große Unterschiede ergeben sich bereits daraus, welchen Aspekt des jüdischen
Messianismus man hervorhebt. Scholem opponiert mit seiner Akzentuierung
der apokalyptischen Tendenz im jüdischen Messianismus insbesondere gegen
das Bild, das die Wissenschaft des Judentums und jüdische Aufklärer im 19.
Jahrhundert von ihm entworfen haben. Diese stießen sich nicht nur an der
apokalyptischen, ›irrationalen‹ Tendenz des Messianismus, sondern auch an
dessen nationalem Aspekt. So interpretierte etwa Abraham Geiger, Pionier der
Wissenschaft des Judentums, den jüdischen Messianismus als universalistische

36 Ebd., S. 126.
37 Voigts meint sogar, bei Scholem liege der historiographische Akzent auf den messi-
anischen Bewegungen, die die quietistischen Phasen der jüdischen Geschichte un-
terbrächen (vgl. Manfred Voigts: Jüdischer Messianismus und Geschichte. Ein
Grundriß. Berlin: Agora 1994 [Erato-Drucke; 27], S. 65).
38 Vgl. Daniel Weidner: Gershom Scholem. Politisches, esoterisches und historiogra-
phisches Schreiben. München: Fink 2003, S. 99.
39 Gershom Scholem: Zur Neuauflage des »Stern der Erlösung«. In: Ders.: Judaica 1.
Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1963 (Bibliothek Suhrkamp: 106), S. 226–234, hier be-
sonders S. 232.
12 Einleitung

Lehre.40 Hermann Cohen setzt die universalistische, humanistische Interpreta-


tion des jüdischen Messianismus fort. Seine Auffassung, dass der Messianis-
mus die Quintessenz des jüdischen Monotheismus sei, hat er erstmals in dem
Aufsatz »Die Messiasidee« von 1892 systematisch entwickelt. In idealistischer
Weise definiert Cohen die Messiasidee als Leitbegriff der Weltgeschichte, in
dem die Hoffnung auf die Zukunft der Menschheit Ausdruck finde. Die Messi-
asidee bezeichnet bei Cohen das Ziel der Weltgeschichte, die »Idee der sittli-
chen Weltordnung«.41 Cohen verfolgt die geschichtliche Entwicklung der
»Messiasidee« bei den Propheten, bei denen sich der Messias vom »nationalen
Heros und Befreier zum Symbol des Zeitalters der Einen den Einen Gott aner-
kennenden Menschheit«42 wandle. Die Person des Messias wird so für Cohen
zum »Kalenderbegriff«,43 und die Erkenntnis Gottes zur Erkenntnis der reinen
Sittlichkeit, die die Grundlage des einstigen Weltfriedens bilden soll. Mit der
universalistischen Deutung der »Messiasidee« geht bei Cohen eine vehemente
Ablehnung des Zionismus und ein Bekenntnis zur Diaspora einher: »Israels
Beruf aber ist die religiöse Diaspora unter dem Glauben an das Jerusalem der
Menschheit.«44
Die Interpretation des Messianismus als universale Menschheitsidee stellt
eine von drei klassischen Positionen zum jüdischen Messianismus in der Mo-
derne dar. Im 19. Jahrhundert kommen die sozialistische und die (früh-)zio-
nistische Auslegung des Messianismus hinzu. Beide vereinigen sich in den
Schriften von Moses Hess (1812–1875). Im Unterschied zu Marx hat Hess die
sozialistische Lehre explizit mit dem jüdischen Messianismus in Beziehung
gebracht. In seiner Abhandlung Rom und Jerusalem, die letzte Nationalitäts-
frage (1862) hat Hess als erster Messianismus und modernen Sozialismus
systematisch zusammengedacht.45 Hess vertritt ein geschichtsphilosophisches
Drei-Stufen-Schema. Die soziale, organische und die kosmische Welt entwi-
ckelten sich in drei Epochen und folgten dabei demselben Gesetz, das einen
zweckmäßigen, zielgerichteten, auf Vollendung hin angelegten Weltprozess
begründet. Das historische Entwicklungsgesetz des sozialen Lebens sei durch
den jüdischen Glauben an die messianische Weltepoche verbürgt, der die Vor-
stellung eines gesetzlosen, unbestimmten, unendlichen Fortschritts zurückwei-
se. Die Messiaszeit liegt für Hess nicht in einer unbestimmten Zukunft, son-

40 Vgl. Abraham Geiger: Nachgelassene Schriften. Bd 2. Breslau: Jacobsohn 1885,


S. 120ff.
41 Cohen, Hermann: Die Messiasidee. In: Ders.: Jüdische Schriften. Hg. von Bruno
Strauß. Bd 1. Berlin: Schwetschke 1924, S. 105–124, hier: S. 117.
42 Ebd., S. 109.
43 Ebd., S. 108.
44 Ebd., S. 124.
45 Vgl. Christoph Schulte: Messias und Identität. Zum Werk einiger deutsch-jüdischer
Denker. In: Eveline Goodman-Thau und Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg.):
Messianismus zwischen Mythos und Macht. Jüdisches Denken in der europäischen
Geistesgeschichte. Berlin: Akademie-Verlag 1994, S. 197–209, besonders S. 199.
Einleitung 13

dern hat bereits begonnen: »Die Messiaszeit ist das gegenwärtige Zeitalter,
welches mit Spinoza zu keimen begonnen hat und mit der großen Französi-
schen Revolution ins weltgeschichtliche Dasein getreten ist. Mit der Französi-
schen Revolution begann die Wiedergeburt der Völker, die dem Judentum
ihren nationalen Geschichtskultus verdanken«.46 Hess verkündet sowohl einen
messianischen Nationalismus wie einen messianischen Sozialismus. So ist ihm
der »Geist der Judentums […] ein sozialdemokratischer von Haus aus«,47 der
keinen Kastengeist und keine Klassengesellschaft kenne. Versöhnung der
Klassengegensätze und »Wiedergeburt der Völker« charakterisieren das mes-
sianische Zeitalter bei Hess. Die nationalen Revolutionen sollen der arbeiten-
den Klasse zu ihrem Recht verhelfen. Sein Plädoyer für den Zionismus wie für
den Sozialismus leitet Hess aus dem jüdischen Messianismus her, der in sym-
bolischer, religiöser Sprache das eine Entwicklungsgesetz ausdrücke, das Na-
tur wie Geschichte bestimme. Was das religiöse Genie in unvollkommener,
sinnlicher Sprache bereits verkündet habe, werde eines Tages die Wissenschaft
bestätigen. Fällt doch die Erkenntnis Gottes bei Hess mit der Erkenntnis des
»einzigen, absolute[n] Gesetzes im Natur- und Geschichtsleben«48 zusammen,
womit der transzendente Gottesglaube gut spinozistisch durchgestrichen und
Gott zu einem allgemeinen Weltgesetz erklärt wird. Die Religion erscheint bei
Hess der Wissenschaft einerseits unterlegen, insofern sie die Wahrheit in un-
vollkommener symbolischer Sprache ausdrücke, andererseits aber auch über-
legen, da nur sie und nicht die Wissenschaft einen Anhaltspunkt dafür liefere,
dass das allgemeine, teleologische Entwicklungsgesetz auch für das soziale
Leben gelte.
Die drei klassischen, modernen Interpretationen des jüdischen Messianis-
mus als Universalismus, als Sozialismus und als Zionismus können unter-
schiedliche Kombinationen eingehen. Die sozialistische Deutung kann mit
einer universalistischen Hand in Hand gehen, etwa bei Gustav Landauer oder
Ernst Bloch. Die zionistische Deutung schließt aber auch eine bestimmte uni-
versalistische Auffassung des jüdischen Messianismus nicht aus, was bei Mo-
ses Hess bereits der Fall ist und wir genauer noch bei Martin Buber sehen
werden. Diese klassischen Interpretationen des Messianismus sind nun nicht
als Wahrheit des jüdischen Messianismus aufzufassen, sondern sie sind selber
interpretationsbedürftig.

46 Moses Hess: Rom und Jerusalem, die letzte Nationalitätsfrage. In: Ders.: Ausge-
wählte Schriften. Hg. von Horst Lademacher. Wiesbaden: Fourier o. J., S. 221–320,
hier: S. 272.
47 Moses Hess: Mein Messiasglaube. In: Ders.: Jüdische Schriften. Hg. von Theodor
Zlocisti. New York: Arno Press 1980, S. 1–8, hier: S. 6.
48 Hess, Rom und Jerusalem (wie Anm. 46), S. 272.
14 Einleitung

Methodisches: Funktions- statt Substanzgeschichte des


Messianismus

Hypothesen wie die, dass der Messianismus sich in der Moderne zum Univer-
salismus, Sozialismus oder Zionismus säkularisiere, kann man mit Hans Blu-
menberg als Beispiele für eine substantialistische Säkularisierungstheorie
auffassen.49 Diese unterstellt dem historischen Säkularisierungsprozess eine
gleich bleibende Substanz bei äußerlichem Formwechsel und macht Gleichun-
gen möglich wie die, dass der Messianismus eigentlich ein Universalismus,
Sozialismus oder Zionismus sei. Statt solche substantialistischen Hypothesen
zu übernehmen, sollte man sich besser fragen, welche Funktion die Berufung
auf den jüdischen Messianismus in einer bestimmten historisch-politischen
Situation hatte. Dann zeigt sich, dass wir es hier mit einer Identifikationsprob-
lematik zu tun haben, die Christoph Schulte in dem Rekurs auf die messiani-
sche Tradition speziell der atheistischen Linksintellektuellen des Kaiser-
reichs und der Weimarer Republik virulent sieht.50 Indem sich jüdische Den-
ker bei ihrem Votum für den Sozialismus oder Universalismus auf den jüdi-
schen Messianismus zurückbezogen, konnten sie sich selbst als Juden identi-
fizieren, auch wenn sie nicht fromm oder Zionisten waren. Diese Möglich-
keit der Selbstidentifikation als Jude durch Berufung auf einen signifikanten
Bestandteil der jüdischen Tradition bot eine Möglichkeit, dem Druck der
Mehrheitsgesellschaft zur totalen Assimilation zu entgehen. Schultes These
lässt sich um die zionistische Perspektive ergänzen. Denn wer sich als Zionist
auf den jüdischen Messianismus berief, versuchte zu demonstrieren, dass der
Zionismus keinen Bruch mit der jüdischen Tradition bedeutete, was die Mehr-
heit der dem Zionismus kritisch gegenüberstehenden jüdischen Orthodoxie um
1900 noch behauptete.51
49 Vgl. Hans Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit. Erneuerte Ausgabe. Frankfurt
a. M.: Suhrkamp 1996, S. 20–34.
50 Vgl. Schulte, Messias und Identität (wie Anm. 45), S. 199.
51 Für die Mehrheit der jüdischen Orthodoxie stellte die zionistische Bewegung lange
Zeit ein bedrohliches Paradox dar. Man sah sich mit einer vornehmlich säkularen
Bewegung konfrontiert, die beanspruchte, die alte messianische Hoffnung, die
Rückkehr aus dem Exil, zu erfüllen und sich sakraler Symbole bediente. Die ortho-
doxe Mehrheit verurteilte den Zionismus als falschen Messianismus. Bei den Zionis-
ten handele es sich um »Bedränger des Endes«, das herbeizuführen allein Gott zu-
stehe. Das zweite Gegenargument der Orthodoxie betraf die säkulare Ausrichtung
der zionistischen Wortführer, die kein Gemeinwesen auf der Grundlage der Thora zu
gründen beabsichtigten. Eine Minderheit religiöser Zionisten argumentierte dagegen,
dass die Rückkehr aus dem Exil im Zuge der zionistischen Bewegung Teil eines
graduellen Erlösungsprozesses sei, in dem die säkularen Protagonisten das religiöse
Ziel vorbereiteten, auch wenn sie es nicht unbedingt beabsichtigten. Grundlegend
zum Verhältnis von Orthodoxie und Zionismus in seinen unterschiedlichen Spielar-
ten ist die Studie von Aviezer Ravitzky: Messianism, Zionism, and Jewish Religious
Radicalism. Chicago: Univ. of Chicago Press 1996. Einen Überblick über die klassi-
Einleitung 15

Indem ich die Perspektive von einer Substanz- zu einer Funktionsgeschichte


des Messianismus verschiebe, möchte ich die Fixierung auf das »Wesen«,52
auf »invariant elements«53 oder auf einen »Idealtyp«54 des jüdischen Messia-
nismus lösen. Es wäre zu wenig, umgekehrt schlicht die Vielfalt der messiani-
schen Tradition zu verzeichnen und jeden Anspruch auf Zusammenhang und
Einheit aufzugeben. Die Einheit ist nur auf anderer Ebene zu suchen. Bleibt
doch nicht die Substanz des Messianismus, sondern die Funktion des Bezugs
auf die messianische Tradition – bei inhaltlich unterschiedlicher Ausdeutung –
gleich: Die messianische Tradition wird bereits in talmudischer Zeit zum Me-
dium der innerjüdischen Auseinandersetzung über das Judentum als religiöses,
politisches und soziales Gebilde, wie wir im Hinblick auf die Transformation
des Messias-Mythos im rabbinischen Judentum beobachten konnten. Das
heißt, der Bezug auf den jüdischen Messianismus stellt nicht erst in der Mo-
derne ein wichtiges Moment im jüdischen Identitätsdiskurs dar.
Das Spezifische der Bezugnahme auf die messianische Tradition bei
deutsch-jüdischen (Links-)Intellektuellen im ersten Drittel des 20. Jahrhun-
derts sehe ich vielmehr in einer charakteristischen Doppelfunktion: Zum einen
erfolgt über die Kategorie des Messianischen eine Auseinandersetzung über
das Verständnis des Judentums in der Moderne im Rahmen eines innerjüdi-
schen, aber auch eines jüdisch-christlichen Identitätsdiskurses.55 Zum anderen

schen theologischen Argumente der Orthodoxie gegen den Zionismus sowie die ex-
egetischen Strategien der religiösen Zionisten, diese zu entkräften, gibt Ravitzky auf
S. 10–39.
52 So Scholem, wenn er behauptet, der jüdische Messianismus sei »in seinem Ursprung
und Wesen […] eine Katastrophentheorie« (ders., Zum Verständnis der messiani-
schen Idee im Judentum [wie Anm. 7], S. 130 [Hervorhebung E. D.]).
53 Vgl. Adam M. Weisberger: The Jewish Ethic and the Spirit of Socialism. New York,
Washington D. C., Baltimore u. a.: Lang 1997 (Studies in German Jewish history;
1), S. 119, 126. Weisbergers Studie kann als Beispiel für eine unkritische Übernah-
me der substantialistischen Säkularisierungshypothese angesehen werden, die den
jüdischen Messianismus sich in der Moderne zum Sozialismus verwandeln sieht.
Weisberger behauptet eine Affinität zwischen Judentum und Sozialismus, die über
den jüdischen Messianismus als kulturelles Schlüsselelement vermittelt worden sei
(vgl. ebd., S. 114). Er macht im Messianismus die vitale Kraft aus, die Juden zum
Sozialismus hingezogen habe (vgl. ebd., S. 115). Weisberger spricht nicht nur von
einer Wahlverwandtschaft zwischen Judentum und Sozialismus (vgl. ebd., S. 118),
sondern auch von einer »Kongruenz« zwischen den normativen Werten des Sozia-
lismus und der messianischen Idee des Judentums (vgl. ebd., S. 129).
54 Michael Löwy: Erlösung und Utopie. Jüdischer Messianismus und libertäres Den-
ken. Eine Wahlverwandtschaft. Übers. von Dieter Kurz und Heidrun Töpfer. Berlin:
Kramer 1997, S. 26.
55 So steht z. B. in der Buber-Cohen-Kontroverse die Frage zur Debatte, ob das »Mes-
sianische« national oder universal zu verstehen sei, ob also Messianismus und Zio-
nismus an einem bestimmten Punkt konvergieren oder nicht (vgl. Martin Buber:
Völker, Staaten und Zion. Ein Brief an Hermann Cohen und Bemerkungen zu seiner
Antwort. Berlin, Wien: Löwit 1917). Darüber hinaus dient die Referenz auf »Messi-
16 Einleitung

werden Figuren des Messianischen als Denkfiguren aufgerufen, die im Kon-


text moderner Diskursformationen eingesetzt werden. Über Fragen jüdischer
Identität hinaus geht es darum, das theoretische Potential und die sprachliche
Kraft von Kategorien aus der jüdischen Tradition in modernen Diskurszusam-
menhängen zu aktivieren. Besonders in drei Theoriefeldern sind Figuren des
Messianischen als Denkfiguren im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts produk-
tiv gemacht worden: im Bereich der Sprachtheorie, der politischen Theorie und
der Geschichtsphilosophie. Im Medium messianischer Denkfiguren handeln
die Autoren dabei das Verhältnis von Sprachtheorie, politischer Theorie und
Geschichtsphilosophie zur Theologie aus. Das heißt, es werden im Rückgang
auf theologische Diskurse alternative Ansätze in den drei genannten Theorie-
feldern gesucht.
Es war im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts keinesfalls nur Sache jüdi-
scher Autoren, Probleme der Sprachtheorie, der politischen Theorie oder der
Geschichtsphilosophie vor einem theologischen Horizont zu diskutieren. Man
denke nur an die allgemeine Mystik-Renaissance um 1900, die Auswirkungen
auf das ästhetische, das politische und das geschichtsphilosophische Denken
hatte.56 Auch im Abstand zu den religiösen Traditionen blieb das Denken der
Epoche in einen theologischen Erfahrungshorizont eingebunden. Hiermit soll
schlicht die von vielen Denkern geteilte Annahme bezeichnet werden, dass die
Transformationen der modernen Gesellschaft nicht zu entschlüsseln seien,
ohne dass die religiöse Bedeutung des Alten und des Neuen befragt würde –
ganz gleich, zu welchen Schlüssen man hierbei über das Verhältnis von Reli-
gion und Moderne kommt.57 An diesem Punkt reicht meine Arbeit in einen viel
größeren Problemzusammenhang hinein, der über die Grenzen (deutsch-)jüd-
ischer Identitätsproblematik und auch über die Grenzen der Geschichte des
jüdischen, messianischen Denkens hinausgeht. Denn über messianische Denk-
figuren vermitteln die in meiner Arbeit berücksichtigten deutsch-jüdischen
Autoren Kategorien theologischer Sprach-, Politik- und Geschichtsdiskurse
mit Begriffen der allgemeinen Sprachtheorie, der Politik und der Geschichts-
philosophie. Figuren des Messianischen werden dabei zugleich zu Reflexions-
figuren über das Verhältnis von Säkularität und Sakralität, das überhaupt die
Gemüter in der Epoche beschäftigte. Grundsätzlich stellt sich hierbei die Fra-
ge, welche Gründe der Rückgriff auf theologische Diskurse in modernen Theo-
riezusammenhängen überhaupt hat. Im Laufe meiner Untersuchung zeigt sich,

anisches« oftmals dazu, das Verhältnis von Judentum und Christentum zu bestim-
men – ein Aspekt, der zur Faszination des Messianischen in der Moderne unbedingt
beiträgt und oft unterschätzt wird (vgl. Voigts, Jüdischer Messianismus und Ge-
schichte [wie Anm. 37], S. 8).
56 Am Beispiel der Texte Martin Bubers und Gustav Landauers wird uns die Mystik-
Renaissance noch näher beschäftigen (vgl. besonders Kap. I.3).
57 Vgl. Claude Lefort: Fortdauer des Theologisch-Politischen? Übers. von Hans Scheu-
len. Wien: Passagen-Verlag 1999, S. 31.
Einleitung 17

dass sowohl von analytischen als auch von pragmatischen Gründen auszuge-
hen ist, was die in dieser Arbeit behandelten Autoren angeht. Denn einerseits
steht hinter dem Rückgriff auf theologische Diskurse die Behauptung, dass
man nicht auf theologische Konzepte zur allgemeinen Analyse von Sprache,
Politik und Geschichte verzichten kann. Andererseits ist der Rückgriff auf die
Theologie, zumal im Medium messianischer Denkfiguren, nicht wertneutral,
sondern zeugt von einem ethischen, politischen und/oder religiösen Engage-
ment. Dieses ist bei den von mir untersuchten Autoren wohl von einem macht-
kritischen Impuls motiviert, der aber leicht in Affirmation umschlagen kann,
wie wir noch sehen werden.
Im Unterschied zu Michael Löwy, der die einzige bislang vorliegende Mo-
nographie über den jüdischen Messianismus bei deutsch-jüdischen Linksintel-
lektuellen um die Jahrhundertwende vorgelegt hat, die in ihrem historisch
systematischen Anspruch über die üblichen Einzelwerkanalysen hinausgeht,
setze ich in meiner Arbeit also keinen Idealtyp des jüdischen Messianismus
voraus.58 Löwy behauptet eine »Wahlverwandtschaft«59 zwischen jüdischem
Messianismus und »libertärer Utopie der Neuzeit«,60 die auf einem »Netz von
Analogien«61 zwischen den beiden Phänomenen beruhe. Löwy muss für die
Behauptung mit einem Idealtyp des jüdischen Messianismus operieren, den er
im Wesentlichen aus Gershom Scholems spätem Aufsatz »Zum Verständnis
der messianischen Idee im Judentum« gewinnt. Der jüdische Messianismus
wird auf einen apokalyptisch-revolutionären Aspekt zugespitzt, in dem sich
utopische und zugleich restaurative Motive bündeln. Auf dieser Grundlage
behauptet Löwy eine »strukturelle Homologie und spirituelle Isomorphie«62
zwischen jüdischem Messianismus und »libertärer Utopie der Neuzeit«, die

58 Eine systematische, gleichwohl bewusst ahistorische Analyse messianischen Den-


kens in der jüdischen Philosophie liefert Martin Kavka. Kavka rekonstruiert eine
»meontologische« Tradition in der jüdischen Philosophie, in der das Konzept des
»Nicht-Seins« eine zentrale Rolle spiele. Aus dem Konzept des »Nicht-Seins« als
»Noch-Nicht« entspringe die »messianische Antizipation«, die der menschlichen
Existenz einen teleologischen Vektor verleihe und gleichzeitig Geschichte als radi-
kal offen zu denken gebe. Kavka verfolgt die philosophische »meontologische Tra-
dition« bei Maimonides, Cohen, Rosenzweig und Levinas, von dem er den Terminus
der Meontologie übernimmt. Auch bei Kavka hat man es letztlich mit der Konstruk-
tion eines philosophischen Idealtyps des jüdischen Messianismus zu tun (vgl. Martin
Kavka: Jewish Messianism and the History of Philosophy. Cambridge: Cambridge
Univ. Press 2004).
59 Löwy, Erlösung und Utopie (wie Anm. 54), S. 35.
60 Ebd., S. 33. Unter »libertär« versteht Löwy »nicht nur anarchistische bzw. anarcho-
syndikalistische Lehren im eigentlichen Sinn, sondern auch progressive Tendenzen
im Sozialismus – einschließlich des marxistischen –, die durch eine antiautoritäre
und anti-etatistische Haltung gekennzeichnet sind« (ebd.).
61 Ebd.
62 Ebd.
18 Einleitung

um die Jahrhundertwende vor dem Hintergrund von Neuromantik und roman-


tischem Antikapitalismus »dynamisch«63 geworden seien.64
Statt der eigenen Untersuchung einen Idealtyp des jüdischen Messianismus
zugrunde zu legen, der die Vergleichbarkeit zwischen Messianismus und »li-
bertärer Utopie« überhaupt erst möglich macht, gilt es, Idealtypen und We-
sensbestimmungen des jüdischen Messianismus als zeittypische Konstruktio-
nen vor dem Hintergrund jüdischer Identitätsproblematik zu verstehen, wie ich
bereits ausgeführt habe. Wie problematisch die Orientierung an einem Idealtyp
des jüdischen Messianismus ist, wird im Übrigen allein schon daran ersicht-
lich, dass der auf den späten Scholem zurückgehende, apokalyptisch-
revolutionäre Idealtyp des jüdischen Messianismus so nicht auf den frühen
Scholem anwendbar ist. Denn der frühe Scholem betont nicht den apokalypti-
schen Aspekt des jüdischen Messianismus, sondern differenziert zwischen
zwei Strömungen des Messianismus, der apokalyptischen und der mystischen,
mit deutlichen Sympathien für letztere (vgl. Kap. II.4.2).
Geht Löwy von einem Idealtyp des jüdischen Messianismus aus und unter-
sucht, wie die einzelnen Autoren diesen Idealtyp jeweils mit ihren Texten
ausgefüllt haben, so gliedert sich meine Arbeit in drei Blöcke, die den drei
Theoriefeldern entsprechen, in denen messianische Denkfiguren produktiv
gemacht wurden: im Sprachdenken, im theologisch-politischen Denken und in
der Geschichtsphilosophie. In dieser Gliederung spiegelt sich die Hypothese
meiner Arbeit wider, dass die Figuren des Messianischen, die in den Texten
Walter Benjamins, Ernst Blochs, Martin Bubers, Gustav Landauers, Franz
Rosenzweigs und Gershom Scholems begegnen, als Denk- bzw. Reflexionsfi-
guren eine doppelte Funktion haben: Sie spielen nicht nur eine wichtige Rolle
im innerjüdischen und jüdisch-christlichen Identitätsdiskurs Anfang des 20.
Jahrhunderts, sondern auch im Bereich des allgemeinen Sprachdenkens, des
theologisch-politischen Denkens sowie der Geschichtsphilosophie. Vermittels
messianischer Denkfiguren setzen die Autoren theologische Kategorien zu
allgemeinen sprachtheoretischen, politischen und geschichtsphilosophischen
Konzepten in Beziehung, um zu einem vertieften allgemeinen und keineswegs
spezifisch religiösen Verständnis von Sprache, Politik und Geschichte über-

63 Ebd., S. 34.
64 Steven Aschheim betont demgegenüber die Rolle, die der Erste Weltkrieg im Hin-
blick auf die Konjunktur messianischen Denkens gespielt hat. Wenn sich auch schon
Spuren einer messianischen Denkweise vor 1914 fänden, so habe diese doch ihren
eigentlichen Ort in der Weimarer Nachkriegskultur, im Kontext von »post-liberal
ruminations, posited on the ruins of a destroyed political and cultural order, that
sought novel – and usually radical answers to the problems of a fundamentally trans-
formed European civilization« (Steven E. Aschheim: Culture and Catastrophe. Ger-
man and Jewish Confrontations with National Socialism and Other Crises. New
York: New York University Press 1996, S. 35). Auch Aschheim interpretiert den
Messianismus letztlich von einem apokalyptischen, utopische und restaurative Ele-
mente vereinigenden Idealtypus her, der von Scholems spätem Aufsatz inspiriert ist.
Einleitung 19

haupt zu gelangen. Dabei werden Figuren des Messianischen zugleich zu Re-


flexionsfiguren über das Verhältnis von Säkularität und Sakralität in der Mo-
derne.

Figuren des Messianischen als Denkfiguren und als rhetorische


Figuren/Tropen

Figuren des Messianischen stellen in den von mir untersuchten Texten sowohl
Denkfiguren dar, »kognitive Figuren, die einen Diskurs des Wissens steu-
ern«,65 als auch rhetorische Figuren. Messianische Denkfiguren wie z. B. Ben-
jamins »Jetztzeit« sind theoretische Figuren, die über das rein Begriffliche
hinausgehen; sie bilden Verstehenskategorien, die eine konstitutive Funktion
für verschiedene Wissensräume (Sprache, Politik, Geschichte) haben. Als
Denkfiguren sind sie oft zu abstrakt, um selbst als Sprachbilder zu gelten.66
Und doch bezeugen und initiieren sie einen übertragenen Gebrauch religiöser
Sprache. Die messianischen Denkfiguren als rhetorische Figuren zu lesen,
heißt in meiner Arbeit vor allem, die Konstellation von Sakralem und Säkula-
rem bzw. die Übertragung von Sakralem auf Säkulares, von der sie als Denkfi-
guren zeugen und die sie zugleich ins Werk setzen, mit Hilfe der rhetorischen
Figurenlehre besser zu verstehen. Denn die rhetorische Figurenlehre vermag
Aufschluss über das Verhältnis zu geben, in das Sakralität und Säkularität in
den mit messianischen Denkfiguren operierenden Texten gebracht werden.
Hier schließt meine Arbeit an den methodischen Ansatz an, Säkularisierung als
Rhetorik zu verstehen, als rhetorisch-literarisches Phänomen in Texten, die
sich thematisch irgend mit Säkularisierungsprozessen befassen. Die Aufmerk-
samkeit für die Rhetorik und literarischen Strategien der Säkularisierung ruft
nicht nur den irreduziblen Anteil der Darstellungsform am Aussagegehalt von
›Säkularisierung‹ in Erinnerung, sondern lässt erkennen, dass sich der Gegen-
stand der Rede, Säkularisierung, in den poetischen und rhetorischen Figuren
reflektiert findet, insofern es hier wie dort um Umstellungen, Konstellationen
und Übertragungen geht.67

65 Michael Cahn: Paralipse und Homöopathie. Denkfiguren als Objekte einer rhetori-
schen Analyse. In: Helmut Schanze und Josef Kopperschmidt (Hg.): Rhetorik und
Philosophie. München: Fink 1989, S. 275–295, hier: S. 293.
66 Daher lässt sich meine Arbeit auch nicht unmittelbar den metaphorologischen Un-
tersuchungen zuordnen, die der »Funktion von Sprachbildern in der Entfaltung des
Denkens und Wissens« nachgehen, wenngleich es hier Überschneidungen gibt (vgl.
Ralf Konersmann: Vorwort: Figuratives Wissen. In: Ders. (Hg.): Wörterbuch der
philosophischen Metaphern. Darmstadt: Wiss. Buchges. 2007, S. 7–21, hier: S. 7;
vgl. exemplarisch den Aufsatz von Hartmut Böhme: Berg. In: ebd., S. 46–61).
67 Vgl. Weidner, Zur Rhetorik der Säkularisierung (wie Anm. 2), besonders S. 106–
108.
20 Einleitung

Die antike Figurenlehre versteht unter der figürlichen Rede eine Abwei-
chung »von dem in der Sprache Gewöhnlichen«.68 Dabei unterscheidet sie vier
verschiedene Änderungsarten figürlicher Rede: Die Veränderung durch Hinzu-
fügung (adiectio), durch Auslassung (detractio), durch Umstellung (transmu-
tatio) und durch Ersetzung (immutatio). Unter die ersten drei Änderungskate-
gorien fallen diverse Wortfiguren wie die Wortverdoppelung, das Asyndeton
oder der Chiasmus. Die letzte Änderungsart betrifft Figuren, die den proprie-
Ausdruck durch immutatio ersetzen, also die Tropen, die in manchen Figuren-
lehren nicht mehr zu den rhetorischen Figuren rechnen, sondern ein eigenes
rhetorisches Genus bilden. Ein weiterer Figurenbegriff schließt demgegenüber
die Tropen ein.69 Diese lassen sich ohnehin nur schwer von der Gruppe der
Gedanken- oder Sinnfiguren lösen,70 so dass rhetorische Lehrbücher bei-
spielsweise die Ironie sowohl als rhetorische Sinnfigur als auch als Tropus
behandeln.
An der Abweichungstheorie der klassischen Figurenlehre ist im Zuge der
poststrukturalistischen Literaturwissenschaft berechtigte Kritik geübt gewor-
den, die die klare Differenzierung zwischen figürlicher und nicht-figürlicher
Sprachverwendung radikal in Frage stellt.71 Diese Infragestellung wird durch
meine Arbeit insofern bestätigt, als sie davon ausgeht, dass es nicht den einen,
buchstäblichen jüdischen Messianismus gibt, der etwa in der personalen Figur
Messias sein Sinnzentrum hätte. Vielmehr hat sich der jüdische Messianismus
bereits in den religiösen Quellentexten in verschiedene Figuren des Messiani-
schen zerstreut, wie oben dargelegt. Nichtsdestotrotz ist die rhetorische Ab-
weichungstheorie in meiner Arbeit von heuristischer Bedeutung, da sie hilft,
die Veränderungen, die alle Autoren an einem ursprünglich religiösen Ver-
ständnis des jüdischen Messianismus vornehmen, zu verstehen und mit Hilfe
rhetorischer Figuren, einschließlich der Tropen, zu beschreiben. Insofern die
religiöse Tradition mehr als ein Verständnis des jüdischen Messianismus
kennt, ist dabei jeweils zu klären, welches religiöse Verständnis die Autoren
annehmen, um es mit einer oder mehreren säkularen Auffassungen des jüdi-
schen Messianismus zu verbinden oder auch zu konfrontieren.
Im dritten und letzten Teil meiner Arbeit führe ich die unterschiedlichen
Spielarten der Säkularisierung des jüdischen Messianismus bei den einzelnen
Autoren auf bestimmte rhetorische Figuren bzw. Tropen zurück. So mache ich

68 Marcus Fabius Quintilianus: Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher. Hg. u. übers.
von Helmut Rahn. 2. Aufl., Darmstadt: Wiss. Buchges. 1988, II 13, 11, Bd 1, S. 225.
69 Vgl. Joachim Knape: Figurenlehre. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg.
von Gert Ueding. Bd 3. Tübingen: Niemeyer 1996, Sp. 289–342, hier besonders
Sp. 302–304.
70 Wolfram Groddeck: Reden über Rhetorik. Zu einer Stilistik des Lesens. Basel,
Frankfurt a. M.: Stroemfeld 1995 (Nexus; 7), S. 120.
71 Vgl. zur Kritik an der Abweichungshypothese Erhard Schüttpelz: Figuren der Rede.
Zur Theorie der rhetorischen Figuren. Berlin: Schmidt 1996 (Philologische Studien
und Quellen; 136), besonders S. 13–66.
Einleitung 21

für Franz Rosenzweig einen Messianismus der Metonymie geltend, für Gustav
Landauer und Ernst Bloch einen Messianismus des Symbols, für Martin Buber
einen zwischen Metapher und Symbol schwankenden Messianismus, für Wal-
ter Benjamin einen Messianismus des dialektischen Bildes und für Gershom
Scholem einen Messianismus der Inversion. Auch ich versuche mich damit am
Schluss meiner Arbeit an einer Typologisierung jüdischer Messianismen, die
ich im Unterschied zu Christoph Schulte nicht nach einem inhaltlichen Kriteri-
um vornehme,72 sondern nach dem rhetorischen Gesichtspunkt.
Die rhetorische Betrachtung der messianischen Konzeptionen gibt nicht nur
Aufschluss über die Art der Säkularisierung, die die Autoren an der messiani-
schen Tradition vornehmen. Darüber hinaus lässt sich auch die Struktur der
messianischen Geschichtsmodelle, die die Autoren skizzieren, rhetorisch be-
greifen, womit ich den tropologischen Ansatz aufgreife, den Hayden White in
die Geschichtstheorie eingeführt hat.73 Viele der Autoren haben nun über eben
jene Figuren, die ich ihnen im letzten Teil der Arbeit zuordne, reflektiert und
sie oftmals sogar selbst in Beziehung zu ihrem Verständnis des jüdischen Mes-
sianismus gebracht: Dies gilt für die Inversion bei Scholem, für das Symbol
bei Bloch und bei Benjamin für das dialektische Bild, das ja ohnehin seine
Erfindung ist und Momente der Allegorie und des Symbols vereinigt. Für
Scholem, Bloch und Benjamin zeigen diese unterschiedlichen Figuren eine
messianische Potenz in der Sprache selbst an.
So fundiert Bloch seine messianische Theorie, sein Prolegomenon zu einem
»System des theoretischen Messianismus« (GU 337) namens »Geist der Uto-
pie«, in der Denkfigur des Noch-Nicht, die er mit der Ästhetik des Symbols
verbindet. Bloch interpretiert das Symbol messianisch, als Vorschein auf ein
noch nicht realisiertes utopisches Totum, und den tradierten Messianismus
symbolisch. Der frühe Scholem operiert demgegenüber mit der Denkfigur der
messianischen Zeit als »ewige[r] Gegenwart«, in der die Zeiten sich gemäß der
grammatischen Funktion des ʪʥʴʤʤ-'ʥ [waw ha-hippukh] im Hebräischen
ineinander invertieren lassen und mit ihnen die Modalitäten des Seins: Aus der
Vergangenheit wird Zukunft, aus dem Abgeschlossenen das Unabgeschlosse-
ne, aus Aussagen Fragen. Die messianische Inversion, die hier weniger eine
rhetorische als eine grammatische Figur darstellt, bildet bei Scholem die
Grundlage für sein Verständnis der jüdischen Tradition, die auf Fragen, nicht

72 Das Kriterium von Schultes »Typologie von Messianismen im Judentum« stellt das
»Geschichtsverständnis der jeweiligen Vorstellungen vom Messias und seinen Akti-
onen, sowie dessen historisch-politische Funktion« dar (Schulte, Messias der Utopie
[wie Anm. 6], S. 257). Auf dieser Grundlage unterscheidet Schulte zwischen einem
präsentischen Messianismus, einem futurischen Messianismus, einem apokalypti-
schen Messianismus, einem enttäuschten Messianismus und einem skeptischen
Messianismus, deren Elemente er bei modernen jüdischen Linksintellektuellen wie-
derentdeckt.
73 Vgl. Hayden White: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhun-
dert. Übers. von Peter Kohlhaas. Frankfurt a. M.: Fischer 1991, besonders S. 49–57.
22 Einleitung

auf Antworten aufbaut. Auf diesem Traditionsverständnis beruht noch Scho-


lems Zionismus, den er nie sauber vom Messianismus trennen konnte, so sehr
er die politischen Gefahren eines messianischen Zionismus gesehen hat. Ben-
jamins messianischer Blick auf die Vergangenheit im Umfeld seiner späten
geschichtsphilosophischen Thesen wird von der messianischen Denkfigur der
»Jetztzeit« gelenkt, in der Vergangenheit und Gegenwart eine überraschende
Konstellation im Medium des »dialektischen Bildes« eingehen. In Form eines
dialektischen Bildes eignet sich Benjamin aber auch den jüdischen Messianis-
mus an, indem er ihn zugleich in seiner traditionellen Form historisiert und auf
eine Weise aktualisiert, die den Rahmen der religiösen Tradition übersteigt.
Eine ähnliche gegenstrebige Bewegung kann man bereits in Benjamins 20
Jahre früher geschriebenem »Theologisch-politischem Fragment« verfolgen, in
dem noch nicht das dialektische Bild, sondern das Paradox das Verhältnis von
Sakralem und Profanem begründet.
Bei diesen drei Autoren besteht ein besonders enger Zusammenhang zwi-
schen messianischen Denk- und Sprachfiguren. Die Autoren geben selbst An-
haltspunkte dafür, nach dem Modell welcher rhetorischen bzw. grammatischen
Figur sie den jüdischen Messianismus zu einer Denkfigur säkularisieren. Säku-
larisierung, so zeigt sich dabei auch, meint bei den Autoren je etwas anderes:
Bei Bloch bezeichnet sie eine Verweltlichung transzendenter Zielvorstellung
bei gleichzeitiger Überschreitung positivistischer Begriffe von Welt. Scho-
lem gebraucht die Figur der Inversion, um über die Entgegensetzung von
Sakralem und Säkularem hinauszugelangen, indem er noch eine säkulare
Position qua Inversion in die jüdische Tradition integriert, als eine ihrer vie-
len Deutungsmöglichkeiten. Benjamin schließlich denkt das Verhältnis von
Sakralem und Säkularem in einem paradoxen Verhältnis der Entgegensetzung
bei gleichzeitiger Beförderung.
Auch wenn die restlichen Autoren messianische Denkfiguren allenfalls indi-
rekt mit rhetorischen Figuren in Verbindung bringen, so reflektieren doch
zumindest Buber und Landauer über symbolische Strukturen der religiösen
Existenz bzw. der religiösen Sprache. Landauer setzt den »Gemeingeist« als
natürlichen Grund der Religion vor aller besonderen Religion an, der sich in
symbolischer Bildersprache artikuliere, wozu er auch die religiöse Sprache
rechnet, was Rückschlüsse auf seine (erst spät erfolgende) Verwendung messi-
anischer Symbolsprache erlaubt. Im Symbol verbinden sich für Landauer zei-
chenhafte Differenz und Analogie zwischen dem vermeintlich natürlichen
»Gemeingeist« und seinen sprachlichen Formen, wobei die Analogie im
schöpferischen Prinzip selbst liegt. Darüber hinaus rekurriert Landauer auf das
klassische synekdochisch-analoge Verständnis des Symbols, um dem Diaspo-
ra-Judentum die Aufgabe zuzuschreiben, den sozialistischen »Gemeingeist« zu
verkörpern, der die Grenzen der Nationen überschreiten soll.
Bubers Verständnis des jüdischen Messianismus oszilliert zwischen Meta-
pher und prophetischem Symbol. Einerseits entwickelt Buber in den 1920er
Jahren ein messianisches Seinsverständnis, das um eine allgemeine dialogische
Einleitung 23

Erfahrungsstruktur kreist. Diese allgemeine dialogische Erfahrungsstruktur


leitet sich für Buber nicht aus den Lehren einer bestimmten Religion her, son-
dern liegt jeder spezifischen Religion ontologisch voraus. Der jüdische Messi-
anismus, den Buber ab den 1920er Jahren nicht mehr im mystischen, sondern
im dialogischen Paradigma interpretiert, ist so gesehen nur metaphorischer
Ausdruck einer universalen dialogischen Seinsstruktur. Buber geht aber nicht
so weit wie Derrida, der von einem »Messianischen ohne Messianismus«74
spricht, um eine universale, transzendentale Erfahrungsstruktur zu beschrei-
ben, die von jeder konkreten messianischen Tradition unabhängig sein soll.75
Denn Buber bindet die dialogische Erfahrungsstruktur, die er in einer Ontolo-
gie des »Zwischen« fundiert, doch auch wieder zurück an die jüdische Traditi-
on. Der jüdische Messianismus ist bei Buber eben nicht nur Metapher, sondern
auch prophetisches Symbol jüdischer Existenz. Das Judentum in seiner histori-
schen, politischen und religiösen Existenz soll das dialogische Prinzip symbo-
lisch zum Ausdruck bringen und das Exempel und den Beginn einer gerechten
Weltgemeinschaft darstellen. Hieraus zieht Buber politische Konsequenzen für
den Zionismus, indem er für eine binationale Lösung in Palästina eintritt. Bei
Buber spielen messianische Denkfiguren eben noch in den jüdischen Identi-
tätsdiskurs hinein, aus dem sie Derrida lösen möchte.
Nun macht Derrida selbst darauf aufmerksam, dass auch seine Rede vom
»Messianischen ohne Messianismus« nicht nur metaphorisch zu lesen ist.
Derrida möchte zwar das »Messianische ohne Messianismus« als universale,
transzendentale Struktur jeder historischen, bestimmten Gestalt des Messia-
nismus logisch vorhergehen lassen. Er muss aber letztlich die Frage unent-
schieden lassen, ob das Denken einer vorgängigen, von jedem überlieferten
Messianismus unabhängigen messianischen Erfahrungsstruktur selbst nur
möglich sei »aufgrund der ›biblischen‹ Ereignisse, die vom Messias sprechen
und ihm eine bestimmte Gestalt geben«.76 Damit gibt Derrida aber die Mög-
lichkeit einer metonymischen Grund-Folge-Beziehung im Hinblick auf das
Verhältnis von jüdischer messianischer Tradition und allgemeiner Erfahrungs-
74 Jacques Derrida: Marx & Sons. Übers. von Jürgen Schröder. Frankfurt a. M.: Suhr-
kamp 2004 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft; 1660), S. 81–83. Vgl. auch
ders.: Marx’ Gespenster. Der verschuldete Staat, die Trauerarbeit und die neue In-
ternationale. Übers. von Susanne Lüdemann. Frankfurt a. M.: Fischer-Taschenbuch-
Verlag 1995 (Fischer; 12380), S. 123; sowie ders.: Glaube und Wissen. Die beiden
Quellen der ›Religion‹ an den Grenzen der bloßen Vernunft. Übers. von Alexander
García Düttmann. In: Jacques Derrida und Gianni Vattimo (Hg.): Die Religion.
Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001 (Edition Suhrkamp; 2049), S. 9–106, hier: S. 31.
75 Diese universale Erfahrungsstruktur bezieht sich auf ein Verhältnis zum Ereignis,
zum Kommenden und zum anderen, das Derrida »Erwartung ohne Erwartung«
nennt: »die Erwartung ohne Erwartung einer anderen Zukunft und von etwas ande-
rem im Allgemeinen, ein Versprechen der revolutionären Gerechtigkeit, das den
gewöhnlichen Lauf der Geschichte unterbrechen wird« (Derrida, Marx & Sons [wie
Anm. 74], S. 87).
76 Ebd., S. 89.
24 Einleitung

struktur zu bedenken, die, wie wir sehen werden, Franz Rosenzweigs Schriften
beherrscht. Denn in Rosenzweigs Schriften ist die biblische Offenbarung das
gründende Ereignis, das Sein als dialogisches Präsenz-Ereignis überhaupt erst
denkbar macht. Das Denken einer allgemeinen dialogischen Erfahrungsstruk-
tur, die über den religiösen Bereich hinausgeht, bleibt bei Rosenzweig somit
grundsätzlich auf die biblische Offenbarung verwiesen.

Zum Aufbau der Arbeit

Die Untersuchung gliedert sich in die drei Theoriefelder, in denen Figuren des
Messianischen als Denkfiguren produktiv gemacht wurden: im Sprachdenken,
im theologisch-politischen Denken und in der Geschichtsphilosophie. Der
letzte Teil der Arbeit hat zugleich einen summarischen Charakter, denn von
einem geschichtsphilosophischen Horizont sind auch das Sprachdenken und
das theologisch-politische Denken gerahmt. Im letzten Teil expliziere ich die
geschichtsphilosophischen Annahmen der Autoren, die vorher bereits ange-
klungen sind. Dabei führe ich die geschichtsphilosophische Logik der messia-
nischen Denkfiguren mit den rhetorischen Figuren eng, die kennzeichnend für
die Säkularisierung des jüdischen Messianismus bei den unterschiedlichen
Autoren sind.
Den Auftakt der Arbeit bildet die Beschäftigung mit den Figuren des Mes-
sianischen im Sprachdenken. Im Rückgang auf theologische Sprachdiskurse
finden die Autoren sprachliche Strukturen reflektiert, die sie für Sprache über-
haupt als konstitutiv erkennen. Ein analytisches Interesse an Sprache allgemein
ist eines der Motive, das die Autoren dazu bewegt, in theologische Sprachdis-
kurse einzutauchen, von denen sie sich allgemeine Aufschlüsse über die Spra-
che erhoffen. In diesem analytischen Moment liegt die Anschlussfähigkeit der
Autoren an zeitgenössische, aber auch an spätere Sprachtheorien begründet. So
betrachtet beispielsweise Rosenzweig die Kategorien »Schöpfung«, »Offenba-
rung« und »Erlösung« unter sprachphilosophischen Gesichtspunkten und nimmt
Einsichten der Sprechakttheorie vorweg. Das analytische Interesse tritt jedoch
nicht ›rein‹ auf, sondern in einer Gemengelage mit ethischen, politischen
und/oder religiösen Motiven. Die Übersetzung theologischer in sprachphiloso-
phische Kategorien lässt sich als sprachliche Säkularisierung begreifen, die frei-
lich mit einer Retheologisierung der gewonnenen Sprachkonzepte einhergehen
kann, wie dies bei Rosenzweig der Fall ist. Der Aspekt der sprachlichen Säku-
larisierung und gegebenenfalls Resakralisierung verbindet den ersten Teil der
Arbeit mit dem letzten, der nach den rhetorischen Figuren der Säkularisierung
sowie deren Dialektik fragt. Die Autoren unterscheiden sich nun nicht nur in
den sprachphilosophischen Erkenntnissen, die sie aus theologischen Sprach-
diskursen ableiten, sondern auch in ihrem Schreiben über theologische Diskur-
se. So verwendet Rosenzweig ungebrochen die religiöse Sprache, über die er
Einleitung 25

schreibt, wohingegen für Benjamin feststeht, dass nicht »unmittelbar in theo-


logischen Begriffen« (GS V/1 589) zu schreiben sei, wenn das moderne Den-
ken auch nicht ohne Bezug auf theologische Konzepte auskomme.
Der Rückgang auf theologische Sprachdiskurse hat nicht nur neue Sprach-
konzepte hervorgebracht, sondern auch auf die Poetik gewirkt. Dies gilt insbe-
sondere für die dialogische Sprachphilosophie, als deren poetologisches Kom-
plement sich das Konzept des polyphonen Romans lesen lässt, das Michail
Bachtin in Kenntnis der Buber’schen Dialogphilosophie entwickelt hat. Auch im
dritten Roman von Hermann Brochs Trilogie Die Schlafwandler findet sich eine
dialogische Auslegung des Messianismus, die sich in der Poetik niederschlägt. In
einigen Teilen spielt das polyperspektivische Grundverfahren des dritten Ro-
mans ins polyphone hinüber. Das Kapitel zu Hermann Brochs Schlafwandler-
Trilogie nimmt eine Sonderstellung in meiner Arbeit ein. Broch kann man nicht
eigentlich zu den Denkern rechnen, die systematisch auf den jüdischen Messia-
nismus für eine Philosophie der Moderne rekurriert haben. Im Unterschied zu
allen anderen Autoren taucht er auch nur im ersten Teil der Arbeit auf. Wichtig
ist die Beschäftigung mit Brochs Roman vor allem deswegen, weil dieser nicht
nur die Prominenz messianischer Motive auch in der fiktionalen Literatur im
ersten Drittel des 20. Jahrhunderts dokumentiert, sondern die poetischen Ausläu-
fer eines dialogisch gewendeten Messianismus vor Augen führt.
Hermann Brochs Romantrilogie ist zwar der einzige fiktionale Text, mit
dem ich mich beschäftige, insofern alle anderen Texte – Essays, philosophi-
sche Werke, Aufzeichnungen – zum theoretischen Genre gehören. Sie sind
aber auch in einem hohen Maße literarisiert, da sie die philosophische Be-
griffssprache mit literarischer Sprache kombinieren.77 Hierin spiegeln sich die
alternativen sprachtheoretischen Entwürfe der Autoren wider, die die poetische
Sprache fundamental aufwerten. Dies wird in den einzelnen Textanalysen zu
berücksichtigen sein.
Der zweite Teil der Arbeit widmet sich den Figuren des Messianischen im
theologisch-politischen Denken. Im Bereich des politischen Diskurses gibt sich
bei den deutsch-jüdischen Autoren eine andere Tradition »Politischer Theolo-
gie« zu erkennen, die bis heute in der an Carl Schmitt orientierten Forschung
zur »Politischen Theologie« vernachlässigt wird: Es dreht sich nicht um eine
politische Theologie staatlicher Souveränität wie bei Carl Schmitt, sondern um
eine Gemeinschaftstheologie. Diese andere Tradition der »Politischen Theolo-
gie« ist von Aleida und Jan Assmann sowie Wolf-Daniel Hartwich im An-
schluss an Jacob Taubes für das Judentum namhaft gemacht worden,78 wurde
aber bisher kaum weiterverfolgt. Assmanns und Hartwich tendieren nun aller-

77 Vgl. Anna Woákowicz: Mystiker der Revolution. Der utopische Diskurs um die
Jahrhundertwende. Warschau: WUW 2007, S. 9.
78 Vgl. Wolf-Daniel Hartwich, Aleida Assmann und Jan Assmann: Nachwort. In:
Taubes, Die Politische Theologie des Paulus (wie Anm. 4), S. 143–181, besonders
S. 175–181.
26 Einleitung

dings dazu, Herrschafts- und Gemeinschaftstheologie einander entgegenzuset-


zen. Analytisch sollte man jedoch nicht von einer solchen Entgegensetzung
ausgehen, hinter der die auf die politische Theorie der Romantik zurückver-
weisende Opposition von Staat und Gemeinschaft steht. Sie ist selbst Teil einer
politischen Strategie, so beim religiösen Anarchisten Jacob Taubes wie bei den
hier behandelten Autoren. Die Gemeinschaftsidee ist aber ambivalent: Sie
kann sowohl herrschaftskritisch als auch zu Zwecken der Legitimation politi-
scher Herrschaft eingesetzt werden.79
So fragwürdig eine zu einfache Entgegensetzung von Herrschaft und Ge-
meinschaft ist, so ist es doch wichtig, festzuhalten, dass sich der theologisch-
politische Komplex nicht auf Aspekte politischer Souveränität beschränkt,
sondern sich auch auf Fragen des politischen und/oder religiösen Kollektivs
erstreckt. Alle hier behandelten Autoren arbeiten mit messianischen Figuratio-
nen von Kollektiven: Sei es das revolutionäre Kollektiv, das im anarchisti-
schen oder sozialistischen Kontext messianisch figuriert wird, sei es das Juden-
tum als religiöses Gottesvolk oder/und als politische Nation, das im religiösen
oder/und zionistischen Zusammenhang als messianisch dargestellt wird. Die
messianischen Gemeinschaftsvorstellungen der Autoren sind von einem
macht- und gewaltkritischen Impuls getragen, der jedoch nicht vor einem Um-
schlag in Herrschaftslegitimation und Gewalt gefeit ist. Mit dem französischen
Theoretiker Claude Lefort lassen sich zwei mögliche Triebkräfte hinter theolo-
gisch-politischen Formationen in der europäischen Moderne annehmen: einer-
seits ein Begehren nach »Wiederherstellung des Pols der Einheit«, andererseits
die Sorge um die »Wiederherstellung einer Dimension des Anderen«, die sich
gegen politische Totalitätsbestrebungen richtet.80 Ein Gewaltpotential birgt
nun nicht nur das Denken substantialistischer kollektiver Einheit, wofür der
frühe Martin Buber ein besonders eindringliches Beispiel liefert: Ist doch Bu-
bers frühe messianische Gemeinschaftshypostase von der »Sehnsucht nach
Einheit« (DR 31) getragen, die er durch den Ersten Weltkrieg befördert sah.81
Auch die Sorge um die Dimension des Anderen, die geschlossene politische
Identitäten in Frage stellt, kann auf anderer Ebene wiederholen, was sie kriti-
siert, indem sie die Alterität selbst wieder zur Grundlage substantialistischer

79 Vgl. Joseph Vogl: Einleitung. In: Ders. (Hg.): Gemeinschaften. Positionen zu einer
Philosophie des Politischen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1994 (Edition Suhrkamp;
1881 = N.F.; 881), S. 7–27, besonders S. 10.
80 Vgl. Lefort, Fortdauer des Theologisch-Politischen? (wie Anm. 57), S. 65, 85.
81 Auf den Zusammenhang von Messianismus und Kriegsbegeisterung beim frühen
Buber geht auch Martin Treml in seiner kenntnisreichen Einleitung zum ersten Band
der neuen Martin-Buber-Werkausgabe ein (vgl. Martin Treml: Einleitung. In: Martin
Buber: Werkausgabe. Hg. von Paul Mendes-Flohr und Peter Schäfer. Bd 1 [Frühe
kulturkritische und philosophische Schriften 1891–1924], bearb., eingeleitet u.
kommentiert von Martin Treml. Gütersloh: Gütersloher Verl.-Haus 2001, S. 13–91,
besonders S. 75ff.).
Einleitung 27

Identitätsbildung nimmt. Bei Franz Rosenzweig wird uns dieser Zirkel be-
schäftigen.
Im Zusammenhang mit dem theologisch-politischen Diskurs beziehe ich
auch bisher unveröffentlichtes Archivmaterial in meine Untersuchung ein.
Dies betrifft verschiedene Manuskripte und Typoskripte Martin Bubers und
Gershom Scholems, die im Handschriftenarchiv der Jewish National and Uni-
versity Library in Jerusalem aufbewahrt werden. Darunter befindet sich ein
frühes Manuskript Martin Bubers zur »Geschichte des Messianismus«, in dem
er sich mit der messianischen Bewegung um den Messias-Prätendenten Sabba-
tai Zwi (17. Jh.) aus zionistischer Perspektive beschäftigt. Besonders auf-
schlussreich für Bubers spätere Interpretation des jüdischen Messianismus und
ihre politischen Implikationen ist das Typoskript einer Vorlesungsreihe über
»Jüdischen und christlichen Messianismus« aus den 1920er Jahren. Ein Kon-
volut von Aufzeichnungen und Reflexionen Gershom Scholems, die aus seinen
ersten Jahren in Palästina stammen, wohin er 1923 ausgewandert ist, zeugt von
seiner Ambivalenz gegenüber dem jüdischen Messianismus in zionistischer
Hinsicht. Konfrontiert mit dem militanten, nationalistischen Revisionismus
Zeev Jabotinskys, der einen messianischen Zionismus mobilisiert, versucht
Scholem, den Messianismus von seinen eigenen zionistischen Überzeugungen
fernzuhalten, was ihm jedoch nie richtig gelingt.
Im letzten Teil der Arbeit, der sich, wie oben bereits beschrieben, mit der
»Rhetorik der Figuren des Messianischen und ihrer geschichtsphilosophischen
Logik« befasst, laufen viele der Fäden zusammen, die in den vorangegangenen
Kapiteln verschiedene Muster von Figuren des Messianischen in Schriften
deutsch-jüdischer Intellektueller 1900–1933 beschrieben haben. In einigen
Fällen überschreite ich im Schlussteil den Zeitrahmen und bespreche Texte,
die nach der nationalsozialistischen Machtergreifung entstanden sind, wie z. B.
Benjamins Thesen »Über den Begriff der Geschichte«. Allerdings berücksich-
tige ich nur punktuell Texte, die in der Zeit der nationalsozialistischen Juden-
verfolgung und -vernichtung geschrieben wurden. Es würde einer eigenen,
weiteren Studie bedürfen, um dem Thema dieser Arbeit bis in die Zeit des
Nationalsozialismus und darüber hinaus nachzugehen.
Teil I

Figuren des Messianischen im Sprachdenken


1 Sprachdenken und Theologie

Alle im Folgenden behandelten Autoren kann man als »Sprachdenker« be-


zeichnen. Der Ausdruck »Sprachdenken« ist zweideutig. Er bezeichnet einer-
seits verschiedene Arten der Sprachreflexion, nicht nur philosophische und
linguistische, sondern auch religiöse, politische und poetische. Andererseits
meint Sprachdenken ein Denken auf der Grundlage der Sprache.1 Diesem
Denken ist die Sprache nicht nur etwas Äußerliches und Sekundäres, eine
Hülle, die von wahrer Erkenntnis abzulösen wäre. Vielmehr geht es um ein
Denken, das in die Sprache eingelassen ist. Zwei Traditionen bilden den Hin-
tergrund des Sprachdenkens, das wir in den nachstehenden Kapiteln untersu-
chen werden: Das ist einmal die Sprachphilosophie eines Hamann, Herder und
Wilhelm von Humboldt, die die Sprachvergessenheit der Aufklärung kritisie-
ren und demgegenüber die Sprachlichkeit der Vernunft betonen. Zum anderen
sind es theologische Sprachdiskurse, die die hier behandelten Autoren aufgrei-
fen: die Bibel und mystische Texte der Kabbala, des Chassidismus sowie der
christlichen Tradition.
In der Philosophie des 19. Jahrhunderts hatte sich das Sprachdenken Ha-
manns, Herders und Humboldts nicht durchsetzen können. Um 1900 ändert
sich die Situation. Das Sprachdenken gewinnt, weit über die akademischen
Grenzen hinaus, an Popularität, die es im 20. Jahrhundert behalten wird: Ist
doch das 20. Jahrhundert oftmals als »Jahrhundert der Sprachphilosophie«
bezeichnet worden.2 Selbst die Sprachskepsis eines Fritz Mauthner ist noch
dem Sprachdenken zuzurechen. Aus und in der Sprache entwickelt Mauthner
die Lehre ihrer objektiven Erkenntnisunfähigkeit, auf die wir im Zusammen-
hang mit Gustav Landauers Sprachphilosophie noch detaillierter eingehen
werden.
Die Sprachphilosophie erringt gerade in dem Moment größere Bedeutung,
als das semantische Substrat der Sprache nicht mehr als gesichert gelten kann.
Nachhaltig wird ein solches semantisches Substrat um 1900 problematisch,
mochte man sich seiner zuvor in der Welt der platonischen Idee, der Welt als

1 Vgl. Jürgen Trabant: Europäisches Sprachdenken. Von Platon bis Wittgenstein.


München: Beck 2006 (Beck’sche Reihe; 1693), S. 5.
2 Vgl. Tilman Borsche: Einleitung. Sprachphilosophische Überlegungen zu einer
Geschichte der Sprachphilosophie. In: Ders. (Hg.): Klassiker der Sprachphilosophie.
München: Beck 1996, S. 7–13, hier: S. 12.
32 Teil I

Schöpfung oder im Kosmos der Erscheinungen versichert haben.3 Das sich um


1900 formierende Sprachdenken zeugt von den Versuchen einer »Subversion
der (platonisch-aristotelisch inspirierten) stoischen Lehre von der Allgemein-
heit, Unveränderlichkeit und Unkörperlichkeit der Bedeutung«.4 In der Tradi-
tion dieser Lehre wird die Sprache der Logik untergeordnet, für die sie nur
propädeutischen Wert hat, insofern das wissenschaftliche Erkenntnisideal
sprachfrei gedacht wird. Diesem Ideal ist das Sprachdenken entgegengesetzt.
Indem es die Abhängigkeit der Erkenntnistheorien wie der Wissenschaften von
der Sprache behauptet, erschüttert es sowohl die vom Idealismus etablierten
Erkenntnistheorien als auch die positivistischen Einzelwissenschaften.
Theologische Ansätze, wie wir sie im Folgenden untersuchen werden, sind
nun in der philosophischen Geschichte des Sprachdenkens keine Ausnahme
und kein Kuriosum. So kann man einen frühen Ausbruchsversuch aus der
stoischen Lehre, in der das Problem der Wahrheit von dem der Sprache geson-
dert ist, in der mittelalterlichen Mystik sehen.5 Die mystischen Sprachtheorien
und exegetischen Methoden der Kabbala fokussieren auf die Sprachlichkeit
Gottes und haben, über verschiedene Stationen vermittelt, auf Walter Benja-
min und Gershom Scholem gewirkt. Das Sprachproblem ist aber auch in der
Erlebnismystik virulent, die um das Paradox kreist, einen sprachlichen Aus-
druck für die unaussprechliche Erfahrung Gottes finden zu müssen. Dieses
mystische Paradigma war für Gustav Landauer und Martin Buber bedeutsam,
die zur Renaissance der Mystik um 1900 erheblich beigetragen haben. Die
mystische Erfahrung Gottes in allen Dingen der Welt und nicht nur im bibli-
schen Text, auf dessen Auslegung sich ja die Hauptströmungen der jüdischen
Mystik konzentrieren,6 steht im Zentrum von Bubers und Landauers Adaption
mystischer Traditionen. Landauer greift hierfür auf die christliche Tradition
zurück, insbesondere auf die Texte Meister Eckharts; Buber auf den im 18.
Jahrhundert entstandenen Chassidismus, dessen pantheistische Tendenzen
seiner Auffassung von Mystik entgegenkamen.
Die Erfahrung des Bruchs zwischen sprachlichem Signifikant und Signifi-
kat, die Landauers und Bubers Erlebnismystik prägt, »kommt der Befindlich-
keit der Moderne entgegen«.7 Sprachphilosophisch gesehen, drücken sich in
Landauers und Bubers Adaption der Mystik zwei verschiedene Tendenzen aus,

3 Vgl. Helmut Arntzen: Sprachdenken und Sprachkritik um die Jahrhundertwende. In:


Ders.: Zur Sprache kommen. Studien zur Literatur- und Sprachreflexion, zur deut-
schen Literatur und zum öffentlichen Sprachgebrauch. Münster: Aschendorff 1983,
S. 94–106, hier: S. 94.
4 Borsche, Sprachphilosophische Überlegungen (wie Anm. 2), S. 10.
5 Vgl. ebd., S. 10.
6 Vgl. Moshe Idel: Absorbing Perfections. Kabbalah and Interpretation. New Haven,
London: Yale Univ. Press 2002, S. 18: »Jewish Mysticism in its main forms is exe-
getical«.
7 Monika Wagner-Egelhaaf: Mystik der Moderne. Die visionäre Ästhetik der deut-
schen Literatur im 20. Jahrhundert. Stuttgart: Metzler 1989, S. 3.
1 Sprachdenken und Theologie 33

die man wohl als charakteristisch für die Rezeption der Mystik in der Moderne
überhaupt veranschlagen kann. Landauer rezipiert die Mystik als Wortkunst,
die aus der unaufhebbaren Differenz von Signifikant und Signifikat ihren poe-
tischen Schwung bezieht. Für Landauer hat die mystische Einheitserfahrung
den Status eines lediglich subjektiv notwendigen Postulats, das er als Anreiz
zur sprachlichen Produktivität wertet. Mystik ist bei Landauer Wortkunst, die
aus dem Postulat mystischer Einheit, die immer nur metaphorisch zu um-
schreiben ist, entspringt. Der frühe Buber hingegen versucht, aus dem sprach-
lich metaphorischen Modus der Differenz hinauszugelangen zur mystischen
Einheit jenseits der Sprache. Landauer und Buber politisieren dabei die Mystik
auf je unterschiedliche Weise.
Beim kulturanarchistischen Landauer wird das mystische Einheitserlebnis –
traditionell: die unio mystica als Einheit mit dem Göttlichen – zum Sprach-
wie Gemeinschaftsexperiment. Der atheistische Mystiker Landauer interpre-
tiert die mystische Sprache als poetische, metaphorische Sprache einer kultur-
anarchistischen Gemeinschaft. Mystische Gemeinschaftspoetik bedeutet hier-
bei zweierlei: Landauer denkt die Grundlage der anarchistischen Gemeinschaft
poetisch und konzipiert die Gemeinschaft als Gemeinschaft von schöpferi-
schen Individuen. Landauer hält sich in seinen Schriften zur Mystik um die
Jahrhundertwende von messianischem Vokabular fern. Dieses erscheint erst in
seinen späteren Texten, in denen sich ein Einfluss Martin Bubers bemerkbar
macht. Auch wenn in dem zentralen sprachphilosophischen Werk Landauers,
der Essaysammlung Skepsis und Mystik, eine messianische Interpretation der
Mystik wie überhaupt messianisches Vokabular fehlt, so werde ich die Essay-
sammlung doch im Folgenden berücksichtigen und näher untersuchen. Denn
Landauers sprachmystisches Denken ist von großer Bedeutung für Martin
Buber, der es auf seine Weise umsetzt. Landauers Schriften sind aber auch
wichtig für Ernst Bloch. Buber und Bloch wiederum kennen beide keine Vor-
behalte gegenüber dem Gebrauch messianischer Sprache.
Ernst Bloch ist ein atheistischer Mystiker wie Landauer. Mit seinem frühen
Hauptwerk Geist der Utopie (1918) hat Bloch nichts Geringeres als ein Prole-
gomenon zu einem »System des theoretischen Messianismus« (GU 337) vor-
legen wollen. Bei diesem »System des theoretischen Messianismus« handelt es
sich um eine neue, als messianisch ausgewiesene Erkenntnistheorie. Diese
beruht, so lässt sich zeigen, auf der Ästhetik des Symbols. Bloch interpretiert
das Symbol messianisch, als Figur, die auf ein noch nicht realisiertes Totum
einer universalmenschlichen, mystischen Gemeinschaft unter sozialistischen
Bedingungen verweist. Zugleich deutet Bloch den jüdischen Messianismus
symbolisch und operiert schließlich selbst mit einer wuchernden, synkretisti-
schen messianischen Zielsymbolik, die jüdische und christliche Tradition,
Mystik und Apokalyptik miteinander mischt.
Der frühe Martin Buber wendet das mystische Einheitserlebnis kulturzionis-
tisch um und interpretiert es in messianischen Termini. Für Buber hat sich im
Chassidismus der jüdische Messianismus zum Ethos verwandelt, das nach
34 Teil I

umfassender Einheit strebt: nach der Einheit des Selbst, nach der Einheit des
mystisch erlebten Dinges oder des Gegenübers jenseits seiner empirischen
Erscheinungsform, nach der kulturzionistischen Einheit und schließlich nach
der Einheit des Seins. Sprachlich versucht der frühe Buber, diese Einheit als
Affekt zu evozieren. Da Buber sieht, dass die Sprache immer im Modus der
Differenz zwischen Signifikant und Signifikat sowie zwischen Sprecher und
Zuhörer verbleibt, zielt seine Strategie darauf, mit der Sprache über die Spra-
che hinauszugelangen: zum Affekt als angenommenem Erlebnisgrund der
Einheit.
Der Weg von Bubers Denken führt von der frühen Mystik zum Dialog, den
er nach dem Ersten Weltkrieg zum Thema seiner Philosophie macht. Zugleich
ist dies ein Weg vom messianischen Ethos, das Buber als spezifisches Ethos
dem Judentum zuschreibt, zur allgemeinen messianischen Ethik. Bubers und
Rosenzweigs Dialogphilosophien beruhen, bei allen Unterschieden, auf einer
Rehabilitation der Offenbarung, die nicht einfach einen Rückfall in voraufklä-
rerische Positionen bedeutet. Im Kern meint Offenbarung bei beiden nicht
Offenbarung von Wahrheitssätzen. Es geht also nicht um die Offenbarung als
Ursprung von Wissen oder Vorschriften. Als sprachlichen Modus der Offenba-
rung erkennen beide nicht die Aussage, sondern den Dialog an, genauer: ein
dialogisches Präsenzereignis vor aller semantischen Festlegung.8 Anders als
bei Buber führt dies bei Rosenzweig freilich nicht zu einer Verabschiedung des
jüdischen Gesetzes. Dies deutet aber schon auf einen tiefer liegenden Unter-
schied zwischen beiden hin. Buber und Rosenzweig verbindet ein Seinsver-
ständnis, das Sein als geschehende Sprache zwischen Menschen denkt. Für
Buber bedeutet dieses Seinsverständnis, zu den ontologischen Ursprüngen von
Religion überhaupt vorzustoßen, »zu dem Bereich von Offenbarung vor jeder
bestimmten Offenbarung. Dort wird Offenbarung gesehen als Zeitigung von
Sein zwischen Menschen, in dem zuäußerst je neu das Zueinander von Gott,
Welt und Mensch aufgeht«.9 Bernhard Casper überträgt dieses Verständnis
von Offenbarung, das Derrida später »Offenbarkeit« im Unterschied zu spezi-
fisch religiösen Offenbarungen nennt,10 von Buber auf Rosenzweig. Anders als
Buber bindet Rosenzweig aber das aus der Offenbarung gewonnene Verständ-
nis von Sein als Sprachgeschehen an die Sinaioffenbarung zurück. Bei Rosen-

8 Vgl. Paul Mendes-Flohr: Rosenzweig and Kant. Two Views of Ritual and Religion.
In: Ders.: Divided Passions. Jewish Intellectuals and the Experience of Modernity.
Detroit: Wayne State Univ. Press 1991 (The culture of Jewish modernity), S. 283–
310, hier besonders S. 288.
9 Bernhard Casper: Das dialogische Denken. Franz Rosenzweig, Ferdinand Ebner und
Martin Buber. 2. Aufl., Freiburg, München: Alber 2002, S. 345 (Unterstreichung
E. D.).
10 Vgl. Jacques Derrida: Glaube und Wissen. Die beiden Quellen der ›Religion‹ an den
Grenzen der bloßen Vernunft. Übers. von Alexander García Düttmann. In: Jacques
Derrida und Gianni Vattimo (Hg.): Die Religion. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001
(Edition Suhrkamp; 2049), S. 29f.
1 Sprachdenken und Theologie 35

zweig verhält es sich genau umgekehrt als bei Buber: Es ist eine bestimmte
Offenbarung, welche Sein als zwischenmenschliches Sprachgeschehen über-
haupt erst denkbar macht. Dies scheint mir ein mindestens ebenso großer Un-
terschied zwischen den beiden Denkern zu sein wie der Unterschied, der schon
vielfach bemerkt wurde: Buber tendiert dazu, das dialogische Denken dem
mathematisch-naturwissenschaftlich orientierten Seinsverständnis alternati-
visch entgegenzusetzen, wohingegen Rosenzweig das »alte Denken« in sein
»neues Denken« integriert.
Der Vergleich zwischen Buber und Rosenzweig führt zu der Frage hin, die
von grundsätzlicher Bedeutung für die Thematik der »Figuren des Messiani-
schen« in der Moderne ist: nämlich der Frage, welche Art der sprachlichen
Säkularisierung die Autoren an theologischen Kategorien vornehmen, die eine
Resakralisierung nicht ausschließen muss. Diese erfolgt bei Buber und Rosen-
zweig auf unterschiedliche Weise. Bubers Vorstoß zu der Offenbarung vor
jeder bestimmten Offenbarung hindert ihn nicht daran, die jüdisch-christliche
Sprache beizubehalten, auch wo es um allgemeine Sprach- und Seinsstrukturen
gehen soll. Hierin manifestiert sich eine grundsätzliche sprachliche Problema-
tik: In welchen Worten soll von der Offenbarung vor jeder bestimmten Offen-
barung überhaupt gesprochen werden? Derrida versucht später, diese Proble-
matik zu lösen, indem er von Offenbarkeit im Unterschied zu Offenbarung
oder aber auch von einem »Messianischen ohne Messianismus«11 spricht.
Auch Buber findet in der jüdischen Überlieferung und in der auf dieser auf-
bauenden christlichen Tradition ein Offenbarungsverständnis ausgedrückt, das
auf die Offenbarung vor jeder bestimmten Offenbarung verweist. Man kann
dies so lesen, dass die jüdisch-christliche Tradition ihren exklusiven Offenba-
rungsbegriff selbst in Frage stellt. Buber behält aber nicht nur aus sprachlicher
Verlegenheit die jüdisch-christliche Sprache bei. Vielmehr zeigt diese an, dass
es ihm weiterhin um Identitätsfragen geht.
Rosenzweig verfährt anders als Buber. Sehr viel ausführlicher und genauer
als Buber behandelt er die theologischen Kategorien »Schöpfung«, »Offenba-
rung« und »Erlösung« als Sprachformen. Ganz konkret bedeutet dies, dass er
die sprachliche Form verschiedener Teile der Hebräischen Bibel analysiert.
Rosenzweigs Sprachanalysen und sein Sprachbegriff sind dabei durchaus an-
schlussfähig an linguistische und philosophische Sprachkonzepte anderer Au-
toren des 20. Jahrhunderts (Peirce, Benveniste), wie ich nachweisen werde.
Auf der Sprachanalyse baut Rosenzweig seine philosophische Existenzanalyse
auf, die sich keineswegs als Analyse spezifisch religiöser Existenz versteht.
Hierin kann man eine Form der Säkularisierung religiöser Konzepte zu
Sprach- und Existenzformen sehen. Rosenzweig versteht sein Hauptwerk, den
Stern der Erlösung, dementsprechend auch nicht als Theologie, sondern als

11 Jacques Derrida: Marx & Sons. Übers. von Jürgen Schröder. Frankfurt a. M.: Suhr-
kamp 2004 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft; 1660), S. 81–83.
36 Teil I

»System der Philosophie«.12 Die Klassifikation, die sich Rosenzweig für seine
Philosophie noch am ehesten gefallen lassen wollte, war die eines »absolute[n]
Empirismus«,13 der auf »jüdische Worte«14 zurückgreift, um in diesen sprach-
liche Strukturen reflektiert zu finden, die wirklichkeitskonstitutiv sind. Die
Übertragung der theologischen Kategorien in Kategorien der Sprache und der
Existenz bedeutet bei Rosenzweig aber nicht, dass die Theologie sich in eine
Sprach- und Existenzanalyse aufgelöst hätte. Rosenzweig beschreibt keine
metaphorische Operation, keine »Übertragung in andere Pläne [d. h. Ebenen;
Anm. E. D.]«,15 die mit der ursprünglich religiösen Bedeutung in keinem (ge-
nea-)logischen oder raumzeitlichen Zusammenhang zu stehen braucht. Die
Metapher ist ein »Sprung-Tropus«,16 ihr Weg die »schöpferische Assoziation
nach Ähnlichkeit und Gegensatz«.17 Bei Rosenzweig folgt die Übertragung
nicht der Logik der Metapher, sondern einer metonymischen Logik von Grund
und Folge, insofern der religiöse Offenbarungsbegriff bei ihm Grund für einen
dialogisch-existenzhermeneutischen Offenbarungsbegriff bleibt.
Auch Walter Benjamin interpretiert theologische Begriffe wie »Schöp-
fung«, »Offenbarung«, »Jüngstes Gericht« und »Erlösung« als Sprachformen.
In seinem frühen Sprachaufsatz »Über Sprache überhaupt und über die Spra-
che des Menschen« analysiert er, wie Rosenzweig, die sprachliche Struktur
und den Sprachdiskus der Genesis, um so Aufschlüsse über die »Natur der
Sprache selbst« (GS II/1 147) zu erhalten. Anders als Rosenzweig macht er
aber schon von Anfang an deutlich, dass es ihm nicht darum geht, die Bibel als
offenbarte Wahrheit zu verstehen. In Gottes Wort, also in der Offenbarung, ist
aber das adamitische Sprachkonzept fundiert, das Benjamin im frühen Sprach-
aufsatz skizziert und das sein Sprachverständnis leitet. Das adamitische
Sprachkonzept lässt sich mithin nicht ohne weiteres übertragen in ein allge-
meines Sprachkonzept, das die Offenbarung nicht mehr zu seinem Grund ha-
ben soll. Dass nicht ungebrochen am adamitischen Sprachmodell festzuhalten

12 Rosenzweig, Franz: Das neue Denken. In: Ders.: Zweistromland. Kleinere Schriften
zur Religion und Philosophie. Berlin, Wien: Philo 2001, S. 210–234, hier: S. 211.
13 Ebd., S. 233.
14 Ebd., S. 227.
15 Roman Jakobson: Randbemerkungen zur Dichtung Pasternaks. In: Ders.: Poetik.
Ausgewählte Aufsätze 1921–1971. Hg. von Elmar Holenstein und Schelbert Tarci-
sius. 3. Aufl., Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1993 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissen-
schaft; 262), S. 192–211, hier: S. 198. Es handelt sich hierbei um Jakobsons nachge-
rade klassischen Aufsatz über die Rolle von Metapher und Metonymie in der mo-
dernen Dichtung.
16 Wolfram Groddeck: Reden über Rhetorik. Zu einer Stilistik des Lesens. Basel,
Frankfurt a. M.: Stroemfeld 1995 (Nexus; 7), S. 210.
17 Jakobson, Randbemerkungen zur Dichtung Pasternaks (wie Anm. 15), S. 199. Auch
die Metonymie kann natürlich schöpferisch vorgehen, wenn sie die gewöhnliche
raumzeitliche und kausale Logik, den Operationsgrund der Metonymie, verwandelt.
Dies verfolgt Jakobson eben in der Dichtung Pasternaks.
1 Sprachdenken und Theologie 37

ist, wird in Benjamins späterer Beschäftigung mit Karl Kraus noch deutlicher
als im frühen Sprachaufsatz. Der Kraus-Essay steht daher im Zentrum von Kap.
I.4.1 über »Schöpfung, Gericht und Erlösung als Sprachformen bei Walter Ben-
jamin«. In ästhetischer Adaption kabbalistischer Sprachauffassung gibt Benja-
min im Kraus-Essay Erlösung als Sprache zu denken, als »Engelsprache«
(GS II/1 363), die auf der Basis von Reim und Name operiert. Wenn man Ben-
jamins Verfahren unter dem Gesichtspunkt der Säkularisierung betrachtet, dann
zeigt sich, dass er theologische Sprachmodelle in allgemein sprachliche über-
trägt, nicht ohne ihre radikale Differenz zu betonen.18 Benjamins Verfahren
haftet etwas fundamental Paradoxes, wenn nicht gar etwas Aporetisches an.19
Die Verbindung von Sprachdenken und Theologie, die für alle hier behan-
delten Autoren konstitutiv ist, lässt unterschiedliche Aspekte und Gewichtun-
gen erkennen: Es geht einmal darum, im theologischen Sprachdiskurs der
Bibel und der Mystiker Sprachstrukturen reflektiert zu finden, die für die Spra-
che überhaupt konstitutiv sein sollen und die in anderen Sprachdiskursen, nach
Meinung der Autoren, zu wenig oder gar nicht bedacht werden. Hierin liegt die
Anschlussfähigkeit der vorgestellten Sprachkonzepte an nicht-theologische
Sprachbegriffe begründet, die die Autoren zum Teil vorwegnehmen. Zum ande-
ren kann dies mit theologischen Interpretationen und Absichten Hand in Hand
gehen. Das heißt, es erfolgt eine Retheologisierung der gewonnenen Sprachbeg-
riffe, um Konzepte wie Offenbarung und Erlösung theologisch neu zu denken,
nämlich auf sprachlicher Grundlage. Dieses theologische Interesse bestimmt
weder Landauers, Blochs noch Benjamins Schreiben, wohl aber, je unter-
schiedlich, das Schreiben Bubers, Rosenzweigs und auch Gershom Scholems.
Bei Scholem sind es die Kategorien »Offenbarung«, »Tradition« und »Ge-
rechtigkeit«, die er unter sprachlichem Gesichtspunkt betrachtet. Der junge
Scholem fasst bestimmte sprachliche Strukturen der Hebräischen Bibel als
»messianisch« auf und legt sie seinem Verständnis von Offenbarung, Tradition
und Gerechtigkeit zugrunde. Für Scholem charakterisiert es das jüdische Ver-
ständnis von Gerechtigkeit, dass wohl geurteilt, der Vollzug des Urteils aber
aufgeschoben wird. Scholem macht dieses Verständnis von Gerechtigkeit am
biblischen Jona-Buch fest. Eine so konzipierte Gerechtigkeit, die den Vollzug
des Urteils aufschiebt, fundiert für Scholem die jüdische Tradition als Konti-

18 Daniel Weidner hält es insgesamt für typisch, dass die Sprechweisen über Säkulari-
sierung »gleichzeitig eine Ähnlichkeit und eine Differenz von Religion und Säkula-
rität behaupten« (Daniel Weidner: Kapitalismus als Religion lesen. »Säkularisie-
rung« und die Poetik der Theorie. In: Text+Kritik H. 31/32 (Februar 2009), S. 57–
69, hier: S. 60). Bei Benjamin radikalisiert sich diese Gleichzeitigkeit von Ähnlich-
keit und Differenz, insofern auf dem Grunde der Übertragungen ein Nicht-
Übertragbares liegt.
19 Das Paradox strukturiert auch Benjamins Nachdenken über das Verhältnis von
Politik und Theologie im »Theologisch-politischen Fragment«. Mit dem Fragment
werden wir uns allerdings erst in einem späteren Teil der Arbeit beschäftigen (vgl.
Kap. II.4).
38 Teil I

nuum von Fragen.20 Es macht in Scholems Augen die Qualität der Thora als
Offenbarung aus, dass sie nicht ausgeführt werden kann und eine Tradition
von Fragen begründet. Der Gedanke der Unausführbarkeit der Offenbarung
verbindet sich später bei Scholem mit der Vorstellung der über jeder konkreten
Bedeutung liegenden symbolischen Fülle der Thora, die seine Interpretation
und Aneignung der kabbalistischen Sprachauffassung leitet. Scholems messia-
nische Philosophie der hebräischen Sprache begründet sowohl seine Ausle-
gung der jüdischen Tradition als auch seine Version des Zionismus. In dieser
messianischen Metaphysik des Hebräischen liegt meines Erachtens auch der
Schlüssel zur Beantwortung der Frage, warum Scholem nie in der Lage war,
seinen Zionismus vollständig vom jüdischen Messianismus zu lösen, obwohl
er dessen politische Gefahren nach seiner Auswanderung nach Palästina nicht
nur wahrnahm, sondern auch wiederholt vor ihnen warnte.
Sprachdenken und Theologie haben sich am Anfang des 20. Jahrhunderts
auf vielfältige Weise überkreuzt und bereichert. Die unterschiedlichen Spielar-
ten dieser Verbindung aufzuzeigen, ist ein Ziel der folgenden Kapitel. Dabei
sollte auch deutlich werden, dass man es sich zu einfach macht, wenn man den
zu beobachtenden Rückgriff auf theologische Diskurse lediglich als Abwehr-
bewegung gegenüber der um die Jahrhundertwende notorisch gewordenen
Sprachskepsis interpretiert, d. h. als Abwehrbewegung, die ein transzendentes
Signifikat als semantisches Substrat zu reinstallieren trachtet. Selbst bei den
Autoren, die Theologie nicht schlicht durch Sprachphilosophie ersetzen, son-
dern theologische ›Absichten‹ verfolgen, verhält es sich nicht ganz so einfach,
insofern sich Gott bzw. die Offenbarung Gottes nicht im Modus von Aussage-
sätzen erschließen lassen sollen. Nichtsdestotrotz macht es natürlich einen
großen Unterschied aus, ob theologische Kategorien in allgemein sprachphilo-
sophische übersetzt werden oder sprachphilosophische Kategorien die Grund-
lage theologischer Reinterpretation darstellen. Es ist essentiell, zu beachten,
welches Verhältnis Sakralität und Säkularität im Sprachdenken der Autoren
eingehen. Gerade die Analyse des Sprachdenkens liefert einen wichtigen An-
haltspunkt im Hinblick auf die Frage, welche Art Säkularisierung und Resakra-
lisierung die Autoren im Blick haben.
Das Sprachdenken bringt nicht nur neue Begriffe von Sprache hervor, son-
dern führt auch zu je spezifischen Schreibweisen, die bei den jeweiligen Text-
analysen zu berücksichtigen sind. Die Sprachkonzepte, die die Autoren vorle-
gen, implizieren oft eine Theorie der poetischen Sprache, die sich in den ver-
schiedenen Schreibweisen manifestiert. Die neuen Impulse, die die dialogische
Sprachphilosophie Bubers und Rosenzweigs der Poetik gegeben hat, werde ich
tiefergehend in dem Kapitel zu Hermann Brochs Romantrilogie Die Schlaf-
wandler verfolgen.
Die Enden des Sprachdenkens, das sich auf theologische Sprachdiskurse zu-
rückbezieht, weisen also in folgende Richtungen: Es kann einen Rückfluss in
20 Vgl. Daniel Weidner: Gershom Scholem. Politisches, esoterisches und historiogra-
phisches Schreiben. München: Fink 2003, S. 223.
1 Sprachdenken und Theologie 39

die Theologie geben, aber auch einen Ausfluss in die Poetik. Auch der
»sprachliche[n] Säkularisation«21 ist eine Dialektik eigen, die Albrecht Schöne
in seiner einflussreichen Studie über Säkularisierung als sprachbildende Kraft
nicht berücksichtigt. Schöne hat mit dem Konzept der »sprachlichen Säkulari-
sation« das Phänomen zu erhellen versucht, warum eine so beachtliche Zahl
von Pfarrerssöhnen in Deutschland zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert
Dichter wurden. Für Schöne dokumentiert das Beispiel der Pfarrerssöhne die
»Anregungskraft und Ausstrahlungsenergie des religiösen Sprachbereichs
überhaupt«.22 Mit sprachlicher Säkularisierung meint Schöne die Herauslösung
von »Worten und Wendungen, sprachlichen Formen, Figuren, Bildern und
Motiven«23 aus dem religiösen Sprachbereich in den Kontext der Dichtung.
Schöne hat sich weniger für die Säkularisierung von theologischen Sprachkon-
zepten denn für die Säkularisierung von sprachlichen Beständen interessiert.
Daran liegt es womöglich, dass er »sprachliche Säkularisation« als teleologi-
sche Geschichte, von der Bibel hin zur Dichtung, denkt.24 Demgegenüber
werden wir in den folgenden Kapiteln mit der Dialektik der »sprachlichen
Säkularisation«, verstanden als Säkularisation von Sprachkonzepten, konfron-
tiert. Wir werden sehen, dass die Autoren theologische Kategorien wie Schöp-
fung, Offenbarung und Erlösung unter sprachlichem Gesichtspunkt, als
Sprachformen, betrachten, um allgemeine Aufschlüsse über die Sprache über-
haupt zu erhalten. Einige der Autoren verfolgen dabei zugleich eine theologi-
sche Reinterpretation der Kategorien Schöpfung, Offenbarung und Erlösung
auf sprachlicher Grundlage. Es wird also zu beobachten sein, wie aus Theolo-
gie Sprachphilosophie wird – aber auch, wie aus Sprachphilosophie wieder
Theologie hervorgehen kann.

21 Albrecht Schöne: Säkularisation als sprachbildende Kraft. 2. Aufl., Göttingen: Van-


denhoeck & Ruprecht 1968 (Palaestra; 226), S. 26.
22 Ebd., S. 22.
23 Ebd., S. 26.
24 Die Kritik an Schöne lautet, dass er die Übertragung einseitig als wachsende Befrei-
ung der Dichtung von der Bibel betrachte. Damit einher gehe die Tendenz zu einer
schematischen Gegenüberstellung von Bibel und Dichtung, die den literarischen
Charakter der Bibel selbst aus dem Blick verliere. Vgl. Daniel Weidner: Einleitung.
In: Hans-Peter Schmidt und Daniel Weidner (Hg.): Bibel als Literatur. München:
Fink 2008, S. 7–28, hier: S. 20.
2 Franz Rosenzweigs »Sprachdenken«
im Stern der Erlösung

Das ist ja das eigentliche Geheimnis der Sprache,


dieses ihr eigenes Leben: das Wort spricht. (SdE 264)

»[D]ie Erfahrung weiß ja nichts von Gegenständen; sie erinnert sich, sie erlebt,
sie hofft und fürchtet.«1 Die Dimension der Erfahrung ist das zentrale Thema
des zweiten Teils von Franz Rosenzweigs Stern der Erlösung (veröffentlicht
1921). Die Hermeneutik der Existenz, die Rosenzweig aus theologischen Kon-
zepten (»Schöpfung«, »Offenbarung«, »Erlösung«) gewinnt, setzt sich von
einer Substanzontologie ab, die die Frage nach dem gegenständlichen Wesen
(»Was ist?«) zu beantworten trachtet. »Das Wirkliche ›ist‹ nicht«,2 sondern
geht aus Formen der Zeitigung von Zeit hervor, einer Zeit, die nicht als Behäl-
ter gedacht wird, sondern durch bestimmte Einstellungen (im Zitat: Erinne-
rung, Erleben, Hoffnung, Furcht) und Sprachformen gezeitigt wird. Denn
»[n]icht in ihr [der Zeit; Anm. E. D.] geschieht, was geschieht, sondern sie, sie
selber geschieht.«3 Um den zeitlichen Charakter der erfahrenen Wirklichkeit
einsichtig zu machen, muss nach Rosenzweigs Dafürhalten die Sprache analy-
siert werden. Denn das Medium der zeitlichen Wirklichkeit ist für Rosenzweig
die Sprache, wohingegen er die Symbole der Logik als zeitlos einstuft.
Sprechen ist zeitgebunden, zeitgenährt; es kann und will diesen seinen Nährboden
nicht verlassen; es weiß nicht im voraus, wo es herauskommen wird; es lebt über-
haupt nur vom Leben des anderen, mag der nun der Hörer der Erzählung sein oder
der Antwortende des Zwiegesprächs oder der Mitsprecher des Chors […]. Im
wirklichen Gespräch geschieht eben etwas; ich weiß nicht vorher, was mir der an-
dere sagen wird, weil ich nämlich auch noch nicht einmal weiß, was ich selber sa-
gen werde.4

Das »Sprachdenken«,5 wie Rosenzweig das »neue Denken« definiert,


»braucht« Zeit, das heißt: »nichts vorwegnehmen können, alles abwarten müs-
sen, mit dem Eigenen vom andern abhängig sein.«6 Der Unterschied zwischen
1 Franz Rosenzweig: Das neue Denken. In: Ders.: Zweistromland. Kleinere Schriften
zur Religion und Philosophie. Berlin, Wien: Philo 2001, S. 210–234, hier: S. 219.
2 Ebd., S. 219.
3 Ebd., S. 220.
4 Ebd., S. 223.
5 Ebd., S. 225.
6 Ebd., S. 223.
42 Teil I

»altem und neuem Denken« liegt für Rosenzweig dementsprechend »im Be-
dürfnis des andern und, was dasselbe ist, im Ernstnehmen der Zeit.«7
Die Zeit, die Sprache und der Andere sind die drei engstens miteinander
verwobenen Momente der Hermeneutik der Existenz, die Rosenzweig im
zweiten Teil des Sterns entwickelt. In dem 1925 nachgereichten Vorwort zum
Stern, dem Aufsatz »Das neue Denken«, versteht Rosenzweig diese Herme-
neutik der Existenz als Teil einer »messianische[n] Erkenntnistheorie«.8 In
diesem Essay erscheint zweimal das Adjektiv »messianisch«: Einer »messiani-
sche[n] Erkenntnistheorie« steht »eine messianische Politik«9 gegenüber, die
Rosenzweig auch »eine Theorie des Krieges«10 nennt. Rosenzweig hat diese
»messianische Politik« als »Theorie des Krieges« im dritten Teil des Sterns
der Erlösung analysiert, in dem er Judentum und Christentum in ihrem Ver-
hältnis zur historischen Zeit und zur Politik beschreibt. Rosenzweig postuliert:
»Der ›Glaubenskrieg‹, der Krieg als selbst religiöse Handlung, blieb der christ-
lichen Weltzeit vorbehalten, nachdem ihn das jüdische Volk entdeckt hatte«
(SdE 367). Die Auffassung des Krieges als »um Gottes willen notwendiger
Handlung« habe zwar den »Glaubenskrieg gegen die sieben Völker Kanaans«
charakterisiert, »durch den sich das Volk Gottes den ihm notwendigen Lebens-
raum« (SdE 367) eroberte. Das jüdische Volk habe jedoch den Glaubenskrieg
»in mythischer Vergangenheit« (SdE 368) lange hinter sich gelassen. In der
»christlichen Weltzeit« habe der Glaubenskrieg sodann ein neues Gesicht
erhalten, das für Rosenzweig gerade auch dem Ersten Weltkrieg sein spezifi-
sches Gepräge verleiht.11
In Rosenzweigs Schreiben zeichnet sich eine Bewegung ab, die bereits für
die Transformation des Messias-Mythos im rabbinischen Judentum nach 70
n. Chr. ausschlaggebend war: eine Abkehr von der Politik der Staaten und
damit verbunden eine Abkehr vom revolutionären, nationalpolitischen Messi-
asmythos hin zu einem neuen existentiellen Selbstverständnis im Hier und
Jetzt, »a new mode of being«,12 wie Neusner im Hinblick auf das rabbinische
Judentum bemerkt – ein Selbstverständnis orientiert am »Alltag des Lebens«,13
wie es bei Rosenzweig heißt. Um den »Alltag des Lebens« geht es für Rosen-
zweig in der Ethik und in der Religion. Auf die Ethik konzentriert sich der
zweite Teil des Sterns, in dem Rosenzweig eine ethisch pointierte Hermeneutik
der Existenz aus theologischen Kategorien entwickelt. Theologische Katego-
rien dienen hier also zur Analyse allgemeiner, nicht spezifisch religiöser oder

7 Ebd.
8 Ebd., S. 232.
9 Ebd., S. 229.
10 Ebd.
11 Zum Ersten Weltkrieg als »totalen Krieg«, den Rosenzweig von einer religiösen
Genealogie her denkt, siehe Kap. II.5.
12 Jacob Neusner: Messiah in Context. Israel’s History and Destiny in Formative Juda-
ism. Philadelphia: Fortress Press 1984, S. 12.
13 Rosenzweig, Das neue Denken (wie Anm. 1), S. 232f.
2 Franz Rosenzweigs »Sprachdenken« im ›Stern der Erlösung‹ 43

spezifisch jüdischer Existenz. Um diese dreht sich erst der dritte Teil des
Sterns. Hier wendet sich Rosenzweig der Religion als sozialem System kollek-
tiver Existenz zu, in dem der »Alltag des Lebens« zum liturgischen All-Tag
geworden ist.
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als zeitliche Dimensionen der Exis-
tenz benennt Rosenzweig mit theologischen Begriffen: »Schöpfung«, »Offen-
barung«, »Erlösung«. Die Schöpfung ist bei Rosenzweig die Dimension des
Gegenständlich-Unpersönlichen, des Allgemeinen, des Gattungshaften. Dieses
Allgemeine ist aber nicht zeitlos, die Schöpfung ist »im Anfang«, es ist die
»Idee eines Seins von Anfang« (SdE 146). Die Schöpfung bezeichnet keine
»fertige«, zeitlose Welt, sondern eine »Welt[, die] wird. Die Welt ist noch
nicht fertig. Es ist noch Lachen und Weinen in ihr« (SdE 244).14 Die gegen-
ständlich-unpersönliche Welt stellt die Faktizität einer Vergangenheit dar,
deren »Schon-da-sein« (SdE 146) dem Subjekt vorangeht. Ihr »Schon-da-sein«
ist Anfang einer Erzählung.
»Bereschit«: »(Das Buch) Im Anfang« heißt das erste Buch Mose auf Heb-
räisch. Am Schöpfungsbericht und seiner literarischen Form, der historischen
Erzählung, verdeutlicht Rosenzweig die Dimension einer gegenständlichen
Vergangenheit als Dimension der Existenz. Die »Welt« erscheint als Welt
dinglicher Faktizität. Sie ist Welt von Gegenständen, über die finite Aussagen
gemacht werden können. Der Mensch erfährt sich in dieser Welt als Ding unter
Dingen. Sobald man aber die Welt als Welt »am Anfang« einer Erzählung
betrachtet, verändert sich der Charakter der finiten Aussagen, die über sie als
Welt von Gegenständen gemacht werden können: Die Aussagen verlieren
ihren zeitlosen Charakter. Rosenzweig erarbeitet im Kapitel »Schöpfung« des
zweiten Teils des Sterns eine Aussagenlogik, die er in einer syntaktisch-
grammatischen Analyse des biblischen Schöpfungsberichts demonstriert.
Der historischen »Erzählung« (SdE 258) als sprachlicher Zeitigungsform
von Vergangenheit stellt Rosenzweig den Dialog als sprachliche Zeitigungs-
form der Gegenwart zur Seite. »[W]as ist Erlösung sonst als dies, daß das Ich
zum Er Du sagen lernt?« (SdE 305) Bei Rosenzweig erscheint der Mensch als
»der notwendige Vermittler der Erlösung der Welt«.15 Wendet man dieses
Theologumenon existenzhermeneutisch, so bedeutet »Erlösung«, dass die
Dinghaftigkeit des »er« zur Singularität des »du« aufbricht. Rosenzweig korre-
liert dies mit der dialogischen Sprachform. Im Vergleich zur historischen Er-
zählung, die keine persönliche Perspektive kennt, werden im Dialog Sprecher-
positionen markiert. Auch diese Struktur demonstriert Rosenzweig an bibli-
schen Texten: am Dialog zwischen Gott und Adam (vgl. Gen 3,9ff.), am Dia-
14 Vgl. auch SdE 133: »In der göttlichen Schöpfung braucht die Welt nicht ein ›fertig‹
Geschaffenes ›geworden‹ zu sein, sondern vorerst noch weiter nichts als – Ge-
schöpf.«
15 Emmanuel Levinas: Zwischen zwei Welten (Der Weg von Franz Rosenzweig). In:
Ders.: Schwierige Freiheit. Versuch über das Judentum. Übers. von Eva Molden-
hauer. Frankfurt a. M.: Jüdischer Verlag 1992, S. 129–154, hier: S. 142.
44 Teil I

log zwischen Gott und Abraham (vgl. Gen 22,1ff.) sowie am Hohelied. Der
Dialog ist bei Rosenzweig die Sprachform der Offenbarung. Er ist aber auch in
der von Rosenzweig eigentlich der Erlösung zugeordneten Sprachform, dem
gemeinschaftlichen Gesang im Chor, noch enthalten, als »Strophe, die nur von
zwei einzelnen Stimmen gesungen wird« (SdE 262).
Im zweiten Teil des Sterns der Erlösung entfaltet Rosenzweig sein
»Sprachdenken« als ein Denken, das die Zeit, den Anderen und die Sprache
ernst nimmt als konstituierende Momente der »erfahrene[n] Wirklichkeit«.16
Hat die »erfahrene Wirklichkeit« ihr Sein in der Beziehung, so setzt dies für
Rosenzweig voneinander unabhängige Substanzen voraus, die miteinander in
Beziehung treten können und die der erste Teil des Sterns thematisiert: den
meta-physischen Gott, der sein Sein in sich hat und nicht logisch bewiesen
noch psychologisch gedeutet werden kann; die meta-logische Welt, die nicht
Gegenstand des Logos ist, sondern ihre Logik in sich trägt; und das meta-
ethische Selbst, das nicht Objekt der Ethik ist, sondern sein Ethos hat. Der
Weg, den Rosenzweigs Denken im Stern der Erlösung nimmt, lässt sich mit
Anna Elisabeth Bauer wie folgt beschreiben: »Zuerst wird ihm [Rosenzweig;
Anm. E. D.] der metaethische Mensch auffällig. Dieser Mensch, der Herr über
sein Ethos ist, sprengt das eine All des Idealismus in die drei Urphänomene
Gott, Welt, Mensch.«17 Um diese drei Elemente zu erfassen, greift Rosenzweig
auf die Sprache der »logisch-mathematischen Symbole« (SdE 29) zurück. Mit
Hilfe von logischen Operationen der Bejahung und Verneinung, die in Glei-
chungen formalisiert werden, versucht Rosenzweig den logischen Gang vom
Nichts zum Etwas, nämlich zum Etwas dieser Elemente, aufzuzeigen.18 Das
alte, logische Denken wird in Rosenzweigs Stern also nicht verworfen, son-
dern bildet die im ersten Teil behandelte, ›stumme‹ Voraussetzung des neuen,
sprechenden Denkens. Bleibt der erste Teil des Sterns diesseits der Schwelle
zur gesprochenen Sprache, so führt der dritte Teil in deren Jenseits: zur liturgi-
schen Sprache, die in der Geste kulminiert (vgl. Kap. II.5).
Rosenzweig läuft gegen den Idealismus Sturm, indem er die »logisch-
physische Einheit des Kosmos« (SdE 17), d. h. die »auf der Einheit des Logos
begründet[e] […] Einheit der Welt als einer Allheit« (SdE 12), zerfällt. Es
bleibt für ihn freilich die Perspektive, »das All, das wir zerstückeln mußten,
wiederzufinden« (SdE 24). Im zweiten Teil des Sterns gibt er das »Wir« als
»die aus dem Dual entwickelte Allheit« (SdE 264) zu denken, eine neue All-
heit, der die unbestimmbare Singularität des Anderen zugrunde liegt. Im drit-
ten Teil des Sterns verfährt Rosenzweig anders: Er analysiert Politik und Reli-
16 Rosenzweig, Das neue Denken (wie Anm. 1), S. 219.
17 Anna Elisabeth Bauer: Rosenzweigs Sprachdenken im »Stern der Erlösung« und in
seiner Korrespondenz mit Martin Buber zur Verdeutschung der Schrift. Frankfurt
a. M.: Lang 1992 (Europäische Hochschulschriften: Reihe 23, Theologie; 466),
S. 125.
18 Rosenzweigs mathematisches Denken lehnt sich an Hermann Cohens Erkenntnis-
theorie an (vgl. ebd., S. 122f.).
2 Franz Rosenzweigs »Sprachdenken« im ›Stern der Erlösung‹ 45

gion als soziale Systeme, als Formen kollektiver Existenz, und schreibt dem
Judentum die Rolle zu, »das Bild der wahren Gemeinschaft unversehrt zu
erhalten« (SdE 369). Die Spannung zwischen der Exemplarik, die dem Juden-
tum im Hinblick auf die »Allheit« im dritten Teil des Sterns zugeschrieben
wird, und der allererst werdenden »Allheit«, um die sich der zweite Teil dreht,
reflektiert die Spannung zwischen einer allgemeinen Hermeneutik der Existenz
und einer religiösen Existenzanalyse, d. h. einer Analyse religiöser Existenz.
Auf diese Spannung, die in sprachlicher Hinsicht mit der Frage verbunden ist,
wie sich die religiöse Sprache des Sterns zu einer allgemeinen Erfahrungsana-
lytik verhält bzw. die »alten jüdischen Worte«19 zu einem »System der Philo-
sophie«,20 werden wir sowohl in den unmittelbar folgenden Abschnitten als
auch in Kapitel II.5 zurückkommen.

2.1 Der Nominalsatz in der historischen Erzählung: Die Welt als


»Schöpfung«

»bAj-yKi ~yhil{a/ ar>Y:w« (»Wajar’ elohim ki-tov«): »Gott sah, daß es gut ist«. Buber
und Rosenzweig übersetzen den Nominalsatz »ki-tov«, der sechs Mal im
Schöpfungsbericht vorkommt (vgl. Gen 1,4; 1,10; 1,12; 1,18; 1,21; 1,25) je-
weils mit der Kopula »ist«.21 Den Nominalsatz »daom. bAj-hNEhiw« (»Wehinneh-tov
meod«), der am Schluss des Schöpfungsberichts steht, übersetzen sie jedoch in
der Vergangenheitsform: »Gott sah alles, was er gemacht hatte, und da, es war
sehr gut.« (Gen 1,31; Hervorhebung E. D.) In dieser eigenwilligen Überset-
zung zeigt sich meines Erachtens ein später Reflex von Rosenzweigs Überle-
gungen zum »Wortformenschatz der Schöpfung« (SdE 170), die er im Stern
der Erlösung anstellt. Die »Vergangenheitsform vollendet die Gegenständlich-
keit des Geschehens […]. ›Gut!‹ kann man sich ›zum Meisterlohn‹ nur nach
getaner Arbeit rufen« (SdE 145). Am Schluss des Schöpfungsberichts »rückt
unmerklich die Schöpfung ins Vergangene und macht sie so zur stillen Vor-
aussage des Wunders ihrer Erneuerung« (SdE 173). Die spätere deutsche
Übersetzung macht das Unmerkliche in der Übersetzung merklich.
Im Kapitel »Schöpfung« des zweiten Teils des Sterns der Erlösung bemüht
sich Rosenzweig, zu zeigen, dass die Schöpfung die Dimension einer »Gegen-
ständlichkeit […] des Seins« ausmacht, in der das Geschaffene »ohne Ansehn
der Person in die Dingwelt der Schöpfung gebannt« (SdE 169) bleibt. Die
»Gegenständlichkeit […] des Seins« (SdE 145) ist aber keine zeitlose, sondern
korrespondiert im Schöpfungsbericht mit der Zeitigung von Zeit als Vergan-

19 Rosenzweig, Das neue Denken (wie Anm. 1), S. 227.


20 Ebd., S. 211. Rosenzweig hat den Stern nicht als »›jüdisches Buch‹«, sondern als
»System der Philosophie« verstanden wissen wollen (vgl. ebd., S. 210f.).
21 Vgl. Die fünf Bücher der Weisung. Verdeutscht von Martin Buber gemeinsam mit
Franz Rosenzweig. Bd 1. 10. Aufl., Stuttgart: Dt. Bibelges. 1992, S. 9–11.
46 Teil I

genheit – sie ist Welt eines kreatürlichen, zeitlichen Daseins. Im Rahmen einer
historischen Erzählung können die Aussagen über die Dinge der Welt nicht als
absolute Behauptungen über unveränderliche Wesenheiten verstanden werden.
Die Herrschaft des Allgemeinen über das Besondere, die Rosenzweig im
Schöpfungsbericht wiederfindet, ist zeitlich gebunden. Rosenzweig verzeitlicht
den Typus allgemeingültiger Aussagen, indem er behauptet, dass solche Aus-
sagen überhaupt nur im Hinblick auf die Vergangenheit möglich sind:
»[J]edesmal wird die Welt in die Vergangenheit projiziert, um erkennbar zu
werden« (SdE 146), und zwar um erkennbar zu werden in »Begriffen, mit
denen man die Wirklichkeit allgemein umfaßt« (SdE 146).22 Im Hebräischen
ist es eine der Funktionen des Nominalsatzes, allgemeingültige Aussagen im
Sinne von Klassifizierungsaussagen auszudrücken.23 Der Nominalsatz ist zeit-
lich nicht festgelegt: Man kann ihn zeitlos verstehen (als Wesensaussage), aber
auch zeitlich festlegen (als Beschreibung eines zeitlichen Zustands). Der No-
minalsatz »ki-tov«: »Wahrlich, (es ist) gut!« skandiert den Schöpfungsbericht.
Indem Rosenzweig und Buber den Nominalsatz sechsmal mit der Kopula »ist«
übersetzen (»daß es gut ist«), um sie beim siebten Mal durch die Kopula »war«
(»und da, es war sehr gut«) zu ersetzen, temporalisieren sie die Aussage. Kann
man »Gott sah, daß es gut ist« als zeitlose Wesensaussage verstehen, so wird
daraus durch die am Schluss erfolgende Wendung in die Vergangenheit eine
Aussage über das zeitliche Sein eines Zustandes.
Rosenzweigs Analyse der »Wortformen der Schöpfung« kommt einer weit
ausholenden Reflexion über Form und Funktionen des hebräischen Nominal-
satzes gleich, wie wir noch näher sehen werden. Diese strukturelle Bedeutung,
die der hebräische Nominalsatz für das Kapitel »Schöpfung« hat, ist, soweit
ich sehe, in der Forschung noch nicht thematisiert worden. Dabei zielt Rosen-
zweig im Kapitel »Schöpfung« des Sterns der Erlösung argumentativ darauf,
die Temporalisierung von Klassifizierungsaussagen im Rahmen einer Erzäh-
lung aufzuzeigen und so den Anschein ihrer vermeintlichen Zeitlosigkeit zu
zerstreuen. Die Herrschaft des Allgemeinen über das Besondere wird auf diese
Weise hermeneutisch gewendet. Das System von historisch verfügbaren und

22 Weiter schreibt Rosenzweig in diesem Zusammenhang: »[D]er Gedanke des Natur-


gesetzes selber ist ausdrücklich als Ge-setz, Gesetztes, Satzung gedacht; nicht auf
die veränderliche Gegenwart wird das Geschehen reduziert, sondern alles, selbst das
Gegenwärtige, der Augenblick in Bewegung, muß auf die Form der Ruhe, also der
Vergangenheit, gebracht werden […]. Gar die Zukunft gilt als absolut ungeeignet,
›unfruchtbar‹ für die Erkenntnis des Wirklichen« (SdE 146).
23 Vgl. Heinz-Dieter Neef: Arbeitsbuch Hebräisch. Materialien, Beispiele und Übun-
gen zum Biblisch-Hebräisch. 2. Aufl., Tübingen: Mohr Siebeck 2003 (UTB; 2429),
S. 71: »Nominalsätze beschreiben keine Handlungen oder Vorgänge, sondern Ver-
hältnisse, Eigenschaften, Zustände. Dabei lassen sich drei verschiedene Aufgaben
unterscheiden: Nominalsätze dienen als a) Vorhandenseins-, b) Identitäts- und c)
Klassifizierungsaussagen.«
2 Franz Rosenzweigs »Sprachdenken« im ›Stern der Erlösung‹ 47

möglichen Aussagen über die Welt – der Diskurs im Sinne von Foucault24 –
gehört zur Dimension einer faktischen Vergangenheit, die das Subjekt immer
schon vorfindet, durch die aber seine Gegenwart und Zukunft nicht determi-
niert werden.
Als »Stammwort« (SdE 141) der Schöpfung setzt Rosenzweig das Adjektiv
»gut« an, das prädikativ gebraucht wird als schlechthin bejahende Aussage:
»gut!« (vgl. SdE 168) Die »positive Bewertung« (SdE 141) stellt eine »Beja-
hung« (SdE 168) des »Schon-da-seins« der Welt dar. In existentieller Hinsicht
bedeutet diese ursprüngliche Bejahung »nicht, daß alle Aspekte der Welt not-
wendig als gut wahrgenommen werden, sondern daß die allgemeine Tatsache,
daß es etwas gibt, spontan als gut erlebt wird«,25 so Stéphane Mosès. Sprach-
theoretisch entwickelt Rosenzweig aus der ursprünglichen Bejahung die Logik
der bejahenden, finiten Aussage, die eine Behauptung über die Qualität (»das
So« (SdE 143)) und die Existenz (»das Daß« (SdE 143)) von Gegenständen
aufstellt. Finite Aussagen schaffen nicht nur eine Beziehung zwischen ihren
grammatischen Gliedern, sondern beinhalten eine Realitätsbehauptung – hier
stimmt Rosenzweigs Analyse mit der modernen Linguistik überein.26
24 Vgl. Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses. Übers. von Walter Seitter.
Frankfurt a. M.: Fischer-Taschenbuch-Verlag 1997 (Fischer; 10083: Fischer Wis-
senschaft). Die Diskursanalyse Foucaults kreist um die Frage, wie Wissen in einer
Gesellschaft produziert, eingesetzt, gewertet, verteilt und zugewiesen wird. Foucault
geht davon aus, dass der Diskurs durch interne wie externe Prozeduren kontrolliert
wird. Die internen Kontrollprozeduren wirken als Klassifikations-, Anordnungs- und
Verteilungsprinzipien, die die Dimension des Ereignisses und des Zufalls bändigen
sollen (vgl. ebd., S. 17ff.). Zu diesen internen Kontrollprozeduren gehört die Orga-
nisation des Wissens in »Disziplinen«. »Die Disziplin ist ein Kontrollprinzip der
Produktion des Diskurses. Sie setzt ihr Grenzen durch das Spiel einer Identität, wel-
che die Form einer permanenten Reaktualisierung der Regeln hat« (ebd., S. 25). Die
Disziplin bestimmt die Regeln, nach denen Aussagen konstruiert werden können; sie
konstituiert ein »anonymes System, das jedem zur Verfügung steht, der sich seiner
bedienen will oder kann, ohne daß sein Sinn oder sein Wert von seinem Erfinder ab-
hängen« (ebd., S. 22 [Unterstreichung E. D.]).
25 Stéphane Mosès: System und Offenbarung. Die Philosophie Franz Rosenzweigs.
München: Fink 1985, S. 79 (im Original kursiv).
26 Vgl. Émile Benveniste: Der Nominalsatz. In: Ders.: Probleme der allgemeinen
Sprachwissenschaft. Übers. von Wilhelm Bolle. München: List 1974, S. 169–188,
besonders S. 173. Robert Gibbs hat Rosenzweigs Aussagelogik mit John Austins
Sprechakttheorie in Verbindung gebracht. Rosenzweig habe Austins Selbstkorrektur
im Hinblick auf die starre Unterscheidung von konstativen und performativen Äuße-
rungen gewissermaßen schon vorweggenommen. War Austin am Beginn seiner be-
rühmten Vorlesung How to Do Things with Words noch davon ausgegangen, dass
wir mit konstativen Äußerungen nur etwas sagen, mit performativen Äußerungen
aber etwas tun, so hat er später eine differenziertere Logik entwickelt anhand der
Trias von »Lokution«, »Illokution«, »Perlokution«, die die frühere Dichotomie
»constative«/»performative« ab der achten Vorlesung ersetzt. Auch mit Aussagen
des Typs »constative« tun wir etwas: Wir behaupten die Existenz von etwas.
Rosenzweig habe bereits, so Gibbs, die performative Kraft von Aussagen erkannt:
48 Teil I

Aus dem Stammwort »gut« entwickelt Rosenzweig eine Lehre der »Wort-
formen« der Schöpfung, die er entlang von zwei Reihen anordnet. Die erste
Reihe gibt eine Substanzontologie wieder, die zweite eine Prozessontologie.27
Die erste ist an der Struktur der bejahenden Aussage im zeitlosen Nominalsatz
orientiert, die zweite legt den Nominalsatz zeitlich fest, indem sie ihn zum
Bestandteil einer Erzählung macht. Rosenzweig überführt die Substanzontolo-
gie in eine Prozessontologie, indem er den zeitlosen Nominalsatz temporali-
siert und so den Typus allgemeingültiger, überzeitlicher Aussagen verzeitlicht.
Die substanzontologische Reihe untersteht bei Rosenzweig nicht der Frage
nach dem »Was«, sondern nach dem »Wie«; das »Was«, das (einzelne) Ding,
kommt erst am Ende der Reihe zu stehen, als »Vertreter« seiner »Gattung« –
das »Dasein in seiner Allgemeinheit und allerfassenden Formhaftigkeit
bleibt der unmittelbar geschaffene Grund, der ›Anfang‹« (SdE 148). In der
Schematisierung der Wortarten, die die Reihe der Substanzontologie bilden,
erscheint also am Anfang das prädikativ gebrauchte Adjektiv, das Eigen-
schaftswort (»Die Welt ist lauter Eigenschaft, sie ist es von Anfang« (SdE
142)). Den Weg von der Eigenschaft zum Ding weist das »Zeigen«, das
Demonstrativpronomen.
Das ›Dies‹ zeigt auf das Ding bloß hin und drückt in diesem Zeigen aus, daß hier ein
›Etwas‹ zu suchen ist. […] Es ist noch fraglich, ›was‹ es sei. Erst der unbestimmte
Artikel gibt auf das Was die Antwort, daß es sich um ›einen‹ Vertreter der Gattung
handle, und erst der bestimmte Artikel drückt unter diesen großen Prozeß den Stem-
pel und bezeichnet ihn als vollzogen, ›das‹ Ding als erkannt (SdE 142).

In der Logik, die Rosenzweig hier beschreibt, wird eine Eigenschaft einem
Ding als Vertreter einer Gattung zugeschrieben, wobei die Eigenschaft als der
»Erstling der Schöpfung« gilt, demgegenüber das Ding eine »reine Abstrakti-
on« sei. Die Logik der empirischen Aussagen wird von Rosenzweig aus einer
Wahrnehmungssituation hergeleitet, in der die »Wirklichkeit der Eigenschaf-
ten« ein Anfängliches und »[E]infache[s]« darstellt,28 das über ein Zeigen
(»Dies«) auf ein »Etwas« mit »Dingen« verbunden wird, die als Gattungsenti-
täten verstanden werden. Im Prinzip ist diese Logik der Kategorienlehre von
Charles S. Peirce verwandt, insofern bei Peirce die »Erstheit« ganz allgemein
dasjenige meint, »dessen Sein einfach in sich selbst besteht, das weder auf

»For Rosenzweig the performative force of statements will appear as the difference
between the indicative mood of speech and the unspeakable statements of logic.
»›All ›P‹ is ›X‹‹ is not speech according to Rosenzweig, but ›the box is big‹ is, pre-
cisely because when I say ›the box is big‹ I am asserting the existence of the box and
the world that contains it« (Robert Gibbs: Correlations in Rosenzweig and Levinas.
Princeton [NJ]: Princeton Univ. Press 1992, S. 61).
27 Vgl. ebd., S. 68f.
28 Vgl. SdE 148: »[D]ie Welt ist ganz ursprünglich die Fülle des Dies, die in ihrer
ständig übersprudelnden Neuheit nur durch das reine ungeformte Eigenschaftswort
wie ›blau‹ oder ›kalt‹ ausgesprochen ist.«
2 Franz Rosenzweigs »Sprachdenken« im ›Stern der Erlösung‹ 49

etwas verweist, noch hinter etwas anderem steht«29 – also die Kategorie des
Unmittelbaren, die bei Rosenzweig von den »Eigenschaften« ausgefüllt wird.
Die »Zweitheit« dagegen ist »Sein in Bezug auf ein Zweites«, die Kategorie
des Anderen, des Faktischen, in Raum und Zeit singulär Existierenden – bei
Rosenzweig das Zeigen auf »dies« noch unbestimmte »Etwas«. »Drittheit«
schließlich stellt die Beziehung zwischen einem Ersten und einem Zweiten her
als Kategorie des Allgemeinen, des Gesetzmäßigen, der Gewohnheit, der
Kommunikation und des Zeichenhaften schlechthin – bei Rosenzweig sowohl
die Verbindung von Eigenschaft und Ding als seinem »Träger« als auch die
Ausdeutung des »Dinges« als Wesen einer Gattung.30 Ein – frei erfundenes –
Beispiel wäre: »Grün / dies / ein / der / Frosch«.
Die Wortformen der substanzontologischen Reihe fügen sich also bei Ro-
senzweig wie folgt aneinander: Adjektiv / Demonstrativpronomen / unbe-
stimmter Artikel / bestimmter Artikel / Nomen. Es ist eine Reihe, die vom
Allgemeinen ins Besondere geht, wobei zwei Formen des Allgemeinen von-
einander zu unterscheiden wären, die »allerfassende Formhaftigkeit« der Ei-
genschaftsworte31 und die Allgemeinheit der Gattung. Das Besondere wieder-
um ist kein »singulares Individuum«, das für Rosenzweig im »Eigennamen«
bezeichnet wird, sondern es ist Individuum einer Gattung.
29 Charles Sanders Peirce, zitiert nach: Winfried Nöth: Handbuch der Semiotik. Stutt-
gart: Metzler 1985, S. 35.
30 Gérard Deledalle gibt Peirces Kategorien wie folgt wieder: »Zusammenfassend sind
die drei Kategorien also Erstheit, welche reine Möglichkeit ist [da sich nichts über
sie aussagen läßt; Anm. E. D.], Zweitheit, die ein singuläres oder einmaliges Existie-
rendes ist […], und Drittheit, welche Vermittlung als formale Relation ist« (ders.:
Semiotik als Philosophie. In: Uwe Wirth [Hg.]: Die Welt als Zeichen und Hypothe-
se. Perspektiven des semiotischen Pragmatismus von Charles Sanders Peirce. Frank-
furt a. M.: Suhrkamp 2000 [Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft; 1479], S. 30–43,
hier: S. 33).
31 Interessanterweise berührt sich Rosenzweigs Substanzontologie in der Logik der
»Eigenschaften«, aus denen die Welt »am Anfang« hervorgeht, mit derjenigen Spi-
nozas. Denn die »Eigenschaften«, die »einzeln, unvergleichlich« sind, stimmen mit
Spinozas Attributen überein, den Seinsformen, in denen sich die eine Substanz
(Gott) ausdrückt. Attribute (Spinoza) beschreiben wie die »einfachen Eigenschaf-
ten« (Rosenzweig) eine rein qualitative Vielfalt, eine »rein qualitative, quidditive,
formale Unterscheidung« der Substanz (Gott) (vgl. Gilles Deleuze: Spinoza und das
Problem des Ausdrucks in der Philosophie. Übers. von Ulrich Johannes Schneider.
München: Fink 1993, S. 38). Die quantitative Unterscheidung liegt demgegenüber
nicht auf der Ebene der Substanz, sondern auf der Ebene der »Modi« (Spinoza), die
in einem Attribut enthalten sind, bzw. auf der Ebene der »Dinge« (Rosenzweig). Der
Vergleich zwischen Spinozas und Rosenzweigs Substanzontoloie trägt aber noch
weiter: Bei Rosenzweig sind die »Dinge« wie bei Spinoza die »Modi« keine selb-
ständigen Substanzen, sondern sie existieren nur in Relation zueinander. »Das Ding
besitzt keine Standfestigkeit, solange es alleinsteht. Seiner Einzelheit, seiner Indivi-
dualität ist es nur gewiß in der Vielheit der Dinge. […] Das Ding hat auch kein be-
stimmtes eigenes Wesen, es ist nicht in sich, es ist nur in seinen Beziehungen […],
die es auf seine Gattung hat« (SdE 148).
50 Teil I

Erst die Vielheit gibt allen ihren [der Gattung; Anm. E. D.] Gliedern das Recht, sich
als Individuen zu fühlen; sind sie es nicht an sich, wie das im Eigennamen bezeich-
nete singulare Individuum, so doch gegenüber der Vielheit (SdE 143).

Die substanzontologische Reihe, die Rosenzweig formt, ist, was Satzstellung


und Aussagelogik betrifft, dem hebräischen selbständigen Nominalsatz nach-
gebildet. Im selbständigen Nominalsatz steht das Prädikat im Hebräischen
meistens am Anfang. Entlang der substanzontologischen Reihe beschreibt
Rosenzweig die Produktion von Klassifizierungsaussagen in der Form des
Nominalsatzes. Bis hierhin lässt sich Rosenzweigs Analyse des hebräischen
Nominalsatzes noch mit der Analyse des Nominalsatzes in den indogermani-
schen Sprachen parallel führen, die Émile Benveniste vorgelegt hat:
Im Nominalsatz kann das behauptende Element, da es nominal ist, nicht von den
Bestimmungen, die die Verbform trägt, betroffen werden: Modalitäten der Zeit, der
Person usw. Die Behauptung hat das besondere Kennzeichen, zeitenlos, unpersön-
lich, nicht modal zu sein.32

Anders verhalte es sich, so Benveniste, bei dem Verbalsatz mit einer Form von
»sein«, auf den der Nominalsatz in den indogermanischen Sprachen nicht
zurückzuführen sei. Der Verbalsatz mit »sein« beschreibe eine zeitlich be-
stimmte Situation und stelle keine zeitenlose Behauptung auf. Daher gehöre
der Satz mit »sein« zum Register der Erzählung und nicht zu dem Register
allgemeingültiger Aussagen wie der Nominalsatz – diese These entwickelt
Benveniste anhand einer sprachlichen Analyse Homers.33 An dieser Stelle ist
nun zwischen dem Hebräischen und dem Griechischen zu unterscheiden, denn
im Hebräischen ist der Nominalsatz nicht per se »zeitenlos, unpersönlich, nicht
modal« – hier entscheidet alles der Kontext. Der Nominalsatz kann eine Klas-
sifizierung als zeitlose allgemeingültige Aussage ausdrücken wie im Griechi-
schen (und anderen indogermanischen Sprachen), aber auch eine zeitlich durch
den Kontext fixierbare Aussage enthalten. Rosenzweig verzeitlicht die zeitlich
nicht festgelegten Aussagen, die sich entlang der substanzlogischen Reihe der
Wortformen als zeitlose Aussagen konstruieren lassen, indem er mit der pro-
zessontologischen Reihe ins Register der Erzählung wechselt. Die zeitlosen,
allgemeingültigen Nominalsätze, die die substanzontologische Reihe vorder-
hand produziert, werden durch den Kontext der historischen Erzählung, in die
sie Rosenzweig mit der prozessontologischen Reihe stellt, temporal und modal
festgelegt – nur die persönliche Perspektivierung lässt Rosenzweig mit Be-
dacht aus.
»Die Kopula ›sein‹ steckt in jeder bejahten Eigenschaft« (SdE 144), be-
hauptet Rosenzweig – anders als Benveniste im Hinblick auf das Griechische.
»›Gut!‹ bedeutet: ›es ist gut‹.« Mit der Kopula »sein« eröffnet Rosenzweig die
Dimension der Zeit, um die es in den Wortformen entlang der prozessontologi-

32 Benveniste, Der Nominalsatz (wie Anm. 26), S. 178.


33 Vgl. ebd., S. 186.
2 Franz Rosenzweigs »Sprachdenken« im ›Stern der Erlösung‹ 51

schen Reihe geht. Wieder vom Adjektiv »gut« ausgehend, bildet das Partizip
als Form, »die zwischen Adjektivum und Verbum […] mitteninne steht«
(SdE 144), den Auftakt der prozessontologischen Reihe, die über den Infini-
tiv, der das Verb – die »Bewegung« – überhaupt bejahe, hin zur dritten Per-
son34 im Indikativ der Vergangenheit führt: »Objektiv, gegenständlich, in
dinghafter Ruhe, ›ewig still‹ – ›steht die Vergangenheit‹« (SdE 145). Die
Reihe geht also wie folgt: Adjektiv / Partizip (Kopula) / Infinitiv / 3. Person /
Vergangenheit (Indikativ). Die »Gegenständlichkeit des Seins« ist nicht
jenseits der Zeit, sondern ihr entspricht eine Zeitform (Vergangenheit) und ein
Modus (Indikativ):
Unter den Zeiten muß eine sich als spezifisch objektive darbieten. Objektiv, gegen-
ständlich, in dinghafter Ruhe, ›ewig still‹ – ›steht die Vergangenheit‹. Die Vergan-
genheitsform vollendet die Gegenständlichkeit des Geschehens, wie die im Artikel
bestimmte Dinglichkeit die des Seins (SdE 145).

Indem Rosenzweig die Substanzontologie in eine Prozessontologie überführt,


wechselt er aus dem Register der zeitlosen Aussagen in das Register einer
Erzählung, und zwar einer solchen Erzählung, in der die Vergangenheit als
»objektive Zeit« evoziert wird. Eine Erzählung in der dritten Person der Ver-
gangenheit, die der unpersönlichen »Dinglichkeit« der Vergangenheit korres-
pondiert, lässt sich wieder mit Émile Benveniste als »histoire« denken.35 Da-
mit bezeichnet Benveniste einen Erzähltyp, der besonders in historischen Dar-
stellungen zum Zuge kommt. Er liefert keine »Innenperspektive« der Han-
delnden und kennt keine deutlich hervortretenden Sprecherinstanzen, im Ge-
gensatz zu der Erzählform, die Benveniste »discours« nennt.36
Avant la lettre gibt Rosenzweig den Schöpfungsbericht als solche »histoire«
zu verstehen. Indem Rosenzweig die Klassifizierungsaussagen von Nominal-
sätzen als Teil einer »histoire« begreift, gibt er ihnen eine zeitliche Dimension.
Der Schöpfungsbericht spricht eine unpersönliche, aber keine zeitlose Sprache.
Er gibt die »Gegenständlichkeit des Seins« von ihrer Zeitlichkeit und spezifi-
schen Sprachlichkeit her zu verstehen.

34 »Die Dinge sind ja vermöge ihres Durchgangs durch das Pronomen, der ihnen Ding-
lichkeit gründet, alle von Haus aus in der dritten Person. Und das Verbum drängt
vermöge seines Durchgangs durch die Vorgangsform, sowie auch durch seine Be-
ziehung auf das Partizip, das ja selber einen Teil des Weges vom Adjektiv zum
Ding, nämlich das Stück bis zum unbestimmten Artikel, schon zurückgelegt hat,
ebenfalls von sich aus schon zur dritten Person; sie ist seine ›objektivste‹« (SdE
145).
35 Darauf hat als erster Mosès hingewiesen (vgl. Mosès, System und Offenbarung [wie
Anm. 25], S. 72, 95).
36 Vgl. Émile Benveniste: Die Tempusbeziehungen im französischen Verb. In: Ders.:
Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft. Übers. von Wilhelm Bolle. Mün-
chen: List 1974, S. 264–278 (zur Unterscheidung zwischen »histoire« und »dis-
cours« besonders S. 269). Es bedarf kaum des Kommentars, dass Benvenistes »dis-
cours« und Foucaults Diskurs gänzlich unterschiedliche Phänomene bezeichnen.
52 Teil I

2.2 Das Ereignis des Sprechens oder (die) Offenbarung

Wenn der menschliche Aspekt und Anteil der messianischen Erlösung darin
liegt, »daß das Ich zum Er Du sagen lernt« (SdE 305), dann hat Rosenzweig in
dem Schöpfungskapitel das »Er« expliziert. Das »Er« ist der Andere »von der
Welt her«, von der Welt der allgemeinen Formen, Konventionen und Gesetz-
mäßigkeiten, die Rosenzweig mit einer bestimmten sprachlichen Zeitigungs-
form von Zeit, der Erzählung einer Vergangenheit ohne hervorgehobene Spre-
cherinstanzen oder Fokalisierung auf eine Figur (Benvenistes »histoire«), ver-
bindet. Das Ge-setzte/Er-zählte ist nur gültig in Bezug auf eine abgeschlossene
Welt, die gleichbedeutend ist mit der abgeschlossenen, unpersönlichen Zeit der
Vergangenheit, wie sie die Erzählung als »histoire« zeitigt. In dem Kapitel
»Offenbarung« thematisiert Rosenzweig nun die sprachlichen Deiktika »ich«,
»du« und »hier«. Die Deiktika markieren im Aussageakt nicht nur Sprecherpo-
sitionen. Durch die Indikatoren ich/du; hier/dort; dieser/jener etc. bezieht sich
die Sprache auf die Präsenz des Aussageaktes selbst, auf ihre eigene Realisie-
rung im Aussageakt.37 Im Fokus steht das Ereignis des Sprechens als solches –
diesseits der Bedeutung –, in dem sich Gegenwart als Ereignis zeitigt.
Hatte das Kapitel »Schöpfung« die Logik von Aussagen, insbesondere von
Klassifizierungsaussagen, untersucht und ihnen den Anschein der Zeitlosigkeit
genommen, indem sie als Teil einer historischen Erzählung lesbar wurden, so
konfrontiert das Kapitel »Offenbarung« die Aussagenlogik mit dem Aussage-
akt, dem Ereignis der Gegenwart, und überwindet damit auch erst die Anony-
mität. Denn trotz der Temporalisierung bleibt die Aussagenlogik im Kapitel
»Schöpfung« noch dem verhaftet, was man mit Foucault »Diskurs« nennen
kann, ein bestimmten Gesetzen und Regeln gehorchendes System von histo-
risch möglichen Aussagen über die Welt, »das jedem zur Verfügung steht, der
sich seiner bedienen will«,38 ohne dass der je konkrete Aussageakt ins Gewicht
fiele oder die Spezifizität des jeweiligen Sprechers markiert würde. Sobald
diese Aussagen jedoch Teil eines Aussageaktes werden, der sich durch den
Personen-Indikator »ich« bzw. »du« (und die mit ihnen verwandten Indikato-
ren »hier« und »dort« etc.) auf die jedes Mal diskrete und einzelne Handlung
seiner eigenen Realisierung bezieht, kontrolliert das geregelte System der
Aussagen nicht mehr die Dimension des Ereignisses, sondern öffnet sich ihr.

37 Mosès hat wohl beiläufig in einer Fußnote bemerkt, dass Rosenzweigs Untersu-
chung der Personalpronomen Ähnlichkeit mit der Analyse Benvenistes hat, jedoch
nur im Hinblick auf die Logik der Sprecherpositionen »ich« und »du« (vgl. Mosès,
System und Offenbarung [wie Anm. 25], S. 95, Fn. 7). Dass die Indikatoren das Er-
eignis des Sprechens selbst reflektieren, berücksichtigt Mosès nicht. Vgl. Émile
Benveniste: Die Natur der Pronomen. In: Ders.: Probleme der allgemeinen Sprach-
wissenschaft. Übers. von Wilhelm Bolle. München: List 1974 (List-Taschenbücher
der Wissenschaft; 1428), S. 279–286, besonders S. 282.
38 Foucault, Die Ordnung des Diskurses (wie Anm. 24), S. 22.
2 Franz Rosenzweigs »Sprachdenken« im ›Stern der Erlösung‹ 53

Denn die Ausübung der Sprache ist ein jedes Mal einzigartiger Akt und das
Zeichen »ich« verweist immer nur auf diese einzelne, diskrete Instanz seiner
aktualen Rede.
Dieses Zeichen ist also mit der Ausübung der Rede verbunden und erklärt den Spre-
cher als solchen. Diese Eigenschaft ist es, die die individuelle Rede begründet, in der
jeder Sprecher auf seine Verantwortung die ganze Sprache übernimmt.39

Im Zentrum des Kapitels »Offenbarung« steht die Szene, in der ein »ich«,
dessen es für die Erlösung, in der »das Ich zum Er Du sagen lernt« (SdE 305)
bedarf, überhaupt erst begründet wird. Rosenzweig denkt Subjektivität ganz
vom Ereignis des Appells an den Eigennamen.40 Das Subjekt im emphatischen
Sinn ist bei Rosenzweig Effekt eines fragenden Anrufes (»Wo bist du?«) und
nicht Effekt eines Diskurses (als Foucault’sches Aussagesystem),41 für den das
Subjekt durch die Belegung mit einem Eigennamen lediglich (a)dressierbar

39 Benveniste, Die Natur der Pronomen (wie Anm. 37), S. 284 (Unterstreichung E. D.).
Benveniste denkt in dieser Formulierung Ereignis und Wiederholung so zusammen,
dass der einzelne Sprecher verantwortlich für die jeweilig von ihm vollzogene Wie-
derholung ist, welche die Sprache als Zeichensystem immer – auch in der je einzig-
artigen Ausübung – darstellt.
40 Gottes Anrufung an Abraham wird von Rosenzweig als Beispiel herangezogen. Vgl.
Gen 22,1: »Und es war nach diesen Begebenheiten, und es prüfte Gott den Abraham
und sprach zu ihm: Abraham! Und er sprach. Hier bin ich.«
41 So z. B. Judith Butler, wenn sie die »Anrufung« kurzerhand zum »Instrument und
Mechanismus von Diskursen« erklärt, »deren Wirksamkeit sich nicht auf den Au-
genblick der Äußerung reduzieren läßt« (Judith Butler: Haß spricht. Zur Politik des
Performativen. Übers. von Katharina Menke. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2006
[Edition Suhrkamp; 2414], S. 52). Gleichwohl ist auch bei Butler das Subjekt nicht
nur Diskurseffekt, sondern das Subjekt des Aussagens und das ausgesagte Subjekt
bleiben inkommensurabel, insofern »[d]ie Zeit des Diskurses nicht die Zeit des Sub-
jekts« (ebd., S. 51) ist. Historische Abhängigkeit vom Diskurs und ontologische (=
unhintergehbare) Abhängigkeit von der Anrede durch den Anderen werden von ihr,
der Lacan’schen Lehre gemäß, an anderer Stelle auch auf unterschiedlichen Ebenen
angesiedelt. Die ontologische Abhängigkeit von der Anrede durch den Anderen,
»um zu sein« (ebd., S. 49), der Mangel des Subjekts, das sein Sein nicht aus sich hat,
gibt bei Lacan diesseits aller historisch-sozialen Determination, die Nichtüberein-
stimmung des Subjekts mit sich selbst zu denken. Was Butler an diesen Stellen mit
Lacan negativ, vor dem Horizont der Endlichkeit formuliert – unsere Endlichkeit
lässt uns »als gleichsam ›angerufene Wesen‹ von der Anrede des Anderen ab-
häng[en], um zu sein« (ebd., S. 44) –, beschreibt Rosenzweig positiv, von der göttli-
chen Anrufung ausgehend. Die historisch-soziale Determination wird bei Rosen-
zweig durch den Anruf an den unvertretbaren Einzelnen relativiert, bei Lacan durch
den ontologischen Mangel, der ein nie zu stillendes Begehren zur Folge hat. Butler
nimmt die Inkongruenz von Subjekt und Diskurs wiederum als Ausgangspunkt für
ihr Konzept der ›abgeleiteten Handlungsmacht‹. Der Diskurs geht zwar dem Subjekt
voraus, das Subjekt soll jedoch die Möglichkeit haben, den Diskurs durch ›fehlan-
eignende‹ Wiederholung zu verschieben (vgl. ebd., S. 61ff.).
54 Teil I

würde.42 Ein solches Subjekt wäre vielmehr in Rosenzweigs Terminologie das


»Individuum« als »Ding unter Dingen«. Rosenzweig versteht den Eigennamen
nicht von seiner Etymologie oder seiner Geschichte her; der Eigenname be-
zeichnet ihm zufolge kein Wesen, sondern weist auf den singulären Ort des
Individuums, sein unvertretbares Hier und Jetzt, hin.43 Die Anrufung des Ei-
gennamens in Verbindung mit der Frage nach dem Ort und der Zeit des Ein-
zelnen stellt für Rosenzweig die Gründungsszene des Einzelnen als »absolu-
te[m] Singular« (SdE 227) dar.
»Individuum«, »absoluter Singular« und diskontinuierlicher, gleichwohl ge-
richteter, nämlich auf den je anderen Menschen gerichteter Charakter sind die
drei Formen/Möglichkeiten der Auslegungen des Menschen, die Rosenzweig
nicht getrennt, sondern in ihrem Zusammenspiel zu denken gibt. Die Bezie-
hung des Menschen auf das Allgemeine konstituiert ihn als »Individuum«, als
geschichtliches Dasein (Angehöriger eines Kollektivs) oder als biologisches
Dasein (Exemplar einer Gattung). Die Beziehung des Menschen auf Gott be-
gründet demgegenüber sein singuläres Dasein, und die Beziehung des Men-
schen auf einen anderen Menschen konstituiert schließlich sein ethisches Da-
sein in der Form eines diskontinuierlichen Charakters.44 Der Agent der messi-

42 Vgl. ebd., S. 48. Die »Einzigartigkeit«, die »im allgemeinen Verständnis« der Ei-
genname verleiht, wird bei Butler allerdings nicht völlig durchgestrichen. Durch den
Eigennamen wird das Subjekt zwar adressierbar für den Diskurs. Der Eigenname
markiert aber zugleich die »räumliche und zeitliche Besonderheit« des endlichen
Subjekts, dessen Zeit eben nicht mit der Zeit des Diskurses zusammenfällt (vgl.
ebd.).
43 »›Wo bist du?‹ Es ist nichts als die Frage nach dem Du. Nicht nach dem Wesen des
Du; […] sondern zunächst nur nach seinem Wo« (SdE 195).
44 Rosenzweig teilt wohl mit Kierkegaard die (theologische) Intuition, daß der Mensch
sich als Einzelner in Beziehung auf das Absolute, Gott, gewinnt. Kierkegaard setzt
dieses wesentliche Einzelnsein in der gültigen »ethisch-religiösen« Beziehung zu ei-
nem anderen, einem menschlichen Du voraus, insofern es »ethisch-religiöses« Han-
deln ermöglicht, das sich dem »einzelnen Menschen« und nicht der »Menge« zu-
wendet (vgl. Sören Kierkegaard: Der Einzelne. In: Ders.: Die Schriften über sich
selbst. Übers. von Emanuel Hirsch. Düsseldorf: Diederichs 1951, S. 96–120, S. 105:
»Und jeden einzelnen Menschen lieben, das ist die Wahrheit und die Gottesfurcht
und ›Nächstenliebe‹; aber ›Menge‹, ethisch-religiös als Instanz in Beziehung auf
Wahrheit anerkennen, heißt Gott leugnen und kann darum unmöglich Nächstenliebe
sein.«). Rosenzweig sieht bei Kierkegaard allerdings die Gefahr gegeben, dass sich
der Mensch in seine Innerlichkeit mit Gott verschließt und betont, dass beide Bezie-
hungen entscheidend für den »ganz erschlossenen Menschen« (SdE 233) seien: Als
»absolute[r] Singular« (ebd., 227) gewinnt er sich aus seiner Beziehung auf das Ab-
solute, aber erst durch die Beziehung auf einen anderen Menschen realisiert er sich
als paradoxer Charakter, und zwar als Charakter, der keine »Dauerform« (ebd., 241)
darstellt (wie der antike Daimon in Rosenzweigs Konzeption), sondern »jeden Au-
genblick erlischt und jeden Augenblick wieder frisch hervorbricht« (ebd., 237).
Wird das Offenbarungserlebnis nicht auf die Welt – die Schöpfung – zurückbezo-
gen, sondern für sich behalten, indem sich »Gottes Liebling« (ebd., 231) der Welt
2 Franz Rosenzweigs »Sprachdenken« im ›Stern der Erlösung‹ 55

anischen Ethik wird dieser diskontinuierliche, auf den zu-nächst Anderen ge-
richtete Charakter sein. Die messianische Intention richtet sich auf den zu-
nächst Anderen, denn aus dem Dualen dieser Beziehung erwächst die – stets
im Kommen begriffene – messianische Gemeinschaft.45
Bei dem »Individuum«, dem »singulären Einzelnen« und dem »diskontinu-
ierlichen Charakter« handelt es sich um Auslegungen des Menschen im Hin-
blick auf die Zeitdimensionen Vergangenheit (Schöpfung), Gegenwart (Offen-
barung) und Zukunft (Erlösung). Das »ereignete Ereignis« (SdE 178) der Ge-
genwart ist dabei zentral. Einerseits gibt Rosenzweig die Anrufung als absolu-
tes, überraschendes, unberechenbares und unwiederholbares Ereignis zu den-
ken, als eine »reine […] Gegenwart« (SdE 197), die »vorbereitungslos« (SdE
197) – ohne Vergangenheit – und »vorbedachtlos« (SdE 197) – ohne Intention
auf die Zukunft ist. Das »ereignete Ereignis« der Offenbarung im engsten
Sinne besteht bei Rosenzweig nur aus Namensanrufung, der Antwort »Hier bin
ich« (»ynINEhi«, »hinneni«: »siehe, hier (bin) ich«) und dem Liebesgebot des
»Schema Israel«: »›Du sollst lieben den Ewigen, deinen Gott, von ganzem Her-
zen und von ganzer Seele und aus allem Vermögen‹« (SdE 196; vgl. Dtn 6,5).
Alle drei Momente verweisen auf eine »reine Gegenwart« – auch das Liebes-
gebot weiß, so Rosenzweig, »nur vom Augenblick; es erwartet den Erfolg
noch im Augenblick seines Lautwerdens« (SdE 197). Andererseits entwickelt
Rosenzweig aus der Szene der Anrufung eine Phänomenologie des jüdischen
Glaubens und verbindet so das »ereignete Ereignis« der Gegenwart mit der
Geschichtlichkeit der jüdischen Offenbarung. Die Offenbarung erschöpft sich
nicht in der »reinen Gegenwart« – sie soll »Orientierung« (SdE 208) in der
Zeit geben. Die Spannung, die sich hier abzeichnet, reflektiert ein fundamenta-
les religionsphilosophisches Problem: In welchem Verhältnis stehen persönli-
che und historische Offenbarung? Wie kann ein je und je absolutes, überra-
schendes Ereignis, das sich gerade durch eine radikale Ungeschichtlichkeit,
durch Unverbundenheit mit allem Vorangehenden und allem Folgenden aus-
zeichnet, mit Geschichtlichkeit verbunden werden?
Ich möchte diese Frage erst einmal zurückstellen, um zuvor auf Rosen-
zweigs Theorie der Anrufung genauer einzugehen. Rosenzweig greift auf
Gen 3,9 und Gen 22,1 zurück, um die Anrufung bei dem Eigennamen zu ana-
lysieren. Mit der Frage nach dem Ort des »Du« lässt Gott den Dialog zwischen
Gott und Mensch beginnen. Gott fragt Adam, nachdem dieser von der verbote-
nen Frucht gegessen hat: »Wo bist du?« (Gen 3,9) Adam aber antwortet nicht
mit:
Ich bins, ›Ich habe es getan‹ […], sondern statt des Ich kommt aus dem antworten-
den Munde ein Er-Sie-Es: der Mensch vergegenständlicht sich selbst zum ›Manne‹:

gegenüber verschließt, dann begründet es das »grundunsittliche Verhältnis des rei-


nen Mystikers zur Welt« (ebd., 232).
45 »Wir ist kein Plural; der Plural entsteht aus der dritten Person Singular […]. Das
Wir hingegen ist die aus dem Dual entwickelte Allheit« (SdE 264).
56 Teil I

das Weib, und zwar dieses ganz vergegenständlicht zum Weib, das dem Menschen
›gegeben‹ ist, hat es getan, und dieses wirft die Schuld auf das letzte Es: die Schlan-
ge wars (SdE 195).

Die Szene des Sündenfalls gibt die Anrufungsszene als Begründung von Ethik
überhaupt zu lesen. Denn in der Ver-Antwortung soll sich ein Ich entdecken
(»Ich bins«), das sich Handlung zuschreiben kann (»Ich habe es getan«). Adam
freilich weist die Verantwortung von sich. Seine Antworten »sind keine Ant-
worten«, keine Ver-Antwortung des Ich gegenüber dem Du Gottes, sondern
Ver-Gegenständlichungen, Erklärungen/Erzählungen, die auf den ihn entlas-
tenden Sachzusammenhang (»Er-Sie-Es«) seiner Tat verweisen.
Das Ich, das sich in der Verantwortung gegenüber dem Unendlichen konsti-
tuiert, ist kein autonomes Ich und trotzdem eines, das sich Handlung zuschrei-
ben können soll. Der Sachzusammenhang seiner Tat enthebt Adam nicht
seiner Verantwortung, auch wenn Rosenzweig sich des Paradoxes, des »in
allem Handeln Unlösbare[n]«, bewusst ist, dass »der Einzelne nicht gut sein
kann, ohne daß alle gut sind – und daß es doch andrerseits in der Welt, nach
dem großen Wort der preußischen Königin, nur gut werden kann durch die
Guten« (SdE 254f.). Auch wenn meine Tat in einem Sachzusammenhang
steht, der sie erklärt, so ist das Ich nicht nur ein Kreuzungspunkt von es de-
terminierenden Kausalketten/Diskurslinien, sondern an seinem Ort unver-
tretbar. Keiner kann hier und jetzt für mich/an meiner Stelle antworten.46
Das Ich ist nicht verantwortlich für die Welt, die ihm zuvorkommt, sich durch
ihr »Schon-da-sein« auszeichnet; aber die Welt entlastet es auch nicht, denn an
dem Ort, wo es sich befindet, ist in dem Augenblick niemand anderes. Es hat
kein »Alibi« in seiner Existenz, wie Michail Bachtin es etwas später formulie-
ren wird.47
Adam antwortet auf diese Frage ausweichend, anders Abraham. Bereits die
Eröffnung unterscheidet die beiden Dialoge zwischen Gott und Mensch. Statt
»Wo bist du?« ruft Gott Abraham unmittelbar bei seinem Namen: »Abraham!«
(Gen 22,1)
Jeder Ausweg wird dem Menschen abgeschnitten, indem an Stelle seines Allge-
meinbegriffes, der sich hinter das Weib und hinter die Schlange flüchten kann, das
Unfliehbare angerufen wird, das schlechthin Besondere, Begriffslose […]: der Ei-

46 Bei Levinas begegnet die gleiche Konstruktion, allerdings radikaler in Richtung


einer universalen Verantwortung gedacht: »Ich sein bedeutet von daher, sich der
Verantwortung nicht entziehen zu können, wie wenn das ganze Gebäude der Schöp-
fung auf einem ruhte. […] Die Einzigkeit des Ich, das ist die Tatsache, daß niemand
an meiner Stelle antworten und verantwortlich sein kann« (Emmanuel Levinas: Die
Bedeutung und der Sinn. In: Ders.: Humanismus des anderen Menschen. Übers. von
Ludwig Wenzler. Hamburg: Meiner 1989, S. 9–59, hier: S. 43).
47 Vgl. Michail Bachtin: Raboty 1920-x godov. Hg. von D. A. Tatarnikov. Kiew: Next
1994, S. 41, zitiert nach Michael Eskin: Ethics and Dialogue in the Works of Levi-
nas, Bakhtin, Mandel Mandel’shtam, and Celan. Oxford: Oxford Univ. Press 2000,
S. 76.
2 Franz Rosenzweigs »Sprachdenken« im ›Stern der Erlösung‹ 57

genname. […] Der Mensch, der auf Gottes ›Wo bist du?‹ noch […] geschwiegen
hatte, antwortet nun, bei seinem Namen, doppelt, in höchster, unüberhörbarer Be-
stimmung gerufen, ganz aufgetan […]: ›Hier bin ich‹ (SdE 196).

Rosenzweig verficht eine starke Theorie des Eigennamens, ohne den Eigen-
namen zu essentialisieren.48 Vielmehr profiliert er ihn in sprachpragmatischer
Absicht. Der Eigenname ruft den »Einzelnen schlechtweg« (SdE 207) ins
Sein.49 Dieser fällt aber nicht mit dem autonomen Individuum zusammen; die
Anrufungsszene verdeutlicht, dass »Ich« erst dann in Erscheinung tritt, wenn
es als »Du« angerufen wird. Das »Ich« ist also auch bei Rosenzweig abhängig
von einem Außen; es ist nur »Ich«, weil es ursprünglicher für einen anderen
ein »Du« ist.50
Das Ich, das sich in der göttlichen Anrufung entdeckt, ist semantisch unbe-
stimmt, »ganz empfangend, noch nur aufgetan, noch leer, ohne Inhalt, ohne
Wesen, reine Bereitschaft« (SdE 196) für das Hören des Liebesgebotes, das
göttliche Gebot »Liebe mich«, das Rosenzweig nach Dtn 6,5 – Bestandteil des
»Schema Israel« (»Höre Israel«) – wiedergibt: »›Du sollst lieben den Ewigen,
deinen Gott, von ganzem Herzen und von ganzer Seele und aus allem Vermö-
gen‹« (SdE 196). Der Imperativ fordert nicht nur Liebe, sondern ist, so Rosen-
zweig weiter, der unmittelbare Ausdruck des Liebenden.
Die Liebe des Liebenden hat gar kein anderes Wort sich zu äußern als das Gebot.
Alles andere ist schon nicht mehr unmittelbare Äußerung, sondern Erklärung – Lie-
bes-erklärung. […] Es [das Gebot; Anm. E. D.] ist, während der Indikativ die ganze
umständliche Begründung der Gegenständlichkeit im Rücken hat und daher am
reinsten in der Vergangenheitsform erscheint, ganz reine, vorbereitungslose Gegen-
wart (SdE 197).

48 Vgl. auch das dritte Kapitel von Das Büchlein vom gesunden und kranken Men-
schenverstand, das Rosenzweig 1921 geschrieben hat, ohne es zur Veröffentlichung
freizugeben (die Erstveröffentlichung erfolgte 1953 auf Englisch). Hier schreibt Ro-
senzweig bündig: »Der Name ist nicht das ›Wesen‹« (Franz Rosenzweig: Das Büch-
lein vom gesunden und kranken Menschenverstand. Frankfurt a. M.: Jüdischer Ver-
lag 1992, S. 43). Vgl. zu Rosenzweigs Namenstheorie im Büchlein auch: Elke Dub-
bels: »Name ist nicht […] Schall und Rauch, sondern Wort und Feuer«. Sprachtheo-
rie als Namenstheorie bei Franz Rosenzweig und Gershom Scholem. In: Tatjana
Petzer, Sylvia Sasse, Franziska Thun-Hohenstein und Sandro Zanetti (Hg.): Namen.
Benennung – Verehrung – Wirkung. Positionen der europäischen Moderne. Berlin:
Kulturverlag Kadmos 2009, S. 185–208.
49 Vgl. auch SdE S. 208: »[I]m Eigennamen ist die Bresche in die starre Mauer der
Dinghaftigkeit gelegt. Was einen eigenen Namen hat, kann nicht mehr Ding, nicht
mehr jedermanns Sache sein; er ist unfähig, restlos in die Gattung einzugehen, denn
es gibt keine Gattung, der es zugehörte, es ist seine eigene Gattung. Es hat auch
nicht mehr seinen Ort in der Welt, seinen Augenblick im Geschehen, sondern es
trägt sein Hier und Jetzt mit sich herum; wo es ist, ist ein Mittelpunkt, und wo es den
Mund öffnet, ist ein Anfang.«
50 Vgl. Mosès, System und Offenbarung (wie Anm. 25), S. 93.
58 Teil I

Anders als das Gesetz, das »mit Zeiten […], mit Zukunft, mit Dauer rechnet«,
weiß »das Gebot […] nur vom Augenblick; es erwartet den Erfolg noch im
Augenblick seines Lautwerdens« (SdE 197). Rosenzweigs Unterscheidung
zwischen Gesetz und Gebot verläuft zwischen Allgemeinheit und Dauer auf
der einen Seite, Singularität und Augenblicklichkeit auf der anderen Seite.51
Diese Unterscheidung ist konstitutiv für Rosenzweigs messianische Ethik, die
im nächsten Abschnitt noch genauer zu behandeln sein wird. Insofern die
»unmittelbare Gegenwärtigkeit« des Liebesgebots als des »einzige[n] reine[n]
Gebot[s]« (SdE 197) allen Gesetzen voransteht, wird das »imperativische
Heute des Gebots« (SdE 198) zum Maßstab des Gesetzes.52 Dadurch wird das
Gesetz dem singulären Heute, dem Hier und Jetzt des konkreten Einzelnen
untergeordnet. Diese ethische Pointe tritt am Ende des Offenbarungskapitels,
im Übergang zum Erlösungskapitel, deutlich hervor, wo das Liebesgebot nach
außen, zum Gebot der Nächstenliebe gewendet wird: »Wie er dich liebt, so
liebe Du« (SdE 228). Im Kern kreist Rosenzweigs messianische Ethik um ein
semantisch unbestimmbares »Meta-Gesetz«, um eine paradoxe Pragmatik, die
die Intention auf das Nicht-Intendierbare – die Intention auf den je singulären,
51 Mendes-Flohr macht darauf aufmerksam, dass Rosenzweig mit der Entgegensetzung
von Gebot und Gesetz ein Thema aus Kants Schrift Die Religion innerhalb der
Grenzen der bloßen Vernunft aufgreift (vgl. Paul Mendes-Flohr: Rosenzweig and
Kant. Two Views of Ritual and Religion. In: Ders.: Divided Passions. Jewish Intel-
lectuals and the Experience of Modernity. Detroit: Wayne State Univ. Press 1991
[The culture of Jewish modernity], S. 283–310, besonders S. 284–289). Mit dem
göttlichen Gebot verbindet Kant die moralischen Pflichten, die zwar im kategori-
schen Imperativ und damit in der Autonomie des Menschen gründen, sich aber sub-
jektiv als göttliche Gebote interpretieren lassen (vgl. Immanuel Kant: Die Religion
innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Hg. von Bettina Stangneth. Hamburg:
Meiner 2003, S. 206). Mendes-Flohr meint, dass Kants Gebrauch des Terminus Ge-
setz oft eher die Bedeutung von einer heteronom auferlegten Vorschrift ohne morali-
schen Wert habe. Im zweiten Teil des Sterns wendet Rosenzweig die Unterschei-
dung von Gesetz und Gebot gegen Kant selbst, dem er abstrakten Formalismus vor-
wirft, insofern das moralische Gesetz, das dem kategorischen Imperativ und der
»Forderung der Autonomie« (SdE 239) entspricht, inhaltlich leer bleiben müsse.
»Im Gegensatz zum notwendigerweise rein formalen und daher inhaltlich nicht bloß
zwei-, nein unbegrenzt vieldeutigen moralischen Gesetz braucht das inhaltlich klare
Gebot der Nächstenliebe, die aus der gerichteten Freiheit des Charakters entspringt,
eine Voraussetzung jenseits der Freiheit: fac quod jubes et jube quod vis – dem daß
Gott ›befiehlt, was er will‹, muß, weil der Inhalt des Befehls hier der ist, zu lieben,
das göttliche ›schon Getansein‹ dessen, was er befiehlt, vorangehen« (SdE 239). Frei
ist die Liebestat, die das Gebot erfüllt, insofern als sich nicht im Voraus sagen lasse,
worin diese Tat im Einzelnen bestehe, denn »sie muß überraschend sein; wäre sie im
voraus anzugeben, so wäre sie nicht Liebestat« (SdE 241). Dieser Freiheit geht aber
die Verpflichtung auf die Zuwendung zu der je konkreten Situation und dem je kon-
kreten Gegenüber voraus. – Im zweiten Teil des Sterns wendet Rosenzweig solcher-
art den Vorwurf des Formalismus gegen Kant selbst, der ihn bekanntlich gegen das
Judentum als vermeintlich statuarischer Gesetzesreligion vorgebracht hat.
52 Vgl. Gibbs, Correlations in Rosenzweig and Levinas (wie Anm. 26), S. 72.
2 Franz Rosenzweigs »Sprachdenken« im ›Stern der Erlösung‹ 59

nicht vorwegzunehmenden Augenblick und den zufällig »zu-nächst« (SdE


262) Anderen – zum Gesetz der Gesetze oder besser gesagt: zum Gebot aller
Gesetze erhebt (s. u.).53
Rosenzweig thematisiert in der Analyse der dialogischen Sprache der Of-
fenbarung den Aussageakt selbst statt der Aussage, die im vorherigen Kapitel
Gegenstand war. Die Besonderheit der deiktischen Personalpronomen »ich«
und »du« gegenüber anderen Wortarten liegt ja gerade darin, dass sie seman-
tisch nicht festgelegt sind und daher nur situativ operationalen Wert erhalten.
Der Verweis auf das Situative wird nun in der Offenbarungsszene, wie sie
Rosenzweig darstellt, selbstreflexiv. Das »Ich« wird sich dessen bewusst, dass
kein anderer an seiner Stelle steht und für es »ich« sagen – antworten kann.
Émile Benveniste hat bezüglich der Personalpronomen »ich« und »du«
nicht nur hervorgehoben, dass die »Gebrauchsinstanzen von ich […] keine
Referenzklassen [bilden], denn es gibt kein definierbares ›Objekt‹ wie ich, auf
das diese Instanzen sich identisch beziehen können.«54 »Ich« hat Realität nur
in dem, was Benveniste »discours« nennt, in den »jedes Mal einzelnen Hand-
lungen, durch welche das Sprachsystem von einem Sprecher als Sprachver-
wendung aktualisiert wird.«55 »Ich« ist die Person, welche die »gegenwärtige
Diskursinstanz, die ich enthält, aussagt.«56
Über die nur situativ mögliche Referentialisierbarkeit von »ich« und »du«
hinaus hat Benveniste auf einen Umstand aufmerksam gemacht, der für unse-
ren Zusammenhang ebenso wichtig ist:
Es ist eine zugleich originelle und grundsätzliche Tatsache, daß diese ›pronomina-
len‹ Formen weder auf die ›Realität‹, noch auf ›objektive‹ Positionen im Raum und

53 Auch Walter Benjamin unterscheidet unter zeitlichem Gesichtspunkt zwischen


Gesetz und Gebot in seinem Essay »Zur Kritik der Gewalt« (1921). Benjamin stellt
sich dem Einwand, ob die Entsetzung von Recht und Staatsgewalt die letale Gewalt
zwischen den Menschen freigäbe. »Das wird nicht eingeräumt. Denn auf die Frage
›Darf ich töten?‹ ergeht die unverrückbare Antwort als Gebot ›Du sollst nicht töten‹.
Dieses Gebot steht vor der Tat wie Gott ›davor sei‹, daß sie geschehe. Aber es bleibt
freilich, so wahr es nicht Furcht vor Strafe sein kann, die zu seiner Befolgung anhält,
unanwendbar, inkommensurabel gegenüber der vollbrachten Tat. Aus ihm folgt über
diese kein Urteil. […] Darum sind die nicht im Recht, welche die Verurteilung einer
jeden gewaltsamen Tötung des Menschen durch den Mitmenschen aus dem Gebot
begründen. Dieses steht nicht als Maßstab des Urteils, sondern als Richtschnur des
Handelns für die handelnde Person oder Gemeinschaft, die mit ihm in ihrer Einsam-
keit sich auseinanderzusetzen und in ungeheuren Fällen die Verantwortung von ihm
abzusehen auf sich zu nehmen haben« (GS II/1 200f.). Benjamin ordnet dem Gebot
nicht wie Rosenzweig die Zeitdimension der Gegenwart, sondern der Zukunft zu. Im
Hinblick auf Rosenzweig ist noch einmal zu differenzieren zwischen moralischem
Gesetz, liturgischen wie extraliturgischen Ritualgesetzen und staatlichen Gesetzen.
Siehe dazu weiter unten sowie Kap. II.5.
54 Benveniste, Die Natur der Pronomen (wie Anm. 37), S. 280.
55 Ebd.
56 Ebd., S. 281.
60 Teil I

in der Zeit verweisen, sondern auf die jedesmal einzigartige Aussage, die sie enthält,
und daß sie so ihre eigene Anwendung widerspiegeln.57

Die Einzigartigkeit der Aussage besteht im Ereignis des Sagens selbst, in der
Äußerung, die in einem singulären Hier und Jetzt stattfindet.58 Damit wird die
Sprache als Zeichensystem in ihrem konventionellen und zitathaften Charakter
nicht geleugnet. Vielmehr wird der Ereignishaftigkeit jeder Äußerung Rech-
nung getragen. Die ereignishafte Aktualisierung der Sprache erfolgt durch die
Diskursinstanzen »ich« und »du«, die Benveniste als Instrumente versteht,
durch die Sprache als Zeichensystem in den »discours«, in die Aktualität ihrer
Verwendung transformiert wird. Rosenzweig spielt avant la lettre mit der
linguistischen Einsicht in die Doppelnatur der Sprache, Aussageakt (Ȏnoncia-
tion«) und Aussage (»énoncé«) zu sein. Er profiliert diese Einsicht im Hinblick
auf ein ethisches Subjekt, dass sich durch die Anrufung konstituiert, in der es
erfährt, dass keiner für es »ich« sagen kann. Das Ich entdeckt sich in dieser
Form, die Rosenzweig den »absoluten Singular« nennt, nur durch die Anru-
fung des Du.
In religionsphilosophischer Hinsicht bezeichnet die Offenbarung für Rosen-
zweig die Verneinung mythischer, schicksalhafter Wesenheiten. Die Offenba-
rung im engsten Sinne stellt das »ereignete Ereignis« (SdE 178) »einer mo-
menthaften Selbstverwandlung« (SdE 182) dar. Mensch und Gott erhalten ihr
Sein erst aus der Hand des Anderen. Im Ereignis des »göttlichen Sich-
selbstverschenkens« (SdE 186) verneint Gott sein mythisches Wesen, sein
schicksalhaftes, dauerndes Sein (Verhängnis), und macht sein Sein vom Men-
schen abhängig. Rosenzweig zitiert die Kabbala:
Wenn ihr mich bezeugt, so bin ich Gott, und sonst nicht – so läßt der Meister der
Kabbalah den Gott der Liebe sprechen. Der Liebende, der sich in der Liebe preis-
gibt, wird in der Treue des Geliebten aufs neue geschaffen (SdE 191).

Ist die Offenbarung im engsten Sinne, das Ereignis der »reinen unvermischten
Gegenwart« (SdE 184), bei Rosenzweig grund-los, ohne Vorbereitung und
Absicht, ein »rätselhaftes Ergreifen [von] Einzelne[n]« (SdE 183), so wird es
dennoch »festgehalten«59 über seine reine »Augenblicksverhaftetheit« (SdE
200f.) hinaus, indem es als Ereignis des Glaubens ausgelegt und auf eine histo-
rische Offenbarung zurückbezogen wird. Der hermeneutische Auslegungsakt
bezeichnet den Übergang von einer individuellen zu einer historischen Offen-
barung, den kritischen Punkt also der Offenbarungsreligionen. Bevor ich die
Logik analysiere, die hinter Rosenzweigs Ansatz steht, Ungeschichtlichkeit
und Geschichtlichkeit, reines, bedeutungsloses »ereignetes Ereignis« (Offen-

57 Ebd., S. 283.
58 In dem Sinne kann man tatsächlich wie Michail Bachtin behaupten, dass jede Äuße-
rung etwas ist, das vorher noch nicht existiert hat, und so etwas absolut Neues in die
Welt bringt (vgl. Eskin, Ethics and Dialogue [wie Anm. 47], S. 108).
59 Rosenzweig spricht von der »Kraft des Festhaltens« (SdE 190).
2 Franz Rosenzweigs »Sprachdenken« im ›Stern der Erlösung‹ 61

barung) und geschichtlichen Sinnhorizont (die offenbarte Offenbarung der


jüdischen Tradition) zusammenzudenken, sei kurz die Phänomenologie des
jüdischen Glaubens skizziert, die Rosenzweig im Stern gibt.
Ist die göttliche Liebe »Ereignis«, »unbedingte Augenblicksentsprungen-
heit« (SdE 180), »treulos in ihrem Wesen, denn ihr Wesen ist der Augenblick«
(SdE 181), so fällt dem anderen Pol der Offenbarung, dem Menschen, zu, den
Augenblick des Geliebtwerdens zu einer »dauernden Eigenschaft« zu verwan-
deln, die für Rosenzweig im Glauben als Treue zum Augenblick der »mo-
menthaften Selbstverwandlung« Ausdruck findet.60 Die »Treue des Geliebten«
hält das im Offenbarungserlebnis erfahrene Geliebtwerden fest. Der Mensch
ist im Offenbarungserlebnis der Passive, der Geliebte. Seine Passivität wird
ihm durch die Treue zur Eigenschaft – zur Demut. Die Demut des Glaubenden
kehrt bei Rosenzweig den Trotz des mythischen Helden um, indem sie ihn
nach außen treten lässt. Der »trotzige Stolz des freien Willens, der in seinen
immer erneuten Aufwallungen den daseienden Charakter zum Selbst schloß«
(SdE 186), verwandelt sich zu einem Stolz der Demut, »die bewußt ist, von
eines Höheren Gnaden zu sein was sie ist« (SdE 187). Aus tragischem Trotz
gegenüber dem mythischen Schicksal, aus dem einsamen Selbstsein des tragi-
schen, schweigenden Helden,61 wird so Demut, Bewusstsein der wesentlichen
Abhängigkeit von einer Exteriorität, die einen ins Sein ruft und im Sein hält.62
Die Auslegung des »ereigneten Ereignisses« der Offenbarung hat eine sub-
jektive und eine historische Seite. Das Ich bestimmt sich als gläubiges Subjekt
durch das Sündengeständnis, aus dem Rosenzweig das Glaubensbekenntnis

60 Vgl. SdE 191: »Der treue Glaube der Geliebten bejaht die im Augenblick gebundene
Liebe des Liebenden«.
61 Rosenzweigs Analyse des tragischen Selbst sei hier kurz angedeutet (sie wird später
im Zusammenhang mit Hermann Brochs Trilogie Die Schlafwandler wieder aufge-
griffen [vgl. Kap. I.6.1.3]). Der berühmte Anfang des Sterns der Erlösung geht von
der Erfahrung menschlicher Endlichkeit aus. Der Mensch, der angesichts des Todes
das Faktum seines einzelnen Daseins entdeckt, der in der »Furcht des Todes« nicht
sterben, sondern »bleiben« will (vgl. SdE 4), findet sich in seiner faktischen Exis-
tenz außerhalb von moralischen Systemen, in denen er als Objekt eines Gesetzes
rangiert. Er entdeckt sich als meta-ethischer Mensch: »Die Welt des Ethischen ist
dem Selbst bloß – ›sein‹ Ethos.« (SdE 79) Der Wille, »da zu sein«, begründet einen
Charakter, der auf seiner Einzigartigkeit beharrt. Der in sein Selbst verschlossene
Mensch ist für keinen Anspruch, der ihm von außen begegnet, zugänglich. Der tra-
gische, antike Held repräsentiert für Rosenzweig das stumme, meta-ethische Selbst,
das sich gegen Schicksal und mythische Götter – erfolglos – auflehnt. Walter Ben-
jamin hat Rosenzweigs Konzeption eines stummen tragischen Selbst übernommen,
um die Figuren des barocken Trauerspiels vom tragischen Helden zu unterscheiden
(vgl. GS I/1 286ff.).
62 Die Demut beruht auf dem »Gefühl der Abhängigkeit zugleich und des sicheren
Geborgenseins« (SdE 188).
62 Teil I

entspringen lässt.63 Durch das Glaubensbekenntnis gewinnt Gott erst sein Sein.
In der Folge der Seinszuschreibung durch den Menschen gibt er erst zu erken-
nen, wer er sei:
Denn das ists, wodurch die Offenbarung erst zum Abschluß kommt. Sie muß ihrer
grundlosen Gegenwärtigkeit nun dauernd auf Grund kommen, einen Grund, der jen-
seits ihrer Gegenwärtigkeit, also im Vergangenen liegt, aber den sie selbst sichtbar
macht nur aus der Gegenwärtigkeit des Erlebens heraus. Jene vielberufene Rück-
wendung der Offenbarung auf die Schöpfung, das ist letzthin, was wir hier meinen.
[…] Erst an dieser Stelle, wo der Erlebnis- und Gegenwartscharakter der Offenba-
rung unverrückbar festgestellt ist, erst hier darf sie eine Vergangenheit bekommen
(SdE 203).

In seiner Antwort greift Gott


zurück ins Vergangene und weist sich aus als der Urheber und Eröffner dieses
Zwiegesprächs […]: ›Ich habe dich bei deinem Namen gerufen. Du bist mein‹ (SdE
203f.).

Die Rückwendung der Offenbarung auf die Schöpfung be-gründet die indivi-
duelle Erfahrung in einer »historischen Offenbarung« (SdE 208). Konkret
bindet Rosenzweig das Offenbarungsereignis in den jüdischen Glaubens- und
Kulturraum ein. Die Verbindung zwischen persönlicher Erfahrung und »histo-
rischer Offenbarung« läuft dabei über die Logik des Namens. Rosenzweig
schreibt: »Grund der Offenbarung, Mittelpunkt und Anfang in eins, ist die
Offenbarung des göttlichen Namens« (SdE 209). Mosès argumentiert, dass
»der Übergang von der persönlichen Erfahrung zur objektiven Realität« bei
Rosenzweig eine nach außen gewendete »Projektion« des subjektiven Erleb-
nisses sei.64 »[D]er Offenbarung des eigenen Namens in der Erfahrung jedes
Menschen [entspricht] die kollektive Erfahrung des Sinai, jener absolute Ur-
sprung der jüdischen Geschichte und Geographie, als Offenbarung von Gottes
Namen.«65 Persönliche Erfahrung und »historische Offenbarung« entsprächen

63 Die Auslegung des Ich als gläubiges Subjekt ist an die Jom-Kippur-Liturgie ange-
lehnt (vgl. Mosès, System und Offenbarung [wie Anm. 25], S. 90). Das Geständnis
der vergangenen Sündhaftigkeit (»Ich habe gesündigt«) überwindet die »Scham«
(SdE 200); das Geständnis der gegenwärtigen Sündhaftigkeit (»Ich bin ein Sünder«)
»befreit« ganz von der Scham. Das Geständnis treibt über sich, über ein Sich-
Bekennen hinaus, so Rosenzweig, denn »nicht nur die Liebeleere der Vergangen-
heit« wird bekannt, sondern dass »ich auch jetzt, auch in diesem gegenwärtigsten
der Augenblicke noch lange nicht so liebe, wie ich mich geliebt weiß« (SdE 201).
Die Seele »begibt sich der Scham und [wagt] sich zu ihrer eigenen Gegenwart zu
bekennen […] und [wird] also der göttlichen Liebe gewiß« (SdE 202): »Alles Glau-
bensbekenntnis hat nur den einen Inhalt: der, den ich im Erlebnis meiner Geliebtheit
als den Liebenden erkannt habe, – er ist« (SdE 202). Das Glaubensbekenntnis be-
steht schlicht im »bekennenden ›Ich bin dein‹« (SdE 203). Aus dem Sündengeständ-
nis lässt Rosenzweig so das Glaubensbekenntnis entstehen.
64 Vgl. Mosès, System und Offenbarung (wie Anm. 25), S. 97.
65 Ebd., S. 98.
2 Franz Rosenzweigs »Sprachdenken« im ›Stern der Erlösung‹ 63

sich vermittels einer »Strukturidentität«:66 »Beide sind gründende Ereignisse,


die der Welt einen Sinn geben, indem sie sie orientieren.«67
Rosenzweigs Argumentation geht jedoch über die Behauptung einer Struk-
turidentität zwischen der allgemeinen Erfahrung eines jeden bei seinem Eigen-
namen gerufenen Menschen und der Sinaioffenbarung des göttlichen Namens
hinaus. Denn Rosenzweig setzt ein Abhängigkeitsverhältnis, indem er die
individuelle Erfahrung in der »historischen Offenbarung« (SdE 208) begrün-
det. Die allgemeine Struktur der Erfahrung, die Rosenzweig beschreibt, ist die
Möglichkeit der Anrufung des Menschen bei seinem Eigennamen durch ein
unbekanntes Außen, das ihn in seine Singularität, d. h. seine singuläre Verant-
wortung ruft. Diese allgemeine Erfahrungsstruktur wird bei Rosenzweig frei-
lich auf die Sinaioffenbarung zurückgeführt, die Analytik der Anrufbarkeit
damit auf eine postulierte historische Berufung zurückbezogen. Rosenzweigs
Hermeneutik der Existenz zeigt zwar allgemeine Strukturen der Erfahrung auf,
die er in der religiösen Überlieferung reflektiert findet und aus ihr herausarbei-
tet. Dies geschieht aber nicht in dem Gestus, aus der Theologie nur eine Philo-
sophie allgemeiner Erfahrungs- und Sprachstrukturen zu abstrahieren. Die
Differenz zwischen einer allgemeinen Analytik der Anrufbarkeit und der theo-
logischen Setzung einer historischen Berufung korrespondiert mit der Unter-
scheidung zwischen Offenbarkeit und Offenbarung, die Derrida mit folgenden
Fragen zu bedenken gegeben hat:
Ist die Offenbarkeit (die Möglichkeit des Offenbarens) ursprünglicher als die Offen-
barung und folglich von aller Religion unabhängig? Kann man diese Unabhängig-
keit an den Strukturen ihrer Erfahrung und an der Analytik, die sich auf sie bezieht,
ablesen? Rührt man mit einer solchen Offenbarkeit an den Ursprung eines ›reflektie-
renden Glaubens‹, ja an den Ursprung des Glaubens selbst? Oder besteht umgekehrt
das Ereignis der Offenbarung darin, daß es die Offenbarkeit offenbart hat, den Ur-
sprung des Lichts, das ursprüngliche Licht, die Unsichtbarkeit des Sichtbaren?68

Rosenzweig versucht in gewisser Weise, diese Alternative zu umgehen, indem


er die Offenbarung von den Strukturen einer individuellen Erfahrung her denkt
(der Erfahrung der eigenen Singularität in der Anrufung durch ein unbekanntes
Außen, welche mit der Zeitlichkeit des überraschenden, unvorhersehbaren
Augenblicks eines »ereigneten Ereignisses« korrespondiert) und die »histori-
sche Offenbarung«, auf die sich das Judentum beruft, als Verpflichtung zur
Offenbarkeit (zum »ereigneten Ereignis« der Offenbarkeit) interpretiert.69
66 Ebd.
67 Ebd., S. 97.
68 Jacques Derrida: Glaube und Wissen. Die beiden Quellen der ›Religion‹ an den
Grenzen der bloßen Vernunft. Übers. von Alexander García Düttmann. In: Jacques
Derrida und Gianni Vattimo (Hg.): Die Religion. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001
(Edition Suhrkamp; 2049), S. 9–106, hier: S. 29f.
69 Anders gesagt: Rosenzweig interpretiert die Spannung zwischen Grund- und Grund-
losigkeit, Geschichtlichkeit und Ungeschichtlichkeit, Dauer und Augenblicklichkeit
selbst als Strukturprinzip des jüdischen Glaubens.
64 Teil I

Letztlich bleibt für ihn die Möglichkeit der Offenbarkeit aber an die »histori-
sche Offenbarung« gebunden, durch die sie begründet wird. Die Offenbarkeit
als universelle Struktur menschlicher Erfahrung, die ursprünglicher wäre als
die historischen Offenbarungen, auf die sich die Offenbarungsreligionen beru-
fen, würde umgekehrt diese zu kontingenten historischen Möglichkeiten relati-
vieren. Würde man die Offenbarkeit für ursprünglicher als die Offenbarung
halten, würde man, auf die eine oder andere Weise, eine anthropologische
Reduktion der Religionen vornehmen, indem man diese auf die allgemeinen
Bedingungen menschlicher Erfahrung zurückführte. Diesen Schritt macht
Rosenzweig nicht.
Mit der Frage der Priorität von Offenbarkeit oder Offenbarung lässt sich die
Frage nach dem Status der religiösen Sprache in einem philosophischen Text
verbinden:
Are revelation, the messianic, the Wholly Other, or ›God‹ itself employed analogi-
cally and metaphorically, or are these words employed metonymically, in such a
way that the denotation of these words is thereby expanded to include within their
scope the abstract, bare, and phenomenological meanings these words receive in
twentieth-century continental philosophy?70

So wenig Rosenzweig der Offenbarkeit den Vorrang vor der als historisches
Gründungsereignis gedachten Sinaioffenbarung gibt, so wenig ist die religiöse
Sprache im Stern lediglich metaphorisch zu verstehen. Würde die Offenbarkeit
als ursprünglich angesetzt, wäre es prinzipiell möglich, die religiösen Ausdrü-
cke »Schöpfung«, »Offenbarung« und »Erlösung« metaphorisch zu lesen und
sie durch andere zu ersetzen. Dass Rosenzweig die Strukturen der Erfahrung
und der Sprache, die er in den biblischen Texten reflektiert findet, in selbst
religiöser Sprache beschreibt, ist jedoch nicht als akzidentiell zu bewerten,
sondern folgt aus der konstitutiven Bedeutung, die er der Sinaioffenbarung
zuschreibt. Rosenzweig gebraucht die religiöse Begriffssprache nicht metapho-
risch, sondern metonymisch in dem oben zitierten Sinne: Die ethisch existen-
tielle Bedeutung, die Rosenzweig den Kategorien »Schöpfung«, »Offenba-
rung« und »Erlösung« gibt, bleibt metonymisch auf den Horizont der Sinaiof-
fenbarung bezogen. Rosenzweig erweitert die Grenzen der religiösen Ausle-
gungstradition dieser Begriffe, indem er sie auf die Dimensionen von Erfah-
rung und Sprache wendet.71

70 Eddis Miller: Derrida and the Problem of the Secularized Messianic. In: Thomas
Crombez and Katrien Vloeberghs (Ed.): On the Outlook: Figures of the Messianic.
Cambridge: Cambridge Scholars Publishing 2007, S. 35–43, hier: S. 36.
71 Hier liegt der Unterschied zu Walter Benjamins Ansatz in dem Aufsatz Ȇber Spra-
che überhaupt und über die Sprache des Menschen« (1916). Benjamin und Rosen-
zweig gehen beide davon aus, dass die Analyse der biblischen Texte über allgemeine
Strukturen der Sprache Aufschluss geben kann. Benjamin stellt jedoch im Gegensatz
zu Rosenzweig klar, dass »wenn im folgenden das Wesen der Sprache auf Grund der
ersten Genesiskapitel betrachtet wird, […] damit weder Bibelinterpretation als
2 Franz Rosenzweigs »Sprachdenken« im ›Stern der Erlösung‹ 65

Die übertragene Sprache des Stern der Erlösung beschränkt sich nicht auf
die metaphorische Sprache, auf die Rosenzweig zurückgreift, um die Begeg-
nung der Subjektivität mit dem absolut Äußeren Gottes zu beschreiben.72
Vielmehr liegt auch den zentralen Kategorien »Schöpfung«, »Offenbarung«
und »Erlösung« ein übertragener Sprachgebrauch zugrunde. Denn Rosen-
zweigs philosophische Aneignung dieser religiösen Kategorien steht in einem
metonymischen Verhältnis zur religiösen Auslegungstradition. Nun ist es ei-
nes, in der Metonymie die rhetorische Grundoperation zu erkennen, die der
philosophischen Verwendung religiöser Begriffe im Stern der Erlösung zu-
grunde liegt. Ein anderes ist es, die religiöse Bildsprache zu analysieren, mit
der Rosenzweig im Stern der Erlösung operiert. Hier sind insbesondere die
Figur des »Gesichts«, das die geschaffene Welt mit dem »Antlitz Gottes«
verbindet, sowie natürlich die Figur des »Sterns« selbst auffällig. »In der Exis-
tenz bildet das Gesicht eine sichtbare Form, die die[] andere, transzendente
Sichtbarkeit jenseits des Zeitlichen andeutet«,73 so Michal Schwartz in ihrer
Analyse von Rosenzweigs religiöser Bildsprache. Im Symbol des »Sterns«
wiederum spiegelt sich am Ende das Gesicht wider, mit dessen mystischer
Kontemplation Rosenzweig den Stern der Erlösung abschließt.74
Insofern Rosenzweig die anthropomorphe Form des Gesichts und den Stern
als Symbol der Idee der Erlösung im Judentum ineinanderblendet, zeigt er die
tragende Bedeutung an, die er dem ethischen Tun des Menschen zuerkennt,
der, um noch einmal Levinas zu zitieren, als »notwendiger Vermittler der
Erlösung der Welt«75 erscheint. Die ethische Dimension von Rosenzweigs
Sprachphilosophie soll im nächsten Abschnitt genauer untersucht werden. Die
Logik des Namens, über die Rosenzweig individuelle Erfahrung und »histori-
sche Offenbarung« verklammert, spielt auch hier eine entscheidende Rolle.
»Forderung nach Namen« (SdE 208) lautet der ethische Imperativ, der auf das
Singulär-Werden der geschöpflichen Gattungswesen als Grundlage der Ge-
meinschaft zielt.

Zweck verfolgt noch die Bibel an dieser Stelle objektiv als offenbare Wahrheit be-
trachtet werden [soll], sondern das, was aus dem Bibeltext in Ansehung der Sprache
selbst sich ergibt, […] aufgefunden werden [soll]« (GS II/1 147). Vgl. hierzu auch
Kap. I.4.1.
72 Vgl. Michal Schwartz: Metapher und Offenbarung. Zur Sprache von Franz Rosen-
zweigs »Stern der Erlösung«. Berlin, Wien: Philo 2003 (Monographien zur philoso-
phischen Forschung; 284), S. 103f.
73 Ebd., S. 113.
74 Vgl. hierzu auch ebd., S. 161–170.
75 Levinas, Zwischen zwei Welten (wie Anm. 15), S. 142.
66 Teil I

2.3 In der Sprache singular plural sein oder der messianische


Prozess der Erlösung

»bAj-yKi hw"hyl; WdAh« (»Hodu leJHWH ki-tov«): »Danket IHM, denn er ist gü-
tig«, übersetzen Buber/Rosenzweig den Anfang von Psalm 136, der die Grund-
lage für Rosenzweigs Analyse der Sprache der Erlösung darstellt.
[I]n der im Dank geschehenen Vereinigung der Seele mit aller Welt ist das Reich
Gottes, das ja eben nichts ist als die wechselweise Vereinigung der Seele mit aller
Welt, gekommen […]. Aber freilich diese Erfüllung geht nur voran, sie ist nur vor-
weggenommen (SdE 260f.).

Die paradoxe Zeitlichkeit des »Reichs«, das der Erlösung zugehört und »im-
mer im Kommen ist«, »immer ebenso schon da wie zukünftig ist« (SdE 250),76
bezeichnet eine »Vorwegnahme des ›Zieles‹« (SdE 253). Dieses »Ziel« ist
nicht Endpunkt einer Entwicklung, sondern ist immer schon »jetzt« möglich –
und nie »jetzt« ein für alle Mal erreicht.77 Die universelle »Vereinigung« des
Einzelnen »mit aller Welt« (SdE 261) ist das »Ziel«, das im Chorgesang vor-
weggenommen wird. Das spezifische Medium der Gemeinschaft ist bei Ro-
senzweig eine Form des Chorgesangs, in dem alle Stimmen selbständig sind
und sich doch dem gleichen Rhythmus fügen (vgl. SdE 264). Insofern die
Zeitlichkeit der Gemeinschaft eine vorweggenommene Zukunft ist und diese
Zukunft zugleich immer im Kommen bleibt, kann die Gemeinschaft sich nie in
einer präsentischen Totalität schließen. Sie ist eine in der Gegenwart immer im
Kommen begriffene Gemeinschaft.
Ist die Sprache der Schöpfung historische Erzählung in der dritten (Nicht-)
Person78 im Indikativ der Vergangenheit, die Sprache der Offenbarung Wech-
selrede zwischen Ich und Du um den Imperativ des Liebesgebots, so bildet der
Kohortativ den Modus der Sprache der Erlösung in Rosenzweigs Stern.
[U]rsprünglich ist der Gesang vielstimmig gleichen Tons und Atems, und über allem
Inhalt des Gesangs steht die Form der Gemeinsamkeit. Ja der Inhalt ist selber weiter
gar nichts als die Begründung für diese seine Form. […] Der Stammsatz, wenn er
Inhalt gemeinsamen Gesangs sein soll, kann nur als eine Begründung solcher Ge-
meinsamkeit auftreten; das ›er ist gut‹ muß erscheinen als ein ›denn er ist gut‹. Was
ist nun das erste, was also begründet wird? Es kann nur die Gemeinsamkeit des Ge-
sangs sein, und diese Gemeinsamkeit nicht als die vollendete Tatsache, nicht als ein
Indikativ, sondern als eine grade eben begründete Tatsache. So muß die Stiftung der

76 Peter Eli Gordon beschreibt die Zeitlichkeit der Erlösung als »dual temporality«,
insofern Rosenzweig die Erlösung als gegenwärtig und zukünftig zugleich versteht
(Peter Eli Gordon: Rosenzweig and Heidegger: Between Judaism and German Phi-
losophy. Berkeley, Los Angeles u. a.: Univ. of Calif. Press 2005, S. 195).
77 »Es [das Reich; Anm. E. D.] ist einfürallemal noch nicht da. Es kommt ewig. Ewig-
keit ist nicht eine sehr lange Zeit, sondern ein Morgen, das ebensogut Heute sein
könnte« (SdE 250).
78 Vgl. Benveniste, Die Natur der Pronomen (wie Anm. 37), S. 285.
2 Franz Rosenzweigs »Sprachdenken« im ›Stern der Erlösung‹ 67

Gemeinsamkeit dem Inhalt des Gesangs vorangehn, als eine Aufforderung also zum
gemeinsamen Singen, Danken, Bekennen […]. Und diese Aufforderung wiederum
darf kein Imperativ sein, […] sondern die Aufforderung muß selbst unter dem Zei-
chen der Gemeinsamkeit stehen […]: die Aufforderung muß im Kohortativ stehen,
einerlei ob dieser Unterschied vom Imperativ äußerlich erkennbar ist oder nicht
(SdE 258f.).79

Welcher Art ist das »Wir«, das sich nicht auf eine »Gemeinsamkeit […] als
[…] vollendete Tatsache« begründet, sich als »Wir« nicht auf »vollendete
Tatsache[n]« berufen kann, seien diese nun genealogisch, soziologisch, natio-
nal, religiös oder biologisch konstruiert? »Wir ist kein Plural, der Plural ent-
steht in der dritten Person des Singular […] Das Wir ist die aus dem Dual
entwickelte Allheit« (SdE 264). Rosenzweigs Ethik der Gemeinschaft, wie er
sie im zweiten Teil des Sterns entwirft, bleibt an die Ethik der Begegnung
zwischen Ich und Du – dem Dual – gebunden.80 Der zeitlichen Struktur der
dauernden »Vorwegnahme« der Zukunft entspricht eine ethische, die sich dem
Anderen als dem »zu-nächst Nächsten« zuwendet:
Wenn nun ein Nochnicht über aller erlösenden Vereinigung geschrieben steht, so
kann das nur dazu führen, daß für das Ende der gerade gegenwärtige Augenblick, für
das Allgemeine und Höchste zu-nächst das jeweils Nächste eintritt. Das Band der
vollendeten und er-lösenden Verbindung von Mensch und Welt ist zunächst der
Nächste und immer wieder nur der Nächste, das zu-nächst Nächste. In den Gesang
Aller fügt sich hier also eine Strophe, die nur von zwei einzelnen Stimmen gesungen
wird […]. Statt des Plural, der die Dinge als einzelne Vertreter ihrer Gattung enthält,
und statt des Singular, in welchem die Seele ihre Geburt erlebt, herrscht also hier der
Dual […]. […] [F]reilich haftet sie [die Form des Dual; Anm. E. D.] nirgends fest
außer höchstens an den wenigen Dingen, die an sich paarweise auftreten; sonst glei-
tet sie von einem Träger zum andern, nächsten weiter, von einem Nächsten zum
nächsten Nächsten […]. Aber nur scheinbar gibt sie so ihre Herrschaft an den Plural
ab; in Wahrheit hinterläßt sie bei dieser Wanderung überall Spuren, indem sie in den
Plural der Dinge allenthalben das Zeichen der Singularität setzt (SdE 262).

79 Die Unschärfe in Rosenzweigs Argumentation am Schluss kommt dadurch zustande,


dass Psalm 136 formal mit einem Imperativ (»WdAh«: »Danket«) und nicht mit einem
Kohortativ (»Lasset uns danken«) beginnt.
80 Die grundlegende Bedeutung des Duals für Rosenzweigs messianische Sprachphilo-
sophie betont auch Donatella Di Cesare, die hierin Rosenzweigs Bemühungen er-
kennt, ein Wir zu denken, das sich von totalitären Kollektiven unterscheidet. Dar-
über hinaus vermag Di Cesare zu zeigen, dass Rosenzweig implizit auf Wilhelm v.
Humboldts Überlegungen über den Dualis und die Dialogizität der Sprache rekur-
riert (vgl. Donatella Di Cesare: Der Dual der Erlösung. Zur Genealogie des Wir bei
Rosenzweig [www.solon-line.de/der-dual-der-erloesung.html (Datum des letzten
Zugriffs: 15.02.2011)]). Vgl. zu den zeitlichen und gemeinschaftlichen Aspekten der
von Rosenzweig vertretenen Messianität der Sprache auch dies.: Die Messianität der
Sprache. In: Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg.): Franz Rosenzweigs »neues
Denken«. Freiburg: Alber 2006, Bd 2, S. 862–870.
68 Teil I

Vor diesem Hintergrund wird begreiflich, dass der Abschnitt »Erlösung« des
zweiten Teils des Sterns nicht nur Reflexionen über das im Dankchoral konsti-
tuierte »Wir« enthält, sondern ebenso über die Begegnung mit dem »zu-nächst
Nächsten« und die Ethik der »Liebestat« (SdE 239ff.). Diese zeichnet sich
durch die Intention auf den Augenblick aus, durch eine »Willensrichtung«, die
nicht, wie der daimonische Charakter, »einfürallemal festgelegt [ist], sondern
in jedem Augenblick stirbt und […] erneut [wird]« (SdE 238). Die Intention
auf den singulären Augenblick entspricht der Intention, dass der zufällig zu-
nächst stehende Andere »in seiner Eigenschaftlichkeit und Eigenartigkeit […]
zum Einzigartigen, Subjektivischen, Substantivischen« (SdE 262) wird.
»[W]as ist Erlösung sonst als dies, daß das Ich zum Er Du sagen lernt?«
(SdE 305) In Rosenzweigs Konzeption eines existentiellen In-der-Sprache-
Seins ist »die Erlösung […] nicht unmittelbar Gottes Werk oder Tat, sondern
[…] Gott […] befreite […] in seiner Liebe die Seele zur Freiheit der Liebestat«
(SdE 297). Messianisch ist somit die Intention auf den Augenblick wie auf den
anderen Nächsten, den zufällig zu-nächst Anderen, den »plesios allos« (SdE
243), den »Irgendeinen« (SdE 263), der kraft der »Liebestat« zum »Einzigarti-
gen« wird. Der zu-nächst Nächste wird nicht – und das ist entscheidend –
vorab aufgrund dieser oder jener Eigenschaften ausgewählt. Dies impliziert,
dass seine Einzigartigkeit mit keiner vorgegebenen, (ihm oder anderen) be-
kannten Eigenschaft zusammenfällt: Die Einzigartigkeit ist ein Unbestimmtes
diesseits aller Bestimmungen, das in der »Liebestat« zum Ereignis wird. Denn
»er ist […] ein Du wie Du, ein Ich« (SdE 267) – das heißt aber nach der Ana-
lyse im vorherigen Kapitel: ein Ich, das, semantisch unbestimmt, an seiner
Stelle im Hier und Jetzt unvertretbar ist.
Zugleich verweist das vollkommen Unbestimmte des »Irgendeiner« auf ein
ihm »übergeordnet[es]« »Bestimmtes«: »das Ganze alles Bestimmten, das All«
(SdE 263). Die messianische Vereinigung, die durch die Zuordnung des »Ir-
gendeine[n]« zu »Alle[r] Welt« umschrieben wird und den Weg über die Sin-
gularisierung nimmt, das Aussäen von »Keime[n] […] von Namen, seelenhaf-
te[m] Eigensein, Unsterblichkeit« (SdE 268), ist das Telos des – freilich dem
Menschen gesetzlos erscheinenden – messianischen Prozesses.81

81 Denn weder aus der Entwicklung des »wachsenden Lebens« (SdE 266), aus der
natürlichen Ordnung der Welt, noch aus der Reihe der »Liebestaten« des Menschen
lässt sich ein »Gesetz« (SdE 267), eine Ordnung für den Verlauf der Geschichte er-
kennen. Vielmehr errichtet Rosenzweig eine paradoxe Konstruktion: Die verborgene
Ordnung zeigt sich in der Welt als ihr Gegenteil, als »Anarchie, Unordnung, Störung
des ruhig wachsenden Lebens« (SdE 266). Vgl. auch SdE 269: »Von Gott also
nimmt die Erlösung ihren Ursprung, und der Mensch weiß weder Tag noch Stunde.
Er weiß nur, daß er lieben soll und stets das Nächste und den Nächsten; und die
Welt, sie wächst in sich nach scheinbar eignem Gesetz; und ob sich Welt und
Mensch nun heute finden oder morgen oder wann – die Zeiten sind unberechenbar,
sie weiß nicht Mensch noch Welt; die Stunde weiß Er allein«.
2 Franz Rosenzweigs »Sprachdenken« im ›Stern der Erlösung‹ 69

Eric Santner hat meines Erachtens die Ethik des »zu-nächst Nächsten« bei
Rosenzweig sehr gut getroffen. Er schreibt in seiner Synopsis von Rosenzweig
und Freud:
In the Freudian-Rosenzweigian view, […] the biblical traditions inaugurate a form
of life structured precisely around an openness to the alterity, the uncanny strange-
ness, of the Other as the very locus of a universality-in-becoming. […]
[U]niversality as I am using the term here, signifies the possibility of a shared open-
ing to the agitation and turbulence immanent to any construction of identity […]: the
possibility of a ›We‹ […] on the basis of the fact that every familiar is ultimately
strange […]. [I]t is precisely when we, in the singularity of our own out-of-jointness,
open to the […] internal alienness […] of the Other that we […] shift from the regis-
ter of the global to that of the universal which remains as such a universal-in-
becoming. […] [W]hen we truly inhabit the proximity of our neighbor, [we] assume
responsibility for the claims his or her singular and uncanny presence makes on us
not only in extreme circumstances but every day.82

Die »Liebestat«, die sich der unbestimmt unheimlichen Präsenz des zu-nächst
Nächsten öffnet, ja, deren Effekt im Wesentlichen darin besteht, diese unheim-
liche Unbestimmtheit des Anderen sich ereignen zu lassen, wird von Rosen-
zweig mit dem göttlichen Liebesgebot korreliert. Zur »Liebestat« gehört, dass
sie »überraschend« ist, inhaltlich »nicht im voraus anzugeben« (SdE 241),
damit sie nicht zur »schematisch organisierten Tat« (SdE 240), der »Zweck-
tat«, erstarrt. In diesem Zusammenhang kehrt auch die Differenzierung zwi-
schen Gesetz und Gebot wieder (vgl. SdE 241ff.). Man könnte leicht versucht
sein, die Differenzierung zwischen Gebot und Gesetz, Liebestat und Zwecktat
bzw. »Liebesgebot und Gesetzesgehorsam« (SdE 242) für eine christliche Un-
terströmung in Rosenzweigs Stern zu halten – und würde dabei doch nur ein
christliches Stereotyp wiederholen, das eine Differenzierung verdrängt, die für
das Judentum wichtig ist: die Differenzierung zwischen Gerechtigkeit und
Recht, »z’dakah« und »mischpat«. Samson Raphael Hirsch hat in seinen Erläute-
rungen zur Thora, die er zwischen 1867 und 1878 übersetzt und kommentiert
hat, »z’dakah« definiert als »Wohlthat, aber als Pflicht begriffen«, eine Pflicht,
die in dem »Pflichtgebot« gründet.83 Das Pflichtgebot heißt, den Anderen als
Bedürftigen wahrzunehmen, der einen Anspruch auf die Wohltat nicht aus dem
Recht, sondern »im Namen Gottes« hat. Das Gebot zur z’dakah gibt keinen
Rechtstitel ab, sondern konstituiert einen Anspruch »im Namen Gottes«.84

82 Eric L. Santner: On the Psychotheology of Everyday Life. Reflections on Freud and


Rosenzweig. Chicago: Univ. of Chicago Press 2001, S. 5–7.
83 Vgl. Der Pentateuch. Übers. u. erläutert von Samson Raphael Hirsch. 3. Neuaufl.
Frankfurt a. M.: Rosenzweig 1996, Bd 1 (Genesis) [1867], S. 265.
84 Hirschs Erläuterungen zu zedakah und mischpat stehen im Zusammenhang mit der
Episode um Sodom und Gomorrha. Hirsch kommentiert besonders ausführlich
Gen 18,19: »Denn ich habe ja nur deshalb mein besonderes Augenmerk auf ihn [Ab-
raham] gerichtet, damit er seine Kinder und sein Haus nach sich verpflichte, dass sie
den Weg Gottes hüten, Pflichtmilde und Recht zu üben, damit Gott über Abraham
70 Teil I

Die »Liebestat« in Rosenzweigs Stern entspricht meines Erachtens der


z’dakah als Wohltat. Sie soll weder das moralische Gesetz, das für Rosenzweig
die 10 Gebote dokumentieren (vgl. SdE 241), noch das religiöse Gesetz außer
Kraft setzen. Das Verhalten, das das Liebesgebot vorschreibt, ist nicht ein
ungesetzliches, sondern ein meta-gesetzliches.85 Denn insofern die »unmittel-
bare Gegenwärtigkeit« des Liebesgebots als des »einzige[n] reine[n] Gebot[s]«
allen anderen Geboten voransteht, »die ihren Inhalt auch in Form von Geset-
zen gießen [können]« (SdE 197), wird das »imperativische Heute des Gebots«
zum Maßstab des moralischen Gesetzes, dessen Problematik hier thematisch
ist. Dadurch werden die moralischen Gesetze auf das singuläre Heute, das Hier
und Jetzt des konkreten Einzelnen ausgerichtet. Die Intention auf das Nicht-
Intendierbare, auf den Augenblick und den zu-nächst Nächsten in seiner kate-
gorialen Unbestimmtheit, die die Liebestat zum singulären Ereignis werden
lässt, kennzeichnet mithin Rosenzweigs allgemeinen ethischen Entwurf.
Im zweiten Teil des Sterns der Erlösung erarbeitet Rosenzweig eine allge-
meine, ethisch pointierte Hermeneutik der Existenz in »alten jüdischen Wor-
te[n]«,86 ohne dass es ihm um spezifisch »›jüdische Dinge‹«87 zu tun wäre. Um

bringe, was er über ihn ausgesprochen.« Hirsch erläutert, warum gerade an dieser
Stelle – anders als sonst – z’dakah vor mischpat steht. Grund hierfür sei der »jüdi-
sche Protest gegen Sodoms Lebens- und Staatsmaxime«: »Nicht mischpat, z’dakah
heisst das welterlösende Wort, das Abrahams Haus in die Welt und durch die Welt
tragen soll.« Denn »eine Art von mischpat ist auch in Sodom zu Hause«, wo das
»zedaka-lose Recht […] sich in Unmenschlichkeit und Härte [verkehrt]« (ebd., S.
264). Hirschs Übersetzung für z’dakah ist, wie bereits erwähnt, die »Wohlthat, aber
als Pflicht begriffen« (ebd., S. 265). Natürlich hebelt der orthodoxe Rabbiner Hirsch
hier nicht mischpat zu einseitigen Gunsten von z’dakah aus, die ihm beide als »am
Baume des ›Wandels vor Gott‹ gezeitigte Frucht« gelten. Doch es ist die z’dakah,
der er den Vorrang in »Abrahams Testament« zugesprochen sieht. So ist es weder
der Glaube an Gott, noch das Gottesrecht, sondern die »Erfüllung seiner Gebote«, zu
der das »Geschlecht […] erzogen werden muss«.
85 Die Vorstellung eines »Meta-Gesetzes« borge ich von Jean-François Lyotard. Lyo-
tard versteht den Imperativ »Seid gerecht!« als ein »Meta-Gesetz«, da er nicht Ge-
genstand des Wissens sein kann. »There is a kind of law, but we do not know what
this law says. There is a kind of law, a kind of metalaw that says: ›Be just.‹ That is
all that matters in Judaism: ›Be just.‹ But we do not know what it is to be just. That
is we have to be ›just.‹ It is not ›Abide by this‹; it is not ›Love one another‹, etc. […]
›Be just‹; case by case, every time it will be necessary to decide, to commit oneself,
to judge, and then to mediate if that was just« (Jean-François Lyotard and Jean-Loup
Thebaud: Just Gaming. Transl. by Wlad Godzich. 5th Ed. Minneapolis: Univ. of
Minnesota Press 1999 [Theory and history of literature; 20], S. 52f.). Diese paradoxe
jüdische Pragmatik greift Derrida in seiner Lektüre von Kafkas Parabel »Vor dem
Gesetz« wieder auf (vgl. Jacques Derrida: Préjugés. Vor dem Gesetz. Übers. von
Detlef Otto und Axel Witte. 3. Aufl., Wien: Passagen-Verlag 2005 [Edition Passa-
gen; 34], S. 41f.)
86 Rosenzweig, Das neue Denken (wie Anm. 1), S. 227.
87 Ebd.
2 Franz Rosenzweigs »Sprachdenken« im ›Stern der Erlösung‹ 71

Fragen jüdischer Existenz geht es erst im dritten Teil des Sterns (s. Kap. II.5).
Hier behandelt Rosenzweig die Frage des jüdischen Gesetzes allerdings nur
unter dem Gesichtspunkt der Liturgie und des Zeremonialgesetzes. Der Frage
eines Lebens im jüdischen Ritualgesetz über das Liturgische hinaus nimmt
sich Rosenzweig schriftlich und öffentlich erst in seiner Auseinandersetzung
mit Martin Buber an, dessen religiösen Anarchismus (vgl. Kap. I.3.2) Rosen-
zweig nicht teilt. In dem öffentlichen Brief an Buber »Die Bauleute. Über das
Gesetz« kehrt die Thematik von Gesetz und Gebot wieder: »Gebot […] muß
das Gesetz wieder werden«.88 Wieder akzentuiert Rosenzweig damit die »Heu-
tigkeit«89 und versucht, das jüdische Gesetz nicht als Vorschrift zu verstehen,
die an den Willen adressiert ist, sondern vom »Können«90 her, vom Jüdisch-
Sein-Können. Dieses Können setze wohl das Wissen um das »Reich des Tuba-
ren«91 voraus, sei aber »ganz individuell«:92 Keiner könne den anderen zur
Rede stellen, »obwohl jeder den anderen lehren kann und muss; denn was
einer kann, weiß er nur selber«.93 Ein Leben im Gesetz geht für Rosenzweig
über das Wissbare und das Überlieferte hinaus, das es zugleich voraussetzt.94
Das jüdische Leben im Gesetz präsentiert Rosenzweig auf diese Weise weni-
ger als Gegenstand des Wissens denn als Bereich des Könnens. Das »imperati-
vische Heute des Gebots« (SdE 198), das Rosenzweig zum Maßstab seiner
allgemeinen Ethik im zweiten Teil des Sterns der Erlösung erhebt, bestimmt
solcherart auch noch seine Perspektive auf ein jüdisches Leben im Gesetz, das
er, im Lichte einer am Können und nicht am Sollen orientierten Pragmatik
verstanden, gegenüber Buber verteidigen möchte.

88 Franz Rosenzweig: Die Bauleute. Über das Gesetz. In: Ders.: Zweistromland. Klei-
nere Schriften zur Religion und Philosophie. Berlin, Wien: Philo 2001, S. 45–59,
hier: S. 54.
89 Ebd.
90 Ebd.
91 Ebd., S. 55.
92 Ebd.
93 Ebd., S. 58.
94 Vgl. ebd., S. 55: »So wenig wie bei der Lehre darf einer uns kommen und uns im
voraus sagen wollen, was alles dazu [zum Gesetz; Anm. E. D.] gehöre und was
nicht. Wir dürfen es nicht vorher wissen wollen, selbst wenn wir es könnten. Wir
dürfen mit keinem Willen und mit keinem Wissen der unwissentlich-unwillentlichen
Wahl unsres Könnens vorgreifen. Was wir vorher wissen dürfen, ist das Reich des
Tubaren; was wir vorher wünschen dürfen, ist: daß unsre Tat in diesem Reich ihren
Platz finde; ob sie ihn hier finde, steht schon nicht mehr bei uns, wenigstens soweit
wir im Wissen und Willen sind. Da wir es sind, soweit wir es sind, geben wir un-
serm Wissen, unserm Willen diese Richtung, diese Sphäre. Wir haben keine andre
Gewähr, daß die wirkliche Tat, wenn sie entspringt, jüdisch sein wird oder nur jen-
seits der Grenzen dieses Reichs. Ist dies letzte der Fall, so werden sich die Grenzen
durch sie hinausrücken.«
3 Sprachtheorie zwischen Skepsis, Mystik und
Dialog (Landauer/Buber)

Landauer, Buber, Benjamin, Scholem und Bloch – sie alle rekurrieren, in un-
terschiedlicher Weise, auf mystische Sprachtheorien, um zu eigenen Sprach-
konzepten zu gelangen. Hierin unterscheidet sich Rosenzweig von ihnen, denn
er fasst ein Sprachhandeln jenseits von Sprachmystik und Sprachmagie ins
Auge. Benjamin und Scholem greifen auf mystische Sprachtheorien zurück,
um Sprache anders zu verstehen denn als Medium sozialer Kommunikation,
das auf der Grundlage von arbiträren und historisch konventionalisierten
Zeichen der Sprache äußerliche Inhalte mitteilbar macht. Jenseits dieser
instrumentellen Auffassung erscheint die Sprache als göttliches oder aber als
»reines« Medium. Landauer und Buber verfolgen demgegenüber eine Erleb-
nismystik, der Benjamin und Scholem kritisch gegenüberstehen. Das nicht
mitteilbare mystische Einheitserlebnis wertet Landauer als Postulat und An-
reiz zu sprachlicher Produktivität, zu einer »neuen Sprache«1 auf der »Stufe
des Kunstwissens und der bewußten Metapher«.2 Buber hingegen versucht,
das Einheitserlebnis als Affekt und nicht als Inhalt einer sprachlichen Mittei-
lung zu kommunizieren. Anders als Landauer unterstellt Buber dem Ein-
heitserlebnis unkritisch Realität, statt es als Postulat, als subjektive Denk-
notwendigkeit ohne objektive Beweiskraft, zu behandeln. Später distanziert
sich Buber dann von der Einheitsmystik und passt sein Sprachkonzept seiner
Dialogphilosophie an.

3.1 Sprachkritik und Mystik beim jungen Gustav Landauer

In Landauers einschlägiger Essaysammlung Skepsis und Mystik (1903) fehlt,


im Unterschied zu den Texten der anderen Autoren, eine explizit messianische
Interpretation der Sprachtheorie. Im Gegenteil: Landauer polemisiert wieder-
holt gegen die Erlösungsversprechen der alten und der neuen Religionen.
»Zum Ende Gottes« habe Fritz Mauthner die Sprachkritik als »Waffe« erson-
nen.3 Hierin folgt Landauer Mauthner. Die Essays in dem Band Skepsis und

1 Gustav Landauer: Skepsis und Mystik. Versuche im Anschluß an Mauthners


Sprachkritik. Berlin: Fleischel 1903, S. 121.
2 Ebd., S. 114.
3 Ebd., S. 98.
74 Teil I

Mystik, dessen Untertitel »Versuche im Anschluß an Mauthners Sprachkritik«


lautet, gehen jeweils von einem der drei Bände von Mauthners Beiträgen zu
einer Kritik der Sprache (1901–1902) aus, woran sie eigene Überlegungen
anknüpfen. Um mit der falschen Hypothese namens Gott fertig zu werden,
habe Mauthner die Sprache angreifen und zeigen müssen, dass all unsere Er-
kenntnis nur Sprache sei. Denn
der Glaube, die Welt aussprechen zu können, ist der Glaube an Gott. Was immer ihr
von der Welt sagt: es sind Worte. Das heißt: es ist nicht wahr. Wahrheit hieß bisher
immer: so ist es; wenn das Wort noch fernerhin angewendet werden soll, muß es be-
deuten: es ist anders.4

Mauthner hat die objektive Erkenntnisfähigkeit der Sprache radikal in Zweifel


gezogen. Der Schritt von der Skepsis zur Mystik erfolgt dort, wo von der Er-
kenntnisunfähigkeit der Sprache auf das Unsagbare und Unaussprechliche als
Essenz der Welt geschlossen wird. Landauer vollzieht diesen Schritt unter
kritischem Vorbehalt, insofern als er die Existenz dieser mystischen Welt, an
die es nur bildliche Annäherungen geben könne, als Postulat, als subjektive
Denknotwendigkeit, ausweist.
Landauer hält sich in seiner gottlosen Mystik, wie sie Skepsis und Mystik
dokumentiert, fern von messianischem Vokabular. Dies dürfte auch auf seine
Aversion gegen die monistischen Erlösungslehren der Brüder Heinrich und
Julius Hart zurückzuführen sein, die er in Skepsis und Mystik mit beißendem
Spott überzieht.5 Die Brüder Hart hatten um sich eine Gruppe von Künstlern
und Intellektuellen versammelt, die sich als lebensreformatorisch ausgerichtete
»Neue Gemeinschaft« in Berlin Friedrichshagen trafen.6 Landauer war eine
Zeit lang Mitglied der »Neuen Gemeinschaft«, in der er auch Buber kennen-
lernte. Aber auch als er sich später, in der Folge von Bubers Publikationen zur
jüdischen Mystik, mit Fragen jüdischer Identität beschäftigt, geht Landauer
sparsam mit messianischem Vokabular um (s. Kap. II.3). Diese Zurückhaltung,
die keineswegs religiöse Sprache überhaupt betrifft, dürfte aber vor allem
damit zusammenhängen, dass Landauer mit Messianismus endgültige Lö-
sungsangebote verbindet, auf die er ablehnend reagiert.7 Wenn also auch eine
messianische Interpretation der Sprachtheorie bei Landauer fehlt, so steckt er
doch mit seiner Essaysammlung Skepsis und Mystik das Feld ab, auf dem sich

4 Ebd., S. 98f.
5 Vgl. ebd., S. 61–82.
6 Vgl. hierzu Gertrude Cepl-Kaufmann und Rolf Kauffeldt: Berlin-Friedrichshagen.
Literaturhauptstadt um die Jahrhundertwende. Der Friedrichshagener Dichterkreis.
München: Boer 1994, S. 304ff.
7 Vgl. die stichwortartigen Notizen Landauers in der Skizze »Sozialismus und Juden-
tum«. In: Gustav Landauer: Werkausgabe. Hg. von Gert Mattenklott und Hanna
Delf. Bd 3, hg. von Hanna Delf. Berlin: Akademie-Verlag 1997, S. 161f., hier:
S. 162: »nicht drittes Reich und Messianismus, sondern schlichte Verwirklichung
nach Möglichkeit«.
3 Sprachtheorie zwischen Skepsis, Mystik und Dialog 75

etwas später Buber bewegen wird – ohne Scheu gegenüber messianischen


Ausdrücken. Daher soll in diesem Kapitel untersucht werden, wie Landauer
Sprachkritik, Mystik und Politik in Zusammenhang bringt, um von hier aus zu
Buber überzugehen.
Um 1900 orientiert sich Landauer politisch und philosophisch neu. Er wen-
det sich »vom Arbeiteranarchismus zum (elitären) Kulturanarchismus«.8 Zur
gleichen Zeit beschäftigt er sich mit den Texten des mittelalterlichen Domini-
kaner-Predigers Meister Eckhart, die er zwischen 1898 und 1900 in einer Aus-
wahl ins Neuhochdeutsche überträgt.9 Als Landauer 1899 zu einem sechsmo-
natigen Gefängnisaufenthalt in Berlin-Tegel verurteilt wird, übersetzt er im
Gefängnis nicht nur die Predigten Meister Eckharts, sondern redigiert auch das
Manuskript von Fritz Mauthners Beiträgen zu einer Kritik der Sprache, die in
drei Bänden zwischen 1901 und 1902 erscheinen. Sprachkritik, Mystik und die
Entwicklung einer neuen kulturrevolutionären Strategie fallen solchermaßen
bei Landauer zusammen. Die Verbindung dieser Elemente findet in dem Auf-
satz »Durch Absonderung zur Gemeinschaft« aus dem Jahr 1900 zu einem
ersten programmatischen Ausdruck.
Nach politisch engagierten Jahren in den 1890ern, u. a. bei den sog. »Jun-
gen« der Sozialdemokratie, Gegner des legal-parlamentarischen Kurses der
SPD, war Landauer zu der Überzeugung gekommen, dass weder mit einem
schnellen, radikalen gesellschaftlichen Wandel gerechnet werden könne noch
die entscheidende Aufgabe der umfassenden individuellen wie sozialen Eman-
zipation von Massenorganisationen zu leisten sei.10 Landauers alternative
kulturrevolutionäre Strategie zielt darauf, durch die Bildung kleiner Gemein-
schaften die Gesellschaft ›von innen‹ heraus zu verändern. Gewinnt die »Ge-
meinschaft« in Landauers späteren Schriften konkretere Züge, wo »der sozia-
listische Bund der selbständig wirtschaftenden und untereinander tauschenden

8 Gertrude Cepl-Kaufmann: Gustav Landauer im Friedrichshagener Jahrzehnt und die


Rezeption seines Gemeinschaftsideals nach dem I. Weltkrieg. In: Hanna Delf und
Gert Mattenklott (Hg.): Gustav Landauer im Gespräch. Tübingen: Niemeyer 1997
(Conditio Judaica; 18), S. 235–278, hier: S. 242.
9 Vgl. Meister Eckharts Mystische Schriften. In unsere Sprache übertragen von Gus-
tav Landauer. Berlin: Schnabel 1903 (Verschollene Meister der Literatur; 1). Vgl. zu
Landauers Rezeption der überlieferten Predigten Meister Eckharts Joachim Willems:
Religiöser Gehalt des Anarchismus und anarchistischer Gehalt der Religion? Die jü-
disch-christlich-atheistische Mystik Gustav Landauers zwischen Meister Eckhart
und Martin Buber. Albeck bei Ulm: Verl. Ulmer Manuskripte 2001, sowie Thorsten
Hinz: Mystik und Anarchie. Meister Eckhart und seine Bedeutung im Denken Gus-
tav Landauers. Berlin: Kramer 2000.
10 Vgl. Rolf Kauffeldt: Die Idee eines ›Neuen Bundes‹ (Gustav Landauer). In: Manfred
Frank (Hg.): Gott im Exil. Vorlesungen über die Neue Mythologie. Frankfurt a. M.:
Suhrkamp 1988 (Edition Suhrkamp; 1506 = N.F.; 506), Bd 2, S. 131–179, hier:
S. 139.
76 Teil I

Gemeinden« als »Grundform der sozialistischen Kultur«11 erscheint, so geht es


Landauer in dieser frühen Schrift um Aspekte mystischer Ich- und Welt-
Erfahrung, in der die Gemeinschaft ihren Grund finden soll. Mystik meint bei
Landauer die Erfahrung, »über das autonome Individualgefühl hinauszukom-
men«.12 Was wie die Entmächtigung des Ich aussieht, ist aber nur eine Seite
der mystischen Erfahrung.13 Denn die Entmächtigung des Ich zugunsten eines
mystischen »Allgemeingefühl[s]«14 geht bei Landauer Hand in Hand mit der
Ermächtigung des Ich, das sich aus dem mystischen Einheitsgrund begreift.
Diese Doppelbewegung wird noch einmal dadurch verkompliziert, dass Lan-
dauer den mystischen Einheitsgrund, für den er in seinem Aufsatz viele Namen
hat, explizit als Konstruktion ausweist. Die Imagination des Ich begründet also
erst die Einheit, die es als seinen Grund verstehen soll. Statt die Subjektivität
zu überwinden, wird sie ins Unendliche gesteigert: »Das Ich tötet sich, damit
Weltich leben kann.«15 Die entscheidende Passage aus »Durch Absonderung
zur Gemeinschaft«, die diesen Zirkel veranschaulicht, sei in extenso zitiert:
Geben wir es zu: wenn ich von meinem Subjektiven ausgehe, wenn ich mein Ge-
fühl, daß meine Individualität eine isolierte Einheit sei, als Realität gelten lasse,
dann gebe ich damit alle andern Realitäten preis. Dann wird Raum und Zeit meine
Anschauungsform, dann ist alle Körperlichkeit, mein Hirn und meine Sinnesorgane
eingeschlossen, und du Leser erst recht eingeschlossen, ein gespenstisches Gespinst
[…]. Diese Anschauung ist ewig unwiderlegbar, und keine andere Anschauung ist
beweisbar. Nur daß auch die Voraussetzung, von der ich ausgehe, niemals zu erwei-
sen ist: mein inneres Gefühl, daß ich eine isolierte Einheit sei, kann falsch sein, und
ich erkläre es für falsch, weil ich mich nicht mit der entsetzlichen Vereinsamung zu-
frieden geben will. Ich muß aber wissen, was ich damit tue: ich verlasse das Einzige,
was mir von innen her sicher zu sein schien, und treibe hinaus auf die hohe, wilde
See der Postulate und Phantasien. […] Ich baue mir eine neue Welt mit dem Be-
wußtsein, daß ich keinen Grund habe, auf dem ich baue, sondern nur eine Notwen-
digkeit. Solcher Zwang aber, den das allgewaltige Leben übt, hat befreiende, jauch-
zenschaffende Kraft in sich: ich weiß von jetzt ab, dass es meine, eine selbstgeschaf-
fene Welt ist, in der ich schaue, in die ich wirke. Um nicht welteinsam und gottver-

11 Gustav Landauer: Aufruf zum Sozialismus. Revolutionsausg., 2. verm. u. verb.


Aufl., Berlin: Cassirer 1919, S. 130.
12 Gustav Landauer: Durch Absonderung zur Gemeinschaft. In: Ders.: Zeit und Geist.
Kulturkritische Schriften 1890–1919. Hg. von Rolf Kauffeldt und Michael Matzig-
keit. Regensburg: Boer 1997, S. 80–99, hier: S. 90f.
13 Eher einseitig hebt Anna Woákowicz die mystische Selbstpreisgabe bei Landauer
hervor, die eine »nivellierende Herrschaft« über den Einzelnen durch die mystische
Realität dessen, was Landauer Gemeinschaft oder Natur nennt, bedeute (vgl. »Das Ich
tötet sich, damit Weltich leben kann.« Zu Gustav Landauers politischer Mystik. In: Ka-
rol Sauerland und Ulrich Wergin [Hg.]: Literatur und Theologie. Schreibprozesse zwi-
schen biblischer Überlieferung und geschichtlicher Erfahrung. Würzburg: Königshau-
sen & Neumann 2005, S. 141–150, hier: S. 144). Die Doppelbewegung von Ent- und
Ermächtigung erkennt sie nur im Hinblick auf Führergestalten bei Landauer.
14 Landauer, Durch Absonderung zur Gemeinschaft (wie Anm. 12), S. 95.
15 Ebd., S. 84.
3 Sprachtheorie zwischen Skepsis, Mystik und Dialog 77

lassen ein Einziger zu sein, erkenne ich die Welt an und gebe mein Ich preis; aber
nur um mich selbst als Welt zu fühlen, in der ich aufgegangen bin. […] Das Ich tötet
sich, damit Weltich leben kann.16

Landauer kritisiert ein Verständnis des Individuums, das dieses als isolierte,
der Welt äußerlich bleibende Einheit vorstellt, woraus sich der Gegensatz von
Subjekt und Objekt, Individuum und Welt herleitet. Stattdessen soll sich das
Individuum als Teil der Welt verstehen, als »Teilseele[] der Weltseele«.17
Nicht nur das Individuum als »isolierte Einheit« verfällt mithin Landauers
Kritik, sondern ebenso die Vorstellung, dass die Welt aus distinkten Objekten
besteht, die im Raum mit dem Gesichtssinn wahrgenommen und begrifflich
klassifiziert werden. Für die mystische Realität der Welt, die das Subjekt er-
fahren soll, wenn es über die Grenzen der Individuation hinausgeht, hat Lan-
dauer unterschiedliche Namen: »urälteste und allgemeinste Gemeinschaft: mit
dem Menschengeschlecht und dem Weltall«,18 »allgewaltige[s] Leben«,19
»Weltgeist«,20 »Weltseele«,21 »wogende[] Flut der Seelenkräfte«,22 »ewig Le-
bendige[s]«,23 spinozistisch »wirkende Natur« bzw. »natura naturans«,24 »See-
lenstrom, den man je nachdem Menschengeschlecht, Art, Weltall nennt«,25 »un-
endlich differenzierte[s] Seelenfluten«,26 »das Göttliche«.27 Weist die Mehrheit
dieser Ausdrücke auf eine panpsychistische Auffassung der Welt hin,28 so
macht Landauer auch einen evolutionsbiologisch inspirierten »unlösbaren
körperlichen Zusammenhang mit der verflossenen Menschheit«,29 eine »Kör-
pergemeinschaft«30 oder »Gemeinschaft der Lebendigen«31 geltend.
Landauers Schreiben ist zweifellos eklektizitisch, manche sagen gar: dilet-
tantisch.32 Allerdings reflektiert und rechtfertigt Landauer selbst seinen Eklek-

16 Ebd., S. 83f.
17 Ebd., S. 87.
18 Ebd., S. 82.
19 Ebd., S. 84.
20 Ebd., S. 85.
21 Ebd., S. 87.
22 Ebd.
23 Ebd., S. 88.
24 Ebd.
25 Ebd., S. 90.
26 Ebd., S. 91.
27 Ebd., S. 96.
28 Vgl. zu den panpsychistischen Ansätzen um die Jahrhundertwende Monika Fick:
Sinnenwelt und Weltseele. Der psychophysische Monismus in der Literatur der
Jahrhundertwende. Tübingen: Niemeyer 1993 (Studien zur deutschen Literatur;
125).
29 Landauer, Durch Absonderung zur Gemeinschaft (wie Anm. 12), S. 91.
30 Ebd., S. 93.
31 Ebd., S. 94.
32 Vgl. Bernd Witte: Zwischen Haskala und Chassidut. Gustav Landauer im Kontext
der deutsch-jüdischen Literatur- und Geistesgeschichte. In: Hanna Delf und Gert
78 Teil I

tizismus, was die Benennung dessen, was das »Große[] und Ganze[]«33 sein
soll, betrifft. Denn insofern die Anerkennung der Welt ein Postulat des Den-
kens und die Vorstellung einer beseelten Welt ein Analogieschluss desselben
Denkens sei, stelle sie kein Wissen dar.34 Es handele sich vielmehr, wie Lan-
dauer in der oben zitierten langen Passage schreibt, um eine »selbstgeschaffene
Welt«, um eine Verbindung aus Postulat (subjektive Notwendigkeit, die Exis-
tenz der Welt anzunehmen, die nicht bewiesen werden kann) und Phantasie
(Vorstellung einer beseelten Welt). Alle Ausdrücke, die Landauer für das
»Große und Ganze« benutzt, will er deswegen auch nur als »bildmäßige An-
näherungsversuche«35 verstanden wissen, »da sie ja immer unter Vorbehalt
gegeben sind, da wir ja mehrere parallele, ergänzende Weltanschauungen in
uns parat haben müssen«,36 die sich nicht zum Dogma verfestigen sollen. Alle
Ausdrücke, mit denen Landauer den mystischen Einheitsgrund von Indivi-
duum und Welt belegt, verbindet, dass sie diesen Grund als schöpferisches,
dynamisches Prinzip imaginieren. Wer sich aus diesem dynamischen Grund
begreift, deutet seine Individualität als schöpferisches Tätigkeitsvermögen.
Wie Gert Mattenklott zutreffend schreibt, sucht Landauer auf dem Wege der
Mystik nach »Gemeinsamkeit, deren Ausübung das Individuelle eher noch
vertieft als neutralisiert«.37 Die »Innenseite seiner Politik« sei aber die Litera-
tur: »Tatsächlich ist Landauers ›Neue Gemeinschaft‹ zuallererst nicht Ökono-
mie oder Politik, sondern Poesie.«38 Dementsprechend zielt das Gemein-
schaftsideal Landauers auf die Vereinigung von schöpferischen Einzelnen.
Gegenüber »der Zwangsgemeinschaft der bürgerlichen Gesellschaften und
Staaten« sollen die »freien momentanen Vereinigungen von Einzelnen« die
Vorhut einer Gemeinschaft bilden, »die erst kommen soll, und die wir Ersten
gleich jetzt anbahnen und beginnen wollen«.39
Die mystische »allgemeinste Gemeinschaft«40 alles Lebendigen stellt Lan-
dauer als Fiktion heraus, die die Einzelnen sowohl aneinander binden als auch
zu ihrem schöpferischen Tätigkeitsvermögen, das wesentlich ihre Individuali-
tät ausmacht, anregen soll. Das Gemeinsame der »allgemeinsten Gemein-
schaft« besteht letztlich in nichts anderem als dem schöpferischen Prinzip.
Indem Landauer selbst auf den fiktiven Charakter der mystischen Weltbesee-
lung aufmerksam macht, markiert er, dass er sich auf das Feld der Phantasie

Mattenklott (Hg.): Gustav Landauer im Gespräch. Tübingen: Niemeyer 1997


(Conditio Judaica; 18), S. 25–41, besonders S. 25f.
33 Landauer, Durch Absonderung zur Gemeinschaft (wie Anm. 12), S. 90.
34 Vgl. ebd., S. 86.
35 Ebd., S. 91.
36 Ebd.
37 Gert Mattenklott: Gustav Landauer. Ein Portrait. In: Landauer, Werkausgabe (wie
Anm. 7), Bd 3, S. VII–XXII, hier: S. XV.
38 Ebd., S. IX.
39 Landauer, Durch Absonderung zur Gemeinschaft (wie Anm. 12), S. 82f.
40 Ebd., S. 82.
3 Sprachtheorie zwischen Skepsis, Mystik und Dialog 79

und der Sprachpoetik begibt. In den radikalsten Sätzen ist die Mystik bei Lan-
dauer nicht mehr als eine »neue[] Kunst«,41 ein »Spiel«,42 kurz: ein Sprachex-
periment, das eine Form nicht-begrifflicher Einheit, eine Art »begriffslose[r]
Synthesis«,43 herzustellen sich bemüht. Liest man Landauers Konzeption der
Mystik als Sprachexperiment, so zeigt sich, dass Landauer nicht hinter die
Einsichten der Sprachkritik zurückfallen, sondern auf ihnen aufbauen möchte.
Es muss daher auf Landauers und Mauthners Sprachkritik eingegangen wer-
den, bevor die Mystik als Sprachpoetik bei Landauer angemessen untersucht
werden kann.
Landauer fasst in Skepsis und Mystik die sprachnominalistische Botschaft
Fritz Mauthners wie folgt zusammen:
Diese Dinge da draußen sind Dinge, weil eure Sprache sie in die Form der Substan-
tive pressen muß, und ihre Eigenschaften sind Adjektiva und ihre Beziehungen re-
geln sich nach der Art, wie ihr eure Eindrücke auf euch bezieht, nämlich in der Form
des Verbums. Eure Welt ist die Grammatik eurer Sprache. […] Wir sehen Ähnli-
ches: das ist das Geheimnis unserer Assoziation und unserer Begriffsbildung.44

Sprache beruht, so Mauthners These, auf einem anthropomorphen, mit Hilfe


unserer »Zufallssinne«45 erzeugten, konventionalisierten Wahrnehmungswis-
sen. Die unhintergehbare Figuralität oder Rhetorizität der Sprache wird von
Mauthner wahrnehmungstheoretisch hergeleitet. Die Wahrnehmung von Ähn-
lichkeiten sei grundlegend für den Sprachprozess, den Mauthner als einen
metaphorischen Übertragungsvorgang auffasst: Die »Metaphern unserer Sin-
ne«46 lassen uns Ähnlichkeit empfinden, die auch in der Wortsprache vorherr-
sche, in der Ungleiches qua Metapher in eine Ähnlichkeitsbeziehung gebracht
werde. Durch diese ursprünglich metaphorische Operation werde begriffliches
Klassifizieren überhaupt erst ermöglicht. Die Kritik, dass die Sprache kein
adäquater Ausdruck der Wirklichkeit sei, speist sich bei Mauthner aus zwei
Grundannahmen: Die Sprache ist zu statisch, um das dynamische Wesen der
Wirklichkeit zu erreichen, so dass wir ein »fertiges Wort auf einen unfertigen
Eindruck«47 übertragen; ihre Art begrifflicher Allgemeinheit beruht auf der

41 Landauer, Skepsis und Mystik (wie Anm. 1), S. 14.


42 Ebd.
43 Ich entlehne diesen Ausdruck Adornos Interpretation von Hölderlins später Dich-
tung und gehe weiter unten noch näher darauf ein (vgl. Theodor W. Adorno: Parata-
xis. Zur späten Lyrik Hölderlins. In: Ders.: Noten zur Literatur, Frankfurt a. M.
1974, S. 447–491, hier: S. 472).
44 Landauer, Skepsis und Mystik (wie Anm. 1), S. 11f.
45 Fritz Mauthner: Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Stuttgart: Cotta 1901, Bd 1,
S. 34–37, S. 76f.; vgl. Landauer, Skepsis und Mystik (wie Anm. 1), S. 138.
46 Ebd., S. 96.
47 Fritz Mauthner: Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Stuttgart: Cotta 1901, Bd 2,
S. 467. Vgl. zu Mauthners Sprachkritik: Michael Thalken: Ein bewegliches Heer
von Metaphern. Sprachkritisches Sprechen bei Friedrich Nietzsche, Gustav Gerber,
Fritz Mauthner und Karl Kraus. Frankfurt a. M. u. a.: Lang 1999 (Literatur als Spra-
80 Teil I

Ähnlichkeit des Ungleichen, das im Begriff gleichgesetzt wird, obwohl kein


Blatt dem anderen gleicht. Die Metapher ist also bei Mauthner kein abgeleite-
ter Tropus, sondern eine ursprüngliche metaphorische Projektion macht uns
die Welt vorstellbar.
Die Sprache ist nicht nur kein geeignetes »Werkzeug der Erkenntnis«, wie
Mauthners Credo lautet; sie ist ȟberhaupt kein Gegenstand, sondern sie ist gar
nichts anderes als ihr Gebrauch. Sprache ist Sprachgebrauch«.48 Mauthner
öffnet hier die Tür zu einer Sprachpragmatik, die ihn jedoch nur insofern inte-
ressiert, als er in der Sprache die anthropomorphe Reduktion aufdeckt, mittels
derer wir uns ein an unserem Nutzen ausgerichtetes Weltbild formen.49 Einen
anderen Gebrauch der Sprache zu erproben als den zweckrationalen, ist aller-
dings die Konsequenz, die Landauer aus Mauthners Sprachkritik zieht. Denn
anders als Mauthner sieht Landauer in der Figuralität der Sprache nicht vor
allem einen Indikator für ihre Lügenhaftigkeit. Landauer ist vielmehr damit
beschäftigt, zu »neuen Metaphern«50 in einer »neuen Sprache«51 vorzudringen,
einer »neuen Sprache«, die sich auf der »Stufe des Kunstwissens und der be-
wußten Metapher«52 bewegt.53
Nicht die individuelle Anschauungsmetapher bietet ihm dabei die künstleri-
sche Alternative, wie sie etwa in Nietzsches Aufsatz »Über Wahrheit und Lüge
im außermoralischen Sinne« begegnet.54 Landauer stellt vielmehr umgekehrt
die Frage, ob die Sprache womöglich deswegen unfruchtbar sei, weil sie zu
»sinnisch«,55 »zu sklavisch an der angeblichen Wirklichkeit«,56 d. h. an den
»Metaphern unserer Sinne«57 orientiert sei: »Ist nicht schon jede Wahrneh-
mung oder Empfindung nur eine Metapher, ein Erinnerndes? Sollte nicht der
che; 12); Jürgen Schiewe: Die Macht der Sprache. Eine Geschichte der Sprachkritik
von der Antike bis zur Gegenwart. München: Beck 1998, besonders S. 176–196;
Helmut Henne und Christine Kaiser (Hg.): Fritz Mauthner – Sprache, Literatur, Kri-
tik. Tübingen: Niemeyer 2000 (Reihe Germanistische Linguistik; 224).
48 Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache (wie Anm. 45), Bd 1, S. 23.
49 Vgl. ebd., S. 50; vgl. hierzu auch Schiewe, Die Macht der Sprache (wie Anm. 47),
S. 93.
50 Landauer, Skepsis und Mystik (wie Anm. 1), S. 98, S. 116.
51 Ebd., S. 121.
52 Ebd., S. 114.
53 Wagner-Egelhaaf schreibt, dass bei Landauer die »Erkenntnis der Erkenntnisunfä-
higkeit der Sprache […] die Sprache zu neuer künstlerischer Produktivität [befreit]«
(Monika Wagner-Egelhaaf: Mystik der Moderne. Die visionäre Ästhetik der deut-
schen Literatur im 20. Jahrhundert. Stuttgart: Metzler 1989, S. 37).
54 Mauthners Betonung der ursprünglichen Metaphorizität der Sprache liegt natürlich
ganz auf Nietzsches Linie. Nietzsches Aufsatz war zu dem Zeitpunkt, als Mauthner
seine Sprachkritik herausbrachte, jedoch noch nicht veröffentlicht, so dass Gustav
Gerbers Werk Die Sprache als Kunst, von dem Nietzsche ja den Grundgedanken
übernommen hat, als Quelle anzunehmen ist.
55 Landauer, Skepsis und Mystik (wie Anm. 1), S. 96.
56 Ebd.
57 Ebd.
3 Sprachtheorie zwischen Skepsis, Mystik und Dialog 81

Versuch fruchtbar und möglich sein, die Welt in neuen Metaphern auszudrü-
cken?«58 Diese Frage aber verwandelt sich etwas später in eine Forderung, die
den »Verzicht auf eine uralte Metapher und ihr[en] Ersatz durch eine andere«
betrifft: »Der Raum muß in Zeit verwandelt werden.«59 Die neuen Metaphern
geben sich als sinnlich-unsinnliche Metaphern zu lesen, insofern das »Fließen«
der Zeit zwar die geformte Anschauung auflöst, zugleich aber neue »Ver-
schlingungen« bewirkt, die »wir mit Hilfe der Metaphern unserer Sinne noch
zu erforschen haben«.60 In Metaphern einer »unsinnlichen Ähnlichkeit« (GS
II/1 211–213), wie man mit Benjamin sagen könnte, organisiert sich solcherart
die Wahrnehmung neu. Der Übergang von der Sprachkritik zur Sprachpoetik
fällt bei Landauer mit dem Übergang von der Kritik an der unreflektierten
Illusion zur bewussten Produktion eines »feinere[n] Schein[s]«61 zusammen.
Anders als Mauthner, der als Fluchtpunkt aus der konstitutiven Uneigent-
lichkeit der Sprache nur das Jenseits der Sprache, die Sprachlosigkeit als mys-
tischen Ausdruck der Seinsfülle anerkennt,62 schlägt Landauer den Weg von
einer Sprachkritik zur Sprachpoetik, zur »Wortkunst«63 ein, in der es ihm um
den Prozess der Erzeugung von Zusammenhängen geht, welche nicht auf
»substantivischen Allgemeinbegriffe[n]«64 beruhen. Den Weg von der Sprach-
kritik zu Sprachpoetik setzt Landauer – in Anlehnung an den mittelalterlichen
Universalienstreit – mit dem Weg vom Nominalismus zu einem neuen »Rea-
lismus« gleich. Nachdem die Nichtigkeit der abstrakten Universalbegriffe ein
für alle Mal dargelegt sei, gelte es, »die Nichtigkeit des Konkretums, des iso-
lierten Einzelwesens nachzuweisen und zu zeigen, welch tiefe Wahrheit in der
Lehre der Realisten steckt.«65 Es gebe
keinerlei Individuum, sondern nur Zusammengehörigkeiten und Gemeinschaften
[…]. Es ist nicht wahr, daß die Sammelnamen nur Summen von Individuen bedeu-
ten; vielmehr sind umgekehrt die Individuen nur Erscheinungsformen, elektrische
Funken eines Großen und Ganzen. Eine andere Frage ist freilich, ob die überliefer-
ten Gattungsnamen in ihrer bequemen Schablonenhaftigkeit auch nur einigermaßen
einen gemäßen Ausdruck für die Gesamtheiten bilden, deren Momentblitze die Indi-
viduen sind.66

58 Ebd.
59 Ebd., S. 108.
60 Ebd., S. 128.
61 Landauer, Skepsis und Mystik (wie Anm. 1), S. 144.
62 Vgl. Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache (wie Anm. 45), Bd 1, S. 77–79.
Vgl. auch ebd., S. 47: »[D]ie Natur ist vollends sprachlos. Sprachlos würde auch,
wer sie verstünde«. Diesen Satz zitiert auch Landauer (vgl. Landauer, Skepsis und
Mystik [wie Anm. 1], S. 13).
63 Landauer, Skepsis und Mystik (wie Anm. 1), S. 146, S. 153.
64 Ebd., S. 149.
65 Ebd., S. 28.
66 Ebd.
82 Teil I

»Gesamtheiten«, die nicht auf der »Schablonenhaftigkeit« von Gattungsnamen


basieren, konstituieren sich weder über den durch formalisierende Abstraktion
gewonnenen Begriff noch über generische Gattungszugehörigkeit. Wenn man
Landauer hier beim Wort nimmt, dann dürfte die Herkunft – im sprachlichen
Sinne die Semantik bzw. die Etymologie, im politischen die Genealogie einer
Familie, einer Region oder einer Nation – keine Rolle im Hinblick auf die stets
im Werden begriffenen Gesamtheiten spielen. Wo Landauer in seiner Argu-
mentation sprachimmanent bleibt, ist dies auch der Fall. Gleichwohl liegt hier,
bei der generischen Gattungszugehörigkeit, der Punkt, an dem Landauer zur
Remythologisierung neigt, wenn er z. B. in anderen Texten der »Familie« als
»natürliche[m] Verband«,67 der Gemeinde oder dem »Volk« huldigt. Von die-
sen ist zwar in Skepsis und Mystik nicht die Rede, wohl aber von »große[n]
Erbgemeinschaften«.68 Letztlich steht die Mystik bei Landauer zwischen
»Wortkunst« und Remythologisierung/Mythos. Einen Augenblick wollen wir
noch bei Landauer als radikalem Wortkünstler bleiben, bevor wir uns der Be-
wegung der Remythologisierung in Skepsis und Mystik zuwenden.
Im letzten Essay von Skepsis und Mystik, »Die Sprache als Instrument«, fin-
det Landauer zu einer nicht-begrifflichen Einheit über musikalisch verstandene
Sprachformen. Diese lassen sich als Konjunktionen interpretieren, welche
nicht von ihrer logischen Semantik her zu begreifen sind, sondern allein von
ihrer Fähigkeit, Bezüglichkeiten herzustellen, die je neu und anders zu aktuali-
sierende Verbindungen zwischen den Gliedern ermöglichen. Im Anschluss an
Mauthner spricht Landauer Begriffen und Worten eine deiktische Funktion zu,
aufgrund derer sie für Mauthner höher rangieren als die logischen Formen der
Sprache (Satzbau, Urteilsform, Gliederung), denen kein Objekt der sinnlichen
Erfahrung entspreche. Landauer dreht Mauthners letztlich positivistisches
Argument um:69
[W]ie die Worte und Begriffe Erinnerungen, also Versuche der Annäherung an die
Wirklichkeitswelt sind, so sind die Sprachformen wie die Formen der Logik ohne
jede Beziehung zu irgend welcher Wirklichkeit, ohne jeden Werkzeugcharakter, nur
wertvoll für die Wortkunst, damit zwischen den Klängen, die etwas bedeuten, auch
Klänge sind, die nichts bedeuten, durch die hindurch wir gefühlsmäßig und rhyth-
misch Unsagbares ahnen können. Insofern freilich wieder ein wundervolles Werk-
zeug: keine andere Kunst kann so ohne Mischung der Darstellungsarten, nur rein

67 Landauer, Aufruf zum Sozialismus (wie Anm. 11), S. 131.


68 Landauer, Skepsis und Mystik (wie Anm. 1), S. 34.
69 Arntzen sieht Mauthner noch im Empirismus und Sensualismus verhaftet, insofern
Mauthner vor- oder außersprachliche Sinneseindrücke von seinem Erkenntnisskepti-
zismus ausnehme (Helmut Arntzen: Sprachdenken und Sprachkritik um die Jahr-
hundertwende. In: Ders.: Zur Sprache kommen. Studien zur Literatur- und Sprachre-
flexion, zur deutschen Literatur und zum öffentlichen Sprachgebrauch. Münster:
Aschendorff 1983, S. 98f.). Allerdings sind auch die Sinneseindrücke bei Mauthner
nicht unmittelbar, wie Arntzen schreibt, sondern Mauthner erkennt lediglich eine
äußerliche Ursache für unsere Sinneseindrücke an.
3 Sprachtheorie zwischen Skepsis, Mystik und Dialog 83

durch ihr einziges Ausdrucksmittel, die Sprache, Sinnenbild und Musik zugleich
zum Sinnbild gestalten.70

Das »Sinnbild«, das »den Rhythmus aus der Zeit, das Sinnenbild aus dem
Raum«71 verbinde, produziere einen »feinere[n] Schein«,72 der »unsere Men-
schenwelt, in der wir handelnd, nehmend und leidend stehen, besser zu klei-
den, zu decken«73 vermöge. Landauers musikalische Interpretation der Sprach-
formen, der Grammatik und der Logik, hat Ähnlichkeit mit Hölderlins poeti-
schem Verfahren, das sich, so Adorno, am Ideal der »begriffslose[n] Synthe-
sis«,74 orientiere. Anders als in »[g]roße[r] Musik«75 – dem Vorbild für die
»begriffslose Synthesis« – sei die Sprache an ein signifikatives Moment, an die
Form von Urteil und Satz und damit an die synthetische Form des Begriffs
gebunden. Visiere die Dichtung eine begriffslose Synthesis an, so müsse sie
sich gegen ihr eigenes Medium kehren. Nicht die Zerstörung der Logik, son-
dern ihre zarte Suspension lasse sich in Hölderlins später Lyrik beobachten.76
Die Logik hypotaktischer Satzkonstruktionen löse Hölderlin in parataktischen
Reihungen auf. Diese Reihung sei nicht nur in den formalen parataktischen
Konstruktionen Hölderlins zu finden. Auch wenn Hölderlin hypotaktische
Konjunktionen/Partikel verwende, würden diese, durch die musikalische Wei-
se ihres Gebrauchs, oftmals eher die Satzteile reihen als einen dem anderen
unterordnen. Sprache nähere sich der Musik an, indem die Logik der Urteile
der Logik der Möglichkeiten weiche.77 Mit der begrifflosen Synthesis wird
nicht der Verzicht auf jede Einheit angestrebt, sondern eine Einheit, die sich
selbst als nicht abschlusshaft weiß.78 Wie Hölderlin lässt Landauer die sprach-
liche Logik nicht einfach zerfallen, sondern hält an ihrer synthetischen Funkti-
on fest, zielt dabei aber auf »Synthesis vom anderen Typ, deren sprachkritische
Selbstreflexion«.79
Sprachkritik geriert sich bei Landauer im Anschluss an Mauthner als Kritik
am abstrakten, bestimmenden Urteil, das von außen an die Dinge herantritt und
sie einem durch Abstraktion gewonnenen Begriff subsumiert. Das Ganze als
Zusammenhang solcher abstrakt gewonnener Begriffe realisiert sich nur als
Herrschaftsanspruch gegenüber der Mannifaltigkeit. Die starren, »substantivi-
schen Allgemeinbegriffe«80 werden dementsprechend wegen ihrer »Schablo-

70 Landauer, Skepsis und Mystik (wie Anm. 1), S. 146.


71 Ebd., S. 153.
72 Ebd., S. 144.
73 Ebd.
74 Adorno, Parataxis (wie Anm. 43), S. 471.
75 Ebd.
76 Vgl. ebd.
77 Vgl. ebd., S. 472.
78 Vgl. ebd., S. 477.
79 Ebd., S. 476.
80 Landauer, Skepsis und Mystik (wie Anm. 1), S. 149.
84 Teil I

nenhaftigkeit«81 zurückgewiesen. Demgegenüber versucht Landauer, Gesamt-


oder Allgemeinheit als begriffslose Synthesis zu denken, für die musikalisch
interpretierte Sprachformen das Modell liefern. Diese ermöglichen Beziehun-
gen, ohne Bedeutungen festzulegen. Die nach diesem Modell gedachten Ge-
samtheiten sind vom Prozess ihrer Bildung nicht zu lösen – inhaltlich nicht
festlegbar sind die so gedachten Gesamtheiten immer im Werden.82
So viel zu Landauer als radikalem Sprachkünstler. Skepsis und Mystik ist
jedoch nicht frei von Remythologisierungen, denn Landauer begnügt sich nicht
mit musikalisch konzipierten Gesamtheiten. Er kann sich nicht zurückhalten,
die von ihm postulierten »Zusammengehörigkeiten und Gemeinschaften«,83
die über das »autonome Individualgefühl«84 hinausweisen sollen, doch auch
inhaltlich zu füllen. Und auch wenn Landauer klarstellt, dass es sich um Postu-
lat und Phantasie, um »Bilder der Welt«85 handelt, in denen die Subjekt-
Objekt-Differenz aufgelöst ist und eine mystische Einheit von Ich und Welt
aufscheint, so schreibt er doch nicht im Modus des »Als ob«, sondern durchaus
thetisch. Der Versuch, mit reflektierten Mythen, mit »ungeglaubten Illusi-
on[en]«86 zu operieren, führt zum Widerspruch zwischen dem behaupteten
Fiktionscharakter und der thetischen Schreibweise, die mystische Intuition mit
naturwissenschaftlicher Erkenntnis mischt. Remythologisierung ist die Folge
hiervon. So behauptet Landauer in loser Anlehnung an die Evolutionsbiologie
Ernst Haeckels das »Weiterleben der Vorfahrenwelt«87 in den Nachfahren,
eine »ewig lebendige Ahnengemeinde«,88 zu der er auch die Tierwelt, ja, sogar
das »angeblich Unorganische«89 rechnet.90 Begreift Haeckel die Ontogenie als
eine verkürzte Wiederholung der Phylogenie, so formuliert Landauer ganz

81 Ebd., S. 28.
82 Landauers Ansatz, den Zusammenhang von Einzelnem und Allgemeinem, politisch:
von Individuum und Gemeinschaft, auf sprachpoetischer Grundlage zu denken, habe
ich andernorts mit der Ontologie Spinozas verglichen. Spinozas Unterscheidung
zwischen abstrakten Universalbegriffen und Gemeinbegriffen (notiones communes)
und Landauers Differenzierung zwischen schablonenhaften Gattungsnamen und
sprachpoetisch erzeugten Allgemeinheiten laufen bis zu einem gewissen Grad paral-
lel (vgl. Elke Dubbels: Sprachkritik und Ethik: Landauer im Vergleich mit Spinoza.
In: Ulrich Kinzel [Hg.]: An den Rändern der Moral. Studien zur literarischen Ethik.
Ulrich Wergin gewidmet. Würzburg: Königshausen & Neumann 2008, S. 103–115).
83 Landauer, Skepsis und Mystik (wie Anm. 1), S. 28.
84 Ebd., S. 30.
85 Ebd., S. 17.
86 Ebd., S. 4.
87 Ebd., S. 29.
88 Ebd., S. 33.
89 Ebd., S. 41.
90 Vgl. Karl Eibl: Darwin, Haeckel, Nietzsche. Der idealistisch gefilterte Darwin in der
deutschen Dichtung und Poetologie des 19. Jahrhunderts. Mit einer Hypothese zum
biologischen Ursprung der Kunst. In: Henne und Kaiser, Fritz Mauthner – Sprache,
Literatur, Kritik (wie Anm. 47), S. 87–108, besonders S. 94.
3 Sprachtheorie zwischen Skepsis, Mystik und Dialog 85

ähnliche Gedanken, wenn er von einer »Erbgemeinschaft[…]«91 bzw. einer


»Körpergemeinschaft«92 mit »unseren menschlichen und tierischen Vorfah-
ren«,93 deren »paläontologische Reliquien«94 in uns leben, spricht. Mystik und
Evolutionsbiologie assoziiert Landauer auch in seinem Vorwort zu den von
ihm ins Hochdeutsche übertragenen mystischen Schriften Meister Eckharts.
Der Lehre der Realisten anhängend, habe Eckhart abstrakten Begriffen Realität
beigemessen, was ihn dazu gebracht habe, »Gattung und Art als eine höhere
Wirklichkeit anzusehen als die Individuen; so hat er starke Vorahnungen –
trotz primitiver Naturkenntnisse – der Theorien, die teils infolge, teils entgegen
den Lamarck-Darwinschen Aufstellungen bei uns im Werden sind.«95
In der Vorstellung einer »Körpergemeinschaft« zwischen den gegenwärti-
gen und vergangenen menschlichen und tierischen Geschlechtern klingt das
romantische Gemeinschaftsmodell Adam Müllers an. In den Elementen der
Staatskunst (1807) hat Müller die »erhabene Gemeinschaft einer langen Reihe
von vergangenen, jetzt lebenden und noch kommenden Geschlechtern, die alle
in einem großen und innigen Verbande zu Leben und Tod zusammenhan-
gen«,96 beschworen. Im unmittelbaren Gegensatz zum Anarchisten Landauer
ist Müller freilich Staatstheoretiker. Für Müller soll die besungene Gemein-
schaft der Geschlechter die Dauer und Festigkeit der staatlichen Institutionen
verbürgen. Gerade umgekehrt geht es Landauer darum, gegen die »Zufallsge-
meinschaft der Autorität«97 die »große Gemeinschaft der Lebendigen«, die
sich über die Zeit- wie auch die Gattungsgrenzen hinwegsetzt, zu mobilisieren:
Was der Mensch von Hause aus ist, was sein Innigstes und Verborgenstes, sein un-
antastbares Eigentum ist, das ist die große Gemeinschaft der Lebendigen in ihm, das

91 Landauer, Skepsis und Mystik (wie Anm. 1), S. 34.


92 Ebd., S. 35.
93 Ebd., S. 34.
94 Ebd.
95 Meister Eckharts Mystische Schriften (wie Anm. 9), S. 6. Schon bevor Landauer die
Mystik für sich entdeckte, hat er die Evolutionsbiologie religiös aufgeladen. Der
frühe Aufsatz »Religiöse Erziehung« verkündet den Glauben an das Menschenge-
schlecht und dessen Weiterentwicklung als Inhalt einer neuen darwinistisch religiö-
sen Erziehung. Landauer phantasiert hier eine »Weiterbildung des menschlichen
Typus« auf naturwissenschaftlicher Grundlage, der das Individuelle und »Ausarten-
de« aufzuopfern sei (Gustav Landauer: Religiöse Erziehung. In: Freie Bühne für
modernes Leben 2 [11.02.1891], H. 6, S. 134–138, hier: S. 136). Eine solche pseu-
do-biologistische Abwertung des Individuellen steht im Gegensatz zu Landauers
späteren Schriften. Auch tauchen später keine darwinistisch inspirierten Planspiele
für die Zukunft des Menschengeschlechts mehr auf.
96 Adam Müller: Die Elemente der Staatskunst. Hg. von Jakob Baxa. Bd 1. Jena: Fi-
scher 1922, S. 145, zitiert nach: Manfred Riedel: Gesellschaft, Gemeinschaft. In: Ot-
to Brunner, Werner Conze und Rainhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbeg-
riffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd 2.
Stuttgart: Klett 1975, S. 801–862, hier: S. 829.
97 Landauer, Skepsis und Mystik (wie Anm. 1), S. 37.
86 Teil I

ist sein Geblüt und seine Blutgemeinde. Blut ist dicker als Wasser; die Gemein-
schaft, als die das Individuum sich findet, ist mächtiger und edler und urälter als die
dünnen Einflüsse von Staat und Gesellschaft. Unser Allerindividuellstes ist unser
Allerallgemeinstes. Je tiefer ich in mich selbst heimkehre, um so mehr werde ich der
Welt teilhaftig.98

Landauer denkt die Gemeinschaft der Lebendigen als dynamischen Zusam-


menhang und nicht als mechanischen Determinismus, den er für die »Herden-
moral«,99 für Gesellschaft und Staat reserviert hat. Die »große Gemeinschaft
der Lebendigen« lässt Landauer in mystischer Gleichzeitigkeit existieren, die
das Prinzip der linearen Zeitfolge aufhebt und sich damit auch gegen evolutio-
näre Fortschrittsparadigmen sperrt. Das Gemeinsame dieser Gemeinschaft soll
nun im schöpferischen Prinzip selbst liegen. So erklärt sich das scheinbare
Paradox, unser Allerindividuellstes sei unser Allerallgemeinstes. Landauers
Vorstellung einer schöpferischen Erb-, Körper- und Blutsgemeinschaft ist
universal ausgerichtet. Kulturzionistisch umgedeutet taucht diese Vorstellung
in Bubers Drei Reden über das Judentum wieder auf, wo Buber ein inneres
Judentum konstruiert und auf das Blut als Medium einer transgenerationalen
jüdischen Gemeinschaft abhebt (vgl. Kap. II.2.2).
Der Weg von der Sprachskepsis zur Mystik führt über die Essentialisierung
des Unaussprechlichen, das zum mystischen Weltgehalt erklärt wird. In Skep-
sis und Mystik ordnet Landauer die unaussprechliche Essenz, an die es nur
»bildmäßige Annäherungsversuche«100 geben könne, universalen Gemein-
schaften (»Menschengeschlecht, Art, Weltall«)101 zu und stellt sie unter den
skeptischen Vorbehalt, dass es sich hierbei um Postulat und Phantasie handeln
soll – ein Vorbehalt, über den er sich gleichwohl mit seiner thetischen
Schreibweise hinwegsetzt. Landauers kulturanarchistischer Verwertung der
Mystik steht Bubers kulturzionistische Rezeption der jüdischen Mystik gegen-
über. Die nationale Interpretation der Mystik unterstellt entweder ein kollekti-
ves Autorsubjekt102 oder behandelt die Nation selbst als mystische Größe, als
98 Ebd., S. 38.
99 Ebd., S. 37.
100 Ebd., S. 31.
101 Ebd., S. 29.
102 So beschreibt Buber Die Legende des Baalschem als Volksdichtung, die er aus
»Volksbüchern, aus Heften und Flugblättern, zuweilen auch aus lebendigem Mun-
de« (Martin Buber: Die Legende des Baalschem. Frankfurt a. M.: Rütten & Loe-
ning 1908, S. II) empfangen habe. Das jüdische Volk konstruiert Buber als Volk
von Dichtern, als Gemeinschaft von Erzählern, aber auch des Bluts: »Ich trage in
mir das Blut und den Geist derer, die sie [die chassidische Legende; Anm. E. D.]
schufen, und aus Blut und Geist ist sie in mir neu geworden. Ich stehe in der Kette
der Erzähler, ein Ring zwischen Ringen, ich sage noch einmal die alte Geschichte,
und wenn sie neu klingt, so schlief das Neue in ihr schon damals, als sie zum ers-
ten Mal gesagt wurde« (ebd.). In seiner Besprechung der Legende des Baalschem
von 1910 unterstreicht auch Landauer, dass wir hier »ein Werk des Kollektiven
haben […], Denken und Dichten, das Volk in sich trägt« (Gustav Landauer: Die
3 Sprachtheorie zwischen Skepsis, Mystik und Dialog 87

unnennbare, dem Begriff entgehende mystische Einheit. Beide Spielarten der


Nationalmystik finden sich beim frühen Buber. Sie begegnen auch in Landau-
ers Besprechungen von Bubers mystischen Schriften, wie Landauer überhaupt
auch romantischen Vorstellungen von Volk, Gemeinde und Familie anhängt.
Wie sich diese zu seinem universal ausgerichteten Kulturanarchismus verhal-
ten, werden wir im Kapitel II.3 über »Sozialismus und Religion bei Gustav
Landauer« weiterverfolgen.

3.2 Von der Evokation zum Vokativ oder vom messianischen


Ethos zur messianischen Ethik: Zur Sprachphilosophie
Martin Bubers

Auch Martin Bubers Sprachphilosophie entfaltet sich vor dem Hintergrund der
Sprachkritik um die Jahrhundertwende. Sowohl mit Mauthner als auch mit
Hofmannsthal, dessen Chandos-Brief bereits von den Zeitgenossen als poeti-
sche Adaption der Sprachkritik Mauthners gewertet wurde, war Buber be-
kannt, mit Gustav Landauer seit der gemeinsamen Friedrichshagener Zeit
befreundet. Bubers Sprachphilosophie bleibt »umrisshaft und selbst im Spät-
werk weitgehend an der Peripherie seines Denkens«.103 Eine systematische
Sprachphilosophie wird man vergebens bei Buber suchen. Stattdessen finden
sich sprachphilosophische Reflexionen verstreut in verschiedenen Schriften,
oftmals allerdings auch nur implizit. Abgesehen von Bubers programmatischer
Rede über die hebräische Sprache auf der Konferenz für hebräische Sprache
und Kultur in Berlin 1909104 sowie von seinen Notizen zur Übersetzung der
Hebräischen Bibel gibt es nur wenige Texte, in denen die Sprache zentraler
Gegenstand ist. Buber reflektiert über die Sprache zumeist nur im Zusammen-
hang mit anderen Themen. So verschränkt sich auch Bubers Thematisierung
des jüdischen Messianismus mit sprachphilosophischen Reflexionen.
In der jüdischen Mystik entdeckt Buber die Transformation des jüdischen
Messianismus zum Ethos. Die lurianische Kabbala habe den »ethisch-ekstati-

Legende des Baalschem. In: ders., Werkausgabe [wie Anm. 7], S. 158f., hier:
S. 159).
103 Asher Biemann: Einleitung. In: Martin Buber: Werkausgabe. Hg. von Paul Men-
des-Flohr und Peter Schäfer. Bd 6 (Sprachphilosophische Schriften), bearb., einge-
leitet u. kommentiert von Asher Biemann. Gütersloh: Gütersloher Verl.-Haus
2003, S. 9–68, hier: S. 9.
104 Vgl. Martin Buber: Die hebräische Sprache. In: Ders.: Die Jüdische Bewegung.
Bd 1. Berlin: Jüdischer Verlag 1916, S. 175–191. Vgl. zu Bubers kulturzionisti-
schem hebräischen Sprachkonzept und allgemein zu seiner Position in der Sprach-
debatte zwischen Zionisten und assimilierten liberalen Juden um Hebräisch, Jid-
disch und Deutsch: Arndt Kremer: Deutsche Juden – deutsche Sprache. Jüdische
und judenfeindliche Sprachkonzepte und -konflikte 1893–1933. Berlin, New York:
de Gruyter 2007 (Studia linguistica Germanica; 87), besonders S. 364–401.
88 Teil I

schen Akt des Einzelnen als Mitschaffen an der Erlösung«105 verkündet, dieses
»Mitschaffen« aber noch auf einen exklusiven Kreis von Menschen und deren
zumeist rituelle Handlungen beschränkt. Ins Volk gedrungen und als allgemei-
nes Ethos verstanden worden sei diese Lehre erst durch den Chassidismus, so
Buber. Um den sprachphilosophischen Implikationen des »ethisch-ekstatischen
Aktes« auf die Spur zu kommen, ist grundsätzlich nachzuvollziehen, wie Bu-
ber in der Einleitung zu den Geschichten des Rabbi Nachman (1906) die Ge-
schichte der jüdischen Mystik im Verhältnis zum jüdischen Messianismus
skizziert. Denn in diesem Zusammenhang geht Buber auch auf Form und
Funktion der Sprache bei den Mystikern ein. In der Einleitung zu den Ge-
schichten des Rabbi Nachman gibt Buber das messianische Ethos noch als
jüdisch nationales Ethos zu lesen. In seiner späteren dialogischen Phase nach
dem Ersten Weltkrieg verändert sich dies. Der Weg von Bubers Schreiben, den
dieses Kapitel nachzeichnen möchte, führt von der Mystik zum Dialog, vom
messianischen Ethos zur messianischen Ethik und von der Evokation zum
Vokativ.
Die Geschichten des Rabbi Nachman stellen Bubers erste Nacherzählung
chassidischer Geschichten und zugleich seine erste Buchveröffentlichung dar,
die ihm zu größerer Bekanntheit verhalf. Buber hebt gleich zu Beginn seiner
Einleitung die große Tradition jüdischer Mystik hervor, die man lange Zeit zu
leugnen versucht habe, wohingegen sie heute nicht mehr angezweifelt werden
könne. Mit dieser These stellt Buber sich sowohl gegen die Wissenschaft des
Judentums des 19. Jahrhunderts, die das Judentum als rationale Religion, frei
von Mystizismus und Aberglauben, interpretierte,106 als auch gegen das anti-
semitische Vorurteil, dass das Judentum keine Begabung zur Innerlichkeit und
a fortiori zur Mystik habe.107 In ihrer hergebrachten Form sei die mystische
Tradition, so Buber, zwar nicht mehr vorhanden. Dadurch habe sie aber nicht
jedwede Bedeutung für die Gegenwart verloren:
Freilich werden wir sie nicht mehr so ansehen dürfen, wie ihre alten Meister und
Jünger es taten: als ›Kabbala‹, das heißt: als Übergabe der Lehre von Mund zu Ohr
und wieder von Mund zu Ohr, in solcher Weise, daß jedes Geschlecht sie empfinge,
aber jedes in einer weiteren und reicheren Offenbarung und Ausdeutung, bis am En-
de der Zeiten die restlose Wahrheit verkündet würde; doch werden wir ihre Einheit,

105 Martin Buber: Die Geschichten des Rabbi Nachman. Frankfurt a. M.: Rütten &
Loening 1906, S. 10f.
106 Vgl. Michael Brenner: Jüdische Kultur in der Weimarer Republik. Übers. von
Holger Fliessbach. München: Beck 2000, S. 40.
107 Vgl. Paul Mendes-Flohr: Nachwort. In: Buber, Die Geschichten des Rabbi Nach-
man (wie Anm. 105), S. 149–160, besonders S. 150f., sowie Yossef Schwartz: The
Politicization of the Mystical in Bubers and his Contemporaries. In: Michael Zank
(Ed.): New Perspectives on Martin Buber. Tübingen: Mohr Siebeck 2006 (Religion
in philosophy and theology; 22), S. 205–218. Schwartz zitiert Adolf Lasson: »Ju-
dentum und Mystik sind sich ausschließende Gegensätze« (zitiert nach: ebd.,
S. 212).
3 Sprachtheorie zwischen Skepsis, Mystik und Dialog 89

ihre Besonderheit und ihre starke Bedingtheit durch die Art und das Schicksal des
Volkes, aus dem sie heraufwuchs, anerkennen müssen.108

Buber beschreibt hier nicht nur das Abreißen der mündlichen Tradition und
deutet damit die Probleme an, vor die er bei der Aufzeichnung der chassidi-
schen Geschichten gestellt ist. Diese kurze Passage enthält noch weitaus mehr:
Sie zeigt die Richtung an, die Buber bei der Aneignung dieser abgerissenen
Tradition verfolgt. Mit der mündlichen Tradition ist für Buber zugleich die
religiöse fraglich geworden. Denn die mündliche Tradition gibt Buber zugleich
als religiöse zu lesen, als »Offenbarung«, deren »restlose Wahrheit« am »Ende
der Zeiten« versprochen ist. Die Heutigen – in Bubers Diktion: »wir« – können
sie nicht mehr so auffassen. An die Stelle von Thora, Offenbarung und Wahr-
heit bei den »alten Meistern« rückt bei Buber »die Art und das Schicksal des
Volkes, aus dem sie [die Überlieferung; Anm. E. D.] herauswuchs«. Bereits
hier, ganz am Anfang von Bubers erster Veröffentlichung zur jüdischen Mys-
tik, die er als Nationalmystik präsentiert, ist der Ort der Politisierung der Mys-
tik bei Buber auszumachen.109
Die Politisierung der Mystik verläuft bei Buber über zwei recht unterschied-
liche theoretische und zeitgeschichtliche Achsen: Zum einen ist hier auf die
Religionssoziologie zu verweisen, die dem allgemeinen, strukturellen Zusam-
menhang von Religion und Gesellschaft nachgeht, wobei auf Buber besonders
Georg Simmels Arbeiten einen Einfluss ausübten.110 Zum anderen ist der Kon-
text der Neoromantik hervorzuheben, die die mystische Überlieferung des
christlichen Mittelalters wie auch der orientalischen Religionen feierte, wurde
sie doch als Ausdruck einer metaphysischen Erfahrung der Ureinheit der Welt
gerühmt, so etwa vom Verleger und neoromantischen Mäzen Eugen Diede-
richs. Trotz dessen antisemitischer Vorurteile standen Buber und Landauer mit
Diederichs im Kontakt. Nicht zuletzt diesem wollte Buber die mystische Tradi-
tion des Judentums dokumentieren, gehörte Diederichs doch zu denen, die eine
solche Tradition im Rahmen des Judentums anzweifelten.111 Im Kontext der
108 Buber, Die Geschichten des Rabbi Nachman (wie Anm. 105), S. 5.
109 In seinem Vorhaben, die exakte Stelle in Bubers Schriften zu lokalisieren, an der
die Mystik bei Buber politisiert wird, hat Yossef Schwartz jüngst diesen Punkt
merkwürdigerweise verfehlt (vgl. Schwartz, The Politicization of the Mystical [wie
Anm. 107], S. 212ff.) Schwartz kann erst nach dem Ersten Weltkrieg eine klare
politische und soziale Formulierung der Mystik in Bubers Der Heilige Weg fest-
stellen (vgl. ebd., S. 215).
110 Vgl. Paul Mendes-Flohr: Von der Mystik zum Dialog. Martin Bubers geistige
Entwicklung bis hin zu »Ich und Du«. Übers. von Dafna A. von Kries. Königstein
i. Ts.: Jüdischer Verlag 1979, besonders S. 83–87.
111 Kurz nach Erscheinen der Geschichten des Rabbi Nachman schickt Buber ein
Exemplar an Diederichs und schreibt: »Sie werden sich vielleicht erinnern, daß wir
einmal – vor mehreren Jahren – über die Frage der Existenz einer jüdischen Mystik
miteinander gesprochen haben. Sie wollten nicht recht daran glauben. Mit dem
Nachman-Buche habe ich eine Serie von Dokumenten dieser Existenz eröffnet«
(Martin Buber an Eugen Diederichs 21.01.1907. In: Martin Buber: Briefwechsel
90 Teil I

Neoromantik erfolgte die Politisierung der Mystik zur Nationalmystik.112 Hier


ist eine Parallele zwischen Bubers Aneignung der chassidischen Mystik und
der zeitgleichen Wiederentdeckung christlicher Mystiker zu verzeichnen.113 In
diesen Zusammenhang gehört auch, dass Buber die »Geschichten« des Rabbi
Nachman als »Märchen« klassifiziert,114 um einen spezifischen Zusammen-
hang mit der jüdischen Volksliteratur herzustellen. Rabbi Nachman habe eine
»Tradition jüdischer Volksmärchen«115 vorgefunden und knüpfe an sie an, sei
aber der erste wirkliche »Märchendichter unter den Juden«.116 Bubers Kon-
struktion ist Goethes Unterscheidung von Kunstmärchen und Volksmärchen
nachgebildet, insofern hier wie dort das Kunstmärchen auf dem Volksmärchen
aufbauen soll.117 So stehen die Geschichten des Rabbi Nachman bei Buber

aus sieben Jahrzehnten. Hg. von Grete Schaeder. Bd 1. Heidelberg: Schneider


1972, S. 253f.). Im Verlag Eugen Diederichs ist später Bubers Anthologie mysti-
scher Texte aus unterschiedlichen Religionen erschienen (vgl. Martin Buber: Eks-
tatische Konfessionen. Jena: Diederichs 1909).
112 Mosse spricht in diesem Zusammenhang von »national mystique« (vgl. George L.
Mosse: The Influence of the Volkish Idea on German Jewry. In: Ders.: Germans
and Jews. The Right, the Left, and the Search for a »Third Force«. London: Orbach
& Chambers 1971, S. 77–115, hier: S. 87).
113 Vgl. ebd., S. 85: »Yet the similarity between Buber’s rediscovery of the Hasidism
and the contemporary German revival of mystics like Meister Eckhart and Jacob
Böhme is too striking to be ignored. Germans also wanted to go beyond ›liberal‹ or
›orthodox‹ Protestantism to an earlier heritage which seemed more dynamic be-
cause it was less rationalistic, less fossilized. A mystic like Böhme had posited a
definitive and emotional starting point, rooted in nature, for the ›overcoming‹ of
the present world. Such German mystics seemed to intuit cosmic forces linked to
the German Volk and to nature as well. The soul was seen as a bridge between
these two regions, just as it formed the link between them and the ideology of the
Youth Movement. Buber’s Hasidism performed a similar function by embodying a
Judaism which was not rationalized, not fossilized, and surely not quiescent.
Moreover, the dynamic nature of Hasidism arose from a mysticism linked to a re-
vived love for the Volk. The Hasidim represented a heritage with which modern
Jews could forge a meaningful link.«
114 Vgl. Buber, Die Geschichten des Rabbi Nachman (wie Anm. 105), S. 40f., sowie
ders.: Jüdische Märchen. In: General-Anzeiger für die gesamten Interessen des Ju-
dentums 4/35 (27. August 1905), S. 5f.
115 Buber, Die Geschichten des Rabbi Nachman (wie Anm. 105), S. 41.
116 Ebd.
117 Vgl. Martina Urban: Hermeneutics of Renewal: A Study of the Hasidic Antholo-
gies of Martin Buber. Die Geschichten des Rabbi Nachman (1906) and Die Legen-
de des Baalschem (1908). Diss. Univ. Jerusalem 2002, S. 115. Urban hat ihre Dis-
sertation in einer stark überarbeiteten und gekürzten Version unter dem Titel
Aesthetics of Renewal. Martin Buber’s Early Representation of Hasidism as Kul-
turkritik, Chicago, London: Univ. of Chicago Press 2008, veröffentlicht. Über das
Märchen schreibt sie hier im Zusammenhang mit dem deutschen (neo-
)romantischen Nationalismus und seinen Anthologie-Projekten, in dem auch Bu-
bers Sammlungen jüdischer Legenden und »Märchen« stehen (vgl. ebd., S. 37–39).
3 Sprachtheorie zwischen Skepsis, Mystik und Dialog 91

zugleich für Kontinuität wie Erneuerung und stimmen mit seinem kulturzionisti-
schen Programm überein. Dass es Buber mit der Rede vom »Märchen« weniger
um eine formanalytisch akkurate Gattungseinordnung als um eine kulturpoliti-
sche Geste ging, zeigt sich nicht zuletzt darin, dass Buber im Hinblick auf die
Geschichten des Rabbi Nachman mal von »Geschichten«, mal von »Legenden«
und dann eben von »Märchen« spricht. Wie lax Buber mit dem »Märchen« als
Gattung umgeht, wird auch darin deutlich, dass ihm selbst die antike Aggada-
und Midrasch-Literatur als »Märchenliteratur« gilt.118
Für den jungen Buber ist also das jüdische Volk und nicht die jüdische Re-
ligion Grund der jüdischen Mystik, in dem deren Einheit und Besonderheit
wurzeln soll. Auf der Linie dieser Argumentation schreibt Buber dem jüdi-
schen Volk bestimmte Eigenschaften zu, um die Spezifik der jüdischen Mystik
zu erklären. Als »ursprünglichen Eigenschaft des Volkes« deklariert Buber das
Pathos. Es soll die »Kraft der jüdischen Mystik« ausmachen.119 Das Pathos
umschreibt Buber wiederum auf höchst eigenwillige Weise. Es gebe der Seele
des Juden
einen Kern, eine Sicherheit, eine Substanz, allerdings keine sensorische, objektive,
sondern eine motorische, subjektive. […] Ich vermag es [das Pathos; Anm. E. D.]
nicht zu analysieren, noch auch in einer Definition zu fassen. Es ist ein eingeborenes
Eigentum, das sich einst mit allen anderen Qualitäten des Stammes aus dessen Orte
und Geschick heraus gebildet hat. Will man es immerhin umschreiben, so darf man
es vielleicht als Wollen des Unmöglichen bezeichnen. Es streckt die Arme aus, das
Schrankenlose zu umfangen. Es trägt eine schlechthin unerfüllbare Forderung, wie
das Pathos des Mose und der Propheten die Forderung der absoluten Gerechtigkeit,
wie das Pathos Jesu oder Pauli die Forderung der absoluten Liebe, oder eine
schlechthin unerfüllbare Absicht, wie das Pathos Spinozas die Absicht, das Sein zu
formulieren, oder ein schlechthin unerfüllbares Verlangen, wie das Pathos Philons
und der Kabbala das Verlangen nach der Vermählung mit Gott, die im Sohar ›Siw-
wug‹ genannt wird. So wird die Seele, die in den wirklichen Dingen keinen Boden
finden kann, von ihrer Leere und Unfruchtbarkeit erlöst, indem sie in dem Unmögli-
chen Wurzeln schlägt.120

Diese komplexe Passage ist nicht nur ein frühes Zeugnis für Bubers Bemühen,
ein jüdisch-orientalisches, subjektiv-motorisches Bewusstsein von einem ob-
jektiv-sensorischen griechisch-westlichen Bewusstsein zu unterscheiden,121

118 Vgl. Buber, Jüdische Märchen (wie Anm. 114), S. 5.


119 Vgl. Buber, Die Geschichten des Rabbi Nachman (wie Anm. 105), S. 8.
120 Ebd., S. 7f.
121 Vgl. Urban, Hermeneutics of Renewal (wie Anm. 117), S. 118. Dieses Bemühen
findet seinen markantesten Ausdruck in einer Prager Rede Bubers von 1912, die
zuerst 1915 in Der Neue Merkur unter dem Titel »Der Geist des Orients« er-
scheint. Buber überarbeitet den Artikel für einen Sammelband, in dem der Titel
»Der Geist des Orients und das Judentum« lautet (vgl. Martin Buber: Der Geist des
Orients und das Judentum. In: Ders.: Vom Geist des Judentums. Reden und Ge-
leitworte. Leipzig: Wolff 1916, S. 9–48; vgl. hierzu auch Martin Treml: Einleitung.
In: Martin Buber: Werkausgabe. Hg. von Paul Mendes-Flohr und Peter Schäfer.
92 Teil I

sondern sie enthält auch wesentliche Momente der Sprachphilosophie des


jungen Buber. Das Pathos ist eines der drei redetechnischen Überzeugungsmit-
tel, die Aristoteles in der Rhetorik beschreibt. Hierzu gehören neben dem Pa-
thos als dem durch die Rede erzeugten Seelenzustand des Zuhörers das Ethos,
d. h. der Charakter des Redners, und der Logos als argumentativer Sachbezug
der Rede.122 Das Pathos wird bei Aristoteles der Seite des Adressaten zuge-
wiesen, insofern es als dessen Versetzung in einen bestimmten Seelenzustand
beschrieben wird.123 Es wird mit solchen Regungen verbunden, die die Men-
schen und ihre Entscheidungen verändern. Aristoteles’ Analyse des Pathos
schließt drei Faktoren ein: die Seelenverfassung der Person, das Objekt des
Pathos bzw. des resultierenden Handlungsimpulses und den auslösenden Sach-
verhalt. In diese drei Faktoren lässt sich auch das von Buber zum »eingebore-
ne[n] Eigentum« des jüdischen Volkes erklärte Pathos auseinanderlegen. Frei-
lich verwahrt Buber sich selbst dagegen, das spezifisch jüdische Pathos zu
analysieren. Er umschreibt es mit dem Bild dessen, der »seine Arme aus-
streckt, das Schrankenlose zu umfangen«. Evoziert ist die Sehnsucht nach
einer unbeschränkten und absoluten Vereinigung. Das Objekt dieses Pathos ist
kein empirischer, in Raum und Zeit begrenzter Gegenstand, sondern das
»Schrankenlose«. Der Handlungsimpuls, den dieses Pathos bei Buber beglei-
tet, ist das »Wollen des Unmöglichen«. Für dieses Pathos gibt es schließlich in
Bubers Darstellung der chassidischen Mystik keinen ausgezeichneten Auslö-
ser, denn es ist »dem Menschen an jedem Ort und zu jeder Zeit gegeben, sich
mit Gott zu vereinigen«.124
Buber trennt die Diskussion des Pathos von der Stillehre. Insbesondere geht
es ihm mit dem Pathos um die expressive und konative Dimension der Sprache

Bd 1 [Frühe kulturkritische und philosophische Schriften 1891–1924], bearb., ein-


geleitet u. kommentiert von Martin Treml. Gütersloh: Gütersloher Verl.-Haus
2001, S. 13–91, hier: S. 79f., sowie Paul Mendes-Flohr: Fin de Siècle Orientalism,
the Ostjuden, and the Aesthetics of Jewish Self-Affirmation. In: Ders: Divided
Passions. Jewish Intellectuals and the Experience of Modernity. Detroit: Wayne
State Univ. Press 1991 [The culture of Jewish modernity], S. 77–132, besonders
S. 86–88). Vgl. zur folgenreichen poetischen und historischen »Orientalisierung«
des Alten Testaments und der Hebräer im 18. Jahrhundert bei Herder und anderen
auch Andrea Polaschegg: Der andere Orientalismus. Regeln deutsch-morgenländi-
scher Imagination im 19. Jahrhundert. Berlin, New York: de Gruyter 2005, beson-
ders S. 157–177.
122 Vgl. Aristoteles: Rhetorik. Hg. u. übers. von Gernot Krapinger. Stuttgart: Reclam
2007 (Reclam Universal-Bibliothek; 18006), S. 12 (I, 2, 1356 a).
123 Vgl. M. Kraus: Pathos. Antike. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. von
Gert Ueding. Bd 6. Tübingen: Niemeyer 2003, Sp. 689–701, hier: Sp. 693: »Seine
[des Pathos; Anm. E. D.] Bedeutung liegt in der Fähigkeit zur raschen Modifikati-
on von Urteilen im Zuhörer durch seine eigene schnelle Veränderlichkeit.«
124 Buber, Die Geschichten des Rabbi Nachman (wie Anm. 105), S. 15.
3 Sprachtheorie zwischen Skepsis, Mystik und Dialog 93

im Unterschied zu ihrer referentiellen Funktion.125 So wenig Buber das Pathos


definieren oder analysieren mag, so wenig gibt er es als Gegenstand der Mittei-
lung in der mystischen Rede zu denken. Vom Worte drohe ihm vielmehr Ge-
fahr. »Sich mitteilend, weil es [das Pathos; Anm. E. D.] nicht anders kann,
fühlt es doch die Unzuglänglichkeit aller Mitteilung, fühlt die Unaussprech-
lichkeit des Erlebnisses, und glüht auf in der Angst, von der eigenen Rede
geschändet zu werden.«126 Mit dem »Erlebnis« hat Buber das Pathos mit der
Kategorie verbunden, die zentral sowohl für seine frühe Erkenntnistheorie als
auch für sein Verständnis der Mystik ist. In der Nachfolge seines Lehrers Wil-
helm Dilthey unterscheidet er zwischen Erfahrung und Erlebnis. Die Erfahrung
bezeichnet eine empirische, raum-zeitliche Erkenntnis der Welt, die durch
unsere Sinne vermittelt ist. Im Erlebnis hingegen soll es eine unmittelbare
Begegnung mit dem Lebensstrom geben, der zeitlich und logisch der sinnli-
chen Erfahrung und rationalen Erkenntnis vorausliegt.127 Das Erlebnis ver-
spricht unmittelbaren Zugang zu den Dingen; wir erkennen sie laut Buber
»von ihnen aus; jedes Ding von ihm aus; aber nicht aus seiner Erscheinung,
sondern aus dem Wesen dieses Dinges, aus der Einheit dieses Dinges«.128
Das Erlebnis ist bei Buber Erlebnis der Einheit in verschiedenen Hinsichten:
Erlebnis der Einheit des Dinges; Erlebnis der Einheit der Welt, das wieder-
um mit dem Erlebnis der Einheit des Selbst zusammenfällt;129 im mystischen
Kontext schließlich Erlebnis der Vereinigung mit Gott. Erlebnis ist ein Erken-
nen, das »die Ganzheit des Wesens«130 umfassen soll, d. h. auch die emotiona-
len, nicht-rationalen Kräfte. Bei Buber meint Erlebnis letztlich eine innere,
affektive Erfahrung, der ein numenaler Erkenntniswert zugeschrieben wird.131
Indem Buber in der Einleitung zu den Geschichten des Rabbi Nachman das
Erlebnis mit dem Pathos verbindet, begründet er es nicht nur affektiv, sondern
bindet es an eine nicht-referentielle, nicht-semantische Dimension der Sprache.

125 Mit der expressiven oder emotiven Funktion bezeichnet Jakobson die Ausrichtung
der Sprache auf den Sender, mit der konativen auf den Empfänger (vgl. Roman Ja-
kobson: Linguistik und Poetik. In: Ders.: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921–
1971. Hg. von Elmar Holenstein und Schelbert Tarcisius. 3. Aufl., Frankfurt a. M.:
Suhrkamp 1993 [Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft; 262], S. 83–121, beson-
ders S. 89f.).
126 Buber, Die Geschichten des Rabbi Nachman (wie Anm. 105), S. 8.
127 Vgl. Wilhelm Dilthey: Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psycholo-
gie. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd 5. 5., unveränderte Aufl., Stuttgart: Teub-
ner 1968, S. 139–240, hier: S. 170.
128 Martin Buber: Die Lehre vom Tao. In: Ders.: Werke. Bd 1. Heidelberg, München:
Kösel 1962, S. 1021–1051, hier: S. 1045.
129 Vgl. ebd., S. 1029, S. 1040f.
130 Ebd., S. 1044.
131 Vgl. Paul Mendes-Flohr: Buber’s Rhetoric. In: Ders. (Ed.): Martin Buber. A Con-
temporary Perspective. Syracuse (NY), Jerusalem: Syracuse Univ. Press 2002 (The
library of Jewish philosophy), S. 1–24, besonders S. 15f.
94 Teil I

Damit ist der Weg angezeigt, auf dem Buber versucht, der Antinomie der
Sprache zu begegnen, die sich in seiner Konzeption einstellen muss und die
Paul Mendes-Flohr wie folgt beschreibt: »Although pinioned to the phenome-
nal world, language bears the graced imprint of noumenal experience.«132 Ist
das Erlebnis auch unaussprechlich, so will es doch kommuniziert werden.
Gesucht ist eine Sprache, die das Erlebnis nicht semantisch kommuniziert,
sondern als Pathos, als Erregung oder Bewegung. Einer solchen Sprachkon-
zeption entspricht Bubers volkspsychologische These von der mehr motori-
schen als sensorischen Begabung des Juden.
Buber weist selbst darauf hin, dass diese volkspsychologische These sprach-
philosophische Implikationen hat: Da »der Jude« in seinem geistigen Leben
sehr viel intensiver reagiere als er empfange, gestalte er das Empfangene mehr
zu Wortgedanken und Begriffen statt zu Bildgedanken und Vorstellungen.
Nicht der einzelne sinnliche Gegenstand interessiere ihn, sondern die Bezie-
hung von Psyche und Kosmos, die er in mathematische Formeln und logischen
Definitionen, aber auch in Rhythmen und Melodien ausdrücke.133 Diese Pas-
sage erinnert an Landauers Abwertung der am empirischen Gegenstand orien-
tierten Raum- und Gesichtssprache zugunsten einer musikalischen Sprache,
worauf Asher Bieman hingewiesen hat.134 Buber wird aber nicht wie Landauer
die musikalische Sprache als Grundlage einer »neuen Wortkunst« und einer
neuen unsinnlichen Metaphernbildung propagieren. Die Ausführungen zum
Pathos zeigen, dass es ihm vielmehr um eine motorische, also eine bewegende
bzw. erregende Sprache zu tun ist. Nicht Landauer, sondern Buber geht es in
erster Linie um die Sprache als Stimmung oder Pathos erzeugendes Medium,
wie ich anders als Bieman sagen würde. Hierin erweist sich Buber als der
treuere Schüler Mauthners, der zwar mit der Vorstellung von Sprache als
Werkzeug der Erkenntnis aufräumt, der poetischen Sprache aber einen Vorteil
gegenüber der Sprache des Alltags und der Erkenntnis zugesteht. Denn so
wenig die Sprache für Mauthner ein Medium der Erkenntnis ist, so sehr rühmt
er sie als ein Medium der Stimmung. Das Poetische der poetischen Sprache sei
aber immer die Stimmung gewesen.135 Pathos ist bei Buber gleichwohl mehr
als Stimmung bei Mauthner, denn ersterer schreibt dem von ihm gemeinten
Pathos eine kognitive Relevanz zu, handelt es sich doch um den Affekt von
»Erlebnis« als erkenntnistheoretischer Kategorie.
Auch wenn Buber ein sehr spezielles Verständnis von Pathos hat, das bei
ihm eben nicht bloß Empfindung ist, sondern erkenntnistheoretische Bedeu-
tung hat, so richtet er den Fokus doch, wie die klassische Rhetorik, auf ein

132 Ebd., S. 16.


133 Vgl. Buber, Die Geschichten des Rabbi Nachman (wie Anm. 105), S. 6f.
134 Vgl. Biemann, Einleitung (wie Anm. 103), S. 42; vgl. Landauer, Skepsis und
Mystik (wie Anm. 1), S. 34.
135 Vgl. Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache (wie Anm. 45), Bd 1, S. 115,
S. 123.
3 Sprachtheorie zwischen Skepsis, Mystik und Dialog 95

Sprachwirkungskonzept, indem er sich auf das Pathos konzentriert. Sprache


gilt Buber zwar insofern als unzulänglich, als sie das Erlebnis der Einheit nicht
als ein Etwas der Rede mitteilen kann, sondern es vielmehr in solcher Mittei-
lung spaltet. Sprache kommuniziert jedoch nicht nur Sinn- oder Bedeutungs-
phänomene, sondern auch Affekte, die sie im Zuhörer evoziert. Das Erlebnis
wird bei Buber wie ein Affekt, ja, man kann auch sagen: als Affekt kommuni-
ziert, denn es geht darum, mit der Sprache über sie hinauszugelangen,136 mit
der Sprache ein Nicht-Sprachliches (Erlebnis als Affekt) zu evozieren. Zutref-
fend schreibt Paul Mendes-Flohr, dass für Buber das Erlebnis durch Sprache
verraten werde, »unless it is able to evoke in others […] their own cognate
experience«.137 Auch in Rabbi Nachmans Auffassung der Sprache, wie sie
Buber wiedergibt, ist die Sprachwirkung zentral. Ohne eine Quelle an-
zugeben,138 zitiert er Rabbi Nachman: »›Das Wort bewegt eine Luft und diese
die nächste, bis es zum Menschen gelangt, der empfängt das Wort des Genos-
sen und empfängt seine Seele darin und wird darin erweckt.‹«139 Indem es die
Seele des Adressaten erwecke, wandle das Wort den Hörenden zum Sprechen-
den. In diesem Zusammenhang finden sich erste Überlegungen zum dialogi-
schen Sprechen, das Bubers spätere Aufmerksamkeit auf sich ziehen wird:
»[D]ie Seele des Schülers soll so in ihrem Tiefen erweckt und berufen werden,
dass aus ihr und nicht aus der des Meisters das Wort geboren wird, das den
obersten Sinn der Lehre kündet und so das Gespräch in sich erfüllt.«140 Buber
nennt diese Art des Lehrer-Schüler-Dialogs ein »eigentümliches Gegenstück
zur sokratischen Maieutik«.141 In dieser frühen Phase ist der Dialog allerdings
noch an eine Erweckungsrhetorik gebunden, die sich auf die Einheit des Selbst
richtet, welche der Andere als seine »Seele« erleben soll. Das im Anderen
evozierte Erlebnis der Einheit des Selbst steigert Buber dabei zum Erlebnis der
Ureinheit des Seins. Die ekstatisch erlebte »Einheit des Selbst« ist letztlich der
Grund für alle Einheiten, die Buber konstruiert (Einheit des Selbst, Einheit des
erlebten Dinges oder erlebten Gegenübers jenseits seiner empirischen Erschei-
nungsform, Einheit des Seins). Buber wird den Subjektivismus seiner Erlebnis-
bzw. Einheitsmystik in seiner späteren dialogischen Schreibphase kritisieren,

136 Biemann spricht von der »Sprachüberwindung durch Sprache«, die den »charakte-
ristischen, oft als Affekt empfundenen Stil Bubers prägte« (vgl. Biemann, Einlei-
tung [wie Anm. 103], S. 68), ohne selbst die Verbindung zu Bubers eigener Pa-
thos-Theorie herzustellen.
137 Mendes-Flohr, Buber’s Rhetoric (wie Anm. 131), S. 18.
138 Buber verzichtet in seinen beiden frühen chassidischen Anthologien komplett auf
einen wissenschaftlichen Apparat, um jede Ähnlichkeit seines Ansatzes mit dem
der Wissenschaft des Judentums zu vermeiden, die in seinen Augen einer »jüdi-
schen Renaissance« entgegenstand (vgl. Urban, Hermeneutics of Renewal [wie
Anm. 117], S. 47).
139 Buber, Die Geschichten des Rabbi Nachman (wie Anm. 105), S. 28.
140 Ebd., S. 30.
141 Ebd.
96 Teil I

hebe sie doch auch die »Anderheit des Anderen«142 in einem »Ursein ohne
Gegenüber«143 auf. Ist dieses nur eine Projektion eines affektiv erlebten Selbst,
so reduziert sich auch der Andere auf das eigene Erlebnis.144 Der frühe Buber
rühmt demgegenüber noch an der jüdischen Mystik, dass sie das »Gottfinden
[…] auf das Selbstsein«145 gestellt habe – anders als die »deutsche[] Mys-
tik«,146 die das »›Entwerden‹ der Seele«147 lehre. Mystische und nationalkultu-
relle Selbstaffirmation reichen sich so die Hand.
Wenn man sich an die drei aristotelischen Redefunktionen, Pathos, Ethos
und Logos, hält, so fällt im Hinblick auf Bubers Einleitung zu den Geschichten
des Rabbi Nachman nicht nur auf, dass Buber den Logos, den argumentativen
Sachbezug der Rede, übergeht. Genauso auffällig ist es, dass er das Pathos mit
dem Ethos, dem Charakter des Sprechenden, identifiziert. Denn er definiert ja
das Pathos als »ursprüngliche Eigenschaft«148 des jüdischen Volkes; es sei
»ein eingeborenes Eigentum, das sich einst mit allen anderen Qualitäten des
Stammes aus dessen Orte und dessen Geschick heraus gebildet hat«.149 Das
Pathos als Ethos des jüdischen Volkes beschreibt Buber sowohl als geschicht-
lich erworbene Qualität, abhängig von Ort und Geschick, als auch als »einge-
borenes Eigentum«. Hierin mag man einen frühen Hinweis auf einen unausge-
sprochenen Lamarckismus bei Buber sehen, der auch in den Drei Reden des
Judentums zum Ausdruck kommt (vgl. Kap. II.2.2). Entscheidend ist aber,
dass Buber, indem er Pathos und Ethos identifiziert, die funktionale Geschie-
denheit zwischen Redner und Zuhörer aufhebt, denen Aristoteles jeweils Ethos
(Redner) und Pathos (Zuhörer) zugeordnet hatte. Damit suggeriert Buber eine
Gemeinschaft zwischen Redner und Publikum, die als rhetorischer Effekt in
seinen Texten wiederholt begegnet, eben auch in den Drei Reden über das
Judentum, die in Kapitel II.2.2 genauer analysiert werden. Auch auf Gustav
Landauer hat dieser Effekt gewirkt, schreibt er doch im Hinblick auf Bubers
zweites Buch zur jüdischen Mystik, Die Legende des Baalschem (1908), dass
zwischen ihm als Leser und Rezensenten des Baalschem und dessen Verfasser

142 Martin Buber: Zwiesprache. Berlin: Schocken 1932, S. 62.


143 Ebd., S. 65.
144 Vgl. ebd., S. 63. Bereits in der oben zitierten Formulierung, in der Buber Rabbi
Nachmans Sprachauffassung wiedergibt, verschwimmen die Grenzen zwischen
Selbst und Anderem. In dem Satz, dass der Andere »das Wort des Genossen [emp-
fängt] und […] seine Seele darin [empfängt] und […] darin erweckt [wird]« (Bu-
ber, Die Geschichten des Rabbi Nachman [wie Anm. 105], S. 28 [Hervorhebung
E. D.]), ist der Bezug des Possessivpronomens »seine« nicht eindeutig. Beide Ge-
sprächspartner können gemeint sein, so dass die erweckte Seele des Anderen sich
auch nur als Projektion des eigenen Selbst lesen lässt.
145 Buber, Die Geschichten des Rabbi Nachman (wie Anm. 105), S. 14.
146 Ebd., S. 13.
147 Ebd., S. 13f.
148 Ebd., S. 8.
149 Ebd., S. 7.
3 Sprachtheorie zwischen Skepsis, Mystik und Dialog 97

ein »gemeinsamer Boden, eine Gleichheit der Seelensituation« bestehe, in der


sich das Judentum als »unverlierbare innere Eigenschaft« manifestiere.150
Das Pathos als Ethos des jüdischen Volkes verbindet Buber nun mit dem
Messianismus. Denn »[a]uch der Messianismus der Juden war von jeher ein
Wollen des Unmöglichen«.151 Buber schreibt dem jüdischen Volk somit ein
messianisches Ethos zu, das bei ihm mit dem Pathos zusammenfällt. Das Ver-
hältnis zum Messianismus ist wichtiger Anhaltspunkt in der Skizze der Ge-
schichte der jüdischen Mystik, wie er sie in der Einleitung zu den Geschichten
des Rabbi Nachman liefert. In der älteren Kabbala sei die Mystik »Theorie im
neoplatonischen Sinn, Gottschauen«152 gewesen, das keine Beziehung zum
Leben und zur Handlung gehabt und kein eigenes Ethos ausgebildet habe. Die
Vertreibung der Juden aus Spanien 1492 habe der Kabbala erst »den großen
messianischen Zug«153 verliehen. Mitte des 16. Jahrhunderts habe mit der
Kabbala des Isaak Luria eine Ära der jüdischen Mystik begonnen, die »den
ethisch-ekstatischen Akt des einzelnen als Mitschaffen an der Erlösung ver-
kündet«154 habe. Luria habe diesen »Weltprozess« auf die »Haltung einiger
Menschen stellen« wollen.155 Haftete der lurianischen Kabbala solchermaßen
noch etwas Exklusives an, so habe das Grundgefühl, dessen »ideelle Äußerung
diese Lehre war, […] nahezu hundert Jahre später seinen elementaren Aus-
druck in der großen messianischen Bewegung gefunden, die den Namen Sab-
batai Zewis trägt.«156 Sie sei eine »Entladung der unbekannten Volkskräfte
und eine Offenbarung der verborgenen Wirklichkeit der Volksseele«157 gewe-
sen. Das Scheitern der sabbatianischen Bewegung, die Buber in seinem wohl
frühesten Text über den Messianismus, dem unveröffentlichten Manuskript
»Zur Geschichte des Messianismus« (vgl. Kap. II.2.1), als Vorläufer des mo-
dernen, zeitgenössischen Zionismus interpretiert, habe zur Verinnerlichung des
Messianismus und zu asketischen Interpretationen geführt. Mitte des 18. Jahr-

150 Landauer, Die Legende des Baalschem (wie Anm. 102), S. 158.
151 Buber, Die Geschichten des Rabbi Nachman (wie Anm. 105), S. 10.
152 Ebd., S. 10.
153 Ebd.
154 Ebd., S. 10f.
155 Vgl. ebd., S. 12.
156 Ebd. Die These, dass die lurianische Kabbala die Grundlage für die sabbatianische
Bewegung darstellt, wird Gershom Scholem später zum Ausgangspunkt seiner
Forschungen zum Sabbatianismus machen, ohne dass er sie meines Wissens je auf
Buber zurückgeführt hätte. Der Einfluss Bubers auf Scholem, der durch Scholems
Abwehr gegenüber Buber seit dem Ersten Weltkrieg und nicht zuletzt durch ihre
Kontroverse über den Chassidismus verdeckt wurde, wird in jüngeren Forschungs-
arbeiten wieder hervorgehoben, die sich nicht an die von Scholem gezogenen
Frontlinien halten. So ist für Steven Aschheim fraglich, ob Scholem überhaupt oh-
ne Buber denkbar gewesen wäre (vgl. Steven E. Aschheim: Scholem, Arendt,
Klemperer. Intimate Chronicles in Turbulent Times. Bloomington u. a.: Indiana
University Press 2001, S. 30).
157 Buber, Die Geschichten des Rabbi Nachman (wie Anm. 105), S. 12.
98 Teil I

hunderts sei schließlich die »letzte[] und höchste[] Entwicklung der jüdischen
Mystik«158 in Gestalt des Chassidismus entstanden, der Buber als »Ethos ge-
wordene Kabbala«159 gilt. Sein Kern sei »eine höchst gotterfüllte und höchst
realistische Anleitung zur Ekstase«.160 An jedem Orte und zu jeder Zeit sei es
dem Menschen dabei gegeben, sich mit Gott zu vereinigen, so der »Baalschem
Tov« alias Israel Ben Elieser aus Miedzyborz, der Begründer des Chassidis-
mus und Urgroßvater des Rabbi Nachman. Denn auf allen Wegen finde der
Mensch Gott, der das Wesen der Dinge sei. Die Lehre des Baalschem habe
bald Eingang ins Volk gefunden, das auf seinen »eigenen Wert gestellt«161
worden sei und sich nicht mehr einer »›geistigen Aristokratie‹ von Talmud-
gelehrten«162 unterlegen fühlen musste, habe es doch vom Baalschem lernen
können, dass nicht das Wissen über den Rang eines Menschen entscheide,
sondern seine Gottesnähe. Einer solchen Lehre sei das Volk aber nicht ge-
wachsen gewesen, und so »entstand aus der Seelennot des Volkes eine Institu-
tion von Mittlern, welche Zadikkim, das ist Gerechte, genannt wurden.«163 In
dieser Institution von Mittlern zwischen Gott und Volk sieht Buber die imma-
nente Ursache der »Entartung«164 des Chassidismus, die auch Rabbi Nachman
nicht aufhalten können habe. Er habe wohl noch dem großen Traum vom Zad-
dik als »›Seele des Volkes‹«165 angehangen und die Menschen frei machen
wollen. »Aber das Volk war nicht sein geworden.«166
Buber gibt hier ein Muster für die Geschichte des Messianismus vor, an
dem er auch in seinen späteren, bibelexegetischen Arbeiten festhalten wird:
Aus einem anarchischen Zustand der unmittelbaren Gottesnähe, den Buber
später »Urmessianismus« (JCM VIII 5) nennt, erfolgt der Fall in die Repräsen-
tation, die Hierarchie, die Institution. Im Chassidismus nimmt Buber diesen
Fall im Zaddiktum wahr, in der Hebräischen Bibel im institutionellen, reprä-
sentativen Königtum (vgl. hierzu Kapitel II.2.3). Den Baalschem und seinen
Urenkel Rabbi Nachman stellt Buber als ›unverdorbene‹ Zaddikim dar, die
sich nicht von der Institution und ihren repräsentativen Formen (»Prachtliebe«)
vereinnahmen lassen haben. Buber präsentiert sie als »pure charismatic spiri-
tual leaders«.167 Solche charismatischen Führergestalten faszinieren Buber
auch später noch, so z. B. die biblischen Richter, die er mit Max Weber als
Vertreter charismatischer Herrschaft (im Unterschied zu legaler oder traditio-

158 Ebd., S. 13.


159 Ebd.
160 Ebd.
161 Ebd., S. 18.
162 Ebd., S. 17f.
163 Ebd., S. 19.
164 Ebd., S. 18.
165 Ebd., S. 21, S. 32.
166 Ebd., S. 32.
167 Urban, Hermeneutics of Renewal (wie Anm. 117), S. 149.
3 Sprachtheorie zwischen Skepsis, Mystik und Dialog 99

naler Herrschaft) interpretiert.168 Auch in den von ihm nacherzählten Ge-


schichten des Rabbi Nachman überhöht Buber zuweilen den Zaddik zu einer
Gegenfigur traditionaler Herrschaft, etwa als Gegenfigur zum Rabbi in der
»Geschichte vom Rabbi und seinem Sohne«, die von Buber erheblich erweitert
und verändert worden ist. Ist der Zaddik im Original kaum beschrieben, wird
er bei Buber »zu einer völlig überhöhten Führer- und Erlösergestalt«, einer
»Mittlergestalt zwischen Menschen und Messias«.169
An dieser Stelle sollen nun aber die sprachphilosophischen Implikationen
von Bubers Verständnis des Messianismus festgehalten werden. Der Messia-
nismus ist als »Wollen des Unmöglichen« gleichbedeutend mit dem Pathos als
Ethos des jüdischen Volkes. Er bezeichnet ein Pathos der Sehnsucht, nämlich
der Sehnsucht nach Einheit, die in der Einleitung zu den Geschichten des Rab-
bi Nachman changiert zwischen der Sehnsucht nach der Einheit eines indivi-
duellen Selbst, eines jüdisch nationalen Selbst und dessen Rückkehr aus dem
Exil und schließlich eines kosmischen Selbst (»Erlösung der Welt«).170 Bei
keinem Autor wie bei Buber wird so deutlich, dass der Messianismus nicht nur
eine Idee ist – sei es nun ein ethisches Konzept, sei es eine politisch-theolo-
gische oder historische Theorie –, sondern dass es sich um einen Terminus mit
einer »emotionale[n] Kraft«171 handelt. Das Messianische ist immer auch ein
sprachlicher Pathos-Ausdruck – nicht nur bei Buber, der freilich eigens dar-
über reflektiert und das Pathos mit der für ihn in seinen frühen Jahren zentralen
Kategorie des »Erlebnisses« verbindet.
Im Chassidismus ist nicht nur die Kabbala, sondern auch der Messianismus
zum Ethos geworden. Im Zentrum steht der »ethisch-ekstatische[] Akt des
einzelnen als Mitschaffen an der Erlösung«.172 War dieses »Mitschaffen an der
Erlösung« in der lurianischen Kabbala noch auf einen exklusiven Kreis sowie
auf rituelle Handlungen beschränkt, so habe es der Chassidismus auf das Le-
ben eines jeden Gemeindemitglieds ausgeweitet. Denn der Baalschem habe
gelehrt, dass das Leben der Menschen in jedem Punkte und in jeder Tätigkeit
dem Absoluten geöffnet sei. Die Interpretation des Messianismus als Ethos
macht sich Buber zu eigen. Was dabei in Bubers frühen Texten das Erlebnis
als »ethisch-ekstatischer Akt« ist, ist in seinen späteren Texten die dialogische

168 Noch in Zwiesprache unterscheidet Buber die »Scheinautorität« des Kommandos


von der »echte[n] Autorität« des »echten Charismatikers in seiner steten Verant-
wortung zum Herrn der Charis«, der dem politischen Raum der Gegenwart fremd
geblieben sei (vgl. Buber, Zwiesprache [wie Anm. 142], S. 84).
169 Klaus S. Davidowicz: Martin Buber und der Messianismus. In: Eveline Brugger
und Martha Keil (Hg.): Die Wehen des Messias. Zeitenwende in der jüdischen Ge-
schichte. Berlin, Wien: Philo 2001, S. 167–192, hier: S. 184.
170 Buber, Die Geschichten des Rabbi Nachman (wie Anm. 105), S. 12.
171 Emmanuel Levinas: Messianische Texte. In: Ders.: Schwierige Freiheit. Versuch
über das Judentum. Übers. von Eva Moldenhauer. Frankfurt a. M.: Jüdischer Ver-
lag 1992, S. 58.
172 Buber, Die Geschichten des Rabbi Nachman (wie Anm. 105), S. 10f.
100 Teil I

Begegnung. Damit einher geht die Transformation eines noch als volksspezi-
fisch angesetzten messianischen Ethos zu einer allgemeinen messianischen
Ethik. »Ethos« hat ja eine doppelte griechische Herkunft, ‫۔‬șȠȢ und ‫ۆ‬șȠȢ, und
kann auf die moralische Gesinnung, den moralischen Charakter, aber auch auf
die Gewohnheit, den Brauch gemäß dem Herkommen verweisen.173 Dement-
sprechend konstruiert Buber das messianische Ethos in der Einleitung zu den
Geschichten des Rabbi Nachman als gruppenspezifisches, das das Judentum
als Volk auszeichne. Kabbala und Chassidismus haben aber mit der »Welterlö-
sung«174 einen universalen Fluchtpunkt, wie Buber natürlich weiß. Die Span-
nung zwischen Partikularismus und Universalismus im jüdischen Messianis-
mus wird uns in Bubers Texten immer wieder begegnen. Buber hat sie auf
unterschiedliche Weise zu lösen versucht. In seinen beiden ersten chassidi-
schen Büchern verlässt er sich noch darauf, dass die Verweise auf den luriani-
schen Erlösungsmythos, in dem sich der »Tikkun« auf individueller, nationaler
und kosmischer Ebene abspielt, über diese Spannung hinweghelfen.
Zu der Spannung zwischen Partikularismus und Universalismus kommt
noch eine weitere: Einerseits ist es möglich, das messianische Ethos im Exil zu
verwirklichen, wie der Baalschem und sein Urenkel Rabbi Nachman zeigen
und lehren. Andererseits bleibt die Rückkehr aus dem Exil nach Palästina das
Ziel des Baalschem, des Rabbi Nachman – und Bubers. Um diese Rückkehr
aus dem Exil vorzubereiten, soll ein nationales Selbstbewusstsein qua Kultur
geschaffen werden, so das kulturzionistische Programm Bubers. Zu diesem
Programm gehört die Wiederentdeckung der jüdischen Mystik. Deren Ethos
erklärt Buber zwar zum nationalen Ethos, das sich aber auch im Exil realisie-
ren lässt, wie man nicht zuletzt in Bubers eigenen chassidischen Publikationen
lesen kann. Die Verbindung zwischen messianischem Ethos und der Rückkehr
aus dem Exil, dem traditionellen Gegenstand der messianischen Sehnsucht,
bleibt also widersprüchlich.
Vom messianischen Ethos zur messianischen Ethik, vom Erlebnis zur Be-
gegnung, von der Mystik zum Dialog und von der Evokation zum Vokativ: So
lässt sich schlagwortartig der Weg von Bubers Denken beschreiben, wobei der
Erste Weltkrieg, von Buber anfänglich noch emphatisch gefeiert, die Wende
darstellt (s. Kap. II.2.3). Mit dem Dialog gewinnt auch die Sprachphilosophie
einen neuen Bezugspunkt. Die Umschlagpunkte von Bubers Denken verhalten
sich nun nicht wie absolute Gegensätze zueinander. Die Texte aus der Zeit
nach dem Ersten Weltkrieg unterscheiden sich zwar signifikant von den vorhe-
rigen, es ist aber Differenz und Kontinuität zwischen diesen beiden Schaffens-
phasen zu konstatieren. Illustrieren lässt sich dies an dem veränderten Blick
auf die chassidischen Texte, der sich in Bubers Publikationen ab den 1920er
Jahren findet. Kurz gefasst streicht Buber das ekstatische Moment, das charak-

173 Vgl. Hans Reiner: Ethos. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. von
Joachim Ritter und Karlfried Gründer. Bd 2. Basel: Schwabe 1972, Sp. 812–815.
174 Buber, Die Geschichten des Rabbi Nachman (wie Anm. 105), S. 11.
3 Sprachtheorie zwischen Skepsis, Mystik und Dialog 101

teristisch für seine frühere Erlebnismystik war, aus dem, was er nun die »chas-
sidische Botschaft« nennt:
Was die chassidische Botschaft von der Erlösung sagt, erhebt sich gegen die messi-
anistische Selbstunterscheidung eines Menschen von den andern Menschen, einer
Zeit von den andern Zeiten, einer Handlung von den andern Handlungen. Allem
Menschentum ist die mitwirkende Kraft zugeteilt, alle Zeit ist erlösungs-unmittelbar,
alles Handeln um Gottes willen darf messianisches Handeln heißen.175

In dieser Passage hebt Buber drei Differenzen auf, die aus dem Messianischen
ein Besonderes machen würden. Es gibt nicht den einen und einzigen messia-
nischen Heilsbringer im Unterschied zu allen anderen Menschen. Es gibt nicht
die messianische Heilszeit im Unterschied zu allen anderen Zeiten. Es gibt
kein ekstatisches oder sakrales Erlösungshandeln im Unterschied zu allem
anderen profanen Handeln. Zusammen mit diesen Differenzen wird die Leit-
differenz von heilig und profan aufgehoben, die den Gottesdienst auf ein sak-
rales Gebiet beschränkt. Damit richtet sich Buber aber nicht nur gegen den
sakralen Kult, sondern auch gegen die moderne funktionale Aufteilung der
Gesellschaft in verschiedene Bereiche, deren einer »Religion« heißt und eine
besondere, von allem anderen unterschiedene Sphäre markiert. Positiv dagegen
hält er die »Heiligung des Alltags«176 oder in messianischer Diktion: den »All-
Tag der Erlösung«.177 Der spätere Buber ist aber nicht nur von der Idee der
Alltäglichkeit, sondern auch von der Idee der Allgemeinheit des dialogischen
Gottesverhältnisses durchdrungen, das sich nirgends sonst als in der dialogi-
schen Begegnung mit Innerweltlichem realisieren lasse (»in jedem Du reden
wir das ewige [Du; Anm. E. D.] an«).178 Mit dem Anspruch auf Allgemeinheit
(»alle[s] Menschtum«) wendet Buber aber nicht nur das messianische Ethos zu
einer messianischen Ethik, sondern erhebt den Anspruch auf philosophische
Evidenz, die sich religiöser und/oder nationaler Partikularität enthebt, wie
Michael Theunissen zu Recht betont.179 Damit ist aber wie bei Rosenzweig zu
fragen, in welchem Verhältnis die Analytik einer allgemeinen Erfahrungsstruk-
tur zu der Analytik einer religiösen Erfahrung steht. Wie bei Rosenzweig soll
diese Frage an der methodischen Bedeutung der Sprache für Bubers Ich-und-
Du-Philosophie untersucht werden.
Buber expliziert sein dialogisches Denken an der Sprache. Gleichwohl steht
die Sprache viel weniger am Ausgang seines Denkens als etwa bei Rosen-

175 Martin Buber: Spinoza, Sabbatai Zwi und der Baalschem. In: Ders.: Werke. Bd 3.
Heidelberg, München: Kösel 1963, S. 742–757, hier: S. 756.
176 Ebd., S. 748; vgl. auch Martin Buber: Der große Maggid und seine Nachfolge. In:
Ders.: Die chassidischen Bücher. Berlin: Schocken o. J., S. 331–553, hier: S. 351.
177 Buber, Spinoza, Sabbatai Zwi und der Baalschem (wie Anm. 175), S. 753f.
178 Martin Buber: Ich und Du. Leipzig: Insel-Verlag 1923, S. 10.
179 Vgl. Michael Theunissen: Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart.
Berlin: de Gruyter 1965, S. 331–333.
102 Teil I

zweig.180 Hier setzt sich eine Tendenz fort, die schon beim frühen Buber zu
beobachten war. Am Chassidismus interessiert Buber vor allem ein am Erleb-
nis orientierter Frömmigkeitstypus und die Frage, wie das Erlebnis als Affekt
kommuniziert werden kann, nicht aber die Vorstellungen von Sprachmagie,181
die der Chassidismus von der Kabbala geerbt hat und die Scholems Aufmerk-
samkeit auf sich ziehen werden. Der spätere Buber verfolgt eine Ontologie des
Mitseins, die auf dem Unterschied zwischen den Grundworten Ich-Du und Ich-
Es aufbaut. Diese Grundworte sind keineswegs nur metaphorisch gemeint,
sondern es geht um gesprochene Worte, um verbale Sprache in einem nicht-
metaphorischen Sinn. Zugleich behauptet Buber aber, dass über die Grundwor-
te nicht die »wörtersprachliche Form«182 entscheide. Zum einen soll dies hei-
ßen, dass ich »Du« sagen und »Es« meinen kann oder umgekehrt »Es« sage
und »Du« meine. Zum anderen bedeutet dies, dass sich die Grundworte weder
auf das Feld der Rede beschränken noch sich in ihr erfüllen, was das Grund-
wort Ich-Du anbetrifft. Das Grundmodell von Bubers Ich-und-Du-Philosophie
ist ein intentionales Modell von Haltungen, die der »Einstellung«, einem inten-
tionalen Sich-Richten-auf, in der Phänomenologie Husserls entsprechen.183
Buber korreliert das Haltungsmodell mit der Lehre von den Grundworten:
Die Welt ist dem Menschen zwiespältig nach seiner zweifältigen Haltung. Die Hal-
tung des Menschen ist zweifältig nach der Zwiefalt der Grundworte, die er sprechen
kann. Die Grundworte sind nicht Einzelworte, sondern Wortpaare. Das eine Grund-
wort ist Ich-Du. Das andere Grundwort ist das Wortpaar Ich-Es, wobei, ohne Ände-
rung des Grundwortes, für Es auch eins der Worte Er und Sie eintreten kann.184

Auch wenn die »wörtersprachliche Form« nicht über die Grundworte entschei-
den soll, orientiert Buber sich doch in seiner Beschreibung des Ich-Du- und
Ich-Es-Verhältnisses an den Gesetzen der artikulierten Rede. Dass er in diese
dann wieder den Unterschied von Sagen und Meinen hineinträgt, zeigt ein
grundsätzliches Problem von Bubers Ich-und-Du-Philosophie an: Mit der On-
tologie des Mitseins oder des »Zwischen« will Buber die Sphäre der Subjekti-
vität, verstanden als intentional gerichtete Subjektivität von unterschiedlichen
Welthaltungen, überschreiten. Dabei geht Buber vom Intentionalitätsschema
aus, das die Ich-Es-Relation grundiert, um es in der Ich-Du-Relation zu zerbre-
chen. Er bleibt aber der Intentionalität auch in der Negativität des Zerbrechens
noch verhaftet.185

180 Vgl. Bernhard Casper: Das dialogische Denken. Franz Rosenzweig, Ferdinand
Ebner und Martin Buber. 2. Aufl., Freiburg, München: Alber 2002, S. 285.
181 Vgl. Moshe Idel: Hasidism. Between Ecstasy and Magic. Albany: State Univ. of
New York Press 1995 (SUNY series in Judaica), S. 213.
182 Buber, Ich und Du (wie Anm. 178), S. 64.
183 Vgl. Theunissen, Der Andere (wie Anm. 179), S. 278.
184 Buber, Ich und Du (wie Anm. 178), S. 9.
185 Vgl. Theunissen, Der Andere (wie Anm. 179), S. 281, S. 293.
3 Sprachtheorie zwischen Skepsis, Mystik und Dialog 103

Insofern Buber die Ich-Es-Relation als intentionalen Akt bestimmt, er-


scheint das Es als Gegenstand im Sinne des Aktkorrelats. Alle Tätigkeiten, die
ein Etwas zum Gegenstand haben, machen das Reich des Es aus: »Ich nehme
etwas wahr. Ich empfinde etwas. Ich stelle etwas vor. Ich will etwas. Ich fühle
etwas. Ich denke etwas.«186 In diesen Akten konstituiert sich ein Gegenstand,
der auf das ihm korrespondierende Ich hin ausgerichtet ist. Das Es ist das Be-
stimmte, das Ich das Bestimmende, das das Es in einen Horizont einfügt.
Sprachlich realisiert sich die Ich-Es-Relation im Besprechen oder Bereden, in
dem das Es der Gegenstand der Rede ist, der, selbst wenn er anwesend ist,
abwesend ist, denn der beredete Gegenstand kann nichts gegen sein Beredet-
werden tun, durch das er in einen Horizont hineingestellt wird. Im Bereden
wird der Gegenstand als Träger von Eigenschaften vorgestellt, insofern in der
Ich-Es-Relation allein erfahren wird, was »an den Dingen ist«.187 Die feststel-
lende Aussage als Prädikation, als Zusprechen von Prädikaten, repräsentiert
»die Dinge als Summen von Eigenschaften«.188 Wer das Grundwort Ich-Es
spricht, bespricht die Dinge, repräsentiert sie als Substanz, der in Form der
feststellenden Aussage Akzidenzien als Prädikate zugesprochen werden. Kurz:
Das Grundwort Ich-Es meint sprachliche Repräsentation in feststellenden,
prädikativen Aussagen.
Dagegen hat, »[w]er Du spricht«, […] kein Etwas zum Gegenstand. […]
Wer Du spricht, hat kein Etwas, hat nichts. Aber er steht in der Beziehung.«189
Wer »Du« spricht, hat nichts, insofern Du kein intentionaler Gegenstand ist.
Mit dem intentionalen Gegenstand wird aber auch die Sphäre des Habens, die
Sphäre der intentional gerichteten Subjektivität und des intentionalen Aktes,
negiert, an deren Stelle die Beziehung, die Sphäre des »Zwischen« treten soll.
Die Beziehung charakterisiert sich bei Buber vor allem durch Unmittelbarkeit:
Die Beziehung zum Du ist unmittelbar. Zwischen Ich und Du steht keine Begriff-
lichkeit, kein Vorwissen und keine Phantasie; und das Gedächtnis selbst verwandelt
sich, da es aus der Einzelung in die Ganzheit stürzt. Zwischen Ich und Du steht kein
Zweck, keine Gier und keine Vorwegnahme; und die Sehnsucht selber verwandelt
sich, da sie aus dem Traum in die Erscheinung stürzt. Alles Mittel ist Hindernis. Nur
wo alles Mittel zerfallen ist, geschieht die Begegnung.190

Wenn die Beziehung zum Du unmittelbar sein soll, dann ist Du kein Mittel zu
einem Zweck. Aber auch die Beziehung selbst ist kein Mittel, das heißt, sie ist
kein Medium, das eine Botschaft überträgt. Das bedeutet nicht, dass diese
Beziehung überhaupt kein Medium sei. Ihre Bestimmung als »Zwischen«
weist die Beziehung vielmehr dezidiert als Medium aus, reicht doch die Tradi-
tion, Medien als »Zwischen« zu denken, bis in die Antike zurück. Die Antike

186 Buber, Ich und Du (wie Anm. 178), S. 10.


187 Ebd., S. 11 (Hervorhebung E. D.).
188 Ebd., S. 38.
189 Ebd., S. 10f.
190 Ebd., S. 18f.
104 Teil I

hat mit Medien als »Zwischen« nicht Informationsträger verstanden, sondern,


wahrnehmungstheoretisch, den Stoff, in dem Anschauung geschieht.191 Auch
bei Buber geht es mit der Beziehung als »Zwischen« nicht um Sprache/Medien
als Informationsträger, sondern um ihre Funktion, einen »Kontakt« zwischen
Sender und Empfänger herzustellen, was Roman Jakobson die phatische Funk-
tion der Sprache genannt hat.192 Deren Fundament im Sprechereignis ist der
»Kanal«, ihr Geltungsanspruch die »Gleichheit«.193 Die unmittelbare Bezie-
hung, die Buber anvisiert, ist also medientheoretisch durchaus anschließbar,
lässt sie sich doch als Aktualisierung des Kanals im Sprechereignis lesen.
Die Beziehung zwischen Ich und Du nimmt von der Herstellung des Kanals
als Ansprechen seinen Ausgang, in dem kein Gegenstand besprochen, sondern
nur ein Du im Vokativ des Personalpronomens der zweiten Person Singular
angerufen wird. Insofern die Anrufung aber auf Unmittelbarkeit ausgerichtet
ist, droht ihr von jedem weiteren Wort, das Gegenstandsbezug und Semantik
ins Spiel bringen könnte, Gefahr. Daher zielt auch Bubers Ausgang von der
Sprache darauf, über die Sprache hinauszugelangen, was mit seinem Pro-
gramm, im Ausgang von der Intentionalität die Intentionalität zu zerbrechen,
zusammenstimmt. Der Dialog vollendet sich »außerhalb der mitgeteilten oder
mitteilbaren Inhalte«,194 denn nur das »Schweigen zum Du, das Schweigen
aller Zungen, das verschwiegene Harren im ungeformten, im ungeschiedenen,
im vorzunglichen Wort läßt das Du frei«.195 Das »Schweigen zum Du«, das
die Freiheit des Anderen, des Du, ermöglichen soll, ist nicht mit dem mysti-
schen Schweigen zu verwechseln, von dem der frühe Buber im Zusammen-
hang mit dem Erlebnis der ungeteilten Einheit handelt. Ich und Du sind onto-
logisch unaufhebbar getrennte Entitäten beim späteren Buber, und die Ich-Du-
Relation kein Erlebnis, sondern »reale Verbundenheit der realen Zweiheit Ich
und Du«.196 Auch ist das »Schweigen zum Du« nicht einfach nur ein Nicht-
Sprechen. Das »Schweigen zum Du« geht vielmehr mit einer Form des nicht-
verbalsprachlichen Handelns einher. Der Überstieg über die Sprache erfolgt in
Richtung eines Tuns, das die Antwort nicht mehr in die Eswelt einbinden soll
wie die verbalsprachliche Antwort. »Die Worte unserer Antwort sind in der
wie die Anrede unübersetzbaren Sprache des Tuns und des Lassens gespro-
chen – wobei das Tun sich wie ein Lassen und das Lassen wie ein Tun gebär-

191 Vgl. Dieter Mersch: Medientheorien zur Einführung. Hamburg: Junius 2006,
S. 18–20.
192 Vgl. Jakobson, Linguistik und Poetik (wie Anm. 125), S. 91.
193 Vgl. Elmar Holenstein: Einführung: ›Von der Poesie und Plurifunktionalität der
Sprache‹. In: Roman Jakobson: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921–1971. Hg. von
Elmar Holenstein und Schelbert Tarcisius. 3. Aufl., Frankfurt a. M.: Suhrkamp
1993 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft; 262), S. 7–60, besonders S. 20.
194 Buber, Zwiesprache (wie Anm. 142), S. 16.
195 Buber, Ich und Du (wie Anm. 178), S. 49f.
196 Ebd., S. 71.
3 Sprachtheorie zwischen Skepsis, Mystik und Dialog 105

den darf«.197 Diese Sprache kenne weder ein Alphabet noch ein Wörter-
buch.198
Außer der Unmittelbarkeit ist es die Lehre von der gegenseitigen Konstitu-
tion von Ich und Du und ihrer beider Herkunft aus dem »Zwischen«, die die
Spezifik von Bubers dialogischem Ansatz ausmacht. Ich und Du gehen nicht
als fertige Seiende in die Begegnung, sondern die Beziehung als Begegnung
bringt die sich Begegnenden allererst hervor. Damit gelten Ich und Du Buber
als gleichursprünglich, das heißt, sie beide gehen aus dem Ereignis der Begeg-
nung hervor, in dem sie sich gegenseitig – »Ich-wirkend-Du und Du-wirkend-
Ich«199 – konstituieren sollen. Buber erteilt folglich nicht nur der Vorherrschaft
des Ich, sondern auch der Überordnung des Du eine Absage. In der Gleichur-
sprünglichkeit von Ich und Du unterscheidet sich Bubers Ansatz von dem
Rosenzweigs – und gleichzeitig von modernen Anrufungstheorien von Althus-
ser über Levinas200 bis hin zu Butler. Denn bei Rosenzweig kommt dem Du

197 Buber, Zwiesprache (wie Anm. 142), S. 46.


198 Vgl. ebd., S. 33, S. 45.
199 Buber, Ich und Du (wie Anm. 178), S. 29.
200 In seinem noch zu Bubers Lebzeiten veröffentlichten Aufsatz »Martin Buber und
die Erkenntnistheorie« richtet Levinas seine Hauptkritik an die Gegenseitigkeit des
Ich-Du und behauptet demgegenüber den »Primat des Anderen« (Emmanuel Levi-
nas: Martin Buber und die Erkenntnistheorie. In: Paul Arthur Schilpp und Maurice
Friedman [Hg.]: Martin Buber. Stuttgart: Kohlhammer 1963, S. 119–134, hier: S.
131). Levinas wirft Buber Formalismus im Hinblick auf die Ich-Du-Begegnung
vor. Dieser fehle der »steng ethische[] Sinn« (ebd., S. 130), sei das Ich-Du bei Bu-
ber doch auch mit Dingen möglich. »Wenn wir Buber die Erweiterung des Ich-Du
auf das Ding vorwerfen, so nicht, weil er uns in seinem Verhältnis zur Natur ani-
mistisch, sondern weil er uns in seinem Verhältnis zum Menschen viel eher artis-
tisch scheint« (ebd., S. 132). Bei Buber hat die Ich-Du Beziehung keinen Inhalt
und das Du keine Attribute. Levinas meint, der Ich-Du-Beziehung müsse, als ethi-
scher Beziehung, eine »Qualifikation« gegeben werden, ohne dass sie auf einen
Inhalt oder ein Dogma festgeschrieben würde (vgl. ebd., S. 129): »In der Ethik, in
der der Andere gleichzeitig höher und ärmer ist als ich, unterscheidet sich das Ich
vom Du nicht durch irgendwelche ›Merkmale‹, sondern durch die Dimension der
Höhe, die mit Bubers Formalismus bricht. Der Primat des Anderen, wie seine
Nacktheit und sein Mangel, qualifizieren nicht nachträglich das rein formelle Ver-
hältnis mit dem Anderen, sondern schon diese Anderheit« (ebd., S.131). Bei Buber
blieben hingegen die Ich-Du-Begegnungen ihrem Grundmodell, der Freundschaft,
verhaftet (vgl. Emmanuel Levinas: Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die
Exteriorität. Übers. von Wolfgang Nikolaus Krewani. Freiburg, München: Alber
1987, S. 92). Wenn man Letzterem auch zustimmen kann, so ist Bubers Ich-Du
doch nicht die ethische Dimension abzusprechen. Buber denkt die Ethik nur anders
als Levinas, nämlich von einer natürlichen Grundlage her, die er auch das »einge-
borene Du« nennt (vgl. Buber, Ich und Du [wie Anm. 178], S. 31). Anders gesagt:
Bubers Ethik ist ontologisch, Levinas’ Ethik de-ontologisch. Systematisch schwe-
rer wiegt Levinas’ zweiter Einwand, dass Buber die Trennung zwischen den ein-
zelnen Menschen nicht ernst genug nehme, die Isolierung durch die Subjektivation,
die sich nicht zuletzt auf der Grundlage des theoretischen, physikalisch-mathe-
106 Teil I

der Primat vor dem Ich zu. Die Antwort auf die Anrufung: Wo bist du? konsti-
tuiert das Ich. Erst als solcherart Angesprochener werde ich fähig, andere an-
zusprechen. Bei Buber gehen Ansprechen und Angesprochenwerden dagegen
Hand in Hand. Vorrang vor Ich und Du hat das »Zwischen«, ein Sein, das
nicht Sein als Vorhandenheit meint, sondern ein Sein als eine im »Zwischen«
waltende Wirklichkeit, die Buber, wie wir sehen werden, mit Gott als dem
»ewigen Du« identifiziert. Eine Schwierigkeit von Bubers Ansatz ist nun, dass
er einerseits den Vorrang des Zwischen behauptet, aber andererseits vom In-
tentionalitätsschema ausgeht. Dieses soll wohl in der Ich-Du-Relation über-
wunden werden, die Initiative hierfür geht aber vom Ich aus, setzt man Ich-Du
als »Haltung«, wie Buber am Anfang seiner Schrift Ich und Du. Dadurch läuft
Buber Gefahr, dem Ich doch wieder den Vorrang vor dem Du einzuräumen –
eine Gefahr, die durch den Rahmen des Intentionalitätsschemas notwendig
gegeben ist und der in diesem Rahmen auch nicht entgangen werden kann.
Anders als Rosenzweig bindet Buber die Anrufung auch nicht an einen
einmaligen historischen Offenbarungsakt am Sinai zurück. In seinen philoso-
phischen Schriften Ich und Du sowie Zwiesprache geht er nicht von einer
jenseits der »innerweltlichen« Ich-Du-Begegnungen geschehenden Offenba-
rung Gottes aus. Vielmehr nennt Buber Gott das »ewige Du«, das nicht außer-
halb, sondern in der Beziehung zum einzelnen Du begegnet: »In jeder Sphäre,
durch jedes uns gegenwärtig Werdende blicken wir an den Saum des ewigen
Du hin, aus jedem vernehmen wir ein Wehen von ihm, in jedem Du reden wir
das ewige an, in jeder Sphäre nach ihrer Weise«.201 Bereits die Beziehung zum
einzelnen Du stellt Buber als ein Transzendieren des Es dar, das sich im Zer-
brechen der Intentionalität realisiert. Dieses Transzendieren wird allerdings als
zeitlich unbeständig und räumlich diskontinuierlich beschrieben, denn es löst
den »räumlich-zeitlich-ursächlichen Zusammenhang«202 des Du mit anderem
Seiendem auf.203 Das »ewige Du« ist nun die Transzendenz des Transzendie-
rens oder in Bubers Bildsprache: Im ewigen Du schneiden sich »die verlänger-
ten Linien der Beziehungen«.204 Es ist dasjenige Du, das als Du beständig
existieren soll. Hier springt Buber aus einer (was das Ich-Du-Verhältnis anbe-
trifft: negativen) Ontologie in die Ontotheologie. Theunissen hat diese Bewe-
gung und damit Bubers ontotheologischen Grundgedanken wie folgt um-
schrieben:

matischen Wissens vollzieht, um das sich Buber in seiner Analyse auch nur wenig
kümmert (vgl. Levinas, Martin Buber und die Erkenntnistheorie [wie Anm. 200],
S. 133).
201 Buber, Ich und Du (wie Anm. 178), S. 13.
202 Ebd., S. 38.
203 Vgl. ebd., S. 42: »Die Eswelt hat Zusammenhang im Raum und in der Zeit. Die
Duwelt hat in Raum und Zeit keinen Zusammenhang. Das einzelne Du muß, nach
Ablauf des Beziehungsvorgangs, zu einem Es werden. Das einzelne Es kann, durch
Eintritt in den Beziehungsvorgang, zu einem Du werden.«
204 Ebd., S. 101.
3 Sprachtheorie zwischen Skepsis, Mystik und Dialog 107

Sofern das ewige Du eben das ist, was über das einzelne Du hinaus ist und was in
der (transzendierenden) Verlängerung der Beziehung zu diesem begegnet, ist es das
Sein, das vom Standpunkt des in der Welt Vorkommenden als Nichts erscheint. Das
heißt nicht, es sei dieses Nichts. Es ist weder das bloße Nichts des Vorkommenden
noch etwas Vorkommendes, das hinter dem einzelnen angesprochenen Seienden
abermals vorkäme. In ihm ist vielmehr das, was vom Vorkommenden her wie nichts
aussieht, existente Wirklichkeit.205

Mit der Setzung Gottes als »ewiges Du«, das nicht, wie das einzelne Du, zum
Es werden könne, hängt es zusammen, dass Buber behauptet, Gott könne nur
angesprochen, nicht ausgesagt werden.206 Hiermit wendet sich Buber nicht nur
gegen die Theologie als Rede über Gott und gegen die philosophische Meta-
physik, die über Gott als causa Aussagen trifft.207 Vielmehr spricht er sich
auch gegen die Auffassung aus, dass die Offenbarung einen Inhalt habe, ohne
dass er Offenbarung als Idee überhaupt zurückweisen würde. Die »ewige, die
im Jetzt und Hier gegenwärtige Offenbarung«208 hält Buber fest. Sie ist die
Offenbarung des ewigen Du, Offenbarung der ewigen Gegenwart Gottes als
Wirklichkeit des Zwischen, auf die die innerweltlichen Ich-Du-Beziehungen –
und nur sie allein – führen. Offenbarung als »ausgesagtes Wissen und gesetz-
tes Tun der Religionen«209 lehnt Buber demgegenüber ab,210 womit eine ab-
lehnende Haltung auch gegenüber dem halachischen Judentum einhergeht.
Hieran entzündet sich seine berühmte, bereits oben erwähnte Debatte mit Ro-
senzweig über den Status der Halacha im Judentum (vgl. Kap. III.2.3). Buber
formuliert entschieden: »Offenbarung ist nicht Gesetzgebung.«211
Aussagen und Ansprechen sind die beiden Achsen der Sprachphilosophie ,
zu denen Buber im Rahmen seiner Ich-und-Du-Philosophie gelangt. Aussagen
ist auf einen Gegenstand bezogen, der als Träger von Eigenschaften erscheint.
Dagegen konstituiert sich im Ansprechen, im Vokativ des »Du« ein ungegen-
ständliches Du, an dessen Aktivität die Anrede appelliert. Unmittelbar ist die

205 Theunissen, Der Andere (wie Anm. 179), S. 335.


206 Vgl. Buber, Ich und Du (wie Anm. 178), S. 95.
207 Vgl. Theunissen, Der Andere (wie Anm. 179), S. 331.
208 Buber, Ich und Du (wie Anm. 178), S. 129.
209 Ebd., S. 130.
210 In der Ablehnung dieses Offenbarungskonzeptes kann Buber sich mit Kant einig
wissen. Mendes-Flohr beschreibt das Offenbarungskonzept, das die Aufklärung ab-
gelehnt hat, wie folgt: »This notion of revelation can be called a propositional con-
ception of revelation, since the revealed information can be formulated as propositi-
ons« (Paul Mendes-Flohr: Rosenzweig and Kant. Two Views of Ritual and Religion.
In: Ders.: Divided Passions. Jewish Intellectuals and the Experience of Modernity.
Detroit: Wayne State Univ. Press 1991 [The culture of Jewish modernity], S. 283–
310, hier: S. 288). Unter Berücksichtigung der Kritik der Aufklärung an der Offenba-
rung entwickeln die Dialogdenker ein neues Offenbarungsverständnis, das um die
Idee einer »dialogical presentness of revelation« (ebd., S. 290) kreise.
211 Martin Buber an Franz Rosenzweig, 03.06.1925. In: Martin Buber: Briefwechsel
aus sieben Jahrzehnten (wie Anm. 111), S. 222.
108 Teil I

Ansprache im Vokativ des »Du«, insofern in ihr Sprache nicht als Medium von
Botschaften gebraucht wird und ein »Du«, unvermittelt durch sachliche und
semantische Bezüge, angesprochen wird. Die Intention auf Unmittelbarkeit
zielt auf den Vollzug der Freiheit des Angesprochenen, der unabhängig von
meiner Intention sein soll und doch im Rahmen des Intentionalitätsschemas
von meiner Initiative abhängig ist – das bereits erwähnte Dilemma von Bubers
dialogischem Ansatz. Insofern sich für Buber der Dialog »außerhalb der mitge-
teilten oder mitteilbaren Inhalte«212 vollendet, gilt es, mit der Wortsprache
über diese hinauszugelangen, hin zu der einer »unübersetzbaren Sprache des
Tuns«,213 die auf die je einmalige Situation ohne Wörterbuch eingeht. Dem
späteren Buber geht es wie schon dem früheren darum, mit der Wortsprache
ein anderes als diese zu erzeugen: Zuerst ist es das Erlebnis als Affekt, später
ein paradoxes Tun, das zugleich ein Lassen, ein Nichttun sein soll, um solcher-
art die Gegenseitigkeit der Ich-Du-Beziehung, im Unterschied zum Ich-Es-
Verhältnis, zu realisieren.
Buber schreibt nun nicht nur über die verschiedenen Dimensionen der Spra-
che, sondern er versucht, sie schreibend in seinem eigenen Text einzuholen.
Dementsprechend wechselt sich in Ich und Du eine philosophisch begriffliche
mit einer poetischen Sprache ab.214 So bemerkt Buber etwa im Hinblick auf
die Aktualität und Latenz der Ich-Du-Beziehung, die immer wieder ins Es
zurückzufallen muss: »Aber die gegenständliche Sprache erhascht nur einen
Zipfel des wirklichen Lebens«, um dann in nicht mehr gegenständlicher, son-
dern metaphorischer Sprache fortzuführen: »Das Es ist die ewige Puppe, das
Du der ewige Falter.«215 Metaphorische Sprache ist nur eines der Mittel, die
Buber anwendet, um den Text zu poetisieren und die logische Begriffssprache
aufzubrechen. Dazu kommen rhetorische Fragen, Leseradressen, Dialoge mit
einem unidentifizierten Gesprächspartner, der den logischen Gang der Ideen
unterbricht, sowie lyrische Apostrophen an das Du. Durch diese Prozeduren
versucht Buber, den Text selbst zu einem Du zu machen, gilt doch, dass die
Du-Momente […] als wunderliche lyrisch-dramatische Episoden [erscheinen], von
einem verführenden Zauber wohl, aber gefährlich ins Äußerste reißend, den erprob-
ten Zusammenhang lockernd, mehr Frage als Zufriedenheit hinterlassend, die Si-
cherheit erschütternd, eben unheimlich, und eben unentbehrlich.216

Die Sprache Bubers ist nun an vielen Stellen nicht nur poetisch, sie ist oftmals
religiös, von der jüdischen Überlieferung geprägt. Wie schon bei Rosenzweig
stellt sich nun auch bei Buber die Frage, ob er in seiner dialogischen Philoso-

212 Buber, Zwiesprache (wie Anm. 142), S. 16.


213 Ebd., S. 16.
214 Vgl. zur sprachlichen Form von Ich und Du auch: Robert E. Wood: Martin Buber’s
Ontology. An Analysis of I and Thou. Evanston: Northwestern Univ. Press 1969,
S. 27–33.
215 Buber, Ich und Du (wie Anm. 178), S. 25.
216 Ebd., S. 42.
3 Sprachtheorie zwischen Skepsis, Mystik und Dialog 109

phie eine religiöse Erfahrung beschreibt, die einer bestimmten Offenbarungsre-


ligion zugeordnet ist und die zugleich Allgemeinheit beansprucht oder aber ob
er eine allgemeine Struktur der Erfahrung beschreibt, die keiner historischen
Offenbarung folgt und damit keiner bestimmten Offenbarungsreligion eigent-
lich angehört. Derrida hatte diese Alternative, wie erinnern uns, wie folgt for-
muliert: »Ist die Offenbarkeit (die Möglichkeit des Offenbarens) ursprüngli-
cher als die Offenbarung und folglich von aller Religion unabhängig? Kann
man diese Unabhängigkeit an den Strukturen ihrer Erfahrung und an der Ana-
lytik, die sich auf sie bezieht, ablesen? Oder besteht umgekehrt das Ereignis
der Offenbarung darin, dass es die Offenbarkeit offenbart hat […]?«217 Auch
in dieser Hinsicht unterscheiden sich Rosenzweig und Buber. Leitet Rosen-
zweig die Struktur der Anrufung von Gottes Anrufung an Abraham her, die er
wiederum mit der Sinaioffenbarung verbindet, so stellt Buber die Ich-Du-
Relation in einen entwicklungsgeschichtlichen Horizont auf phylo- wie onto-
genetischer Ebene. Buber sieht »die geistige Realität der Grundworte sich aus
einer naturhaften erheb[en]«, die des »Grundworts Ich-Du aus der naturhaften
Verbundenheit, die des Grundworts Ich-Es aus der naturhaften Abgehoben-
heit«,218 wobei das Ich-Du vorangehe: »Am Anfang ist die Beziehung«,219 was
für ihn die Entwicklungsgeschichte des »Primitiven« wie des Kindes doku-
mentiert. Der geisthaften Ich-Du-Beziehung schiebt Buber auf diese Weise
einen natürlichen Grund unter, wobei es für ihn nicht darum geht, zur Natur
zurückzugelangen, sondern die geisthafte Ich-Du-Relation aus ihrem natürli-
chen Grund heraus zu verstehen. So romantisch und mythopoetisch diese
Denkfigur ist, wird doch deutlich, dass Bubers dialogische Philosophie dem
»›natürlichen‹ Denken viel näher ist als jeder Entwurf, der sich auf eine spezi-
fisch religiöse Offenbarung beruft«.220 Nichtsdestotrotz gibt es hier eine Un-
entschiedenheit in Bubers Denken, denn er springt in seiner Ontologie nicht
nur in den Glauben, sondern identifiziert das »ewige Du« mit dem Gott der
jüdischen Überlieferung.
Erinnern wir uns: Der Sprung in den Glauben erfolgt dort, wo Buber das
Zwischen, das aus der Sicht des Vorkommenden nichts ist, als existente Wirk-
lichkeit setzt. Man kann versuchen, diesen Sprung noch ontologisch am Phä-
nomen nachzuvollziehen: Zur Erfahrung der dialogischen Faktizität gehört es,
dass ich an die Wirklichkeit des Zwischen, von der ich als etwas Vorkommen-
dem nichts weiß, glaube. Genauso gehört der Glaube an die von mir unabhän-
gige Existenz des Du zu jedem Ansprechen, obgleich ich auch von ihr nichts
wissen kann, konstituiert sich das Du doch, meiner Erfahrung nach, nur im
217 Jacques Derrida: Glaube und Wissen. Die beiden Quellen der ›Religion‹ an den
Grenzen der bloßen Vernunft. Übers. von Alexander García Düttmann. In: Jacques
Derrida und Gianni Vattimo (Hg.): Die Religion. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001
(Edition Suhrkamp; 2049), S. 29f.
218 Buber, Ich und Du (wie Anm. 178), S. 32.
219 Ebd., S. 25.
220 Theunissen, Der Andere (wie Anm. 179), S. 331.
110 Teil I

Ansprechen bzw. im Dialog und vergeht mit diesem. Soweit würde ich Theu-
nissens Versuch einer philosophischen Auslegung des »Zwischen« als existen-
ter Wirklichkeit folgen.221 Anders als dieser halte ich aber die Identifikation
der Wirklichkeit des »Zwischen« und des »ewigen Du« mit Gott keinesfalls
für unproblematisch.222 An ihr hängt die gesamte religiöse Semantik von Ich
und Du, nicht zuletzt die Semantik um »erlösen«, die es erlaubt, im Hinblick
auf die Ich-Du-Relation bei Buber von einer messianischen Ethik zu sprechen.
Für Buber ist es die »große Tat Israels […], dass es die Anredbarkeit […]
Gottes als Wirklichkeit zeigte«.223 Hieraus resultiert notwendig die Spannung,
dass Buber einerseits eine dialogische Erfahrungsstruktur beschreibt, die von
der Partikularität einer jeden und mithin auch der jüdischen Religion unabhän-
gig sein soll, ursprünglicher als diese; dass er aber andererseits die dialogische
Erfahrung als jüdische Lehre und Tat deklariert. Damit trennt Buber nicht
kategorisch zwischen seinen philosophischen Schriften und seiner bibelexege-
tischen Arbeit über den jüdischen Messianismus, die er wiederum auf seine
Vorstellung vom Zionismus und jüdischer Identitätspolitik abbildet (vgl. Kapi-
tel II.2.3). Es dürfte wohl nicht nur eine Unentschiedenheit im Denken Bubers
darstellen, sondern auch einen historisch politischen Hintergrund haben, dass
er die Offenbarung der Offenbarkeit mit der jüdischen Offenbarung identifi-
ziert, wenn es auch um Erfahrungen geht, die vom Judentum unabhängig und
ursprünglicher als dieses sein sollen. Denn auf diese Weise lässt Buber seine
Dialogphilosophie in seine jüdische Identitätspolitik hineinspielen, der wir
später noch weiter nachgehen werden.

221 Vgl. ebd., S. 341–346.


222 Vgl. ebd., S. 341f.
223 Buber, Spinoza, Sabbatai Zwi und der Baalschem (wie Anm. 175), S. 742.
4 Gerechtigkeit als Sprache und Gerechtigkeit als
messianische Kategorie (Benjamin/Scholem)

Gerechtigkeit ist eine messianische Kategorie bei Benjamin genauso wie bei
seinem Freund Gershom Scholem. Beide reflektieren sie im Hinblick auf be-
stimmte sprachliche Strukturen. Bereits im frühen Sprachaufsatz von 1916
»Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen« sind Rechts-
und Sprachkritik bei Walter Benjamin aufs Engste miteinander verbunden.
Einem dem Bereich des Mythischen zugewiesenen Recht stellt Benjamin die
Vorstellung einer göttlichen Gerechtigkeit gegenüber, die er explizit als
sprachliche Gerechtigkeit in seinem späteren Essay »Karl Kraus« (1931) the-
matisiert. Macht Benjamin im Rahmen seiner allgemeinen Sprach- und
Rechtsphilosophie Anleihen bei der jüdischen Tradition, so bildet diese den
unmittelbaren Zusammenhang von Scholems Überlegungen. Dessen frühe
Versuche zu einer jüdischen Theorie der Gerechtigkeit kreisen um das Ver-
hältnis von Thora und Tradition, die er stets von ihrer sprachlichen Seite her
denkt, nämlich als Auslegungstradition der heiligen jüdischen Texte. Scholems
Sprachreflexion bezieht sich auf Strukturen der hebräischen Sprache – Benja-
min hat hingegen nie richtig Hebräisch gelernt. Auf Scholems Auffassung der
hebräischen Sprache baut auch sein Zionismus auf, wie sich in seinem be-
rühmten, an Rosenzweig gerichteten »Bekenntnis über unsere Sprache« zeigt.
Im letzten Teil dieses Kapitels werde ich Scholems Sprachbekenntnis als Re-
aktion auf Rosenzweigs Artikel »Neuhebräisch?« lesen. Scholem und Rosen-
zweig hatten nicht nur unterschiedliche Positionen gegenüber dem Zionismus,
sondern diese spiegeln sich in ihrem jeweiligen Verständnis der hebräischen
Sprache wider.

4.1 Klagen, Anklagen, Beim-Namen-Rufen und Reimen:


Schöpfung, Gericht und Erlösung als Sprachformen
bei Walter Benjamin

Wie ein Brennspiegel bündelt der Essay »Karl Kraus« aus dem Jahr 1931 viele
Motive von Walter Benjamins Schreiben bis dato. Recht und Gerechtigkeit,
barocke Naturgeschichte und Kreaturbegriff, mythischer »Schuldzusammen-
hang von Lebendigem« (GS I/1 138) und dämonische Zweideutigkeit, Anar-
chie als »einzig moralische, einzig menschenwürdige Weltverfassung« (GS
112 Teil I

II/1 356), adamitische Namensprache – alle diese Themen versammelt Benja-


min in dem großen Kraus-Essay. Zugleich gilt dieser Essay als ›Umspann-
werk‹ der metaphysischen Geladenheit von Benjamins Denken in eine materia-
listische. Die in der Forschung lange gängige Zweiteilung von Benjamins
Werk in ein frühes metaphysisches und ein spätes materialistisches ist aller-
dings viel zu grob, um Transformationen wie Kontinuitäten von Benjamins
Denken zu erfassen.1 Die entscheidende Kontinuität stellt der »sehr besonde-
re[] sprachphilosophische[] Standort«2 dar, von dem her und zu dem hin sich
Benjamin unterschiedliche Felder erschließt, sei es nun die Theologie, die
Literatur, die Ästhetik, die Anthropologie oder die (materialistische) Politik.
Die Frage nach einer nicht-instrumentellen, nicht-signifikativen Dimension der
Sprache leitet dabei Benjamins sprachphilosophische Erkundungen.3
Diese nicht-signifikative Sprachdimension findet Benjamin in theologischen
Sprachdiskursen reflektiert, aus denen er Ansätze für eine allgemeine Sprach-

1 Im Hintergrund dieser Zweiteilung steht Benjamins Auseinandersetzung mit Scho-


lem über seine Hinwendung zum historischen Materialismus allgemein und über den
Kraus-Essay im Besonderen. Christian Schulte skizziert in der bislang umfang-
reichsten Untersuchung zu Benjamins Kraus-Essay diese Debatte zwischen Scholem
und Benjamin (Christian Schulte: Ursprung ist das Ziel. Walter Benjamin über Karl
Kraus. Würzburg: Königshausen & Neumann 2003 [Epistemata: Reihe Literaturwis-
senschaft; 439], S. 31–35). Scholem moniert eine »der kommunistischen denkbar
angenäherte[n] Phraseologie« und wirft Benjamin »Selbstbetrug« vor, insofern sei-
nes Erachtens Benjamins wirkliches, sprachmetaphysisches Verfahren im Wider-
spruch zu dem vorgegebenen materialistischen stünde (vgl. Gershom Scholem an
Walter Benjamin, 30.03.1931. In: Walter Benjamin: Gesammelte Briefe. Bd 4. Hg.
von Christoph Gödde und Henri Lonitz. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1998, S. 26–30).
Statt Scholems Vorwurf der Zweideutigkeit zu entkräften, bekennt sich Benjamin in
seinem Antwortbrief »zu einer zwiespältigen Existenz aus linker Gesinnung bei bür-
gerlicher Klassenlage«, wie Alexander Honold resümiert (Alexander Honold: Karl
Kraus. In: Burkhardt Lindner [Hg.]: Benjamin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung.
Stuttgart, Weimar: Metzler 2006, S. 522–539, hier: S. 525).
2 Walter Benjamin an Max Rychner, 07.03.1930. In: Benjamin, Gesammelte Briefe.
Bd 4 (wie Anm. 1), S. 18. Dieser Brief an Rychner steht im engen Zusammenhang
mit dem Kraus-Essay. Christian Schulte nennt ihn den »erkenntnistheoretische[n]
Epilog des Essays« (Schulte, Ursprung ist das Ziel [wie Anm. 1], S. 32).
3 Winfried Menninghaus hat die »für Benjamins gesamte Sprachphilosophie charakte-
ristische Konstellation« wie folgt beschrieben: »Die Frage nach dem nicht-
signifikativen ›Wesen‹ einer Sprache als solcher führt im Felde der theoretisch-
programmatischen Sprachphilosophie zu einer quasi archäologischen Ergründung
magischer Spracherfahrung sowie des mystisch-theologisch ›Diskurses‹ über sie,
und sie antizipiert eben darin die späteren praktischen Interpretationen konkreter und
keineswegs mystischer Sprachgestalten« (Winfried Menninghaus: Walter Benjamins
Theorie der Sprachmagie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1980, S. 16). Wenn Benjamin
bei seiner Ergründung der nicht-signifikativen Dimension von Sprache auf die Theo-
logie und religiöse Texte zurückgeht, geschehe dies nicht, so Menninghaus’ These,
um einer Theologisierung willen, sondern um noch die religiöse Autorität auf die
»›Magie‹ von Sprache« zurückzuführen (vgl. ebd., S. 22).
4 Gerechtigkeit als Sprache und Gerechtigkeit als messianische Kategorie 113

theorie ableitet. Damit geht einher, dass Benjamin theologische Konzepte wie
Schöpfung und Erlösung als Sprache zu denken gibt. Im Kraus-Essay konstitu-
ieren Zitat, Name und Reim, wie wir noch genauer sehen werden, Erlösung als
Sprache. Im Zitat und im Reim bezieht sich die Sprache nun aber im eminen-
ten Sinn auf sich selbst, so dass Erlösung zu einem sprachimmanenten Phäno-
men wird. Benjamins sprachliche Säkularisierung der Erlösung behält jedoch
theologische Restbestände. Im gänzlich Profanen taucht wieder etwas Religiö-
ses, etwas Messianisches auf – diese Figur findet sich immer wieder bei Ben-
jamin.4
Bereits in seinem frühen Sprachaufsatz »Über Sprache überhaupt und über
die Sprache des Menschen« (1916) betont Benjamin, dass seine Betrachtung
zum »Wesen der Sprache auf Grund der ersten Genesiskapitel […] weder
Bibelinterpretation als Zweck verfolgt noch auch die Bibel an dieser Stelle
objektiv als offenbarte Wahrheit dem Nachdenken zugrunde []legt« (GS II/1
147). Vielmehr widmet Benjamin sich der Frage, was aus dem »Bibeltext in
Ansehung der Natur der Sprache selbst« (ebd.) sich ergebe. Er exemplifiziert
die nicht-signifikativen Dimensionen der Sprache im Rückgang auf den theo-
logischen Sprachdiskurs, ohne sie für die Theologie reservieren zu wollen.
Doch die Crux besteht darin, dass sich theologische Sprachmodelle nicht ohne
weiteres in profane Bereiche übertragen lassen. So funktioniert das von Ben-
jamin skizzierte Sprachmodell der Genesis, wie noch näher zu zeigen ist, nur
unter der Bedingung, dass man Gottes Wort als Offenbarung voraussetzt – eine
Voraussetzung, von der Benjamin gerade nicht mehr ausgehen möchte. Die
adamitische Sprache, der er sich in seinem frühen Sprachaufsatz widmet, lässt
sich als solche überhaupt nicht in profane Bereiche übertragen, denn sie ist an
theologische Voraussetzungen gebunden. Will man sprachtheoretische Er-
kenntnisse, die der theologische Sprachdiskurs der Genesis birgt, auch in
nicht-theologischen Zusammenhängen fruchtbar machen, dann müssen sie so
modifiziert werden, dass sie ohne die Offenbarung als ihre Voraussetzung
auskommen. Das ist die Aufgabe, die Benjamin stellt, wenn es um die »Natur
4 Prominentestes Beispiel hierfür ist das Umspringen der allegorischen Betrachtung,
das Benjamin am Ende seines Trauerspielbuches fokussiert. Vergänglichkeit werde
in den barocken Trauerspielen nicht nur allegorisch bedeutet. Vielmehr werde sie im
Umspringen der allegorischen Intention selbst allegorisch bedeutend: »Als Allegorie
der Auferstehung. […] Denn auch diese Zeit der Hölle wird im Raume säkularisiert
und jene Welt, die sich dem tiefen Geist des Satan preisgab und verriet, ist Gottes«
(GS I/1 406). Eine simplifizierende Lektüre wird in diesen Sätzen eine negative,
transzendente Heilsgewissheit ausgedrückt finden. Ganz so einfach ist es aber nicht.
Benjamin beschreibt den Umschwung der barocken Allegorien des Vergehens als
Vergehen der Allegorie, um auf eine Welt nach der Intentionalität und der Subjekti-
vität, die er mit der Allegorie verbindet, hinzudeuten. Das Vergehen der Allegorie ist
aber selber nur als Allegorie zu haben. Vgl. zu dieser Paradoxie Bettine Menke: Ur-
sprung des deutschen Trauerspiels. In: Burkhardt Lindner (Hg.): Benjamin-
Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, Weimar: Metzler 2006, S. 210–228,
besonders S. 226.
114 Teil I

der Sprache selbst« (GS II/1 147) zu tun sein soll. Benjamin hält sich selbst
nicht grundsätzlich an eine saubere Unterscheidung zwischen theologischem
Sprachmodell und sprachimmanentem Modell, das »der Natur der Sprache
selbst« gemäß ist, weder im frühen Sprachaufsatz noch später. Nichtsdestotrotz
gibt diese Unterscheidung eine wichtige Richtung in Benjamins Sprachdenken
an, der ich in diesem Kapitel folgen möchte. Hiermit verbunden sind folgende
Fragen:
In welcher modifizierten Form lassen sich die sprachtheoretischen Erkennt-
nisse, die Benjamin in der Analyse der Genesis gewinnt, in andere Register
eintragen, etwa in das Register der profanen Literatur oder der Politik? In
diesen beiden Registern verzeichnet Benjamin immerhin den Wiener Sprach-
kritiker Karl Kraus bereits 1920, als dieser ihm »auf dem Wege zu einem gro-
ßen Politiker«5 zu sein scheint. Was bleibt vom adamitischen Sprachmodell im
späteren Kraus-Essay? Und wie sind die »messianischen Potenzen«6 der Spra-
che zu denken, auf die Benjamin mit der »Engelsprache« (GS II/1 363) im
Kraus-Essay anspielt? Welches theologische Sprachmodell steht hier im Hin-
tergrund, und wie wird es gegebenenfalls modifiziert? Diese Fragen sollen uns
im Folgenden in der Lektüre von Benjamins Kraus-Essay beschäftigen. Die
zentrale Stellung, die der Kraus-Essay in diesem Kapitel hat, erklärt sich dar-
aus, dass er, deutlicher noch als der frühe Sprachaufsatz von 1916, zeigt, dass
unter profanen Bedingungen nicht ungebrochen am adamitischen Sprachmo-
dell festzuhalten ist. Die durch den frühen Sprachaufsatz aufgeworfene Frage,
wie die Überführung des adamitischen Sprachmodells der Genesis in ein pro-
fanes, sprachimmanentes zu denken ist, nimmt der Kraus-Essay wieder auf.
Benjamins Kraus-Essay ist in drei Abschnitte aufgeteilt: »Allmensch«,
»Dämon«, »Unmensch« als die drei physiognomischen Ansichten von Karl
Kraus. In dem Abschnitt über den »Allmenschen« behandelt Benjamin Kraus’
Orientierung an der Natur als Schöpfung. Im zweiten Teil geht es unter dem
Titel »Dämon« um Kraus’ Fixierung auf die Sphäre des Rechts. Der dritte
Teil, »Unmensch« betitelt, dreht sich schließlich um den von Benjamin so
genannten »realen Humanismus« (GS II/1, 355, 363ff.), den Benjamin mit
dem Marxismus assoziiert. Als dessen Bote erscheine bei Kraus der Un-
mensch, ein »Geschöpf aus Kind und Menschenfresser, […] ein neuer Engel«
(GS II/1 367). Die drei Abschnitte behandeln also Schöpfung, Gericht und
Erlösung, die Benjamin als Sprachkonzepte bzw. als Sprachpraktiken bei
Kraus zu lesen gibt.
Die Schöpfung dient Karl Kraus als positiver Maßstab seiner Pressekritik,
deren bevorzugter Gegenstand die »Phrase« ist. Diese erkennt Benjamin als
Kraus’ Inbegriff des »Unechten«. Der Entlarvung dieses Unechten habe sich

5 Walter Benjamin an Gershom Scholem, 29.12.1920. In: Walter Benjamin: Gesam-


melte Briefe. Bd 2. Hg. von Christoph Gödde und Henri Lonitz. Frankfurt a. M.:
Suhrkamp 1996, S. 120.
6 Schulte, Ursprung ist das Ziel (wie Anm. 1), S. 108.
4 Gerechtigkeit als Sprache und Gerechtigkeit als messianische Kategorie 115

Kraus’ Kampf gegen die Presse verschrieben: »›Wer nur hat diese große Ent-
schuldigung: zu können, was man nicht ist, in die Welt gebracht?‹ Die Phrase.
Sie ist aber eine Ausgeburt der Technik« (II/1 336). Der Hiatus zwischen Sein
und technischem Können drückt sich für Kraus in der Gleichzeitigkeit von
Ungleichzeitigem, nämlich von neuer technischer Lebenswelt bei alten Le-
bensformen, aus. »Die Phantasie der Neuzeit ist hinter den technischen Errun-
genschaften der Menschheit zurückgeblieben«,7 lässt Kraus die Figur des
Nörglers in seinem Weltkriegsdrama Die letzten Tage der Menschheit sagen.
Der Hauptvorwurf des Nörglers gegenüber der Presse vor und im Kriege be-
steht dementsprechend nicht darin, dass sie korrupt gewesen sei und mit den
Krieg treibenden Parteien gemeinsame Sache gemacht hätte. Vielmehr gilt für
den Nörgler: »Nicht daß die Presse die Maschinen des Todes in Bewegung
setzte – aber daß sie unser Herz ausgehöhlt hat, uns nicht mehr vorstellen zu
können, wie das wäre: das ist ihre Kriegsschuld!«8
Ist die Phrase für Kraus Inbegriff des Unechten,9 so baut er die »Natur
schlechtweg […] in ihrem ungebrochenen Ursein« (GS II/1 353) als ihre Kon-
trastfolie auf. Hieraus gewinne Kraus, so Benjamin, den Maßstab seiner Kritik,
nämlich den theologischen Takt:
Takt ist nicht etwa – wie nach der Vorstellung Befangener – die Gabe, jedem unter
Abwägung aller Verhältnisse das ihm gesellschaftlich Gebührende werden zu lassen.
Im Gegenteil: Takt ist die Fähigkeit, gesellschaftliche Verhältnisse, doch ohne von
ihnen abzugehen, als Naturverhältnisse, ja selbst als paradiesische zu behandeln und
so nicht nur dem König, als wäre er mit der Krone auf der Stirn geboren, sondern
auch dem Lakaien wie einem livrierten Adam entgegenzukommen. Diese Noblesse
hat Hebel in seiner Priesterhaltung besessen, Kraus besitzt sie im Harnisch. Sein
Kreaturbegriff enthält die theologische Erbmasse von Spekulationen, die zum letzten
Mal im 17. Jahrhundert aktuelle, gesamteuropäische Geltung besessen haben. (GS
II/1 339)

Takt beruhe bei Kraus nicht auf gesellschaftlicher Konvention, sondern orien-
tiere sich, als theologischer Takt, an der Übereinstimmung von Sein und Gel-
tung. Einen König so zu behandeln, als wäre er mit der Krone auf der Stirn zur
Welt gekommen, heißt, zu unterstellen, dass ihn seine königliche Natur – und
nicht etwa menschliche Einrichtungen – zum König mache. Die Rede davon,
»gesellschaftliche Verhältnisse, doch ohne von ihnen abzugehen, als Naturver-
hältnisse, ja selbst als paradiesische zu behandeln«, findet ein Echo im letzten
Teil von Benjamins Essay. Hier schreibt Benjamin, Kraus’ Programm sei es,
»die bürgerlich-kapitalistischen Zustände zu einer Verfassung zurückzuentwi-
7 Karl Kraus: Die letzten Tage der Menschheit. Tragödie in fünf Akten mit Vorspiel
und Epilog. In: Ders.: Schriften. Hg. von Christian Wagenknecht. Bd 10. 12. Aufl.,
Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005 (Suhrkamp-Taschenbuch; 1320), S. 208.
8 Ebd., S. 677.
9 Einerseits stellt sich, nach Kraus’ Auffassung, die Phrase vor die Sache, andererseits
produziert sie Effekte, die selbst realitätsmächtig sind (vgl. Helmut Arntzen: Karl
Kraus und die Presse. München: Fink 1975, S. 41).
116 Teil I

ckeln, in der sie sich nie befunden haben« (GS II/1 363). Das Menschenwürdi-
ge nicht als »Bestimmung und Erfüllung der befreiten – revolutionär veränder-
ten – Natur, sondern als Element der Natur schlechtweg« (GS II/1 353) zu
begreifen wie Kraus, muss jemandem, der mit dem historischen Materialismus
liebäugelt wie Benjamin, aufstoßen. Mit einem langen Zitat von Karl Marx
wendet sich Benjamin dann auch gegen das »Phantom« des »›natürlichen‹
Menschen« (GS II/1 364).
Der Versuch, den gesellschaftlichen Verhältnissen im Schöpfungsstand ih-
ren Ursprung zuzuweisen, begegnet in barocken Dramen wie auch in der baro-
cken juristischen Theorie, wie man in Benjamins als Habilitationsschrift ge-
planter Studie Ursprung des deutschen Trauerspiels nachlesen kann (vgl. GS
I/1 264). Zur »theologischen Erbmasse« von barocken Spekulationen, die
Benjamin Kraus attestiert, gehört es, dass Kraus keinen Begriff von Geschichte
als einem selbständigen Bereich zwischen Schöpfung und Weltgericht habe.
Benjamin sieht Geschichte bei Kraus vielmehr in barocker, theologisch ge-
prägter Naturgeschichte aufgehen. Die »Schreckensjahre seines Lebens« habe
Kraus, so Benjamin, nicht als Geschichte, sondern als Natur begriffen, als
»ein[en] Fluß, verurteilt durch eine Höllenlandschaft sich zu winden. Es ist die
Landschaft, in der täglich 50.000 Baumstämme für 60 Zeitungen fallen« (GS
II/1 341). Wandert im Barock die Geschichte in den Schauplatz hinein (vgl.
GS II/1 271), so auch bei Kraus. Benjamin kann sich daher nicht der Meinung
von Kraus’ Freund Adolf Loos anschließen, dass »Kraus an der Schwelle einer
neuen Zeit« (GS II/1 348) stünde. Kraus sei kein historischer Genius. Die
Spanne zwischen Schöpfung und Weltgericht finde bei ihm »keine heilsge-
schichtliche Erfüllung, geschweige denn geschichtliche Überwindung« (GS
II/1 340). Er befinde sich »nicht an der Schwelle einer neuen Zeit. Kehrt er der
Schöpfung je den Rücken, bricht er ab mit Klagen, so ist es nur, um vor dem
Weltgericht anzuklagen« (GS II/1 349).10
Als »Überläufer in das Lager der Kreatur« (GS II/1 341) eignen Kraus zwei
Sprachgebärden: die Klage und die Anklage. Ankläger ist Kraus, wenn er der
Schöpfung den Rücken kehrt und vor dem Weltgericht auftritt. Mit der Klage
ist er aber bei der Kreatur. Über die Klage als Ausdruck der Natur hatte Ben-
jamin schon am Ende von »Über Sprache überhaupt und über die Sprache des
Menschen« gehandelt. »Es ist eine metaphysische Wahrheit, daß alle Natur zu
klagen begönne, wenn Sprache ihr verliehen würde« (GS II/1 155), schreibt
Benjamin hier und betont die Doppeldeutigkeit dieses Satzes. Er bedeute zum
einen, dass die Natur über ihre Stummheit klagen würde. Zum anderen besage
der Satz, dass die Klage der sprachliche Ausdruck der Natur wäre, und zwar

10 Vgl. zur Kritik Benjamins an Kraus’ widerhistorischer theologischer Mythisierung


der Moderne und an Kraus’ barocker Vorstellung, die Kreatur sei der »wahre Tu-
gendspiegel der Schöpfung« (GS II/1 341): Sigrid Weigel: Walter Benjamin. Die
Kreatur, das Heilige und die Bilder. Frankfurt a. M.: Fischer-Taschenbuch-Verlag
2008 (Fischer; 18018), besonders S. 31–35.
4 Gerechtigkeit als Sprache und Gerechtigkeit als messianische Kategorie 117

die Klage als der »undifferenzierteste, ohnmächtige Ausdruck der Sprache«


(GS II/1 155), »fast nur […] sinnliche[r] Hauch« (GS II/1 155). Aber auch mit
der Stummheit der Natur hat es eine doppelte Bewandtnis. Diese erscheint nur
bedingt als Folge des Sündenfalls in Benjamins Sprachaufsatz. Denn die stum-
me Sprache der Natur ist von der »andere[n] Stummheit« (GS II/1 155) zu
unterscheiden, in die die Natur durch den Sündenfall verschlagen wird. Im
Modell der adamitischen Namensprache achtet der Mensch noch auf die
stumme Sprache der Natur. Er übersetzt die stumme, namenlose Sprache der
Dinge in die menschliche artikulierte Namensprache. Mit dem Sündenfall, der
Geburtstunde der mittelbaren, abstrakten Zeichensprache, kehrt sich der
Mensch »von jenem Anschauen der Dinge, in dem deren Sprache dem Men-
schen eingeht« (GS II/1 154), ab. Die stumme Sprache der Natur verstummt
vor Traurigkeit.
Bei genauem Hinsehen zeigt sich nun, dass die adamitische Namensprache
nicht nur aufgrund der Unumkehrbarkeit des (Sünden-)Falls in die Geschichte
und die Zeichensprache kein praktisches Vorbild für Benjamin mehr sein kann.
Denn ganz frei von Trauer ist bei Benjamin selbst die paradiesische Natur
nicht:11 »Benannt zu sein – selbst wenn der Nennende ein Göttergleicher und
Seliger ist – bleibt eine Ahnung von Trauer« (GS II/1 155). Auch in der adami-
tischen Sprache findet schon eine »Überbenennung« (GS II/1 155) statt, sind
Name und Ding nicht identisch. Wenn Benjamin deklariert, dass Sprachlosig-
keit das große Leid der Natur bilde und um ihrer »Erlösung« willen Leben und
Sprache des Menschen in der Natur sei (vgl. GS II/1 155), dann weist Benja-
min hier schon über die adamitische Namensprache hinaus. Die Namensprache
ist eine Sprache der Erkenntnis (»Gott machte die Dinge in ihren Namen er-
kennbar. Der Mensch aber benennt sie maßen der Erkenntnis« (GS II/1 148).
Mit der Klage spricht Benjamin demgegenüber eine mimetische Ausdruckssei-
te der Sprache an, »fast nur den sinnlichen Hauch«. Wenn Leben und Sprache
des Menschen um der Erlösung der Sprachlosigkeit der Natur willen existieren
sollen, dann kann es nicht nur darum gehen, dass der Mensch die Stummheit
der Natur benennt, ihre stumme Sprache in die artikulierte Namensprache
übersetzt. Vielmehr ist die Stummheit selbst, »fast nur de[r] sinnliche[]
Hauch«, zum Ausdruck zu bringen, ist also die stumme Sprache der Natur als
Ausdruck sprachlich einzuholen.
Genau dies tut aber Kraus. Das »Allerheiligste« von dessen Vortragskunst
liege darin, dass Kraus die Grenzen des Wortes »weiter und weiter hinaus-
schiebt […], daß es am Ende sich depotenziert, in die bloße kreatürliche
Stimme sich auflöst: ein Summen, das zum Worte sich verhält wie sein Lä-
cheln zum Witz« (GS II/1 358). Die artikulierte Sprache löse sich bei Kraus
nicht in instrumentaler Musik auf – Kraus verzichtet auf musikalische Instru-

11 Hierüber geht die Forschung hinweg, wie sie überhaupt das Verhältnis von adamiti-
scher Namensprache zur Klage, die am Schluss von Benjamins Essay thematisiert
wird, vernachlässigt. Ich danke Ulrich Wergin für diesen Hinweis.
118 Teil I

mentierung bei seinen Offenbach-Vorlesungen oder dem Vortrag Nest-


roy’scher Kuplets –, sondern in die kreatürliche Stimme des »Summens«. Im
»Summen« erlischt die Semantik, und es manifestiert sich eine sinnliche Aus-
drucksqualität von Sprache. Dieser entspricht in der Dichtung der Reim, dem
Kraus eine seiner längsten Abhandlungen über die Sprache gewidmet hat.12
»Am Reim erkennt das Kind, daß es auf den Kamm der Sprache gelangt ist,
wo es das Rauschen aller Quellen im Ursprung vernimmt. Dort oben ist sie zu
Hause, die Kreatur, die nun nach so viel Stummheit im Tier und so viel Lüge
in der Hure im Kinde zu Wort kommt« (GS II/1 361). Im Ursprung ist die
Sprache ein »Rauschen aller Quellen«, ein Klangereignis, das in jedem Reim,
der ja auch nur auf der Grundlage des Klanges operiert, vernehmbar ist. Ben-
jamin hatte im ersten Teil des Essays dargestellt und implizit kritisiert, dass
Kraus ein Schöpfungsideal, in dem Sein und Geltung übereinstimmen, zum
unmittelbaren Vorbild für gesellschaftliche Zustände erhebt. Diesem Ideal
korrespondiert eine transparente, nicht durch Phrasen verstellte Sprache, in der
Form und Inhalt, Signifikant und Signifikat, sich decken.13 Das »Rauschen der
Quellen am Ursprung« gibt demgegenüber Sprache von ihrer sinnlichen Quali-
tät her zu denken, »depotenziert«, was ihren Bedeutungsgehalt angeht, poten-
ziert, was ihre Ausdrucksmöglichkeiten anbelangt. Kraus’ Kreaturbegriff – die
Kreatur als »der wahre Tugendspiegel der Schöpfung, in welchem Treue,
Reinheit, Dankbarkeit uns aus verlorener Zeitenferne herüberlächeln« (GS II/1
341) – kann wohl, wie so vieles in seiner Theorie, als »reaktionär[]« (GS II/1
342) gelten. Dies trifft jedoch nicht auf seine kreatürliche Sprachpraxis zu, die
Benjamin im dritten Teil des Essays in den Blick nimmt: das Summen, und
dessen poetisches Äquivalent, das Reimen. Im Hinblick auf die Klage als
Sprachgebärde gilt analog: Der Gegenstand von Kraus’ Klage, ihr »Was« –
nämlich der Verlust der Reinheit am Ursprung – ist konservativ. Das »Wie«
der Klage, die Klage aus Sprachausdruck, die der Herrschaft des Sinns entgeht,
nimmt Benjamin jedoch von der Kritik aus.
Zwei »Pole des sprachlichen Ausdrucks« identifiziert Benjamin bei Kraus:
»den depotenzierten des Summens und den armierten des Pathos« (GS II/1
359). Klage und Anklage entsprechen diesen beiden Ausdruckspolen als
Kraus’ Ausdrucksgebärden. Die Klage ist dabei an die Schöpfung, die Anklage
an das apokalyptische Weltgericht adressiert. Kraus’ apokalyptische Weltsicht
steht nun mit seiner Abwertung der Geschichte zugunsten einer geschichtslo-
sen Natur im genauen Zusammenhang und muss ebenfalls Benjamins Kritik
verfallen. Seine Zitatpraxis, die mit der Sphäre des Gerichts und des Rechts

12 Vgl. Karl Kraus: Der Reim. In: Ders.: Schriften. Hg. von Christian Wagenknecht.
Bd 7. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1987 (Suhrkamp-Taschenbuch; 1317), S. 323–358.
13 In diesem Ideal geht Kraus’ Sprachauffassung zwar nicht auf, es lässt sich aber
durchaus bei ihm annehmen (vgl. Jürgen Link: Karl Kraus im Kampf mit der Phrase
oder Versuch über den Anteil der Katachresen an der modernen Kultur. In: KultuR-
Revolution 43 [Dezember 2001], S. 50–55, besonders S. 53).
4 Gerechtigkeit als Sprache und Gerechtigkeit als messianische Kategorie 119

verbunden ist, erscheint Benjamin jedoch geradezu als revolutionär.14 Bereits


in dem kurzen Text »Karl Kraus« (1928 veröffentlicht) konstatiert Benjamin,
dass sich
alles, ausnahmslos Alles, Sprache und Sache, für ihn [Kraus; Anm. E. D.] in der
Sphäre des Rechts abspielt. […] Man begreift seine sprachlichen Untersuchungen
nicht, erkennt man sie nicht als Beitrag zu einer Strafprozeßordnung, begreift das
Wort des Andern in seinem Munde nur als corpus delicti, ein Heft der ›Fackel‹ nur
als Termin. (II/2 624f.)

Das Zitat, »das Wort des Andern«, spielt in Kraus’ satirischer Strategie eine
zentrale Rolle. Denn diese zielt darauf, die Handlungen und Worte der Zeitge-
nossen qua Zitat sich selbst zur Schau stellen und verurteilen zu lassen: »[D]ie
grellsten Erfindungen sind Zitate. Sätze, deren Wahnwitz unverlierbar dem
Ohr eingeschrieben ist, wachsen zur Lebensmusik. […] Phrasen stehen auf
zwei Beinen – Menschen behielten nur eines«,15 schreibt Kraus im Vorwort
seines satirischen Dokumentardramas Die letzten Tage der Menschheit, das zu
über 50 Prozent aus Zitaten besteht. Das »Wort des Andern« wird in Kraus’
Texten zum »corpus delicti« in einem Strafprozess, den Benjamin im großen
Kraus-Essay präzisiert, indem er ihn einen »Sprachprozeß[]« (GS II/1 349)
nennt. Denn Kraus übt Kritik an der Sprache, d. h. an der zeitgenössischen
Sprachverwendung, durch die Sprache selbst.16 Oder in Benjamins juristischer
Terminologie: In Kraus’ »Sprachprozeßordnung« (GS II/1 349) habe die Spra-
che den Vorsitz in der Gerichtskammer, in die sich jeder Gedanke im Nu ver-
wandeln könne.
Die Thematik von Sprache und Recht verweist wieder zurück auf Benja-
mins frühen Aufsatz »Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Men-
schen«. Für Benjamin hat der Sündenfall, im Hinblick auf den »Wesenszu-
sammenhang der Sprache« (GS II/1 153), eine dreifache Bedeutung. So stelle
der Sündenfall erstens die Geburtsstunde der Sprache als Mittel dar. Denn mit
der Frage nach Gut und Böse begebe sich der Mensch jenseits der Schöpfung
und ihrer Positivität. Angesichts dessen, dass Gott seine Schöpfung als sehr gut
erkannt hat (»und siehe, es war sehr gut« (Gen 1,31; GS II/1 152), sei das
Wissen um Gut und Böse nichtig und selbst das einzig Böse, das der paradiesi-
sche Zustand kenne. Das Wissen um Gut und Böse verlasse die Namenspra-
che, durch die der Mensch mit der Sprache der Dinge verbunden ist. Das

14 Vgl. allgemein zu Benjamins Interpretation von Kraus’ Zitatpraxis Josef Fürnkäs:


Zitat und Zerstörung. Karl Kraus und Walter Benjamin. In: Jacques Le Rider und
Gérard Raulet (Hg.): Verabschiedung der (Post-)Moderne? Tübingen: Narr 1987, S.
209–225.
15 Kraus, Die letzten Tage der Menschheit (wie Anm. 7), S. 9.
16 Vgl. zu Kraus’ Sprachkritik als Kritik an der Sprache durch die Sprache Michael
Thalken: Ein bewegliches Heer von Metaphern. Sprachkritisches Sprechen bei
Friedrich Nietzsche, Gustav Gerber, Fritz Mauthner und Karl Kraus. Frankfurt a. M.
u. a.: Lang 1999 (Literatur als Sprache; 12), S. 291.
120 Teil I

menschliche Wort als Mittel, als »äußerlich mitteilende[s] Wort[]« (GS II/1),
trete aus der immanenten Magie der Namensprache heraus; es soll »etwas
mitteilen (außer sich selbst)« (GS II/1 153). In der Namensprache teile sich
hingegen die Sprache, das sprachlich-geistige Wesen des Menschen, selbst
mit, indem es die Dinge benennt. Das Wissen um Gut und Böse installiert
demgegenüber Sprache als Mittel und »bloße[s] Zeichen« (GS II/1), durch das
etwas von der Sprache Verschiedenes bezeichnet werden soll.
Zweitens interpretiert Benjamin den Sündenfall unter sprachphilosophi-
schen Gesichtspunkten als Ursprung des »richtende[n] Wort[es]« (GS II/1
153), des Urteils. Im Urteil trete das Wort aus der immanenten Sprachmagie
heraus, um »ausdrücklich, von außen gleichsam, magisch« (GS II/1 153) zu
wirken. Als Mittel ausdrücklicher, äußerlicher Magie wird die Sprache den
Intentionen der Sprechenden untergeordnet und zu der Sprache äußerlichen
Zwecken gebraucht. Die »Magie des Urteils« (GS II/1 153) sieht Benjamin
sich aber gegen diejenigen richten, die sie evozieren – das richtende Wort
verstößt die ersten Menschen aus dem Paradies. Eine ungeheure Ironie kenn-
zeichne den Sündenfall als »mythischen Ursprung des Rechtes« (GS II/1 154):
Die ersten Menschen haben selbst das richtende Wort »exzitiert, zufolge einem
ewigen Gesetz, nach welchem dieses richtende Wort die Erweckung seiner
selbst als die einzige, tiefste Schuld bestraft – und erwartet« (GS II/1 153). Die
dritte sprachphilosophische Bedeutung des Sündenfalls schließlich ist mit der
Problematik des Urteils verbunden. Denn im Urteil drückt sich das Vermögen
des Sprachgeistes zur Abstraktion aus, die ein Ab-Sehen von den konkreten
sinnlichen Dingen impliziert.
Benjamins Rechtskritik, die ihren prägnantesten Ausdruck in dem Aufsatz
»Zur Kritik der Gewalt« (1921) gefunden hat, ordnet das Recht dem Bereich
des Mythos, dem mythischen Kreislauf von Schuld und Rache, zu. In Benja-
mins Augen hat Karl Kraus das Recht in seiner mythischen Substanz durch-
schaut wie wenige – und ruft es dennoch beständig an. Dies gehört zum »Dä-
mon« Kraus: Teil dessen zu sein, was er anklagt. Diesen dämonischen Bann
versuche Kraus aufzuheben, indem er die Rechtsordnung selbst in den Ankla-
gezustand versetze:
Man hat von Kraus gesagt, er habe das Judentum in sich niederringen, gar den Weg
vom Judentum zur Freiheit zurückgelegt – nichts widerlegt dies besser, als daß auch
ihm Gerechtigkeit und Sprache ineinander gestiftet bleiben. Das Bild der göttlichen
Gerechtigkeit als Sprache – ja in der deutschen selber – zu verehren, das ist der echt
jüdische Salto mortale, mit dem er den Bann des Dämons zu sprengen sucht. Denn
dies ist die letzte Amtshandlung des Eiferers: die Rechtsordnung selbst in Anklage-
zustand zu versetzen. […] Kraus stellt das Recht in seiner Substanz, nicht in seiner
Wirkung unter Anklage. Sie lautet Hochverrat des Rechtes an der Gerechtigkeit.
Genauer, des Begriffs am Worte, aus dem er sein Dasein hat: vorsätzliche Tötung
der Phantasie. (GS II/1 349)

Das »Bild der göttlichen Gerechtigkeit« zwar nicht direkt als Sprache, wohl
aber als ästhetische Urteilskraft hatte Benjamin implizit bereits in seinem Es-
4 Gerechtigkeit als Sprache und Gerechtigkeit als messianische Kategorie 121

say »Zur Kritik der Gewalt« aufgerufen. Benjamin zielt hier darauf, die Frage
der Gerechtigkeit aus dem Grunddogma der Mittel-Zweck-Korrelation, in dem
sich die Schulen des Naturrechts und des positiven Rechts träfen, herauszufüh-
ren. Strebe das Naturrecht danach, durch Gerechtigkeit der Zwecke die Mittel
zu rechtfertigen, so das positive Recht danach, durch die Berechtigung der
Mittel die Gerechtigkeit der Zwecke zu garantieren (vgl. GS II/1 180). Benja-
min hält dagegen, dass gerechte Zwecke nicht Zwecke eines möglichen Rechts
sein könnten. Gerechtigkeit sei vielmehr »das Prinzip aller göttlichen Zweck-
setzung« (GS II/1 198), im Gegensatz zur Macht als dem »Prinzip aller mythi-
schen Rechtsetzung« (GS II/1 198). Dieses spekulative Schema Gerechtig-
keit/Zweck/Gott versus Macht/Recht/Mythos lässt Benjamin nun in die Ästhe-
tik hinüberspielen, indem er implizit auf Kants Kritik der Urteilskraft Bezug
nimmt. Denn Benjamin begründet die These, dass gerechte Zwecke nicht
Zwecke eines möglichen Rechts sein könnten, damit, dass gerechte Zwecke
allgemeingültig, aber nicht verallgemeinerungsfähig zu denken seien. Die
Differenzierung zwischen »allgemeingültig« und »verallgemeinerungsfähig«
expliziert Benjamin im Hinblick auf den Einzelfall: »Zwecke, welche für eine
Situation gerecht, allgemein anzuerkennen, allgemeingültig sind, sind dies für
keine andere, wenn auch in anderen Beziehungen noch so ähnliche Lage« (GS
II/1 196). Der Anspruch auf Allgemeingültigkeit und die gleichzeitige Rück-
sicht auf den strikten Einzelfall kennzeichnen nun aber die ästhetische, reflek-
tierende Urteilskraft bei Kant, der sie von der bestimmenden Urteilskraft un-
terscheidet.17 Kants Differenzierung zwischen logisch bestimmender und re-

17 Vgl. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. Hg. von Wilhelm Weischedel. 2. Aufl.,
Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1996, S. 87: »Ist das Allgemeine (die Regel, das Prinzip,
das Gesetz) gegeben, so ist die Urteilskraft, welche das Besondere darunter subsu-
miert, […] bestimmend. Ist aber nur das Besondere gegeben, wozu sie das Allge-
meine finden soll, so ist die Urteilskraft bloß reflektierend.« Auf Kants Kritik der
Urteilskraft als Bezugstext von Benjamins »Zur Kritik der Gewalt« hat Hamacher
hingewiesen (vgl. Werner Hamacher: Afformativ, Streik. In: Christiaan L. Hart
Nibbrig [Hg.]: Was heißt »Darstellen«? Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1994 [Edition
Suhrkamp; 1696 = N.F.; 696], S. 340–371, hier: S. 349). Hamacher fasst dabei Ben-
jamins Unterscheidung von Recht und Gerechtigkeit, Verallgemeinerungsfähigkeit
und singuläre Allgemeingültigkeit wie folgt zusammen: »Gesetze fordern Allge-
meinheit, aber sie gründen ihren Anspruch, allgemein zu gelten, auf eine Subsump-
tionslogik, die jede einzelne Lage nur als Anwendungsfall eines Gesetzes in Be-
tracht zieht und dabei die Singularität dieser Lage mißachtet. […] Gerechtigkeit ist
wesentlich Situationsgerechtigkeit. […] Für die Theorie der Gerechtigkeit folgt aus
dieser Überlegung, daß reine Mittel und gerechte Zwecke immer die einer singulä-
ren Situation sind, daß nur singuläre, unter allgemeine Gesetze nicht befaßbare Mit-
tel und Zwecke Allgemeingültigkeit beanspruchen, nur singuläre für gerecht gelten
können. Ihre Singularität ist keine nach Regeln schon erkannte oder je erkennbare,
sondern eine solche, die in der Abwesenheit von Regeln allgemeine Anerkennung
erst fordert« (ebd., S. 349f.). Hamacher arbeitet des Weiteren die sprechakttheoreti-
schen Implikationen von Benjamins Unterscheidung zwischen Recht und Gerechtig-
122 Teil I

flektierender ästhetischer Urteilskraft kehrt auf diese Weise in Benjamins


Differenzierung zwischen Recht und Gerechtigkeit wieder.
Gerechtigkeit, Ästhetik/Sprache und Göttliches finden sich mithin nicht nur
und nicht erst im Kraus-Essay »ineinander gestiftet«. Die Formulierung »das
Bild göttlicher Gerechtigkeit als Sprache« legt wieder nahe, dass es Benjamin
um die ästhetischen/sprachphilosophischen Implikationen theologischer Kon-
zepte bzw. die Übersetzung theologischer Konzepte in allgemeine sprachphilo-
sophische/ästhetische Erkenntnisse geht. Dies ist gewiss auch die dominante
Linie bei Benjamin. Er verbindet jedoch nicht nur sprachphilosophische An-
sprüche mit seiner Verwendung theologischer Begrifflichkeit. Im Zusammen-
hang mit Kraus dient sie ihm darüber hinaus zur Markierung der jüdischen
Tradition, in der Benjamin diesen verortet, entgegen christlichen Vereinnah-
mungsversuchen, entgegen aber auch Kraus’ eigenen hochgradig problemati-
schen Äußerungen zum Judentum, die immer wieder als Symptom »jüdischen
Selbsthasses« gedeutet worden sind.18 Durch seine Sakralisierung der Sprache
überhaupt und der deutschen Sprache im Besonderen zeigt sich Kraus dem
»Traditionsraum deutscher Sprachkultur von Juden« zugehörig, der sich durch
die Dignifizierung der deutschen Sprache (als religiöse, poetische und wissen-
schaftliche Sprache) auszeichnet – im Unterschied zu deren Ethnifizierung im
Zuge der Nationalbewegungen des 19. Jahrhunderts.19
Gerechtigkeit ist eine göttliche, eine messianische Kategorie bei Benjamin.
Ihr theologisches Korrelat ist nicht Schöpfung und ist nicht apokalyptisches
Gericht, sondern eine Recht und Gericht historisch überwindende »Erlösung«
(II/2 625; II/1 196). Benjamin erkennt bei Kraus das Potential, die ahistorische
Fixierung auf Schöpfung und apokalyptisches Gericht zu durchbrechen, indem
der »ewig Recht heischende Ankläger« (II/2 625) die Rechtsordnung schließ-
lich selbst in den Anklagezustand versetzt. Damit öffnet sich ein Raum für den
»realen Humanismus« des »werdende[n] Menschen« (GS II/1 364), der den
»Götzenbildern des idealen, des romantischen Naturwesens ebenso wie des
staatsfrommen Musterbürgers« (GSII/1 364) die Stirn bietet. Als Korrelat
göttlicher Gerechtigkeit erscheint nun im Kraus-Essay nicht etwa eine göttli-

keit heraus. Sei die Rechtssetzung als performativer Akt der Einsetzung zu denken,
so müsse im Hinblick auf die sprachliche Struktur der Gerechtigkeit die Sprechakt-
theorie um ein Präformativ ergänzt werden. Denn singuläre gerechte Zwecke und
reine Mittel verweisen für Hamacher auf die Sprache in ihrer prä-positionalen, vor-
performativen Medialität, die er »afformativ« nennt (vgl. ebd., S. 348).
18 Vgl. Sander L. Gilman: Jüdischer Selbsthaß. Übers. von Isabella König. Frankfurt
a. M.: Jüdischer Verlag 1993, S. 139.
19 Die »deutsche Sprachkultur von Juden« ist das Thema einer Studie von Stephan
Braese. Außer der Dignifizierung der deutschen Sprache in Abgrenzung zu deren
Ethnifizierung erkennt Braese als Komponenten der deutschen Sprachkultur von Ju-
den die kulturelle Erfahrung von Mehrsprachigkeit und Sprachwechsel (Stephan
Braese: Eine europäische Sprache. Deutsche Sprachkultur von Juden 1760–1930.
Göttingen: Wallstein 2010).
4 Gerechtigkeit als Sprache und Gerechtigkeit als messianische Kategorie 123

che Sprache, sondern eine Sprache, die sich aus Zitat und Reim zusammen-
setzt, aus Formen, in denen sich die Sprache in hervorragender Weise auf sich
selbst bezieht. Göttliche Gerechtigkeit wird dort verortet, wo die Sprache ganz
zu sich kommt, die immanente »Natur der Sprache selbst« (II/1 147) zum
Ausdruck gelangt. Die Kehrseite von Benjamins radikaler sprachlicher Säkula-
risierung theologischer Konzepte ist, wie wir noch sehen werden, dass in der
immanenten »Natur der Sprache selbst« wieder etwas Religiöses aufscheint.
Der Hochverrat des Rechts an der Gerechtigkeit, den Kraus anprangere,
übersetzt Benjamin mit dem Verrat des Begriffs am Wort bzw. der vorsätzli-
chen Tötung der Phantasie. Indem Kraus nun die Technik des Zitats verwen-
det, vollzieht er, in Benjamins Darstellung, beides: Anklage des Rechts bzw.
des Begriffs und Rettung des Wortes bzw. der Phantasie. Mit dem Verfahren
des Zitierens verwendet Kraus eine Technik des Gerichts, um die Rechtsord-
nung selbst anzuklagen und zugleich zu übersteigen zur »Anarchie als einzig
moralische[r], einzig menschenwürdige[r] Weltverfassung« (GS II/1 356). Das
Verb »zitieren« ist im Deutschen zuerst in der Rechtssprache beheimatet ge-
wesen, wo es im 15. Jahrhundert im Sinne von »vor Gericht laden« gebraucht
wurde. Das Wort ist aus lateinisch »citare« entlehnt, das »herbeirufen, vorla-
den; sich auf jemandes Zeugenaussage berufen, anführen, erwähnen« bedeutet.
Man zitiert jemanden vor Gericht, indem man ihn beim Namen vor Gericht
ruft.20 »Aus dem Sprachkreis des Namens«, behauptet Benjamin, »erschließt
sich das polemische Grundverfahren von Kraus: das Zitieren« (GS II/1 362).
Benjamins anschließende Beschreibung von Kraus’ Zitatpraxis ist wohl die
berühmteste, meistzitierte Stelle des Essays:
Ein Wort zitieren heißt es beim Namen rufen. So erschöpft sich auf ihrer höchsten
Stufe die Leistung von Kraus darin, selbst die Zeitung zitierbar zu machen. […] Im
rettenden und strafenden Zitat erweist die Sprache sich als die Mater der Gerechtig-
keit. Es ruft das Wort beim Namen auf, bricht es zerstörend aus dem Zusammen-
hang, eben damit aber ruft es dasselbe auch zurück an seinen Ursprung. Nicht unge-
reimt erscheint es, klingend, stimmig, in dem Gefüge eines neuen Textes. Als Reim
versammelt es in seiner Aura das Ähnliche; als Name steht es einsam und aus-
druckslos. Vor der Sprache weisen sich beide Reiche – Ursprung so wie Zerstörung
– im Zitat aus. Und umgekehrt: nur wo sie sich durchdringen – im Zitat – ist sie
vollendet. Es spiegelt sich in ihm die Engelsprache, in welcher alle Worte, aus dem
idyllischen Zusammenhang des Sinnes aufgestört, zu Motti in dem Buch der Schöp-
fung geworden sind. (GS II/1 362f.)

Benjamin gibt das Zitat als Name zu lesen. Von der Benjamin-Forschung ist
bisher wenig beachtet worden, dass es interessanterweise auch in der linguisti-
schen Zitattheorie eine Schule gibt, die Zitate von ihrer logischen Funktion her

20 Vgl. Art. »zitieren«. In: Duden. Etymologie: Herkunftswörterbuch der deutschen


Sprache. Bearbeitet von Günther Drosdowski. Mannheim, Leipzig, Wien, Zürich:
Dudenverlag 1997, S. 834.
124 Teil I

als Namen interpretiert.21 Das Zitat ist eine Form der sprachlichen Metareprä-
sentation, d. h. eine sprachliche Bezugnahme auf eine andere sprachliche Re-
präsentation. Eine durch Alfred Tarski begründete Schule der Linguistik geht
nun davon aus, dass ein in Anführungszeichen gesetzter Ausdruck oder eine
zitierte Äußerung, die sich auf den Anführungsausdruck bzw. die angeführte
Äußerung selbst beziehen, wie Eigennamen funktionieren. Das Zitat ist der
Eigenname der zitierten Äußerung oder des zitierten Ausdrucks, so Tarski.22
Aus der Namenstheorie folgt die Konsequenz, dass angeführte Äußerungen als
logisch unstrukturierte, referentiell undurchsichtige und singuläre Termini
anzusehen sind.23 Die Theorie, Zitate als Eigennamen zu verstehen, ist umstrit-
ten in der Linguistik, gibt aber wichtige Hinweise für Benjamins Zitattheorie.
Das, was passiert, wenn ein Wort beim Namen gerufen wird, bestimmt Benja-
min als einen dekontextualisierenden Vorgang: Zitiert, beim Namen aufgeru-
fen, werde das Wort bei Kraus »zerstörend aus dem Zusammenhang« gebro-
chen. Der sprachliche Ausdruck als solcher, jenseits seines Verwendungszu-
sammenhangs, wird dadurch hervorgehoben (und stellt bei Kraus damit
zugleich seinen Verwendungszusammenhang bloß). Als Name stehe das Wort
einsam und ausdruckslos, so Benjamin. Hierbei kann er kaum an die adamiti-
schen Namen der Dinge gedacht haben, sondern an Eigennamen, die keiner
Objekterkenntnis entsprechen, wie Benjamin bereits in seinem frühen Sprach-
aufsatz schreibt (vgl. GS II/1 149f.). Indem Worte zitiert, beim Namen gerufen
werden, wird der sprachliche Ausdruck auf sich selbst als sprachlichen Aus-
druck bezogen und dadurch eine Differenz von Sprache und Ding markiert.24
Als einsamer und ausdrucksloser Name funktioniert das Wort nicht mehr als
Objektsprache und verweist, einsam, auf sich selbst.

21 Einzig Sibylle Benninghoff-Lühl weist in ihrer dekonstruktiven Untersuchung Figu-


ren des Zitats auf die Parallele zu Tarski hin (vgl. Sibylle Benninghoff-Lühl: Figu-
ren des Zitats. Eine Untersuchung übertragener Rede. Stuttgart, Weimar: Metzler
1998, S. 171).
22 Vgl. Alfred Tarski: Der Wahrheitsbegriff in den formalisierten Sprachen. In: Studia
Philosophica 1 (1935), S. 261–405, besonders S. 272f. (Hervorhebung E. D.): »Die
Anführungsnamen kann man so wie einzelne Wörter der Sprache behandeln, also
wie syntaktisch einfache Ausdrücke; die einzelnen Bestandteile dieser Namen – die
Anführungszeichen und die in den Anführungszeichen stehenden Ausdrücke – erfül-
len dieselbe Funktion, wie die Buchstaben oder die Komplexe der aufeinanderfol-
genden Buchstaben in den einzelnen Worten, sie besitzen also in diesem Zusam-
menhang keine eigenständige Bedeutung. Jeder Anführungsname ist dann ein kon-
stanter Einzelname eines bestimmten Ausdrucks (nämlich des in Anführungszeichen
gefaßten Ausdrucks), und zwar ein Name von demselben Charakter wie die Eigen-
namen der Menschen.«
23 Vgl. Elke Brendel, Jörg Meibauer und Markus Steinbach: Aspekte einer Theorie des
Zitierens. In: Dies. (Hg.): Zitat und Bedeutung. Hamburg: Buske 2007 (Linguisti-
sche Berichte: Sonderheft; 15), S. 5–25, hier: S. 16f.
24 Diese Differenz hervorzukehren, ist eines der Hauptziele von Kraus’ satirischer,
zitierender Sprachkritik, verstellt doch in seinen Augen die Phrase die Sache.
4 Gerechtigkeit als Sprache und Gerechtigkeit als messianische Kategorie 125

Einerseits konstruiert Benjamin das Zitat auf diese Weise als Sprache der
Sprache, als Eigenname, der allein auf den sprachlichen Ausdruck selbst refe-
riert. Andererseits schneidet er aber das Band zwischen Sprache und Ding
nicht ganz durch, erklärt er doch: »Als Reim steigt die Sprache aus der kreatür-
lichen Welt herauf, als Name zieht sie alle Kreatur zu sich empor« (GS II/1
361). Hier scheint wieder die adamitische Namenstheorie durch. Benjamins
äquivoker Gebrauch des Ausdrucks »Name«, der Ding-, aber auch Eigenname
bedeuten kann, trägt dazu bei, dass die Definition des Zitats als Name schillert.
Benjamin konzipiert das Zitat als Eigenname, der sich auf den sprachlichen
Ausdruck selbst beziehen soll, der aber auch die Funktion der adamitischen
Namen wieder aufgreift, indem es heißt, dass er »alle Kreatur zu sich em-
por[zieht]«. In dem Moment, wo die Sprache ganz profan wird und sich im
Zitat – und sei es das Kraus’sche Zeitungszitat – immanent auf sich selbst
bezieht, eignet ihr wieder die mystische Namensmagie, die Benjamin im frü-
hen Sprachaufsatz beschrieben hat. Wenn die Sprache ganz zu sich selbst
kommt, wird sie auch wieder zum Ausdruck der Natur – das vollendet Profane
reicht dem Mystischen die Hand. Sie treffen sich darin, dass sie den »idylli-
schen Zusammenhang des Sinns« aufstören.
Im »rettenden und strafenden Zitat« geht die Dekontextualisierung, der auf-
gestörte Zusammenhang, mit einer Rekontextualisierung einher: Nicht »unge-
reimt« erscheine das Wort, sondern »klingend, stimmig, in dem Gefüge eines
neuen Textes«. Das Gefüge dieses »neuen Textes« beruht also nicht auf Re-
geln der Grammatik oder Semantik, sondern auf der nicht-semantischen Ord-
nung des Klangs, des Reims.25 Benjamin sieht im strafenden und rettenden
Zitat einen Spiegel der Engelsprache, in welcher »alle Worte, aus dem idylli-
schen Zusammenhang des Sinnes aufgestört, zu Motti in dem Buch der Schöp-
fung geworden sind«. Mit dem Stichwort der »Engelsprache« gibt Benjamin
eine ›erlöste Sprache‹ oder Erlösung als Sprachform zu denken. Um diese
angemessen beurteilen zu können, muss man die Mehrdeutigkeit im »Buch der
Schöpfung« hören. Denn das »Buch der Schöpfung« lässt sich nicht nur als
Hinweis auf die Genesis lesen, sondern im genauen Wortsinn ist es vielmehr
die Übersetzung des hebräischen Sefer Jezira, eines frühen mystischen Textes,
dessen Datierung umstritten ist und zwischen dem 1. und 9. nachchristlichen
Jahrhundert schwankt.26 Der Sefer Jezira hat für die Ausbildung der jüdischen

25 Bettine Menke verweist auf Benjamins »Lehre vom Ähnlichen«, um das von Ben-
jamin angesprochene Textgefüge zu erläutern, das durch den Reim organisiert wird:
»Die Relation des ›Reims‹ zeigt, so wäre […] mit Benjamins Lehre vom Ähnlichen
zu formulieren, einen Zusammenhang ›unsinnlicher Ähnlichkeit‹ in der Sprache an,
die sich in einer innersprachlichen konstellativen und konfigurierenden Affinität
manifestiert« (Bettine Menke: Sprachfiguren. Name – Allegorie – Bild nach Benja-
min. Weimar: Verlag und Datenbank für Geisteswiss. 2001 [Medien i; 6], S. 506).
26 Vgl. zum historischen Hintergrund und zur Frage der Datierung des Sefer Jezira
Klaus Hermann: Das Sefer Jezira. In: Sefer Jezira. Buch der Schöpfung. Hg. u.
126 Teil I

Mystik, der Kabbala, eine herausragende Rolle gespielt.27 Wenn Benjamin


auch keine genauen Kenntnisse dieses kurzen, enigmatischen Buches, das
zentrale hermeneutische Entschlüsselungstechniken der späteren Kabbala
vorbuchstabiert, unterstellt werden sollen, so ist es doch möglich, dass er durch
Scholem von ihm gehört, wenn nicht gar in Franz Joseph Molitors geschichts-
philosophischer Darstellung der Kabbala etwas darüber gelesen hat.28 Es ist
aber auch möglich, dass Benjamin einen Hinweis auf den Sefer Jezira in
Schriften gefunden hat, die der »zweiten Kabbala«29 zuzurechnen sind, näm-
lich ihrer barocken und romantischen ästhetischen Rezeption von Georg Phi-
lipp Harsdörffer bis Friedrich Schlegel. Mit dieser ästhetischen Rezeption der
Kabbala hat Benjamin gemeinsam, dass er die exegetischen Techniken der
Kabbala als poetische Schreibverfahren auffasst und das ästhetische Potential
in der kabbalistischen Hermeneutik wahrnimmt.30

übers. von Klaus Hermann. Frankfurt a. M., Leipzig: Verlag der Weltreligionen im
Insel Verlag 2008, S. 131–219, besonders S. 184–204.
27 Robert Alter hat bereits Benjamins Anspielung auf den Sefer Jezira bemerkt (vgl.
Robert Alter: Necessary Angels. Tradition and Modernity in Kafka, Benjamin, and
Scholem. Cambridge [Mass.]: Harvard Univ. Press 1991, S. 81). Alter wertet diese
Bezugnahme als Zeichen der Kontinuität zwischen den frühen metaphysischen und
den späteren marxistisch orientierten Texten Benjamins. Die Anspielung auf den Se-
fer Jezira im Kraus-Essay zeige, dass Benjamin bleibend von der Idee einer kosmi-
schen Sprache des Ursprungs fasziniert gewesen sei. Alter geht nicht weiter auf den
Sefer Jezira ein und berücksichtigt folglich auch nicht dessen besonderes Sprach-
modell des Sefer Jezira. Erst dieses Sprachmodell macht aber deutlich, inwiefern die
›erlöste Sprache‹ bei Benjamin nicht einfach mit der Sprache des Ursprungs oder der
Schöpfung zusammenfällt. – Ich möchte mich an dieser Stelle noch einmal herzlich
bei Brian Britt für den Hinweis auf Robert Alters Studie bedanken.
28 Benjamin hat nach Auskunft Scholems Molitors Philosophie der Geschichte oder
über die Tradition neben Werken Franz von Baaders 1917 bestellt (Gershom Scho-
lem: Walter Benjamin – die Geschichte einer Freundschaft. 4. Aufl., Frankfurt a. M.:
Suhrkamp 1997 [Bibliothek Suhrkamp; 467], S. 53).
29 Mit diesem Ausdruck bezeichnet Winfried Menninghaus die sprachphilosophische
Aneignung der Kabbala bei den Romantikern (Menninghaus, Walter Benjamins
Theorie der Sprachmagie [wie Anm. 3], S. 199). Menninghaus kritisiert die Rich-
tung der Forschung, die Berührungspunkte Benjamins mit der historischen Kabbala
suche und verkenne, dass Benjamins Kenntnis der Kabbala über die Romantiker
(Hamann, Schlegel, Novalis, v. Baader) und deren ästhetische Reformulierung der
Kabbala vermittelt sei. Diese »zweite Kabbala« sei der Fundus für Benjamins mys-
tisch-magische Begrifflichkeit (vgl. ebd., S. 192). Den »kabbalistischen Horizont«
von Benjamins Sprachtheorie streicht Menninghaus damit nicht weg, sondern rückt
ihn in die romantische ästhetische Traditionslinie ein.
30 Vgl. hierzu die grundlegende Studie von Andreas Kilcher: Die Sprachtheorie der
Kabbala als ästhetisches Paradigma. Die Konstruktion einer ästhetischen Kabbala
seit der Frühen Neuzeit. Stuttgart, Weimar: Metzler 1998, besonders S. 242–278.
Kilcher zeigt, wie kabbalistische Entschlüsselungstechniken zu poetischen Verfah-
ren der Verschlüsselung transponiert werden.
4 Gerechtigkeit als Sprache und Gerechtigkeit als messianische Kategorie 127

Der Sefer Jezira behandelt die sprachlichen Verfahren, mit denen Gott das
Universum geschaffen haben soll. Die 22 Buchstaben des hebräischen Alpha-
bets bilden die Grundlage der Sprache der Schöpfung. »Jede einzelne Creatur
stellt die Ausprägung irgend eines heiligen Buchstabens dar«,31 schreibt Moli-
tor im Hinblick auf den Sefer Jezira. Dort geht es jedoch nicht nur um die
Schöpfungskraft der einzelnen Buchstaben, sondern als die wichtigste Erfin-
dung des Sefer Jezira gilt das Konzept der 231 möglichen Kombinationen
zweier hebräischer Buchstaben, aus denen alle Worte und a fortiori der
Mensch und die Welt geschaffen sein sollen. Aus der bedeutungslosen Kombi-
nation von zwei Buchstaben sind dem Sefer Jezira zufolge Welt und Mensch
erschaffen worden. Die Permutation und Kombination von Buchstaben, unab-
hängig von der Semantik, wird als sprachliches Verfahren der Schöpfung ver-
anschlagt, und nicht etwa die konventionelle Buchstabenfolge, die bedeutsame
Worte und Sätze generiert. Insofern der Sefer Jezira die Sprache in einzelne
Buchstaben als sprachliches, nicht-signifikatives Material atomisiert, das die
Grundlage für die Kombination und die Permutation der Buchstaben darstellt,
marginalisiert er vollkommen den kommunikativen, semantischen Aspekt der
Sprache: »God did not create the world by statements, by meaningful utteran-
ces, but by abstract forces, marked by the letters of the alphabet.«32
Die Sprachauffassung des Sefer Jezira übte einen großen Einfluss auf die
spätere kabbalistische Hermeneutik aus. Atomisierung des biblischen Textes
und Buchstabenkombination tauchen als Auslegungstechniken zum Beispiel
bei Abraham Abulafia im 13. Jahrhundert wieder auf. Die Technik der Atomi-
sierung des Textes ist für diesen höchste Auslegungskunst. Er nennt sie den
»Pfad der Namen«, denn indem das Kontinuum der Buchstaben aufgetrennt
werde, werde der biblische Text in göttliche Namen zerlegt.33 Eine solche kab-
balistische Hermeneutik, die auf dem Sefer Jezira aufbaut, überschreitet den
biblischen und den rabbinischen Standpunkt. In der rabbinischen Literatur und
implizit auch in der Bibel selbst begegnet der Glaube, dass die spezifische
Reihenfolge der Buchstaben, die den biblischen kanonischen Text konstituie-
ren, eine entscheidende Bedeutung habe. Diese Textauffassung ist auf Bewah-
rung der Textbedeutung ausgerichtet. Die Kombinationsmöglichkeiten, die der
Sefer Jezira erörtert, transzendieren demgegenüber die hergebrachte Textbe-

31 Franz Joseph Molitor: Philosophie der Geschichte oder über die Tradition. Bd 2.
Münster: Theissing 1834, S. 249.
32 Joseph Dan: The Language of Creation and Its Grammar. In: Christoph Elsas u. a.
(Hg.): Tradition und Translation. Zum Problem der interkulturellen Übersetzbarkeit
religiöser Phänomene. Berlin, New York: de Gruyter 1994, S. 42–63, hier: S. 59.
33 Vgl. Moshe Idel: Kabbalah – New Perspectives. New Haven, London: Yale Univ.
Press 1988, S. 236: »The disintegration of social language into meaningless units is
considered by Abulafia as the path of transformation of human language into divine
names«.
128 Teil I

deutung, ja, sie transzendieren überhaupt Sprache als Medium, mit dem Inhalte
übertragen werden sollen.34
Wenn Benjamin das »Buch der Schöpfung« als das »Gefüge eines neuen
Textes« (GS II/1 363; Hervorhebung E.D.) beschreibt, in dem die qua Zitat
beim Namen gerufenen Worte erscheinen, so lässt sich das schwerlich auf die
Genesis in ihrer überlieferten Textgestalt beziehen, sondern muss als Anspie-
lung auf den Sefer Jezira verstanden werden. Denn ein Buch der Schöpfung,
das »den idyllischen Zusammenhang des Sinnes« aufstört, ist weniger die
Genesis als der Sefer Jezira. Spielt die Semantik in der Permutation und Kom-
bination der Buchstaben im Sefer Jezira keine Rolle, so löst auch die de- und
rekontextualisierende Zitierpraxis, die Benjamin bei Kraus ausmacht, die
Sprache aus dem Sinnzusammenhang. Für den Historiker der jüdischen Mystik
Moshe Idel hat die kabbalistische Hermeneutik, die auf dem Sefer Jezira fußt,
Ähnlichkeit mit der avantgardistischen Sprachpraxis, wie man sie von den
Symbolisten und den Surrealisten kennt.35 Offenkundig hat Benjamin ebenfalls
Parallelen zwischen mystischer Hermeneutik und zeitgenössischen poetischen
Sprachtechniken bemerkt, wenn er Karl Kraus’ literarische Strategie der Zi-
tatmontage mit dem »Buch der Schöpfung« alias dem mystischen Sefer Jezira
assoziiert.36
Adorno hat eine Verwandtschaft zwischen Benjamin und Kraus in dem für
beide charakteristischen Interpretationsansatz gesehen, »profane Texte so zu
betrachten, als wären es heilige«.37 Dieser Satz Adornos impliziert unter-
schiedliche Lesarten. Es kann einmal um spekulative, theologische Sprachmo-
delle gehen, vor deren Hintergrund profane Texte betrachtet werden. Zum
anderen können Auslegungstechniken gemeint sein, die an heiligen Texten
entwickelt worden sind und nun auf profane Texte angewandt werden. Wel-
chen Status haben aber theologische Sprachmodelle, wenn die Bibel nicht
mehr als »offenbarte Wahrheit« in Betracht kommt (vgl. GS II/1 147)? Das
adamitische Sprachmodell funktioniert nur, wenn Gottes Wort als Ursprung
der stummen Sprache der Dinge und der benennenden Sprache des Menschen
veranschlagt wird. Denn »Objektivität« kann die Übersetzung der stummen
Sprache der Dinge in die benennende Sprache des Menschen nur beanspru-

34 Vgl. Moshe Idel: Das Buch Jezira in der jüdischen Tradition. In: Das Buch Jezira in
der Übersetzung von Johann Friedrich von Meyer. Hg. von Eveline Goodman-Thau
und Christoph Schulte. Berlin: Akademie-Verlag 1993, S. 39–44, besonders S. 41.
35 Vgl. Idel, Kabbalah – New Perspectives (wie Anm. 33), S. 236.
36 Vgl. zur ästhetischen Kabbala im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts Kilcher, Die
Sprachtheorie der Kabbala (wie Anm. 30), S. 345–358, sowie Cornelia Temesvári:
Kabbala als Kreationsfiktion. Starker Dichter und schreibender Golem bei Harold
Bloom und Cynthia Ozick. In: Dies. und Roberto Sanchiño Martínez (Hg.): »Wovon
man nicht sprechen kann…«. Ästhetik und Mystik im 20. Jahrhundert. Philosophie –
Literatur – visuelle Medien. Bielefeld: transcript 2010, S. 107–130.
37 Theodor W. Adorno: Einleitung zu Benjamins ›Schriften‹. In: Ders.: Über Walter
Benjamin. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1970, S. 33–51, hier: S. 41.
4 Gerechtigkeit als Sprache und Gerechtigkeit als messianische Kategorie 129

chen, wenn sie als »in Gott verbürgt« angenommen wird (vgl. GS II/1 151).
Wenn das Wort Gottes – also die Bibel – nicht mehr als Garant für die Objek-
tivität der Übersetzung in einem ternären Sprachmodell vorausgesetzt werden
kann, dann lässt sich das adamitische Namensmodell nicht mehr halten. Kraus
rekurriert mit dem theologischen Takt als Maßstab der Kritik noch ungebro-
chen auf das Sprachmodell der Genesis. Anders Benjamin. Dass für ihn nicht
ungebrochen am adamitischen Sprachmodell festzuhalten ist, wird in seiner
kritischen Beschäftigung mit Kraus besonders deutlich, wirft Benjamin Kraus
doch vor, die Dimension des Historischen zu verkennen und an dem Ideal
einer »archaischen geschichtslosen« Natur orientiert zu bleiben (vgl. GS II/1
353). Dieses Ideal informiert aber auch den theologischen Takt bei Kraus und
das mit ihm korrespondierende Sprachmodell. »]I]n Ansehung der Natur der
Sprache selbst« (GS II/1 147) bleibt für Benjamin das adamitische Sprachmo-
dell dahingehend wichtig, dass es ihm eine Alternative dazu liefert, Sprache
nur als Mittel der Mitteilung von ihr fremden Inhalten anzusehen. Dass Spra-
che kein Medium ist, durch das etwas mitgeteilt wird, sondern in dem sich
etwas mitteilt, nämlich Sprache als geistiges Wesen selbst – diese Einsicht in
das Wesen der Sprache, die Benjamin in der Bibel findet, ist auch von Rele-
vanz, wenn man die Bibel nicht als offenbarte Wahrheit voraussetzt. Auch die
postlapsarische Sprache, also Sprache als Mittel und abstraktes Urteil, kann
vom Instrument zum Medium werden, das sich selbst mitteilt: etwa indem sie
sich im Zitat auf sich selbst bezieht, sich selbst benennt, oder im Reim allein
auf lautlicher Grundlage operiert. Die Sprache aus Zitat und Reim verbindet
den historischen Raum mit dem Naturraum, definiert Benjamin das Zitat doch
als Sprache der Geschichtsschreibung (vgl. GS V/1 595) und ordnet den Reim
dem Kind, der kreatürlichen Welt und dem Naturlaut zu. Vom Zwang der
Signifikation befreit werden im Zitat sowohl die Dinge als auch die Sprache,38
die im Reim zu sich selbst als Medium wie zur Natur als lautlicher Ausdruck
kommt.
Urteile, die zitiert werden, werden nicht exekutiert. Hans Mayer hat es ein-
mal als misslich bezeichnet, wie Kraus »den Weltuntergang zu gestalten, mit
unterzugehen, dann aber das Jüngste Gericht zu überleben und die Tragödie
drucken zu lassen«.39 Das ist aber das Paradox von apokalyptischer Literatur
überhaupt, die nicht nur den Weltuntergang darstellen, sondern den Untergang
mit ihrem Wort selbst vollziehen will.40 Benjamin gibt diesem Paradox am
Ende seines Kraus-Essays eine andere Wendung:
38 Vgl. Schulte, Ursprung ist das Ziel (wie Anm. 1), S. 121.
39 Hans Mayer: Der Widerruf. Über Deutsche und Juden. Frankfurt a. M.: Suhrkamp
1996, S. 64.
40 Strukturell verbinden apokalyptische Texte den Anspruch, über die gesehene und
gehörte transzendente Wahrheit zu berichten, mit dem Anspruch, selbst die trans-
zendente Wahrheit zu sein und sie ins Werk zu setzen. Anders gesagt: »Die Sprach-
zeichen sind die Gegenwart des Wesens der Sache, dessen also, ›was geschehen
muss‹« (Hartmut Böhme: Vergangenheit und Gegenwart der Apokalypse. In: Ders.:
130 Teil I

Zerstörend ist […] die Gerechtigkeit, die destruktiv den konstruktiven Zweideutig-
keiten des Rechtes Einhalt gebietet; zerstörend ist Kraus dem eigenen Werk gerecht
geworden: ›Zurück als Führer bleibt mein ganzes Irren.‹ Das ist die Sprache der
Nüchternheit, die ihre Herrschaft in der Dauer begründet, und schon haben die
Schriften von Kraus zu dauern begonnen.

Kraus’ Werk ist selbst zitierbar und im Sinne des dekontextualisierenden Zitats
zerstörbar geworden.41 Aus Kraus’ Urteilen und Verurteilungen werden Zwei-
fel, die zu erregen Kraus selbst in dem kurzen Text »Die Sprache« einem Den-
ken in der Sprache als »moralische Gabe« zuschreibt.42 Mit dem Zitat bemüht
Kraus eine Gerichtstechnik und subvertiert zugleich das Gericht – das Gericht
eingeschlossen, das seine eigenen Schriften üben wollen. Gerade indem Kraus’
Werke zu dauern angefangen haben und das Jüngste Gericht, das sie selbst sein
wollen, überleben, eröffnen sie den Raum für eine Sprache jenseits des Rechts
– eine Sprache des Irrens und des Zweifelns.43 Der »Aufschub der Exekutive«,
durch den sich Urteile in Fragen verwandeln, ist auch für den jungen Scholem
Kennzeichen der Gerechtigkeit, aus deren Perspektive er das Verhältnis von
Thora (Weisung/Recht) und Tradition/Kommentar bestimmt. »Im Aufschub
handeln heißt die Bedeutung eliminieren« (T II 359). Scholems messianisches
Sprachkonzept, dem wir uns im Folgenden zuwenden, hört sich ähnlich an wie
das Benjamins, doch gibt es signifikante Unterschiede. Besonders hervorzuhe-
ben ist, dass Benjamin die Bibel nicht als offenbarte Wahrheit behandelt. Bei

Natur und Subjekt. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1988 [Edition Suhrkamp; 1470 =
N.F.; 470], S. 380–398, hier: S. 384).
41 Den Facetten des ästhetischen und politischen Diskurses der »Zerstörung« in der
Weimarer Republik geht Alexander Honold nach, indem er Benjamins Blick auf den
Antihumanismus Ernst Jüngers und Karl Kraus’ folgt (Alexander Honold: Der Leser
Walter Benjamin. Bruchstücke einer deutschen Literaturgeschichte. Berlin: Vor-
werk 8 2000, besonders S. 207–276 (»Arbeiter der Zerstörung. Karl Kraus, gegen
Ernst Jünger gelesen«). Honold zeigt, welche unterschiedlichen ästhetischen und po-
litischen Konsequenzen die Kritik am »›idealen‹ Humanismus« (ebd., S. 268) der
Persönlichkeit, die Benjamin, Kraus und Jünger teilen, haben kann. Für Benjamin
führt sie politisch zum Unmenschlichen des »realen Humanismus«, der im Kraus-
Essay als Chiffre für den Marxismus steht. Ästhetisch realisiert sich in Benjamins
Augen das Unmenschliche bei Kraus in einer Sprache, die »nur durch wachsende
Entfernung vom Menschlichen überhaupt gewonnen werden kann« (II/3 1103), wie
Honold aus einer Vorstudie zum Kraus-Essay zitiert.
42 Vgl. Karl Kraus: Die Sprache. In: Ders.: Schriften. Hg. von Christian Wagenknecht.
Bd 7. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1987 (Suhrkamp-Taschenbuch; 1317), S. 371–373,
besonders S. 372.
43 Bettine Menke hat das Motiv des Aufschubs des Gerichtstags im Zusammenhang
mit Benjamins Rechtskritik sorgfältig untersucht (Bettine Menke: Benjamin vor dem
Gesetz: Die Kritik der Gewalt in der Lektüre Derridas. In: Anselm Haverkamp
(Hg.): Gewalt und Gerechtigkeit. Derrida – Benjamin. Frankfurt a. M.: Suhrkamp
1994 (Edition Suhrkamp; 1706 = N.F.; 706), S. 217–275). Wichtiger textueller Be-
zugspunkt ist dabei Benjamins frühes Fragment »Die Bedeutung der Zeit in der mo-
ralischen Welt« (vgl. GS VI 97–98).
4 Gerechtigkeit als Sprache und Gerechtigkeit als messianische Kategorie 131

Scholem hat sie noch diesen Status, wenn dieser auch einen sehr eigenwilligen
Begriff von Offenbarung hat. Damit geht einher, dass Scholem die Tradition
als Auslegungstradition heiliger jüdischer Texte bestimmt und im Rahmen
jüdischer Identitätsfragen verhandelt. Bei Benjamin gehört zur Tradition letzt-
lich die Geschichte in ihrer Gesamtheit. Die universale Perspektive bestimmt
auch Benjamins Blick auf den Messianismus. Mit dem direkten oder indirekten
Hinweis auf den Messianismus markiert er zwar immer wieder (nicht zuletzt
im Kraus-Essay) die Bedeutung der jüdischen Tradition, letztlich ist aber der
Messianismus in seinen Texten universal ausgerichtet: »[E]rst der erlösten
Menschheit [fällt] ihre Vergangenheit vollauf zu. Das will sagen: erst der er-
lösten Menschheit ist ihre Vergangenheit in jedem ihrer Momente zitierbar
geworden« (GS I/2 694), heißt es in der dritten These »Über den Begriff der
Geschichte«, die verdeutlicht, dass Benjamin die Zitattheorie nach dem Vor-
bild des Messianismus als Modell einer ›erlösten Sprache‹ denkt –44 aber auch
umgekehrt, dass er den Messianismus nach dem Vorbild der Zitattheorie kon-
zipiert.
Benjamin übersetzt nicht einfach theologische Sprachmodelle in profane,
sondern findet in theologischen Texten Modelle für eine nicht-signifikative
Sprache, die er, nicht ohne sie zu brechen, in andere Register (Poesie, Politik,
Anthropologie) überträgt. Beruht das theologische Sprachmodell der Genesis
noch auf der Offenbarung, dem Wort Gottes, so ist die Frage, was vom adami-
tischen Sprachmodell bleiben kann, wenn man es »in Ansehung der Natur der
Sprache selbst« (GS II/1) betrachtet. Die paradiesische »Unmittelbarkeit« (GS
II/1 142) der Sprache ist nicht mehr gegeben und die »Mittelbarmachung der
Sprache« (GS II 154) nicht rückgängig zu machen, sondern nur in Richtung
auf Sprache als »reine[s] Mittel« (GS II 191) zu überschreiten. Die »reinen
Mittel« stellen eine profane Kategorie bei Benjamin dar, der wir uns in Kapitel
II.4.4 noch einmal zuwenden. Um es mit dem in diesem Kapitel behandelten
Material zu veranschaulichen: Aus den adamitischen Namen werden Zitat-
Namen, in denen die Sprache sich auf sich selbst bezieht. Weder die adamiti-
sche Sprache noch die Zitatsprache sind Mittel zum Zweck der Kommunikati-
on von äußerlichen Inhalten – mit dem Unterschied, dass sich in der Zitatspra-
che Sprache als »reines Mittel«, im Sinne des Medialen in seiner schieren
Potentialität, manifestiert, ohne vom Wort Gottes abzuhängen. Diese Unter-
scheidung zwischen den adamitischen Namen und den Zitat-Namen, sprachli-
cher Unmittelbarkeit und Sprache als reinem Mittel ist jedoch nicht stabil.
Denn Benjamin gibt das Zitat nicht nur als Eigenname der Sprache selbst zu
verstehen. Vielmehr beschreibt er eine Bewegung, in der die Sprache zu sich
selbst als reinem Mittel und damit auch wieder zur Natur als deren Ausdruck
kommt. Im Zitat als sprachlichem Eigennamen scheint so doch wieder die
Funktion der adamitischen Namensprache auf. Das ganz Profane bekommt
eine mystische Qualität, ohne dass dies eine Rückkehr zur Bibel als Offenba-

44 Vgl. Weigel, Walter Benjamin (wie Anm. 10), S. 47f.


132 Teil I

rung meinte. Es entsteht vielmehr im sprachlichen Selbstbezug ein »neue[r]


Text[]« (GS II/1 363). In Benjamins »Buch der Schöpfung« (ebd.) wird die
Genesis durch den Sefer Jezira überschrieben.
Benjamin bezieht sich auf die theologische Tradition nicht nur um ihrer
spekulativen Sprachmodelle und ihrer Auslegungstechniken willen, sondern
bedient sich immer wieder auch bei der religiösen Bildsprache. So auch am
Ende des Kraus-Essays, der das Thema der Engelsprache wieder aufgreift und
in das Bild einer Legende bringt. Am Schluss zitiert Benjamin eine Legende
aus dem Midrasch, in der es um den Verbleib der Engel geht, die ihr Lied
gesungen haben. Diese Engel gehen wieder in den Feuerstrom ein, aus dem sie
gekommen sind, wobei der Feuerstrom aus dem Schweiß jener vier Engel
besteht, die den Thron Gottes tragen. Nach einer anderen Fassung dieser Le-
gende schafft Gott die Engel aus diesem Strom wieder wie neu.45 Bei Benja-
min heißt es, dass der Engel der Kraus’schen Schriften – also ihre Botschaft,
hört man in »angelus« den Boten mit – vielleicht »von jenen einer [ist], welche
nach dem Talmud, neue jeden Augenblick geschaffen werden, um, nachdem
sie vor Gott ihre Stimme erhoben haben, aufzuhören und in Nichts zu verge-
hen« (GS II/1 367). Der Feuerstrom und der göttliche Thron werden von Ben-
jamin nicht mehr erwähnt: Die Engel der Legende vergehen in Nichts und
sollen hierin der »schnell verfliegende Stimme« von Kraus’ »ephemere[m]
Werk« ähnlich sein (vgl. GS II/1 367). Kraus’ Schriften sind an ihren besonde-
ren historischen Moment gebunden. »Dauer« (GS II/1 367) können sie nur
beanspruchen, indem sie zitierbar, das ist aber zerstörbar sind und als Zitierte
aktualisiert werden. So wie Benjamin die Legende wiederum zitiert, zerstört er
ihren theologischen Wahrheitskern und geht mit der religiösen Tradition inso-
fern ähnlich um, wie er es Kafka attestiert hat.46 Kafkas Literatur stellt für
Benjamin ein »Zerfallsprodukt der Weisheit« dar, denn sie sei »Medium der
Tradierung unter Preisgabe der Wahrheit oder Lehre«.47 Auch bei Benjamin
illustriert die Legende aus dem Midrasch keine theologische Wahrheit mehr,
sondern steht als Literatur auf der gleichen Ebene wie Kraus’ Schriften – und
ist, wie diese, zitier- und zerstörbar.
45 Ich folge hier Manfred Voigts Darstellung der Legende aus dem Midrasch Bereschit
Rabba (vgl. Manfred Voigts: Zitat. In: Michael Opitz und Erdmut Wizisla [Hg.]:
Benjamins Begriffe. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2000 [Edition Suhrkamp; 2048],
Bd 2, S. 826–850, hier: S. 841f.).
46 Vgl. Walter Benjamin an Gershom Scholem, 12.06.1938. In: Hermann Schweppen-
häuser (Hg.): Benjamin über Kafka. Texte, Briefzeugnisse, Aufzeichnungen. Frank-
furt a. M.: Suhrkamp 1981 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft; 341), S. 87:
»Kafkas Werk stellt eine Erkrankung der Tradition dar. Man hat die Weisheit gele-
gentlich als epische Seite der Wahrheit definieren wollen. Damit ist die Weisheit als
ein Traditionsgut gekennzeichnet; sie ist die Wahrheit in ihrer hagadischen Konsis-
tenz.«
47 Vgl. Sigrid Weigel: Zu Franz Kafka. In: Burkhardt Lindner (Hg.): Benjamin-
Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, Weimar: Metzler 2006, S. 543–556,
hier: S. 555.
4 Gerechtigkeit als Sprache und Gerechtigkeit als messianische Kategorie 133

4.2 Zur messianischen Metaphysik der hebräischen Sprache


beim jungen Gershom Scholem
Der Messias wird auch der letzte, erste Sprachphilosoph sein:
Er wird das Judentum aus seiner Sprache herleiten. (T I 406)
Die tastenden Annäherungen des jungen Gershom Scholem an den jüdischen
Messianismus sind in seinen Tagebüchern und nachgelassenen Aufsätzen aus
der Frühzeit (1913–1923) dokumentiert. 1918, als Scholem sich in der
Schweiz aufhält und einen intensiven Kontakt mit Walter und Dora Benjamin
pflegt, kristallisieren sich zwei theoretische Bezugspunkte für den Messianis-
mus in Scholems Aufzeichnungen heraus: eine »Metaphysik der Zeit im Ju-
dentum« (T II 252) und eine »Metaphysik des Hebräischen« (T II 236). Beide
sind miteinander verbunden. In den Benjamin zugedachten »95 Thesen über
Judentum und Zionismus« formuliert Scholem Thesen 83 und 84 wie folgt:
»Die Zeit des ʪʥʴʤʤ-'ʥ [waw ha-hippukh] ist die messianische Zeit« und »Der
Zeitbegriff des Judentums ist: ewige Gegenwart« (T II 305). Diese messiani-
sche Zeitvorstellung liegt auch Scholems Aufsatz Ȇber Jona und den Begriff
der Gerechtigkeit« zugrunde, den Scholem dem Ehepaar Benjamin im Oktober
1918 vorliest. In diesem Aufsatz interpretiert Scholem das biblische Jona-Buch
im Hinblick auf eine jüdische Theorie der Gerechtigkeit. Diese Idee der Ge-
rechtigkeit fundiert zugleich das Verhältnis von Offenbarung/Kanon und jüdi-
scher Tradition, das Scholem ein Leben lang beschäftigen wird.
Überraschenderweise denkt der junge Scholem die Zeitlichkeit des Messia-
nismus nicht unter dem Aspekt der Zukunft, sondern der Gegenwart, freilich
einer »ewigen Gegenwart«, die sich einem linearen Zeitverständnis verweigert.
Die messianische Zeit als ewige Gegenwart interpretiert er als eine »Zeit der
Verwandlung« (T II 362), in der die empirischen Zeitstufen Vergangenheit und
Zukunft ineinander transformiert werden können. Eine messianische Interpre-
tation der Tempus-Struktur im biblischen Hebräisch bildet dabei die Grundlage
von Scholems messianischer Zeitmetaphysik. An drei Momenten der Zeitdar-
stellung im biblischen Hebräisch macht er die ewige Gegenwart als messiani-
sche Zeit fest:
Erstens »an der allgemeinen Darstellung von Präsens durch Futur. Futur ist
Befehl, und so ist die Forderung Gegenwart, Sein. ʥʩʤʺ ʭʩʹʥʣʷ [kedoschim tihju,
ihr sollt heilig sein] d. h. ihr sollt sein = ihr werdet sein = ihr seid. Ihr seid
heilig, weil ich heilig bin, nur das ist der Sinn der Forderung, das reine Antlitz,
die Gegenwart dieser Heiligkeit zu entfalten« (T II 236). Scholem zieht hier
zwei Eigenheiten des biblischen Hebräisch zusammen. Im biblischen Hebrä-
isch gibt es keine Präsens-Konjugationsform der Verben, nur die Formen der
Vergangenheit und der Zukunft. Das Präsens kann entweder durch Partizipial-
konstruktionen ausgedrückt werden oder aber durch die Form der Zukunft, die
nicht nur das noch Ausstehende, sondern auch das Unabgeschlossene bezeich-
nen kann. Berühmtes Beispiel hierfür, auf das auch Scholem zurückkommt, ist
134 Teil I

der Gottesname ʤʩʤʠ ʸʹʠ ʤʩʤʠ [’ehje ascher ’ehje, ich werde sein, der ich sein
werde]. ʤʩʤʠ bezeichnet im Hebräischen sowohl Gegenwart (ich bin) als auch
Zukunft (ich werde sein). Der Gottesname gilt Scholem als Ausdruck der ewi-
gen Gegenwart, »denn was Gott sein wird, das war er durch alle Geschlechter«
(T II 235). Die Zukunftsform kann im biblischen Hebräisch ferner einen
Wunsch oder eine Aufforderung ausdrücken, wenn sie als sogenannter »Jus-
siv« gebraucht wird. Scholem kombiniert diese beiden Besonderheiten des
Althebräischen, um das Sein der Gegenwart als Forderung zu denken. In dieser
Konzeption manifestiert sich seine ethische Interpretation des Judentums, der
er bereits 1916 Ausdruck verliehen hat: »Das Wesen des Judentums ist Ge-
rechtigkeit. Eine göttliche Kategorie. […] Im Judentum glaubt man nicht,
sondern ist gerecht« (T I 392).
Zweitens drückt sich für Scholem die ewige Gegenwart im »Waw ha-
Hippuch der Erzählung« (T II 236) aus:
Was geschieht dort? In der Verbindung verwandeln sich die Zeiten: Vergangenheit
in Zukunft und Zukunft in Vergangenheit, und wie? Im Medium der Gegenwart. Die
Zeit des ʪʥʴʤʤ-'ʥ [waw ha-hippukh] ist die messianische Zeit. Der Name Gottes
verbürgt die metaphysische Möglichkeit dieser Konstruktion. (T II 236f.)

Wieder blendet Scholem zwei Besonderheiten des biblischen Hebräisch inein-


ander, das Imperfekt consecutivum und das Perfekt consecutivum. Mit dem
»Waw ha-Hippukh« der Erzählung ist das Imperfekt consecutivum gemeint,
das aus der Kopula Waw und der Futurform eines Verbs gebildet wird, die
durch die Kopula Waw den Zeitsinn der Vergangenheit annimmt. Das Imper-
fekt consecutivum wird als erzählende Zeitstufe verwendet, im Sinne von:
»Und dann geschah…«. Die Kopula Waw kann aber auch vor ein Verb der
Vergangenheit gesetzt werden und mit diesem ein Perfekt consecutivum bil-
den, das nun einen Zukunftssinn enthält. Das Waw ha-Hippukh ist mithin das
Waw der Verwandlung (ʪʥʴʤ bedeutet Umkehrung, Gegensatz, Inversion). Die
messianische Zeit als Zeit des Waw ha-Hippukh ist die Zeit der Verwandlung.
Giorgio Agamben hat es richtig gesehen, dass bei dem jungen Scholem »die
messianische Zeit weder das Abgeschlossene noch das Unabgeschlossene,
weder die Vergangenheit noch die Zukunft [ist], sondern deren Inversion«.48
Wenn Scholem die messianische Zeit auch als »ewige Gegenwart« bezeichnet,
so ist damit keine stehende Gegenwart gemeint, kein mystisches nunc stans,
sondern eine Gegenwart der Verwandlung, die die Zeitstufen von Vergangen-
heit und Zukunft als ineinander transformierbare enthält.49 In der messiani-

48 Giorgio Agamben: Die Zeit, die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief. Übers. von
Davide Giurato. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2006, S. 89.
49 Problematisch ist nun allerdings nicht nur, dass Agamben Scholems messianischen
Zeitbegriff mit dem des Apostels Paulus identifiziert, d.h. mit einer typologischen
Beziehung von Vergangenheit und Zukunft, sondern dass Agamben letztlich beide,
Scholem und Paulus, von Benjamins Modell der »Jetztzeit« (GS I/2 701) her ver-
4 Gerechtigkeit als Sprache und Gerechtigkeit als messianische Kategorie 135

schen Zeit als Zeit der Inversion gewinne, so Agamben, die Vergangenheit
(das Abgeschlossene) wieder Aktualität und werde unabgeschlossen, während
die Gegenwart (das Unabgeschlossene) eine Art von Abgeschlossenheit erfah-
re.50 Dies ist gewiss das allgemeine Modell, nach dem Benjamin im Umfeld
des Passagenwerks Geschichte als Möglichkeitsraum zu denken versucht.51
Was bei Benjamin eine messianische Figur im Rahmen einer allgemeinen
Geschichtsphilosophie ist – gilt doch für diesen, dass der »echte Begriff der
Universalgeschichte […] ein messianischer [ist]« (GS V/1 608) –, steht bei
Scholem im Kontext von Überlegungen zum Verhältnis von Offenbarung,
Kanon und Tradition im Judentum. Scholem versteht die jüdische Tradition
dabei historisch-philologisch als Tradition der Textauslegung. Die Reflexion
über das Verhältnis zwischen der Thora als kanonischem Offenbarungstext
und deren Auslegungstradition konstituiert Scholems jüdische Theorie der
Gerechtigkeit. Ohne diesen spezifischen Kontext verkürzt man entscheidend
die messianische Zeit- und Sprachphilosophie des jungen Scholem.
Das dritte Merkmal des Bibelhebräischen, das Scholem anführt, um die
messianische Zeit zu explizieren, ist eine Teilwiederholung des zweiten Mo-
ments. Das Perfekt consecutivum kann auch eine imperativische Bedeutung
annehmen, wenn es auf einen Imperativ folgt. Hierauf hebt Scholem ab, wenn
er das »ʪʥʴʤʤ-'ʥ [waw ha-hippukh] der Forderung« thematisiert, »die als Ver-
gangenheit ausgesprochen werden darf: ʺʡʤʠʥ [we ’ahavta], Du sollst lieben,
das ist nur möglich, weil du geliebt hast. Am Gewaltigsten von allen erscheint
hier das Messianische in der Sprache, indem seine Strahlen selbst die Vergan-
genheit erheben« (T II 237).
In dem Aufsatz »Über Jona und den Begriff der Gerechtigkeit« konkretisiert
sich Scholems messianischer Zeit- und Sprachbegriff. Zwei Komplexe stehen
im Zentrum dieses erst posthum veröffentlichen Aufsatzes, der neben dem
Aufsatz über das Klagelied zu den wichtigsten Jugendaufzeichnungen Scho-
lems gezählt wird:52 die Idee der Gerechtigkeit und das Verhältnis des Kanoni-

steht. Agamben verwischt die Unterschiede zwischen allen dreien, wobei uns hier
nur der Unterschied zwischen Benjamin und Scholem interessiert.
50 Vgl. ebd., S. 89. Ohne es explizit zu machen, referiert Agamben hier ein Notat
Benjamins aus dem Konvolut N des Passagenwerks: »Was die Wissenschaft ›fest-
gestellt‹ hat, kann das Eingedenken modifizieren. Das Eingedenken kann das Unab-
geschlossene (das Glück) zu einem Abgeschlossenen und das Abgeschlossene (das
Leid) zu einem Unabgeschlossenen machen. Das ist Theologie; aber im Eingeden-
ken machen wir eine Erfahrung, die uns verbietet, Geschichte grundsätzlich a-
theologisch zu begreifen, so wenig wir sie in unmittelbar theologischen Begriffen zu
schreiben versuchen dürfen« (GS V/1 571).
51 Vgl. hierzu auch Werner Hamacher: ›Jetzt‹. Benjamin zur historischen Zeit. In:
Helga Geyer-Ryan, Paul Koopman and Klaas Yntema (Eds): Perception and Expe-
rience in Modernity. International Walter Benjamin Congress 1997 (Benjamin-Stu-
dien/Studies; 1). Amsterdam, New York: Rodopi 2002, S. 145–183.
52 Vgl. Daniel Weidner: Gershom Scholem. Politisches, esoterisches und historiogra-
phisches Schreiben. München: Fink 2003, S. 211.
136 Teil I

schen zur Tradition. Im Oktober 1918 liest Scholem Dora und Walter Benja-
min seine Aufzeichnungen über Jona vor (vgl. T II 335). Die Präsentation
erfolgt im Zusammenhang mit der Diskussion, warum Scholem bei seiner
»religiösen Haltung dennoch die orthodoxe Lebensführung nicht annähme«,53
wie Scholem im Rückblick schreibt. In dem Aufsatz über Jona gewinnt Scho-
lem einen Begriff von Tradition, dem zufolge »die (geschriebene) Thora […]
nicht angewendet werden [kann]. Sie ist das Recht Gottes, das noch nicht Ge-
rechtigkeit ist, vielmehr dazu sich wandelt, in dem unendlichen Aufschub der
Tradition. Offenbarung und messianische Zeit sind in ihr unzertrennlich ver-
bunden« (T II 529). Tradition als Aufschub und Gerechtigkeit als Aufschub
korrelieren miteinander. Scholem liest das Buch Jona als Unterweisung des
Propheten in die Idee der Gerechtigkeit. Die Stadt Ninive, der der Prophet Jona
widerstrebend im Auftrag Gottes den Untergang prophezeit, wird am Ende
nicht zerstört. Jona hadert mit Gott, dass seine Prophezeiung nicht eingetroffen
ist, weil Ninive sich bekehrt und Gott sich bedacht hat. Jona zieht sich vor dir
Tore der Stadt zurück, um dort unter dem Schatten einer Pflanze zu beobach-
ten, was mit Ninive im Weiteren geschieht. Als Gott ihm nun auch noch die
Schatten spendende Pflanze nimmt, wünscht sich Jona den Tod. Gott belehrt
ihn mit einer Frage, mit der das Buch Jona zugleich schließt: »Dir ist es leid
um den Kikajon, mit dem du keine Mühe gehabt, und den du nicht groß gezo-
gen, der als Kind einer Nacht entstanden und als Kind einer Nacht verschwun-
den ist. Und mir sollte nicht leid sein um Ninweh, die große Stadt, in welcher
mehr als zwölf Myriaden Menschen sind, die nicht wissen (zu unterscheiden)
zwischen der Rechten und Linken, dazu vieles Vieh« (Jona 4,11)?
Indem das Jona-Buch mit einer Frage endet, illustriert es für Scholem
»höchste Erziehung« (T II 523), denn der Lehrer erziehe durch Fragen, nicht
durch Antworten. Darüber hinaus weist sich in der Verwandlung des Gottesur-
teils in eine Frage für Scholem die Gerechtigkeit aus:
Denn dies und nichts anderes bedeutet Gerechtigkeit im tiefsten Sinne: daß zwar ge-
urteilt werden darf, aber die Exekutive davon völlig unterschieden bleibt. Die ein-
deutige Beziehung des richterlichen Urteils auf die Exekutive, die eigentliche
Rechtsordnung, wird aufgehoben im Aufschub der Exekutive. Das tut Gott mit Ni-
nive. Der Schluss von Kap. 3,10: er hatte geurteilt, etwas auszuführen und führte es
(noch) nicht aus, spricht die Idee der Gerechtigkeit klassisch aus. Wo das Gericht ei-
nen Spruch fällt, erhebt die Gerechtigkeit eine Frage. Wie Daniel sagt: ›Im Rate der
Wächter ein Beschluß und im Spruche der Heiligen eine Frage: das ist die Gerech-
tigkeit‹. (T II 526)

53 Scholem, Walter Benjamin (wie Anm. 28), S. 93. Scholem fährt in seiner Erinne-
rung fort: »Ich erklärte, so wie ich es damals formulierte, daß das für mich mit der
Konkretisierung auf einer falschen, zu frühen Sphäre zusammenhänge, die sich an
den Paradoxien des Drehs, die dabei zum Vorschein kommen und notwendig in sol-
cher falschen Beziehung liegen, erweist. Es stimmt etwas in der Anwendung nicht:
Die Ordnungen stoßen sich aneinander. Ich müsse den anarchischen Suspens auf-
rechterhalten« (ebd.).
4 Gerechtigkeit als Sprache und Gerechtigkeit als messianische Kategorie 137

Im »Aufschub der Exekutive« soll sich also die Gerechtigkeit entfalten.


Sprachphilosophisch handelt es sich bei der Verwandlung eines Gottesurteils
in eine Frage um die Verwandlung eines illokutionären Sprachaktes, der un-
mittelbar vollzieht, was er sagt, in einen perlokutionären Sprechakt, bei dem es
um Folgewirkungen des Sprechaktes auf den Rezipienten geht, die »den kon-
ventionalen Rahmen illokutionärer Effekte durchaus sprengen«54 können.
Denn »[i]m Gegensatz zu den illokutionären Effekten sind die perlokutionären
Effekte zwar intentional berechenbar, sind aber nicht konventional festge-
legt«.55 Ist das Gottesurteil »das Urteil, das seine eigene Vollstreckung ist« (T
II 526), so wird mit dem »Aufschub der Exekutive« ein Spielraum für eine
»›inter-diskursive Logik‹ verschiedener Sprechakte und Standpunkte«56 eröff-
net. Dieser Spielraum der Deutbarkeit fundiert in Scholems Jona-Aufsatz bei-
de: Gerechtigkeit und Tradition. Denn Gerechtigkeit verwandelt das Urteil in
eine Frage, und Tradition stellt sich als »Kontinuum der Fragen«57 dar.
Der Prophet Jona verkenne diesen Spielraum und verstehe damit zugleich
den Prophetismus nicht. Denn der Konflikt bestehe darin, dass Jona Prophetie
und Geschichtsschreibung miteinander identifiziere. Die Prophetie in Jona
3,4b: »noch vierzig Tage und Ninive ist vernichtet« (T II 526), sei vom Stand-
punkt des Historikers als eine Konstatierung, vom Standpunkt Gottes aber als
Warnung (ein perlokutionärer Sprechakt) gemeint. Im Hebräischen steht an
dieser Stelle das Partizip Präsens des Verbs ʪʴʤ im Stamm Nif’al, das 1. »sich
wenden«, 2. »umgestürzt werden« und 3. »verwandelt werden« bedeuten kann.
Auch wenn Scholem nicht explizit auf die Mehrdeutigkeit des Partizips ein-
geht, so dürfte sie doch untergründig eine Rolle spielen, zumal das Verb ʪʴʤ
und das Nomen ʪʥʴʤ, das in »Waw ha-Hippukh« steckt, auf den gleichen
Stamm zurückgehen. Scholem weist indirekt auf die Mehrdeutigkeit des Verbs
hin, indem er von der »Akzentverschiebung im Ausdruck« (T II 531) in Jona
3,4 handelt. Die Vieldeutigkeit des Verbs spiegelt letztlich die offene Zeitbe-
stimmung wider. Das Partizip Präsens kann sich sowohl auf die Gegenwart als
auch auf die Zukunft beziehen. »Ninive ist vernichtet« wird von Jona als
Konstatierung eines Sachverhalts verstanden, gewissermaßen als historisches
Präsens. Als Warnung aufgefasst erhält das Präsens dagegen einen futurischen
Sinn: »Ninive wird zerstört«; möglich ist aber auch die Lesart: »Ninive wird
verwandelt« oder »Ninive wird sich bekehren«, worin sich nicht mehr eine
Warnung, sondern eine Hoffnung ausdrückt. Jona missversteht den Prophetis-
mus, den er mit der Geschichtsschreibung verwechselt. Er meint, über die
Zukunft sprechen zu können wie über die Vergangenheit: in konstatierender
54 Wirth, Uwe: Der Performanzbegriff im Spannungsfeld von Illokution, Iteration und
Indexikalität. In: Ders. (Hg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kul-
turwissenschaften. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2002 (Suhrkamp-Taschenbuch Wis-
senschaft; 1575), S. 9–60, hier: S. 13.
55 Ebd.
56 Weidner, Gershom Scholem (wie Anm. 52), S. 216.
57 Ebd., S. 223. Vgl. T II 303: »Die gesprochene mündliche Lehre besteht aus Fragen.«
138 Teil I

Sprache. Für ihn handelt es sich bei der Prophetie um den Bericht eines Got-
tesurteils, das er bereits als historisch betrachtet, denn »wie du [Gott] gewollt
hast, tust du wirklich« (T II 532). Dieser Satz aus Jona 1,14, der formal im
Perfekt steht, könne aber auch übersetzt werden mit: »wie du willst, so kannst
du tun« (T II 532), ein Doppelsinn, der auf den Charakter des Prophetismus
hindeute. Denn der Prophetismus gilt Scholem als Weissagung über die »ewi-
ge Gegenwart« (vgl. T II 529), in der sich die Zeiten und mit ihnen die Sprech-
akte und deren Bedeutung verwandeln. Die »ewige Gegenwart« als Zeit der
Inversion ist weder Vergangenheit noch Zukunft, sondern verbürgt deren Ver-
wandelbarkeit. Der Prophetismus als Weissagung über die »ewige Gegen-
wart«, also die Zeit der Inversion, nimmt die Zukunft nicht vorweg. Er ist
keine Konstatierung, die die Zukunft behandelt, als wäre sie schon vergangen;
er ist aber auch nicht nur Warnung. Vielmehr hat er die Verwandelbarkeit
selbst zum Thema: von Konstatierungen in perlokutionäre Sprachakte – seien
es Warnungen oder erzieherische Fragen – und umgekehrt.
Im »Aufschub der Exekutive« soll sich das Recht zur Gerechtigkeit wan-
deln.58 Scholems Differenzierung zwischen Recht und Gerechtigkeit orientiert
sich an dem Unterschied von ʨʴʹʮ [mischpat, Recht] und ʤʷʣʶ [z’dakah,
Gerechtigkeit] im Judentum. Explizit bezieht sich Scholem hier auf Samson
Raphael Hirschs Erläuterungen zur Thora, die wir weiter oben bereits erwähnt
haben (vgl. Kap. I.2.3): »Z’edekah [ist] die Wohltat, aber als Pflicht begrif-
fen.«59 Der »Aufschub der Exekutive« macht Raum für die Gerechtigkeit als
Tat, als Wohltat, zum Beispiel »als Almosen, auf die Arme im Namen Gottes,
nicht mehr im Namen des Rechts Anspruch haben (Samson Raphael Hirsch)«
(T II 528). Im »Aufschub der Exekutive« soll aber noch mehr geschehen, denn
Scholem betont ja, dass das Recht sich verwandelt, indem es sich zur Gerech-
tigkeit kehrt. Das impliziert jedoch, dass die Thora selbst sich wandeln muss.
Folgerichtig schreibt Scholem auch an anderer Stelle: »Die Thora ist der wahre
Ort der Verwandlung« (T II 362).
Der Satz, dass die Thora der wahre Ort der Verwandlung sei, lässt sich un-
terschiedlich interpretieren. Man kann ihn als Zeugnis für Scholems undogma-
tisches Verständnis des Judentums auffassen. Die Thora begründet die jüdi-
sche Tradition, wird von dieser aber auch in der Auslegung beständig verwan-
delt. Die entscheidende Idee der Tradition ist für Scholem, dass die geschrie-
bene Thora nicht angewendet werden kann. Diese nicht angewendete schriftli-
che Thora konstituiert zugleich die Tradition – die »mündliche Thora«, wie die
talmudische Tradition schon früh genannt wurde –, welche wiederum nichts
anderes ist als der Aufschub. Mit der Idee einer Tradition begründenden, nicht
angewendeten Thora geht es Scholem letztlich um die »Deutbarkeit schlecht-

58 Scholem bezieht sich immer wieder auf Ps 94,15, den er mit »denn zur Gerechtig-
keit kehrt sich das Recht« (T II 358) übersetzt (vgl. auch T II 523f.).
59 Der Pentateuch. Übers. u. erläutert von Samson Raphael Hirsch. 3. Neuaufl. Frank-
furt a. M.: Rosenzweig 1996, Bd 1, S. 264.
4 Gerechtigkeit als Sprache und Gerechtigkeit als messianische Kategorie 139

hin« (T II 533) der Thora. Diese »Deutbarkeit schlechthin« umkreist Scholem


auch in einem Abschnitt zur Struktur der »›jüdischen‹ Frage«, die als mediale
zu bezeichnen sei. Diese Frage kenne keine Antwort, denn ihre Antwort müsse
wesensgemäß wieder eine Frage sein. Aus diesem Blickwinkel gebe es in der
Thora »weder Fragen noch Antworten. Das hebräische Wort für Antwort heißt
T’schuwah, das ist richtig übersetzt: Erwiderung, Umkehr der Frage nämlich,
die ein neues Vorzeichen bekommt. Von hier aus ist das Prinzip der talmudi-
schen Dialektik leicht verständlich« (T II 526).
Die Thora als »wahre[r] Ort der Verwandlung« kann also zum einen die
»Deutbarkeit schlechthin« der Thora in der Tradition bezeichnen. Zum anderen
könnte man hierin aber auch einen Verweis auf den (ewigen) Ausstand eines
zukünftigen, neuen Rechts, einer neuen Thora lesen. Eine solche Vorstellung
wird Scholem später einmal in einer Diskussion in Palästina vertreten, worauf
wir noch zurückkommen werden (vgl. Kap. II.4.5).
In seinen frühen Texten nimmt Scholem eine unumwunden messianische
Interpretation des von ihm veranschlagten jüdischen Zeitverständnisses (»ewi-
ge Gegenwart«) und der damit einhergehenden Idee der Gerechtigkeit vor:
Die historischen Ideen der Bibel betreffen alle den Zeitbegriff der ewigen Gegen-
wart. Die messianische Zeit als ewige Gegenwart und die Gerechtigkeit als Daseien-
des, Substantielles entsprechen sich. Wäre Gerechtigkeit nicht da, wäre auch das
messianische Reich nicht nur ebenfalls nicht da, sondern überhaupt unmöglich. […]
›Was die Weisen die kommende Welt nennen, das hat seinen Grund nicht etwa dar-
in, daß diese kommende Welt nicht jetzt schon vorhanden wäre, daß erst nach dem
Vergehen dieser Welt jene käme. So verhält sich die Sache nicht, sondern jene Welt
ist beständig daseiend‹ (Maimonides). (T II 529)

Mit Maimonides ist sich Scholem einig in der Ablehnung, die »kommende
Welt« als eine rein zukünftige, ›ganz andere‹ Welt zu verstehen, einig also in
der Ablehnung einer apokalyptischen Geschichtsbetrachtung. Was bei Maimo-
nides allerdings rationale Gründe hat und darauf zielt, die Gültigkeit der Thora
und ihrer Vorschriften für alle Zeiten und mithin auch für die messianische
Zeit zu behaupten,60 hat bei Scholem ganz andere Gründe. Ihm geht es nicht
um die Verteidigung der Vorschriften der Thora, differenziert er doch zwi-

60 In der Mischne Tora (»Wiederholung der Thora«) von 1180 lehrt Maimonides, dass
die »Satzungen unserer Tora […] für immer und ewig [gelten]. Ihnen kann nichts
hinzugefügt werden und nichts von ihnen weggenommen werden. […] Man möge
nicht etwa denken, daß in den Tagen des Messias irgend etwas vom natürlichen Lauf
der Welt aufhören wird, oder eine Neugestaltung innerhalb der Schöpfung stattfin-
den wird. Vielmehr wird sich alles in der Welt nach der gewohnten Norm vollzie-
hen« (zitiert nach Christoph Schulte: Der Messias der Utopie. Elemente des Messia-
nismus bei einigen modernen jüdischen Linksintellektuellen. In: Menora. Jahrbuch
für deutsch-jüdische Geschichte 11 [2000], S. 264). Der Rationalist Maimonides
bemüht sich, mit dieser Auslegung antinomistische Tendenzen im Judentum abzu-
wenden. Das Kommen des Messias soll nichts an der natürlichen und religiösen
Ordnung ändern.
140 Teil I

schen Recht und Gerechtigkeit, um die Thora als Gesetz zu verstehen, das im
»Aufschub der Exekutive« (T II 526) bzw. »im Aufschub der Tradition« (T II
529) sich zur Gerechtigkeit wandle. Es ist Scholem hier um einen Begriff von
Tradition zu tun, die an der Gerechtigkeit ausgerichtet ist und sich als Konti-
nuum von Fragen begreift. Jede Antwort verwandelt sich in diesem Traditi-
onsverständnis wieder in eine Frage, das Abgeschlossene in das Unabge-
schlossene. Diese unendliche Inversion von Frage in Antwort, die sich wieder
in Frage verwandelt, macht für Scholem die »unendliche Gegenwart« und
damit den messianischen Zeitbegriff des Judentums aus. »›In der Lehre gibt es
kein Vorher und kein Nachher‹« (T II 206), zitiert er den Talmud. Diesen
Grundsatz der talmudischen Hermeneutik, in der die unterschiedlichsten Zeiten
miteinander in einen Dialog treten können, ungeachtet der herkömmlichen
Zeitschranken,61 macht sich Scholem als messianische Inversion oder »Ver-
wandlung der Zeiten« zu eigen. Er interpretiert letztlich die Tradition, die auf
einem »Aufschub der Exekutive« beruht, selbst als messianisch. Genauer: Die
jüdische Tradition als traditio, als Überlieferungsmodell, in dem verschiedene
Deutungen möglich sind und kein Urteil vollzogen wird, deutet Scholem mes-
sianisch. Der Messianismus ist aber auch traditum, Gegenstand der Überliefe-
rung. Die öfter beobachtete Ambivalenz Scholems gegenüber dem jüdischen
Messianismus hat meines Erachtens hier ihren tieferen Grund. Gegenüber dem
Messianismus als traditum wird Scholem im Laufe seines Lebens und Schrei-
bens eine kritische Distanz einnehmen. So erkennt er das Gewaltpotential des
Messianismus als Problem im zionistischen Kontext. Mit den unterschiedli-
chen Spielarten eines messianischen Zionismus setzt Scholem sich vor allem
in den Texten, die er nach seiner Ankunft im Jischuv 1923 schreibt, kritisch
auseinander (vgl. Kap. II.4.5). Gleichzeitig ist sein eigener Zionismus jedoch
nicht unmessianisch.62 Einen Schlüssel für diese Ambivalenz findet man in
den hier behandelten Texten des jungen Scholem. Insofern die Idee der Tradi-
tion maßgeblich für seinen Zionismus ist und insofern er ein messianisches
61 Vgl. Yosef Hayim Yerushalmi: Zachor: Erinnere Dich! Jüdische Geschichte und
jüdisches Gedächtnis. Übers. von Wolfgang Heuss. Berlin: Wagenbach 1996
(Wagenbachs Taschenbücherei; 260), S. 30. Yerushalmi zitiert eine talmudische
Hagada, in der Moses zwischen den Schülern in Rabbi Akibas Akademie sitzt und
die Fassung verliert, weil er nicht versteht, was die Schüler sagen. »Als er zu einer
bestimmten Sache kam, da sagen die Schüler zu ihm: Meister, woher hast du das? Er
sagte zu ihnen: Es ist eine Lebensregel an Mose vom Sinai. Da beruhigte sich sein
Sinn« (ebd., S. 32). Moses hat nach rabbinischer Überzeugung sowohl die schriftli-
che als auch die mündliche Thora (Talmud) am Sinai erhalten. Der Lehrer Moses
bedarf der Schüler und späterer Meister, um die Dimensionen der Thora zu realisie-
ren. Die Bedeutung liegt also nicht am Ursprung, sondern wird in der Deutung erst
hergestellt. Scholems 27. These über Judentum und Zionismus drückt den gleichen
Gedanken wie die talmudische Hagada aus, nur dass hier nicht der Lehrer in den
Lernenden, sondern der Lernende in den Lehrer verwandelt wird: »Die Lehre ist das
Medium, in dem sich der Lernende in den Lehrer verwandelt« (T II 302).
62 Vgl. Weidner, Gershom Scholem (wie Anm. 52), S. 99.
4 Gerechtigkeit als Sprache und Gerechtigkeit als messianische Kategorie 141

Verständnis der Tradition als traditio, als Überlieferungsmodell, hat, kann sich
Scholems Zionismus überhaupt nicht kategorisch vom Messianismus lösen.

4.3 Die hebräische Sprache und der Zionismus


(Scholem/Rosenzweig)

Ebenso wie Scholem nach seiner Auswanderung nach Palästina 1923 verstärkt
die destruktive Seite des jüdischen Messianismus bedenkt, reflektiert er Ge-
waltmomente, die mit der »›Aktualisierung‹ des Hebräischen«63 einhergehen
können. Die hebräische Sprache spielt, vor wie nach der Auswanderung, eine
herausragende Rolle in Scholems Zionismus. Die Katastrophenstimmung, in
die Scholem immer wieder in den ersten Jahren im Jischuv verfällt, beeinflusst
nun auch sein Sprachverständnis. Den politischen Hintergrund für Scholems
Katastrophenstimmung – die Auseinandersetzung mit nationalistischen zionis-
tischen Kräften, die ungelöste jüdisch-arabische Frage – und seine Auswirkung
auf Scholems Konzeption des Messianismus werden wir später beleuchten
(vgl. Kap. II.4.5). An dieser Stelle soll es um die Dialektik der Säkularisierung
der hebräischen Sprache und die Möglichkeit des Ausbruchs religiöser Gewalt
gehen, die Scholem in dem kurzen, an Rosenzweig gerichteten Text »Be-
kenntnis über unsere Sprache« (1926) skizziert.64
63 Gershom Scholem: Bekenntnis über unsere Sprache. In: Stéphane Mosès: Der Engel
der Geschichte. Franz Rosenzweig, Walter Benjamin, Gershom Scholem. Frankfurt
a. M.: Jüdischer Verlag 1994, S. 215–217, hier: S. 215.
64 Der kurze, posthum veröffentlichte Text »Bekenntnis über unsere Sprache« von
1926 ist Franz Rosenzweig gewidmet und Bestandteil einer Mappe mit Texten ge-
wesen, die Rosenzweig anlässlich seines 40. Geburtstags (25.12.1926) überreicht
wurde. Anfang der 1920er Jahre hatten Rosenzweig und Scholem eine heftige De-
batte über das Deutschjudentum und den Zionismus geführt. Scholem schreibt rück-
blickend: »Ich war Zionist – er nicht. […] Unsere Entscheidungen waren in ganz
verschiedene Richtungen gefallen. Er suchte das deutsche Judentum von innen her
zu, ich weiß nicht, ob ich sagen soll: reformieren oder revolutionieren […]; ich setz-
te keine Hoffnungen mehr auf das als Deutschjudentum bekannte Amalgam und er-
wartete die Erneuerung des Judentums nur von seiner Wiedergeburt im Lande Isra-
el« (Gershom Scholem: Von Berlin nach Jerusalem. Jugenderinnerungen. Erweiterte
Ausgabe. Übers. von Michael Brocke und Andrea Schatz. Frankfurt a. M.: Suhr-
kamp 1997 [Suhrkamp-Taschenbuch; 2784], S. 172–173). Stéphane Mosès ist der
Ansicht, dass man Scholems »Bekenntnis über unsere Sprache« vor dem Hinter-
grund seiner »tiefen Enttäuschung über den Zionismus, zumindest in seiner konkre-
ten Verwirklichung« lesen müsse (Mosès, Der Engel der Geschichte [wie Anm. 63],
S. 217). Der Text zeuge von Scholems Wunsch, »die Heftigkeit seiner Äußerungen
von 1922 irgendwie auszugleichen und ihm [Rosenzweig] gegenüber zu bekennen –
tatsächlich hatte er seinen Text ›Ein Geständnis‹ überschrieben –, daß angesichts der
Wirklichkeit seine Vorstellungen sich denen Rosenzweigs angenähert hatten« (ebd.,
S. 221), ohne dass Scholem darüber aufgehört habe, Zionist zu sein. Meines Erach-
142 Teil I

Scholem präsentiert in dem an Rosenzweig gerichteten Text die neuhebräi-


sche Sprachbewegung als magische Beschwörung von »alten Namen«65 und
hebt deren destruktives Potential hervor. Denn nach dem Motto »Die ich rief,
die Geister, werd ich nun nicht los«, droht in Scholems Augen die Gefahr, dass
die »religiöse Gewalt der Sprache eines Tages, gegen ihre Sprecher, ausbre-
chen«66 wird. »Die ›Schöpfer‹ der neuen Sprachbewegung waren Gläubige –
mehr als einer von ihnen glaubte, Paradox, nicht an Gott, aber sie glaubten
blind an die Wunderkraft der Sprache.«67 Scholem beschreibt eine Dialektik,
die den möglichen Umschlag von säkularem, blindem Wunderglauben in reli-
giöse Gewalt zu bedenken gibt. Demgegenüber bezieht er eine Position, die
weder als säkularer noch als unmittelbar religiöser Zionismus zu bezeichnen
ist. Vielmehr versucht er, dem Entweder-oder von Religion und Säkularisie-
rung zu entgehen, indem er noch den säkularen Standpunkt in seinen Begriff
von jüdischer Tradition – einer Tradition pluraler Deutungsmöglichkeiten ohne
Vollzug eines Urteils – integriert.
Die »Schöpfer der neuen Sprachbewegung«68 hätten »blind an die Wunder-
kraft der Sprache«69 geglaubt, ohne sich an deren Tradition gebunden zu füh-
len. Entstanden sei so ein »gespenstisches Volapük«,70 ein »Esperanto«71 –
eine rein utilitaristische Sprache. Sprache sei aber, so argumentiert Scholem,
Name, womit er an die mystische Sprachtheorie anschließt. »Die Kabbala

tens bezieht sich Scholem noch viel unmittelbarer auf Rosenzweig, genauer auf des-
sen Aufsatz »Neuhebräisch?«, den Rosenzweig 1925 geschrieben und im April 1926
veröffentlicht hat. Erst wenn man diesen Bezug berücksichtigt, wird deutlich, dass
die Annäherung zwischen Scholem und Rosenzweig in der gemeinsamen Ableh-
nung einer bestimmten Auffassung des Neuhebräischen liegt, die mit dem Namen
Jakob Klatzkin und einem so säkularen wie »wundergläubige[n] Nationalismus«
(Franz Rosenzweig: Neuhebräisch? Anläßlich der Übersetzung von Spinozas Ethik
[1926]. In: Ders.: Zweistromland. Kleinere Schriften zur Religion und Philosophie.
Berlin, Wien: Philo 2001, S. 99–106, hier: S. 103) verbunden ist. Darüber hinaus
bleiben die Differenzen zwischen Rosenzweig und Scholem aber bestehen. Ich bin
dem Zusammenhang von Scholems und Rosenzweigs Texten bereits an anderer
Stelle nachgegangen (vgl. Elke Dubbels: »Name ist nicht […] Schall und Rauch,
sondern Wort und Feuer«. Sprachtheorie als Namenstheorie bei Franz Rosenzweig
und Gershom Scholem. In: Tatjana Petzer, Sylvia Sasse, Franziska Thun-Hohenstein
und Sandro Zanetti [Hg.]: Namen. Benennung – Verehrung – Wirkung. Positionen
der europäischen Moderne. Berlin: Kulturverlag Kadmos 2009, S. 185–208).
65 Scholem, Bekenntnis über unsere Sprache (wie Anm. 63), S. 216.
66 Ebd., S. 215.
67 Gershom Scholem: Sprachbekenntnis. 1925, TS, JNUL, Gershom-Scholem-Archiv,
Arc. 40 1599/277 I 56, S. 1. Bei dem »Sprachbekenntnis« handelt es sich um eine
Vorstufe zu dem an Rosenzweig gerichteten »Bekenntnis über unsere Sprache«.
68 Scholem, Bekenntnis über unsere Sprache (wie Anm. 63), S. 216.
69 Ebd.
70 Ebd., S. 215.
71 Ebd., S. 216.
4 Gerechtigkeit als Sprache und Gerechtigkeit als messianische Kategorie 143

behauptet: Alle Sprache besteht aus Gottesnamen« (T II 305), schreibt Scho-


lem in den »95 Thesen über Judentum und Zionismus« von 1918. In der Kab-
bala hat alle Sprache ihren Fokus im Namen Gottes. Dieser fächert sich wie-
derum in verschiedene Namen Gottes auf, die den Text der Thora konstituie-
ren, sich aber auch in aller Sprache überhaupt mehr oder weniger gebrochen
finden. Die Schöpfung ist für die Kabbalisten aus dem Namen Gottes erfolgt,
der sich in verschiedene Namen auseinanderlegt und mit dem schöpferischen
Wort Gottes identifiziert wird. Diese mystische Namenstheorie, die Scholem in
seinem späteren, berühmten Aufsatz »Der Name Gottes und die Sprachtheorie
der Kabbala« (1970) nachzeichnet,72 begegnet in komprimierter Form bereits
in dem an Rosenzweig gerichteten Text:
Sprache ist Namen. Im Namen ist die Macht der Sprache beschlossen, ist ihr Ab-
grund versiegelt. Es steht nicht mehr in unserer Hand, nachdem wir die alten Namen
tagtäglich beschworen haben, ihre Potenzen fernzuhalten. Sie werden, wachgerufen,
erscheinen, denn wir haben sie ja freilich mit großer Gewalt beschworen. Wir frei-
lich sprechen in Rudimenten, wir freilich sprechen eine gespenstische Sprache: in
unseren Sätzen gehen Namen um, in Schriften und Zeitungen spielt dieser oder jener
mit ihnen, und lügt sich oder Gott vor, es habe nichts zu bedeuten, und oft springt
aus der gespenstischen Schande unserer Sprache die Kraft des Heiligen hervor.
Denn die Namen haben ihr Leben, und hätten sie es nicht, weh unsern Kindern, die
hoffnungslos der Leere preisgegeben werden.73

Scholem evoziert ein unheimliches Szenario, in dem eine »gespenstische Spra-


che« droht, »sich gegen ihre Sprecher [zu] wenden«.74 Denn die »zum Bersten
erfüllten Worte«75 der »heiligen Sprache«76 lassen sich nicht »entleeren«, auch
wenn »dieser oder jener […] sich oder Gott vor[lügt], es habe nichts zu bedeu-
ten«77 – »muß denn dann nicht die religiöse Gewalt dieser Sprache eines Ta-
ges, gegen ihre Sprecher, ausbrechen?«78 Wer die »Potenzen« der Namen und
damit die Tradition verkennt, gegen den kehre sich die Sprache – als »Ge-

72 Gershom Scholem: Der Name Gottes und die Sprachtheorie der Kabbala. In: Ders.:
Judaica 3 (Studien zur jüdischen Mystik). Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1973
(Bibliothek Suhrkamp; 333), S. 7–70. Andreas Kilcher leitet Scholems bereits wäh-
rend der Studienzeit (1915–1919) erwachendes Interesse an der Sprachtheorie der
Kabbala genealogisch von der Suche nach der Synthese von Mystik und Mathematik
her, zu der ihn Novalis inspiriert habe. »Scholem hat also in den Jahren 1915 bis
1917 mit der Sprachtheorie der Kabbala ein Paradigma gefunden, in dem sich, nach
dem romantischen Modell von Novalis, Mystik und Mathematik wie in einem
Brennspiegel verschmelzen ließen« (Kilcher, Die Sprachtheorie der Kabbala [wie
Anm. 30], S. 340).
73 Scholem, Bekenntnis über unsere Sprache (wie Anm. 63), S. 216.
74 Ebd.
75 Ebd., S. 215.
76 Ebd.
77 Ebd., S. 216.
78 Ebd., S. 215.
144 Teil I

richt«.79 Es ist wiederholt bemerkt worden, dass dem »apokalyptischen«80


Szenario, das Scholem entwirft, eine eigentümliche Ambivalenz eingeschrie-
ben ist, insofern er einerseits argumentiert, dass sich das Hebräische in eine
gespenstische »Scheinsprache ohne inneres Leben und Schweigen«81 verwan-
delt habe, und andererseits behauptet, dass die »Verweltlichung der Sprache«
nur eine »Façon de parler« sei, der Sprache aber nicht wirklich der »apokalyp-
tische[] Stachel«82 gezogen sei. In diesem Schwanken verbirgt sich aber eine
Dialektik, die der Argumentation von Benjamins frühem Sprachaufsatz nach-
gebildet ist. Hier nennt dieser, wir erinnern uns, die abstrakte, von außen an die
Dinge herangetragene menschliche Urteilssprache, die nicht mehr wie die
adamitische Namenssprache die stumme Sprache der Dinge in die des Men-
schen übersetzt, »Geschwätz« (GS II/1 153f.). Dieses Geschwätz bleibt in
Benjamins Beschreibung gleichwohl noch eine Form von Magie. Das mensch-
liche Wort sei aus der Namenssprache und deren »immanente[r] […] Magie«
(GS II/1 153) herausgetreten, »um ausdrücklich, von außen gleichsam, ma-
gisch zu werden« (ebd.). Die Magie der zum Mittel gemachten Sprache ruft
aber die Magie des göttlichen, richtenden Wortes herauf. Scholems Gerichts-
szenario (»die, die die hebräische Sprache zum Leben riefen, glaubten nicht an
das Gericht, das sie damit über uns beschworen«)83 gleicht strukturell der
Evokation des Gerichts in Benjamins Aufsatz: Das »richtende Wort verstößt
die ersten Menschen aus dem Paradies; sie selbst haben es exzitiert, zufolge
einem ewigen Gesetz, nach welchem dieses richtende Wort die Erweckung
seiner selbst als die einzige, tiefste Schuld bestraft – und erwartet« (GS II/1
153).
Scholem greift in seinem an Rosenzweig gerichteten Text Benjamins Dia-
lektik der magischen Sprache auf, um eine Dialektik der Säkularisierung der
hebräischen, »heiligen Sprache«84 zu denken. Den Part derjenigen, die für
einen »ausdrücklich[en], von außen gleichsam, magisch[en]« (GS II/1 153)
Gebrauch der heiligen Sprache verantwortlich sind, übernehmen in Scholems
Text die säkularen »Schöpfer der neuen Sprachbewegung«, die »blind, bis zur
Verbohrtheit, an die Wunderkraft der Sprache [glaubten]«85 und zugleich
meinten, die »Tradition«, das »›Gesprochene‹, den Inhalt der Sprache«86 ver-
stummen lassen zu können. Diese Formulierung gibt sich aber als Chiffre für
den Ansatz Jakob Klatzkins zu erkennen, wenn man Scholems »Bekenntnis«
als Antwort auf Rosenzweigs Auseinandersetzung mit Klatzkin in dem Aufsatz
»Neuhebräisch?« zu lesen versteht.
79 Ebd., S. 217.
80 Ebd.
81 Weidner, Gershom Scholem (wie Anm. 52), S. 137.
82 Scholem, Bekenntnis über unsere Sprache (wie Anm. 63), S. 215.
83 Ebd., S. 217.
84 Ebd., S. 215.
85 Ebd., S. 216.
86 Ebd., S. 217.
4 Gerechtigkeit als Sprache und Gerechtigkeit als messianische Kategorie 145

Rosenzweig beschreibt Klatzkins Ansatz, der für ihn eine »extreme[] Theo-
rie aus den Versuchslaboren des europäischen Nationalismus«87 vorstellt, wie
folgt:
Klatzkin ist innerhalb der zionistischen Theorie der führende Vertreter eines, wie er
es selber nennt, ›formalen Zionismus‹, der bewußt jeden zukunftsbindenden oder gar
zukunftsverpflichtenden Rechtsanspruch der jüdischen Erbschaft an die gegenwärti-
ge Generation, die sich anschickt, jene Erbschaft anzutreten, leugnet und die natio-
nale Wiedergeburt allein von der Zukunft, von den Wunderkräften der Rasse, des
Bodens und vor allem eben der Sprache erwartet. Wobei diese drei Faktoren natür-
lich streng ohne jede inhaltliche Erfülltheit, eben ›rein formal‹ gefaßt sind, so daß,
beiläufig bemerkt, der Wunderglaube des modernen Rationalisten, was Grundlosig-
keit und Stützenunbedürftigkeit anbetrifft, den dem alten Juden von der Tradition
abgeforderten bei weitem hinter sich läßt.88

Der »formale[] Zionismus« besage in »in seinem tiefsten Grunde«, so Klatz-


kin, »die Eliminierung des Inhalts aus dem nationalen Kriterium, das sich nur
von Formen, wie vornehmlich Land und Sprache, bestimmen läßt«.89 Hebrä-
isch als formales »nationales Differenzierungsmoment«90 bedürfe der »Elimi-
nierung des Inhalts«91 der überlieferten hebräischen Sprache und damit der
Eliminierung der Tradition zugunsten eines nationalen Neuanfangs, den Klatz-
kin unabhängig von dem »Inhalte des Judentums, seiner Religion und den
Ideen den Judaismus«92 propagiert. Rosenzweig hält Klatzkins Theorie die
besondere Lebendigkeit der heiligen Sprache entgegen, die sich von der Le-
bendigkeit einer »profanlebendigen Sprache« dahingehend unterscheide, »daß
hier nichts, was einmal aufgenommen wurde, verloren gehen kann; die Spra-
che wird immer reicher«93 und sei »voller Zitate«.94 Für Rosenzweig ist Heb-
räisch – auch gegen die Intention der Sprecher, die sich wie Klatzkin dagegen
theoretisch verwahren mögen – »vergangenheitsgebunden und weltverpflich-
tet«,95 d. h. gebunden an die historischen sowie an die »transpalästinensi-
sche[n]«96 Sprachformen (z. B. das Jiddische) und Bedeutungsschichten. Die
tradierte hebräische Sprache lässt sich nicht zum formalen »nationale[n] Diffe-
renzierungsmoment«97 instrumentalisieren, denn die Sprache selbst verweise
87 Rosenzweig, Neuhebräisch? (wie Anm. 64), S.100.
88 Ebd.
89 Jakob Klatzkin: Grundlagen des Nationaljudentums. Erstes Kapitel: Irrwege des
nationalen Instinkts. In: Der Jude 1 (1916), H. 8, S. 534–544, hier: S. 544. Dieser
Text stellt das erste Kapitel der 1918 erschienenen Abhandlung Probleme des mo-
dernen Judentums dar.
90 Ebd., S. 543.
91 Ebd., S. 544.
92 Ebd., S. 543.
93 Rosenzweig, Neuhebräisch? (wie Anm. 64), S. 102.
94 Ebd., S. 103.
95 Ebd., S. 104.
96 Ebd., S. 103.
97 Klatzkin, Grundlagen des Nationaljudentums (wie Anm. 89), S. 543.
146 Teil I

schon über den nationalen Kontext hinaus, haben an ihrem »Wort- und Satz-
gewebe« doch fremde Sprachen ihre unauslöschlichen Spuren hinterlassen,
von der »aramäische[n] Sprache der Perserzeit«98 bis hin zu »Europas Spra-
chen wie sie sich unter dem überschattenden Baum der weltkirchlichen Latini-
tät zu eigenen Bildungen entwickelten«.99 Die »weltverpflichtet[e]«100 hebräi-
sche Sprache unterläuft Rosenzweigs Darstellung zufolge die Bildung, die
Wucht einer geschlossenen nationalen Identität und damit die Intention ihres
zionistischen Theoretikers Klatzkin. Rosenzweig überwindet in diesem Auf-
satz von 1925 seine noch im Stern der Erlösung (1921) vertretene Auffassung
des Hebräischen als sakraler Ritualsprache genauso wie seinen dortigen radikal
antizionistischen Standpunkt (vgl. Kap. II.5). In seinen letzten Lebensjahren
verstand sich Rosenzweig nur mehr als Nicht-Zionist statt als Anti-Zionist.101
In diesem Sinne erkennt er in dem Aufsatz »Neuhebräisch?« auch grundsätz-
lich den Wunsch an, in Palästina ein »geistige[s] Zentrum«102 für das Juden-
tum zu bilden, und versucht dabei, verschiedene Gründe aufzuzeigen, warum
dieses sich nicht »im Sinne des reinen, hemmungslos entwicklungslustigen
Nationalismus entwickeln«103 könne.
Scholems Szenario einer heiligen Sprache, die nicht den säkularen Intentio-
nen ihrer Sprecher gehorcht, fällt weitaus bedrohlicher aus als dasjenige Ro-
senzweigs. Scholem warnt, dass die Eliminierung der religiösen Tradition
nicht vor dem eines Tages möglichen Ausbruch der »religiösen Gewalt dieser
Sprache«104 bewahre. Schlägt bei Benjamin im Sündenfall die »immanente[]
[…] Magie« (GS II/1 153) des Namens in die zweischneidige »Magie des
Urteils« (ebd.) um, so skizziert Scholem eine Dialektik der Namensbeschwö-
rung:105 Die »mit großer Gewalt beschworen[en]«106 »alten Namen«,107 die
von säkularen politischen Zionisten wie Klatzkin der Tradition entwendet
werden, um den nationalen Neuanfang durch die »Verneinung des Exils«108

98 Rosenzweig, Neuhebräisch? (wie Anm. 64), S. 101.


99 Ebd., S. 102.
100 Ebd., S. 104.
101 Vgl. Paul Mendes-Flohr: The Stronger and the Better Jews: Jewish Theological
Responses to Political Messianism in the Weimar Republic. In: Jonathan Frankel
(Ed.): Jews and Messianism in the Modern Era: Metaphor and Meaning. New
York, Oxford: Oxford Univ. Press 1991 (Studies in contemporary Jewry; 7),
S. 159–185, besonders S. 167f.
102 Rosenzweig, Neuhebräisch? (wie Anm. 64), S. 104.
103 Ebd.
104 Scholem, Bekenntnis über unsere Sprache (wie Anm. 63), S. 215.
105 Das Verb »beschwören« bzw. »heraufbeschwören« taucht viermal in Scholems
Aufsatz auf.
106 Scholem, Bekenntnis über unsere Sprache (wie Anm. 63), S. 216.
107 Ebd.
108 Vgl. zu den unterschiedlichen Ausprägungen der »Schelilat ha-galut« (hebräisch
für »Verneinung des Exils«) im zionistischen Diskurs: Eliezer Schweid: The Re-
jection of the Diaspora in Zionist Thought: Two Approaches. In: Studies in Zio-
4 Gerechtigkeit als Sprache und Gerechtigkeit als messianische Kategorie 147

und den Bruch mit der Tradition des Exils zu vollziehen, evozieren dialektisch
das »Gericht«,109 den »Aufstand einer heiligen Sprache«.110 Scholem mag hier
an die eines Tages mögliche Rückkehr der verdrängten religiösen Dimension
der Sprache denken, wenn »die alten Glaubensinhalte in heute noch nicht vor-
hersehbarer Form wiedererscheinen werden, aber diesmal in der Form einer
kollektiven Neurose«.111
Zwischen der Scylla eines säkularen politischen Zionismus à la Klatzkin
und dessen »wundergläubige[m] Nationalismus«112 und der Charybdis eines
unmittelbar religiösen Zionismus versucht Scholem seinen zionistischen Kurs
zu halten und einem Entweder-oder zwischen Religion und Säkularisierung zu
entgehen. Als positive Alternative zu dem apokalyptischen Szenario gibt sich
in Scholems Text der Moment zu lesen, »wo das ›Gesprochene‹, der Inhalt der
Sprache [eine deutliche Spitze gegen Klatzkins Konzeption der hebräischen
Sprache als bloßer Form; Anm. E.D.] wieder Gestalt annehmen wird«.113 Die
Rede von der »Gestalt«, also der Sichtbarkeit der Sprache lässt sich als impli-
zite Bezugnahme auf die Sinaioffenbarung deuten. So spricht Scholem an
anderer Stelle von der »Blendung […], die von der Offenbarung ausgeht«,114
um deren Angewiesenheit auf die Tradition der Auslegung hervorzuheben. Als
›Blendung der Offenbarung‹ bezeichnet Scholem das Problem, dass »das Wort
Gottes in seiner absoluten symbolischen Fülle […] zerstörend [wäre].«115
Denn die Offenbarung »ist als Absolutes, Bedeutung-Gebendes, aber selbst
Bedeutungsloses das D eu tba re , das erst in der kontinuierlichen Beziehung
auf die Zeit, in der Tradition sich auseinanderlegt.«116 Die Sinaioffenbarung
gilt aber nach jüdischer Tradition als Offenbarung des göttlichen Namens, der
über alle Bedeutung hinausgeht und gleichzeitig eine Fülle der Deutungen
ermöglicht. Wenn der Inhalt der Sprache wieder Gestalt annimmt, gewinnt er
also paradoxerweise gerade den Bezug auf ein Inhaltsloses wieder, das die

nism 5 (1984), S. 43–70; vgl. zu Klatzkins radikaler Negation Shulamit Volkov:


Jüdisches Leben und Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert. München: Beck
1990, S. 104–105.
109 Scholem, Bekenntnis über unsere Sprache (wie Anm. 63), S. 217.
110 Ebd., S. 216.
111 Mosès, Der Engel der Geschichte (wie Anm. 63), S. 228. Vgl. auch Sigrid Weigel:
Scholems Gedichte und seine Dichtungstheorie. Klage, Adressierung, Gabe und
das Problem einer biblischen Sprache in unserer Zeit. In: Stéphane Mosès und
Sigrid Weigel (Hg.): Gershom Scholem. Literatur und Rhetorik. Köln, Weimar,
Wien: Böhlau 2000 (Literatur, Kultur, Geschlecht/Kleine Reihe; 15), S. 16–47, be-
sonders S. 38–39.
112 Rosenzweig, Neuhebräisch? (wie Anm. 64), S. 103.
113 Ebd., S. 216–217. Vgl. auch Weidner, Gershom Scholem (wie Anm. 52), S. 139.
114 Gershom Scholem: Offener Brief an den Verfasser der Schrift »Jüdischer Glaube
in dieser Zeit«. In: Bayerische Israelitische Gemeindezeitung 8/16 (15.08.1932),
S. 241–244, hier: S. 243.
115 Ebd.
116 Ebd.
148 Teil I

Grundlage der Tradition: der vielfältigen Übersetzungen und Interpretationen


darstellt.
Scholem bezieht noch den säkularen Standpunkt auf die Offenbarung zu-
rück, die er als bedeutungslos-deutbaren Grund einer Tradition pluraler Deu-
tungsmöglichkeiten ohne Urteilsvollzug darstellt. Dieser Versuch, dem Entwe-
der-oder von Religion und Säkularisierung zu entgehen, ist prekär. Denn die
jüdische Tradition, die Scholem seinem Zionismus zugrunde legt,117 stellt ein
religiöses Überlieferungsmodell dar. Scholem weitet dieses religiöse Überlie-
ferungsmodell zwar so aus, dass es auch noch säkulare Inhalte als mögliche
Deutungen der Thora umfassen und integrieren kann. Die Thora bleibt aber
Grundlage und Zentrum jüdischen, an der Tradition ausgerichteten Lebens,
den säkularen Standpunkt als eine Deutung der Thora eingeschlossen. Als
Grundlage jüdischen Lebens erscheint bei Scholem noch immer die ›Blendung
der Offenbarung‹, deren Gewalt durch die Tradition zwar gebrochen, aber nie
aufgehoben wird. Die Gefahr eines Ausbruchs religiöser Gewalt bleibt in die-
sem Modell als Gefahr immer erhalten. Dem entspricht, dass Scholems Zio-
nismus die Apokalyptik sowohl voraussetzt als auch zu neutralisieren versucht,
wie wir später noch genauer sehen werden (vgl. Kap. II.4.5). Die ›Blendung
der Offenbarung‹ ist ab-gründiger Grund, wie die »heilige Sprache«, deren
»Abgrund«118 Scholem in dem an Rosenzweig gerichteten »Bekenntnis über
unsere Sprache« warnend beschwört, um die Notwendigkeit der Tradition als
Siegel und Versiegelung dieses Abgrundes hervorzuheben.119
Scholems Auffassung der Offenbarung, die er als bedeutungslosen Grund
aller Deutungen beschreibt, ist einem symbolischen Sprachverständnis ver-
pflichtet (»das Wort Gottes in seiner absoluten symbolischen Fülle«), dem er
auch in seinen späteren Arbeiten zur jüdischen Mystik anhängt.120 Die symbo-
lische Interpretation der Thora, die Scholem die Kabbalisten betreiben sieht,
invertiert das Bedeutungslose in Bedeutung, in eine Vielzahl von unterschied-
lichen Deutungen. Wenn wir im nächsten Kapitel Ernst Blochs symbolisches
Verständnis des Messianismus und messianisches Verständnis des Symbols
117 Vgl. T II 622: »Jüdisch leben ist der substantielle Anschluß an die Tradition.«
118 Scholem, Bekenntnis über unsere Sprache (wie Anm. 63), S. 215f.
119 Die Rolle, die die Tradition in Scholems »Bekenntnis über unsere Sprache« spielt,
wird von Derrida nicht erkannt, dessen Lektüre um den »heiligen Wahnsinn« von
Scholems Sprachbekenntnis kreist, aus dem ein Verlangen nach dem apokalypti-
schen Gericht spreche (sei es als Strafe für die Säkularisierung der heiligen Spra-
che, sei es als deren Rückkehr), vor dem es zugleich Schutz suche (vgl. Jacques
Derrida: The Eyes of Language. The Abyss and the Volcano. In: Ders.: Acts of Re-
ligion. Ed. by Gil Anidjar. New York, London: Routledge 2002, S. 191–227).
120 Vgl. Gershom Scholem: Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen. 4. Aufl.,
Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft; 330),
S. 31f.: »[I]m mystischen Symbol [steht] ein Ausdrückbares für etwas, was der
Welt des Ausdrucks und der Mitteilung entrückt ist. […] Das Symbol ›bedeutet‹
nichts und teilt nichts mit, sondern läßt etwas sichtbar werden, was jenseits der
Bedeutung steht.«
4 Gerechtigkeit als Sprache und Gerechtigkeit als messianische Kategorie 149

beleuchten, so lässt sich beobachten, dass auch bei Scholem das Symbol in
einem messianischen Licht erscheint.121 Es bildet eine zentrale Kategorie in
Scholems späteren Arbeiten zur Sprachtheorie der Kabbala, deren Elemente
sich bereits in seinen früheren Texten, wie in dem an Rosenzweig gerichteten
Sprachbekenntnis, ausmachen lassen. In seinem Symbolverständnis zeigt sich
Scholem dabei von der Philosophie der Romantik beeinflusst, mit der er im
Symbol die Erscheinung des Unendlichen im Endlichen annimmt. Bei aller
messianischen Aufladung des Symbols bleibt für Scholems Verständnis des
jüdischen Messianismus und dessen historischer Dynamik zwischen Vollzug
und Aufschub jedoch eine Logik der Inversion entscheidend. Die auf dem
Aufschub beruhende Tradition, die vom apokalyptischen Vollzug – der Spra-
che des göttlichen Gerichts, die, wie wir noch genauer sehen werden, politi-
sche Kräfte zu usurpieren sich anmaßen – liquidiert zu werden droht, invertiert
die apokalyptische Energie, indem sie sie in sich hineinzieht, um sie zu neutra-
lisieren, aber auch zu bewahren: als ihr geheimes Kraft- und Gefahrenzentrum,
worauf wir in Kapitel III.4 noch einmal zurückkommen werden.

121 Vgl. Susan A. Handelman: Fragments of Redemption. Jewish Thought and Literary
Theory in Benjamin, Scholem, and Levinas. Bloomington, Indianapolis: Indiana
Univ. Press 1991, S. 109.
5 Ernst Blochs ästhetischer Geist der Utopie als
Prolegomenon zu einem »System des theoretischen
Messianismus«

Nichts weniger als ein »S ys te m d es the ore tis chen Me ss ian ismu s «
(GU 337) hat Ernst Bloch in seinem großen Frühwerk, dem Geist der Utopie
von 1918, als Desideratum der Philosophie angemahnt. Dieses Werk präsen-
tiert sich als Grundlegung des eingeforderten Systems des »theoretischen Mes-
sianismus«.1 Hiermit bezeichnet Bloch eine Erkenntnistheorie, die die syste-
matischen Wissensbereiche neu zu denken gibt.2 Blochs messianische Er-
kenntnistheorie setzt die Abhängigkeit des Erkennens vom Subjekt voraus, das
er als erlebendes, geschichtsphilosophisch auffassendes und utopisches Sub-
jekt bestimmt (vgl. GU 339). Die Wahrheit einer solchen messianischen Er-
kenntnistheorie nennt Bloch auch eine »zweite Wahrheit« (GU 339, 369), die
er von der Evidenz der positivistischen Tatsachenlogik unterscheidet, ohne
dass er diese einfach verwerfen wollte. Vielmehr geht es Bloch mit der Wen-
dung zur Subjektivität um den Primat der praktischen Vernunft auch in der
Logik. Die Verbindung von praktischer und theoretischer Vernunft ist beim
jungen Bloch nun aber fundiert in der Ästhetik. Denn es ist vor allem ein äs-
thetisches Subjekt, das Subjekt ästhetischer Erfahrung, von dem seine Er-
kenntnistheorie ihren Ausgang nimmt. Die ästhetische Erfahrung gewährt die
»Ahnung eines noch nicht bewußten Wissens«.3 Das Noch-Nicht-Bewusste der
Subjekte und das Noch-Nicht-Gewordene der Objekte, die Bloch später im
Prinzip Hoffnung als Momente einer Ontologie des Noch-Nicht vorstellt, sind

1 Als eine »Einleitung zu einem großen System des theoretischen Messianismus« hat
dann auch Margarete Susman den Geist der Utopie rezipiert (Margarete Susman, zi-
tiert nach: Wilhelm Voßkamp: »Wie könnten die Dinge vollendet werden, ohne daß
sie apokalyptisch aufhören«. Ernst Blochs Theorie der Apokalypse als Vorausset-
zung einer utopischen Konzeption der Kunst. In: Klaus Bohnen (Hg.): Aufklärung
als Problem und Aufgabe. Kopenhagen, München: Fink 1994 (Text & Kon-
text/Sonderreihe; 33), S. 295–304, hier: S. 296).
2 Bloch nennt in diesem Zusammenhang die Biologie (»Theorie des Lebens«), die
Kosmologie (»Theorie des Weltbaus«), die »Philosophie der Geschichte«, die »Phi-
losophie des Staates«, das »System der Äshtetik« und die »Ethik und Metaphysik
der Innerlichkeit« (GU 336).
3 Manfred Riedel: Ästhetische Utopie. Die Gottesfrage in Blochs Artistenmetaphysik.
In: Weimarer Beiträge 40/3 (1994), S. 449–453, hier: S. 453.
152 Teil I

im Geist der Utopie noch stark auf die Subjektivität, nämlich auf das Subjekt
ästhetischer Erfahrung, als ihren Dreh- und Angelpunkt bezogen.4
Bloch hat den Geist der Utopie zwischen 1915 und 1917 geschrieben und
1918 veröffentlicht. Der im expressionistischen Duktus verfasste Text behan-
delt Fragen der philosophischen Ästhetik, die auch die Grundlage für Blochs
allgemeine Geschichtsphilosophie abgibt. Er schlägt einen großen Bogen vom
alten Ägypten bis zur Moderne. Zugleich präsentiert sich der Geist der Utopie
als eine sozialistische Revolutionsschrift. Ästhetische Fragen dominieren
gleichwohl. Der umfangreichste Abschnitt handelt über die »Philosophie der
Musik«. Erst im letzten Kapitel, »Karl Marx, der Tod und die Apokalypse«,
wendet sich Bloch explizit politischen Fragen zu.
In der Ästhetik ist bereits beim frühen Bloch die Transzendenzerfahrung des
Noch-Nicht-Gewussten zentral. Diese verbindet Bloch im Geist der Utopie mit
der Ästhetik des Symbols. Dieses ist auch der Schlüssel zu Blochs Auffassung
des Messianismus. »Symbol: Die Juden« (GU 319) ist ein Exkurs zum Juden-
tum im Geist der Utopie überschrieben. Die Geschichte der Juden interpretiert
Bloch als Symbol einer mystischen Menschheitsgeschichte, einer »kanonisch-
mystische[n] Anthropogenie« (GU 321). Zum »jüdische[n] Weltgefühl« (ebd.)
zählt er die messianische Erwartung, die »unserer Aktualität« (GU 332) bedür-
fe. Den jüdischen Messianismus versteht er als ein »ebensowohl motorische[s]
als prägnant historische[s], unbildliche[s], unnaturhafte[s] Gerichtetsein auf ein
noch nicht daseiendes messianisches Ziel über der Welt« (GU 322), das sich in
den religiösen Texten in »überweltengroßen Visionen« verkörpert habe. Das
messianische Ziel über der Welt soll nun in der Welt realisiert werden. Bloch
säkularisiert dabei nicht einfach nur religiöse Zielvorstellungen. Im gleichen
Maße spiritualisiert er das Weltliche. Anders formuliert: Bloch holt die Trans-

4 Die Umstellung auf die Ontologie im »Prinzip Hoffnung« bemerkt Voßkamp, ohne
die entsprechende Rolle der Ästhetik in Blochs Frühwerk zu thematisieren (vgl.
Wilhelm Voßkamp: »Grundrisse einer besseren Welt«. Messianismus und Geschich-
te der Utopie bei Ernst Bloch. In: Stéphane Mosès und Albrecht Schöne [Hg.]: Ju-
den in der deutschen Literatur. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1986 [Suhrkamp-
Taschenbuch; 2063], S. 316–329, besonders S. 317). Die Zentralstellung der Ästhe-
tik in Blochs Geist der Utopie ist Gegenstand jüngerer Arbeiten geworden. Zu nen-
nen sind hier insbesondere die Studien von Anna Czajka-Cunico, Achim Kessler
und Inge Münz-Konen (Anna Czajka-Cunico: »Wann lebt man eigentlich?« Die Su-
che nach der ›zweiten‹ Wahrheit und die ästhetische Erfahrung in Blochs »Geist der
Utopie«. In: Bloch-Almanach 19 [2000], S. 103–156; Anna Czajka: Poetik und Äs-
thetik. Studien zu einer neuen Literaturauffassung in Ernst Blochs literarischem und
literaturästhetischem Werk. Berlin: Duncker und Humblot 2006 [Schriften zur Litera-
turwissenschaft; 27], besonders S. 35–47; Inge Münz-Konen: Ernst Blochs Aisthesis-
Konzept im Geist der Utopie. In: Bernhard J. Dotzler und Helmar Schramm [Hg.]: Ca-
chaça. Fragmente zur Geschichte von Poesie und Imagination. Berlin: Akademie-
Verlag 1996, S. 127–132). Zur performativen Dimension von Blochs Ästhetik vgl.
auch Achim Kessler: »Wie könnte die Welt verändert werden?« Ernst Blochs perfor-
mative Ästhetik. In: Bloch-Almanach 25 (2006), S. 97–131.
5 Ernst Blochs ästhetischer ›Geist der Utopie‹ 153

zendenz nur insofern in die Immanenz, als die Immanenz sich selbst über die
positivistische Tatsachenlogik hinaus zu einem utopischen Totum transzendie-
ren soll. Für ihn stellt die messianische Sprache des Judentums wie auch des
Christentums einen symbolischen Ausdruck für ein noch nicht realisiertes und
der Erfüllung harrendes utopisches Ganzes dar, das in der überpositivistischen
Welt liegt.
Bloch begnügt sich nun im Geist der Utopie nicht damit, die jüdische Ge-
schichte symbolisch zu deuten und den jüdischen Messianismus in dieser sym-
bolischen Auslegung als Verweis auf die – durch nichts garantierte und der
menschlichen Tat bedürftige – Zielgerichtetheit von Geschichte überhaupt zu
verstehen. Darüber hinaus interpretiert er das Symbol messianisch und operiert
mit einer überbordenden messianischen Symbolik. Der ästhetischen »Symbol-
intention« (GU 365) selbst soll es eingeschrieben sein, so Blochs Postulat, sich
auf ein utopisches Ganzes zu richten. Dieses komme wiederum in der religiö-
sen, messianischen Symbolsprache in herausragender Weise zum Ausdruck.
Von dieser hat Bloch nicht zuletzt in seinem eigenen Buch, dem Geist der
Utopie, ausgiebig Gebrauch gemacht. Blochs Geist der Utopie lebt von der
Doppelbewegung, den Messianismus als Symbol für das utopische Totum
einer geeinten Menschheit und einer geeinten Welt zu deuten, und das ästheti-
sche Symbol, auf das das utopische Totum als seinen Ausdruck angewiesen ist,
messianisch aufzufassen.
Im Folgenden werde ich zuerst die symbolisch strukturierte, ästhetische Er-
fahrung des Noch-Nicht genauer untersuchen, die dem Ungewordenen der
Vergangenheit ebenso Raum gibt wie den offenen Möglichkeiten der Zukunft
und die den Ausgangspunkt von Blochs Geist der Utopie darstellt. Sodann
möchte ich Blochs messianische Erkenntnistheorie, die auf dieser ästhetischen
Erfahrung aufbaut, näher betrachten. Und schließlich werde ich mich Blochs
Verständnis des Symbols zuwenden, um eine Grundlage zu finden, auf der die
messianische, als symbolisch markierte Sprache des Geistes der Utopie ange-
messen beurteilt werden kann.
Der Geist der Utopie beginnt essayistisch. »Ein alter Krug« ist das erste
Kapitel überschrieben, das dem Obertitel von Blochs Text, »Die Selbstbegeg-
nung«, folgt. Nicht an einem Kunstwerk, sondern an einem Gebrauchsgegen-
stand, einem alten Hausgerät als modernem Sammelobjekt, exemplifiziert
Bloch ästhetische Erfahrung. Aisthesis, sinnliche Wahrnehmung, und Staunen
vor einem einzelnen Ding stehen am Anfang: »Ich sehe ihm gerne zu. Fremd
führt er hinein. Die Wand ist grün, der Spiegel golden, die Fenster schwarz, die
Lampe brennt hell. Aber er ist nicht nur einfach warm oder gar fraglos schön
wie die anderen edlen alten Dinge« (GU 13). Hieran schließt sich eine Be-
schreibung des Äußeren des Kruges an, eines einfachen, ungeschlachten Gerä-
tes, an dem am meisten das »wilde Männergesicht« (GU 13) auf dem Bauch
auffalle. Empirische Beschreibung und Spekulation durchdringen sich in den
folgenden Sätzen, die Mutmaßungen über die Geschichte des spätantiken Kru-
154 Teil I

ges, seine Funktion im Totenkult und den »wilde[n] Bartmann« als Angehöri-
gen der mittelalterlichen, bäuerlichen Geister- und Märchenwelt enthalten. Im
letzten Drittel geht es um den verborgenen Inhalt, das geheime, dunkle Innere
des Kruges. Hier kommt die ästhetische Erfahrung zum Zuge, die ein dynami-
sches, mimetisches Verhältnis zwischen Betrachter und Betrachtetem be-
schreibt:
[W]er den alten Krug ansieht, trägt seine Farbe und Form mit sich herum. Ich werde
nicht mit jeder Pfütze grau und nicht von jeder Schiene mitgebogen, um die Ecke
gebogen. Wohl aber kann ich krugmäßig geformt werden, sehe mir als einem Brau-
nen, sonderbar Gewachsenen, nordisch Amphorahaften entgegen, und dieses nicht
nur nachahmend oder einfühlend, sondern so, daß ich darum als mein Teil reicher,
gegenwärtiger werde, weiter zu mir erzogen an diesem mir teilhaftigen Gebilde
(GU 14).

Das Innere des Kruges erschließt sich nicht einem distanzierten Betrachten. Es
erfordert eine Verwandlung des Betrachters. Die Mimesis gerade an das Uner-
gründliche des Kruges entdeckt dem Betrachter, was ihm an ihm selber ver-
borgen ist: »Der Krug Blochs bin ich selber, wörtlich und unmittelbar, dump-
fes Muster dessen, was ich werden könnte und nicht sein darf«,5 kommentiert
Adorno. Nicht an jedem Ding ist für Bloch solche Erfahrung zu machen, son-
dern nur an denen, die von Menschen gemacht wurden. Am Krug ist nicht nur
das Werden und die Geschichte seines empirischen Gemachtseins nachzuvoll-
ziehen, sondern in seinem Inneren ist sein Noch-Nicht-Gewordenes aufgespei-
chert. Die Geschichte des Gemachten führt nicht auf einen vollkommenen
Ursprung zurück, sondern das ›Uralte‹ des Kruges verweist vielmehr auf das
Unerfüllte, geschichtlich noch nicht Eingeholte. Im »Blochische[n] Archais-
mus« spreche, im genauen Gegensatz zur Blut- und Bodenideologie, das »Ur-
alte, Urvergessene […] vom noch nicht Gewesenen, erst Herzustellenden«.6
Das Gemachte ragt, als ein geschichtlich Unfertiges, in
ein fremdes, neues Gebiet hinein und kommt mit uns, wie wir lebend nicht sein
könnten, geformt zurück, beladen mit einem gewissen, wenn auch noch so schwa-
chen Symbolwert. Auch hier fühlt man sich, in einen langen, sonnenbeschienenen
Gang mit einer Tür am Ende hineinzusehen, wie bei einem Kunstwerk. Das ist
keines, der alte Krug hat nichts Künstlerisches an sich, aber mindestens so müßte
ein Kunstwerk aussehen, um eines zu sein, und das wäre allerdings schon viel
(GU 14f.).

Was den alten Krug einem Kunstwerk vergleichbar macht, ja, sogar zum Para-
digma eines Kunstwerks macht, ohne dass er selbst eines wäre, ist der »Sym-
bolwert«, den ihm Bloch zuschreibt. Wenn Adorno formuliert, dass ich selber
Blochs Krug bin, und dies nicht als ein »Gleichnis«, sondern »wörtlich und
5 Theodor W. Adorno: Henkel, Krug und frühe Erfahrung. In: Ders.: Noten zur Litera-
tur. Hg. von Rolf Tiedemann. 7. Aufl., Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1998, S. 556–566,
hier: S. 565.
6 Ebd., S. 564.
5 Ernst Blochs ästhetischer ›Geist der Utopie‹ 155

unmittelbar« aufzufassen sei,7 dann ist dies, ohne dass Adorno dies eigens
bemerkte, ein Effekt der Rhetorik des Symbols, die Bloch sich zunutze macht.
Der alte Krug verkörpert mich, er steht, als ein »mir teilhaftige[s] Gebilde«
(GU 14 [Hervorhebung E. D.]), in der Beziehung der Synekdoche zu mir, auf
der der klassische Symbolbegriff aufbaut.8 Das Symbol zeichnet sich, im Un-
terschied zur Metapher, durch »primäre Referenz auf Empirie aus, sei es ein
Gegenstand, sei es eine Handlung«.9 Durch bestimmte Verfahren provozieren
Texte die symbolische Deutung eines pragmatisch-empirischen Elementes, etwa
durch Wiederholung und Antithese oder durch eine prominente thematische
Stellung, wie in Blochs Eingangsessay im Geist der Utopie. Dabei fordert gerade
die Inkongruenz zwischen pragmatisch-empirischer Eigenbedeutung und promi-
nenter Stellung im Text zur symbolischen Deutung eines empirischen Elementes
heraus, dessen künstlich herbeigeführter Bedeutungsmangel durch Bedeutung
aus dem Kontext oder dem kulturellen Wissen aufzufüllen ist.10 Blochs Text
setzt diesen Bedeutungsmangel selbst ins Bild. Der Krug hält Bedeutung in
seinem Inneren zurück. Der alte Krug geht nicht in seiner empirischen Tatsäch-
lichkeit auf, sondern verkörpert viel mehr, ohne dass dieses »Mehr« an Bedeu-
tung durch den Text erschöpfend dargestellt und vorgegeben wäre.
Das Symbol stellt ein hermeneutisches Phänomen dar, insofern Gegenstän-
de oder Ereignisse erst durch ihre Deutung zu Symbolen werden. Deren »sym-
bolische Bedeutung ist die symbolische Deutung«.11 Die »durch den Textzu-
sammenhang zu bestätigende Möglichkeit«12 beherrscht die Relation zwischen
literarischem Symbol und Symbolisiertem, die nicht arbiträr und konventionell
geregelt ist, es sei denn, es handelt sich um ein Symbol, das eine textexterne,
kulturell überlieferte Bedeutung hat wie z. B. die tradierte religiöse Symbolik.
Das Symbol als hermeneutisches Phänomen beruht also auf den symbolischen
Deutungsmöglichkeiten von empirischen Gegenständen, Ereignissen oder
Handlungen, die synekdochisch, metonymisch oder metaphorisch motiviert
sein können.13
Blochs alter Krug wird zum Symbol des Betrachters. Als »Muster dessen,
was ich werden könnte«,14 verkörpert der Krug meine verborgenen, noch nicht
realisierten Möglichkeiten. Er stellt ein unfertiges, geschichtliches Gebilde dar,
dessen Bedeutung sich nicht im Empirisch-Pragmatischen erschöpft. Sein
»schwer zu ergründen[des]« (GU 14) Inneres enthält einen Überschuss an
Deutungsmöglichkeiten. Indem der Krug »in ein fremdes, neues Gebiet hin-

7 Ebd., S. 565.
8 Vgl. Gerhard Kurz: Metapher, Allegorie, Symbol. 4. Aufl., Göttingen: Vandenhoeck
& Ruprecht 1997, S. 80f.
9 Ebd., S. 73.
10 Vgl. ebd., S. 79.
11 Ebd., S. 80.
12 Ebd.
13 Vgl. ebd., S. 80–84, wo die drei Typen des Symbols erläutert werden.
14 Adorno, Henkel, Krug und frühe Erfahrung (wie Anm. 5), S. 565.
156 Teil I

ein[ragt]« (GU 14), verweist er auf seine zukünftigen Deutungsmöglichkeiten.


Blochs Essay baut den Krug nicht nur zum Symbol des Betrachters auf, son-
dern der Krug ist zugleich Symbol des Symbols. Das hermeneutische Phäno-
men symbolischer Deutungsmöglichkeit wird durch den Krug symbolisiert.
Bloch belässt es allerdings im Geist der Utopie nicht bei einer allgemeinen
Hermeneutik des Symbols. Wir werden sehen, dass Bloch vielmehr das
Merkmal, das er religiösen Symbolen zuschreibt, nämlich Zielbestimmungen
auszudrücken, zum quasireligiösen Kennzeichen von Symbolen überhaupt
macht.
Exemplifiziert Bloch am alten Krug die Hermeneutik des Symbols, so ver-
bindet er diese mit der traditionellen, religiösen Symbolik von Dunkel und
Licht. Im »dunklen, weiträumigen Bauch dieser Krüge« (GU 14) sind die
historisch noch nicht realisierten Deutungsmöglichkeiten verborgen, die auf
die Zukunft ihrer Erfüllung verweisen, verbildlicht in einem »langen, sonnen-
beschienenen Gang mit einer Tür am Ende« (GU 15). Pointiert Bloch das
dynamische Möglichsein und stellt die »offene[], unfertige[] Welt« (GU 342)
heraus, so bleibt er doch letztlich dem Ziel einer erfüllten Welt verpflichtet,
einer absoluten Fülle oder, mit dem Apostel Paulus, einem »Pleroma« (GU
387), das über jedem Begriff liegt. In dem Text schlägt die Kritik an dem »Fe-
tischismus einer Tatsachenlogik« (GU 341) um in das Phantasma der Erfül-
lung aller Möglichkeiten, das mit einem absoluten Sich-selbst-Erleben zusam-
menfällt, des »Ich« wie des »Wir«, zwischen denen die Übergänge, besonders
in der Erstausgabe des Geists der Utopie, rhetorisch fließen.15 Die »Frage nach
uns«, nach dem Wesen des Menschen, will Bloch zwar »rein als Frage, nicht
als Hinweis auf die Lösung« (GU 367) verstehen, und findet hierfür die denk-
würdige Formulierung von der »unkonstruierten, unkonstruierbaren Frage
selber als Antwort auf die Frage« (GU 367). Nichtsdestotrotz gibt es in Blochs

15 Jochen Hörisch skizziert diese Problematik an späteren Texten von Ernst Bloch. Die
Differenz von Sein und Haben, die Bloch später an den Anfang des Philosophierens
stellt (»Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst« (Ernst Bloch:
Tübinger Einleitung in die Philosophie. In: Ders.: Gesamtausgabe. Bd 13. Frankfurt
a. M.: Suhrkamp 1977, S. 13) und die Hörisch verfolgt, ist auch schon im Geist der
Utopie als Differenz des erlebenden und des erkennenden Ich thematisch. Und auch
für den Geist der Utopie gilt, dass der Text dann »[p]roblematisch wird […], wenn
e[r] das, was e[r] als nicht vermittelbar erkannt hat, doch durch rhetorische Gewalt
vermitteln will« (Jochen Hörisch: »Knappes Raunen«. Ernst Bloch über Haben und
Sein. In: Jan Robert Bloch (Hg.): »Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden
wir erst.« Perspektiven der Philosophie Ernst Blochs. Frankfurt a. M.: Suhrkamp
1997, S. 104–107, hier: S. 106). Blochs Schreiben, so Hörisch weiter, ziele auf den
apokalyptischen Sprung, den plötzlichen Durchbruch, der »schlechthin alles neu
macht – auch und gerade das Verhältnis von Sein und Haben. Es läßt sich beobach-
ten, dass Philosophie, die so prozediert, dafür einen hohen Preis zahlt. Sie raunt
nicht knapp, sondern breit; sie muß beschwören, was sich nicht beobachten läßt; sie
läuft Gefahr, ihre besten dekonstruktiven Differenz-Einsichten preiszugeben« (ebd.,
S. 107).
5 Ernst Blochs ästhetischer ›Geist der Utopie‹ 157

Text dann doch ein »letzte[s] Antworten«, das in religiöser Symbolik be-
schrieben wird als
das sich selbst Essen, in sich selbst Auferstehen, sich selbst Rezitieren in der gnosti-
schen Messe, […] ein völlig erlebtes, in uns zurückverwandeltes, das heißt, mit sei-
nem Kern gedecktes Eingedenken, […] ein intensiv und darin ontisch gewordenes
Gegenwärtigsein von Person (GU 373).

Blochs Rückgriff auf tradierte religiöse Symbole ist synkretistisch, er kombi-


niert christliche wie jüdische messianische Symbolik. Eines verbindet aber
diese religiöse Symbolik, denn sie weist auf eine sich bei Bloch durchhaltende
Sache hin: »auf »eine Welt und auf einen vollkommenen Menschen. […] Reli-
giöse Symbole bezeichnen Zielbestimmungen, also Bilder geglückter Identi-
tät.«16 Wir werden auf die religiöse Symbolik und Blochs eigene Reflexion auf
diese später noch einmal zurückkommen.
Die messianische Erkenntnistheorie, die Bloch in dem Kapitel »Zur moto-
risch-phantastischen Erkenntnistheorie dieser Proklamation« skizziert, baut auf
dem »essayistischen Denken« (GU 336) auf, das das Eingangskapitel »Ein
alter Krug« paradigmatisch vorführt. Zum essayistischen Denken rechnet
Bloch zwei anscheinend entgegengesetzte Bewegungen: das »liebevolle Be-
trachten des Einzelnen« (GU 336) und das »schlechthin darüber hinwegstür-
mende […] Tendieren nach dem Zielgemäßen, Sinngemäßen überhaupt« (GU
336). Empirismus und Utopismus sollen so zusammengehen. Das Betrachten
des Einzelnen treibt dieses über die kategoriale Wahrnehmung hinaus, die das
Einzelne auf eine »derzeitige Regel«, auf eine »komparative, empirische Lo-
gik« (GU 338) bezieht. Dies macht nicht der sinnliche Eindruck allein, dem
das ästhetisch »erlebende« Ich sich hingibt. Hinzu kommen im essayistischen
Denken wie in der messianischen Erkenntnistheorie überhaupt die historische
Betrachtung des »auffassenden« und die utopische des »werttheoretisch erfül-
lenden Subjekt[s]« (GU 339). Wissen und begriffliche Erkenntnis sind in
Blochs messianischer Erkenntnistheorie nicht ausgeschaltet, sondern werden
als historisches, enzyklopädisches Wissen integriert (vgl. GU 339). Aber die-
ses Wissen bedeute nun gerade »nicht anzuerkennen, wie das Einzelne leben
muß, also nicht die derzeitige objektive Ordnung der Dinge« (GU 337). Aufge-
fasst als Historisches, Vergehendes besitze das empirisch Einzelne noch ein
Heimliches, ein Element des Zukünftigen in sich, das im historisch Geworde-
nen noch nicht werden konnte (vgl. GU 335). In dem, was Bloch auch »Einge-
denken« (GU 339) nennt, wird die »gew is s e, beobachtend erweisbare Evi-
denz empirischer Kategorialdeckung« überführt in die »ein leuch tende Evi-
denz, also die zweite Wahrheit und ihre lediglich moralisch-spekulative Lo-
gik« (GU 339).

16 Heinz Paetzold: Symbolik als Konstitution von Gattungsbewußtsein und als utopi-
sche Subversion. Zu Georg Lukács’ und Ernst Blochs Theorie des Symbolischen. In:
Études Germaniques 41 (1986), S. 363–376, hier: S. 371.
158 Teil I

Diese Überführung der gewissen in eine einleuchtende Evidenz lässt sich


übersetzen als Überführung begrifflicher in symbolische Erkenntnis, die offen
poetisch und anthropozentrisch ist: »[D]ie Dinge suchen ihren Dichter und
wollen auf uns bezogen sein« (GU 335). Diese symbolische Erkenntnis ist
darauf ausgerichtet, dass wir uns, in unvollendeter, gleichwohl zu vollendender
Gestalt, in den Dingen, und die Dinge sich in uns erkennen. Im Geist der Uto-
pie wird die symbolische Erkenntnis zwar vornehmlich ästhetisch subjektiv
motiviert, es finden sich aber auch schon Spuren des Versuchs, symbolische
Strukturen ontologisch zu fundieren. Dies drückt sich zum Beispiel darin aus,
dass Bloch im Kapitel »Zur motorisch-phantastischen Erkenntnistheorie dieser
Proklamation« symbolische Erkenntnis nicht mehr ausschließlich für gemachte
Objekte wie den alten Krug im Eingangsessay reserviert. Der »kräftige Blick,
allem verwandt zu werden« (GU 336), bezieht sich nun auf natürliche wie
historische, von Menschen gefertigte Gegenstände. Es gelte, »voll Pflanze,
Stein, Krug, Harfenistin zu werden, Gleiches mit Gleichem zu erkennen, das
Angeborene in uns durch die Welt zu erwecken, wie es tiefer wieder diese
erweckt« (GU 336). Natürliche wie historische Dinge werden solcherart zu
»Real-Symbolen«, deren Theorie Bloch zwar erst später im Zusammenhang
mit der Ontologie des Noch-Nicht entwickelt, die er aber bezeichnenderweise
mit Selbstzitaten aus dem Geist der Utopie belegt.17 Die Problematik von
Blochs erst später systematisch ausformulierter Symbolkonzeption zeichnet
sich bereits im Geist der Utopie ab: Semiotische Kriterien werden zu »›Ding-
Eigenschaften‹« verschoben, so dass Dinge zu »›reale[n] Bilder[n]‹« werden,
die ihren Sinn selber zu transportieren scheinen.18
Blochs Reflexion des Symbols bleibt im Geist der Utopie fragmentarisch.
Der Locus classicus der Blochschen Symbolkonzeption findet sich im Ab-
schnitt »Gleichnis, Allegorie und Symbol in der Welt« der Tübinger Einleitung
in die Philosophie aus dem Jahr 1963. Bloch greift hier auf seinen frühen Geist
der Utopie zurück, um Beispiele für »Real-Symbole« zu liefern. Sein Ver-
ständnis des Symbols lebt von der Differenz zur Allegorie. Im Geist der Uto-
pie ist er dabei noch befangen im klassischen Vorurteil, dass die Allegorie
abstrakt sei, d. h. ein Bild erfinde, um einen allgemeinen Begriff zu veran-
schaulichen (vgl. GU 383). In der Tübinger Einleitung zur Philosophie distan-

17 Vgl. Bloch, Tübinger Einleitung in die Philosophie (wie Anm. 15), S. 342.
18 Wilfried Korngiebel: Bloch und die Zeichen. Symboltheorie, kulturelle Gegenhege-
monie und philosophischer Interdiskurs. Würzburg: Königshausen & Neumann
1999, S. 63. Bereits Hans Heinz Holz hat kritisiert, dass Bloch in seiner Symbolthe-
orie die semantische Funktion in die Objektwelt selbst verlege und einem alten
Anthropozentrismus erliege. Indem alle Naturqualitäten auf den Menschen ausge-
richtet werden, könne der Mensch als Bewusstsein der Welt erscheinen (vgl. Hans
Heinz Holz: Einsatzstellen einer ›Ontologie des Noch-Nicht-Seins‹. In: Burghardt
Schmidt [Hg.]: Materialien zu Ernst Blochs »Prinzip Hoffnung«. Frankfurt a. M.:
Suhrkamp 1978 [Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft; 111], S. 263–291, hier:
S. 282).
5 Ernst Blochs ästhetischer ›Geist der Utopie‹ 159

ziert sich Bloch von diesem »klassizistische[n] Mißverständnis«, indem er sich


auf Benjamins Trauerspielbuch und die barocke Allegorie beruft. Er definiert
Allegorie als ein Gleichnis, das »das Eine durch das Andere ausdrückt«, wobei
»dieses Andere […] weit gestreut ist, ja beliebig viel ›Anderheit‹, Alteritas
sein kann«.19 Das allegorische Bedeuten führe zu einer »Streuungsreihe des
dem Bedeuten Entsprechenden«.20 Bloch schreibt streuende »Alteritas« so-
wohl dem allegorisch Bedeutenden wie dem allegorisch Bedeuteten zu. Dies
ist schlüssig, insofern Bloch schreibt, dass in der Allegorie das Bezeichnete
selber wieder zum Zeichen werde. Das Symbol deute zwar ebenfalls qua
Gleichnis auf ein Anderes.
[I]n diesem Anderen [will] aber jenes Eine, als Ontos On, bedeutet sein, in dessen
Bedeutung das Bedeuten weder eine weitere Wahl hätte noch endlos in Alteritas
weiterginge. Also lautet die Formel des Unterschieds hier so: Das Allegorische
schickt metaphorisch immer wieder herum, das Symbolische versucht metaphorisch
zu landen.21

Symbole sollen nun allerdings keine Bedeutung fixieren, sondern »Rich-


tung«22 anzeigen, »Orientation«23 verleihen. Es gebe auch noch bei den Sym-
bolen eine »Vielheit«, aber die Symbole seien alle um das »Ontos on« herum-
gestellt und die Vielheit ihrer Bedeutung gehe nicht wie bei den Allegorien in
die Breite, sondern in die Tiefe und die »Unitas«.24 Diese Einheit denkt Bloch
nun nicht nach dem Vorbild der Natur, sondern utopisch, als noch nicht reali-
siertes und der Erfüllung harrendes »utopische[s] Totum«.25 Er bestimmt die
Kunst als bevorzugten Ort der Allegorie, wohingegen er das Symbol der Reli-
gion sowie jener Kunst zuordnet, die »sich der religiösen Symboltiefen bedient
oder gar sich zu ihnen hinwendet«.26 Den Geist der Utopie, diese »literarische
Form der Philosophie«,27 wird man nun zu der Kunst rechnen müssen, die
nicht nur religiöse Symboltiefe evoziert, sondern auch ohne Scheu mit religiö-
ser Ziel-Symbolik operiert.
Bloch arbeitet im Geist der Utopie nicht nur mit jüdischer, sondern auch mit
gnostischer und christlicher Ziel-Symbolik. Es ist typisch für seine Adaption
des jüdischen Messianismus, dass er diesen mit (häretisierten) Elementen an-
derer religiöser Traditionen mischt. Der Messianismus, der in Blochs Augen
1918 aktuell geboten ist, stellt eine solche synkretistische, häretische Mixtur
dar. Im Geist der Utopie beschreibt und proklamiert Bloch den Messianismus
wie folgt:
19 Bloch, Tübinger Einleitung in die Philosophie (wie Anm. 15), S. 338.
20 Ebd., S. 339.
21 Ebd.
22 Ebd.
23 Ebd.
24 Ebd., S. 340.
25 Ebd., S. 341.
26 Ebd., S. 340.
27 Adorno, Henkel, Krug und frühe Erfahrung (wie Anm. 5), S. 562.
160 Teil I

In ihm [dem Messianismus; Anm. E.D.] lebt zwar ein Dienen untereinander, aber
auch trotzigste Selbstheit gegen Welt und Gott; es lebt darin keine Knechtsgestalt,
kein alliebender und allwissender Vater, kein sichtbarer, bildhafter, unmusikalischer
Gott, kein Opfertod, kein Gnadenschatz, überhaupt keine Garantiertheit und vorhan-
dene Definiertheit des Ziels, wohl aber die fruchtbarste, moralische, Kierkegaard mit
den Propheten vereinende Kategorie der Gefahr – die Menschen sind noch immer
schutzlos und ohne Himmel, aber in unserer Kraft zu wenden und zu rufen, in unse-
rem tiefsten, noch namenlosen Inneren schläft der letzte, unbekannte Christus, der
Kälte-, Leere-, Welt- und Gottbesieger, Dionysos, der ungeheure Theurg, von Moses
geahnt, von dem milden Jesus nur umgeben, aber nicht verkörpert. Nun aber, hier
werden sich die Juden und die Deutschen ewig begegnen […]; und so ist es immer
noch denkbar […], daß […] das Judentum mit dem Deutschtum nochmals ein Letz-
tes, Gotisches, Barockes zu bedeuten hat, um solchergestalt mit Rußland vereint,
diesem dritten Rezipienten des Wartens, des Gottgebärertums und Messianismus, –
die absolute Zeit zu bereiten. (GU 332)

Der von Bloch propagierte Messianismus weist erstens einen gemeinschaftli-


chen Aspekt (»Dienen untereinander«) auf. Diese brüderlich messianische
Gemeinschaft kodiert Bloch zweitens rebellisch, begehrt sie doch gegen einen
omnipotenten Vatergott und gegen die Welt auf. Trotzige Individuen tun sich
zur kämpferischen Gemeinschaft zusammen. Drittens will Bloch den »unbe-
kannte[n] Christus«, den noch nicht gekommenen »ferne[n] Messias« (GU
331), als symbolische Figur für »unser tiefstes, noch namenloses Inneres«
verstanden wissen. Viertens verleiht Bloch dem Messianismus apokalyptische
Züge, worauf die Semantik von Kampf und Gefahr hindeutet. Apokalyptisch
ist sein Messianismus aber auch darin, dass er das Schema eines Bruches zwi-
schen dieser und jener Welt aufruft. Das Ziel ist dabei kein transzendentes
Jenseits, sondern liegt in der Welt, in der es über alles Gegebene, Tatsächliche,
begrifflich Fassbare hinausführt. Und fünftens schließlich verbindet Bloch mit
dem Messianismus ein revolutionäres, sozialistisches Programm (Stichwort
»Russland«, russische Oktoberrevolution). Der apokalyptische Bruch wird
Bloch zum Vorbild des revolutionären Umbruchs.
In den Exkursen »Symbol: Die Juden« und »Jesus« kann man die theoreti-
schen Grundlagen für Blochs religiösen Synkretismus finden. Sehr zum Ärger
Scholems28 behauptet Bloch hier, dass fast allen jüngeren Juden der Name Jesu
28 1920 beschwert sich Scholem in einem Brief an Benjamin über die »zentrale[]
Christologie, die uns dort [im Geist der Utopie; Anm. E. D.] untergeschoben wird.
Das Corpus Christi in irgendeinem Sinn als die Substanz unserer [jüdischen; Anm.
E. D.] Geschichte zu erfassen, scheint mir nicht möglich und ich suche vergeblich
nach den glaubhaften Zeugnissen, die für ein Schwinden der ›altüberlieferten Scheu‹
vor dem Stifter des Christentums im Judentum sprechen« (Scholem an Benjamin, zi-
tiert nach: Gershom Scholem: Walter Benjamin – die Geschichte einer Freundschaft.
4. Aufl., Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1997 [Bibliothek Suhrkamp; 467], S. 114). In
der Ablehnung der Bloch’schen Christologie stimmen Benjamin und Scholem über-
ein (vgl. Walter Benjamin an Gershom Scholem, 13.02.1920. In: Ders.: Gesammelte
Briefe. Bd 2. Hg. von Christoph Gödde und Henri Lonitz. Frankfurt a. M.: Suhr-
kamp 1996, S. 75).
5 Ernst Blochs ästhetischer ›Geist der Utopie‹ 161

leicht über die Lippen gleite, mehr noch: »Jesus kehrt endlich zu seinem Volk
zurück, und sein Name, sogar seine Symbole sind leise und allmählich […] in
das Herz und die Gedanken der jungen, ernsten, nachdenklichen Generation
eingegangen« (GU 323).29 Bloch versteht Jesus als »Propheten, der der Messi-
as hätte sein können« (GU 378), wenn Menschen und Gott nicht versagt hät-
ten, indem sie Jesus den Opfertod sterben ließen. Die »Kreuzes- und Opfer-
todsmagie« (GU 378) weist er entschieden zurück und mit ihr die »der ganzen
religiösen Antike eigene Ergebenheit« (GU 380). Für den Juden sei Jesus, so
er ihn nicht mit Angst erfülle, der »noch nicht realisierte Messias« (GU 328).
Denn vom Judentum sei der Gedanke des Trösters, des Dritten über Juden und
Christen, des Messianismus und »Tertium Testamentum« niemals aufgegeben
worden (vgl. GU 329). Bloch unterstellt nun dem Judentum, dessen Glauben
auf die Auflösung und die letzte Stunde gerichtet sei, einen »latente[n] Gnosti-
zismus« (GU 330), indem er die gnostische Entgegensetzung zwischen dem
niederen Schöpfergott, dem Demiurgen, und dem Erlösergott bereits in die
Hebräische Bibel hineinträgt.30 Der Messias wie der Erlösergott gelten Bloch
als noch unbekannt. Dieses Unbekannte, das Messias und Gott darstellen, ist
aber nichts anderes als das Unbekannte des Menschen. Denn die religiöse
Symbolik drückt für Bloch keine transzendente Wahrheit aus, sondern eine
menschliche, ›seelische‹ (vgl. GU 382) – eine immanente Transzendenz.
Das messianische Ziel der Geschichte bildet die universale »Selbstbegeg-
nung im Inneren aller Dinge, Menschen und Werke« (GU 386), ein Leben in
der unverstellten Fülle aller Möglichkeiten, von Bloch auch »mystische
Selbsterfüllung in Totalität« (GU 294) genannt. Wäre die utopische Identität
erreicht, so würde das Bedeuten »endlos in Alteritas«31 aufhören, und die
»Symbolintention« (GU 365, 373) wäre erfüllt. Es verwundert nicht, dass
Bloch vor allem auf apokalyptische Symbolik zurückgreift, um diese utopische
Identität zu figurieren, bezeichnet die Apokalypse doch, sprach- und medien-
theoretisch besehen, das Ende der Übertragungen.32 Dieses Ende der Übertra-
gungen setzt Bloch selbst ins apokalyptische Bild, sei es, dass er das aus der
Johannes-Apokalypse bekannte Motiv des ›Verschlingens des Buches‹ (vgl.
Offb 10,9–10) zu einem Bild für die Seinsfülle einer eschatologischen
29 Grundsätzlich ist Blochs Exkurs über die Juden stark von Martin Bubers Drei Reden
über das Judentum beeinflusst (s. Kap. II.2.2). Von diesem übernimmt Bloch die
Vorstellung, dass Jesus’ Lehre im Rahmen der jüdischen Geistesgeschichte zu ver-
stehen sei (vgl. hierzu auch Krochmalnik, Daniel: Ernst Blochs Exkurs über das Ju-
dentum. In: Bloch-Almanach 13 [1993], S. 39–58, besonders S. 52f.).
30 Vgl. zu den gnostischen Motiven in Blochs Geist der Utopie auch Michael Pauen:
Apotheose des Subjekts. Gnostizismus in Ernst Blochs »Geist der Utopie«. In:
Bloch-Almanach 12 (1992), S. 15–64.
31 Bloch, Tübinger Einleitung in die Philosophie (wie Anm. 15), S. 339.
32 Vgl. Joseph Vogl: Apokalypse als Topos der Medienkritik. In: Jürgen Fohrmann
und Arno Orzessek (Hg.): Zerstreute Öffentlichkeiten. Zur Programmierung des
Gemeinsinns. München: Fink 2002, S. 133–141, besonders S. 139.
162 Teil I

Menschheit wählt (vgl. GU 382) oder die Differenz zwischen Bild und Wirk-
lichkeit auflöst, indem er umgekehrt das Verschwinden ins Bild imaginiert:
Darum zum Ende, wir selber schreiten derart, […] in unseren inneren Spiegel hinein.
Wir verschwinden in der kleinen, gemalten Tür des fabelhaften Palastes, den Messi-
as zu rufen, und in Explosion fliegt auf das Draußen, in den Weg Gestelltes, Satan
der Todesdämon, das krustenhafte Ritardando der Welt, alles, was nicht von uns ist,
[…] von unserer himmlischen Herrlichkeit ist oder sie gar hindert (GU 444).

Mittels der Spiegelmetapher beschreibt der von Bloch rezipierte christliche


Mystiker Jacob Böhme (17. Jh.) die »unio mystica«, wobei die Versenkung in
den Spiegel bei ihm für das Eingehen in den göttlichen »Ungrund« steht, das
alle bildliche Repräsentation übersteigt und auflöst.33 Die Begegnung mit dem
göttlichen Ungrund wird bei Bloch zur Selbstbegegnung mit dem menschli-
chen Ungrund, dem »Maßlosen der Menschennatur« (GU 387). Blochs apoka-
lyptische Sprache vermengt christliche und jüdische Mystik: Auf einer Seite
finden ein indirektes Zitat Jacob Böhmes und ein direktes Zitat aus dem Buch
»Sohar« der jüdischen Mystik Platz (vgl. GU 444). Die apokalyptische Selbst-
begegnung drängt über »alle Maße und Begriffe hinaus« zum »Unbegreifli-
chen«, »zu dem ausgesprochenen individuum ineffabile, zu dem Zerreißen der
Vorhänge, zu dem Rauch und Donner der gesprungenen Türen und dem Feuer,
[…] zu den Füßen des Messias und dem ruhend absoluten Pleroma der Liebes-
lust« (GU 387).
Der Geist der Utopie ist geprägt von einer messianisch-apokalyptischen
Symbolsprache, die auf das Ende der Übertragungen zugunsten der reinen
Präsenz erfüllter Gemeinschaft zielt. Zum apokalyptischen Schreiben Blochs
gehört auch, dass es aus dem eigenen Übertragungsmedium, dem Buch, he-
rauszuspringen versucht, hinein in den historischen Vollzug des Geschriebe-
nen. Der atheistische Mystiker Bloch inszeniert sich dabei nicht etwa als von
Gott befohlener und berufener Schreiber, der nur das vermittelnde Schreibge-
rät der göttlichen Schrift ist. Diesem Muster folgt noch die Schreibszene in der
Johannes-Apokalypse.34 Die letzten Sätze im Geist der Utopie kehren dieses
Schema um, denn nicht mehr Gottes Autorität heiligt die Schrift, sondern die
Schrift heiligt den Gott, vollzieht das »kiddusch haschem« (GU 381), die
»Heiligung des Namens« (GU 445),35 und ernennt so allererst den Gott.
33 Vgl. Arno Münster: Utopie, Messianismus und Apokalypse im Frühwerk von Ernst
Bloch. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1982 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft;
372), S. 134.
34 Vgl. Hartmut Böhme: Vergangenheit und Gegenwart der Apokalypse. In: Ders.:
Natur und Subjekt. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1988 (Edition Suhrkamp; 1470 =
N.F.; 470), S. 380–398, hier: S. 384.
35 Das »Kiddusch Haschem«, das in der religiösen Tradition des Judentums allgemein
die Heiligung des Gottesnamens durch konkrete religiöse und sittliche Handlungen
meint und in engem Bezug zum Konzept des Märtyrers im Judentum steht, taucht
bei Bloch in einer radikal diesseitigen Interpretation auf: Gott wird erst durch die
Heiligung seines Namens geschaffen. Bloch lehnt sich mit seiner Deutung des
5 Ernst Blochs ästhetischer ›Geist der Utopie‹ 163

Denn wir sind mächtig; nur die Bösen bestehen durch ihren Gott, aber die Gerechten –
da besteht Gott durch sie, und in ihre Hände ist die Heiligung des Namens, ist Gottes
Ernennung selbst gegeben, der in uns rührt und treibt, geahntes Tor, dunkelste Frage,
überschwängliches Innen, der kein Faktum ist, sondern ein Problem, in die Hände un-
serer gottbeschwörenden Philosophie und der Wahrheit als Gebet (GU 445).

Der Schreibakt selbst erzeugt erst die Autorität, die die Heiligung des Namens
beglaubigt: nämlich das »wir«, die Leserschaft als Versammlung, um deren
Evokation und Ermächtigung (»[d]enn wir sind mächtig«) sich Blochs gesamte
Schrift dreht. Allgemein zeichnet sich das apokalyptische Schreiben dadurch
aus, dass sich die Sprachzeichen als »Gegenwart des Wesens der Sache« in-
szenieren, dessen also, »›was geschehen muß‹ (Apok. 4,1)«.36 Auch Blochs
Schreiben sehnt sich danach, Schreiben und Tun wie im illokutionären Sprech-
akt zusammenfallen zu lassen, steht aber vor der (uneingestandenen und durch
Pathos überdeckten) Aporie, die Autorität, von der das Gelingen des Sprechak-
tes abhängt, nicht wie in der Bibel voraussetzen zu können, sondern erst perlo-
kutionär, also als Effekt der eigenen Rede erzeugen zu müssen.
Bei ihrem wörtlichen Sinn (von griechisch »apokalypto«: »entblößen«,
»enthüllen«) genommen, beschreibt die Apokalypse eine Wahrheitsstruktur, in
der das Ende nicht nur der offenbarte, verschlüsselte Gegenstand der Wahrheit
ist. Vielmehr ist die Wahrheit selbst das Ende, insofern »die Bestimmung, daß
die Wahrheit sich enthüllt, die Vollendung des Endes [ist]«,37 wie Derrida
bemerkt. In Wirklichkeit entblöße, so Derrida weiter, die Apokalypse damit
den »Selbst-Hunger«, das »absolute Phantasma als absolutes Sich-Haben«.38
Blochs Rhetorik des »wir« bedient dieses »absolute Phantasma«. Machtkritik

»Kiddusch Haschem« offenbar an Hugo Bergman an, den er zugleich mit seiner aus-
schließlich anthropologischen Auffassung überbietet (vgl. Hugo Bergmann: Die
Heiligung des Namens [KIDDUSCH HASCHEM]. In: Vom Judentum. Hg. vom
Verein jüdischer Hochschüler Bar Kochba in Prag. Leipzig: Kurt Wolff 1913, S. 13–
43). Vgl. zu dem Aufsatz von Bergmann und seiner Rezeption bei Margarete Sus-
man auch Sandro Zanetti: 1919. Margarete Susman und die Politik des Namens. In:
Tatjana Petzer, Sylvia Sasse, Franziska Thun-Hohenstein und Sandro Zanetti (Hg.):
Namen. Benennung – Verehrung – Wirkung. Positionen der europäischen Moderne.
Berlin: Kulturverlag Kadmos 2009, S. 209–224).
36 Böhme, Vergangenheit und Gegenwart der Apokalypse (wie Anm. 34), S. 384.
Diese »›doppelte Strukturbildung‹« der apokalyptischen Redeform, die nicht nur
über den Untergang der alten und den Aufzug der neuen Welt berichtet, sondern sich
selbst in diesem Geschehen eine entscheidende Rolle zuschreibt, stellt den Aus-
gangspunkt für Jürgen Brokoffs literaturwissenschaftliche Untersuchung der »Apo-
kalypse in der Weimarer Republik« dar, die freilich Blochs Geist der Utopie nicht
berücksichtigt (vgl. Jürgen Brokoff: Die Apokalypse in der Weimarer Republik.
München: Fink 2001, besonders S. 10, 12).
37 Jacques Derrida: Von einem neuerdings erhobenen apokalyptischen Ton in der
Philosophie. In: Ders.: Apokalypse. Übers. von Michael Wetzel. Graz, Wien: Böh-
lau 1985 (Edition Passagen; 3), S. 9–90, hier: S. 64.
38 Ebd., S. 79.
164 Teil I

und »Selbst-Hunger« verbinden sich in seinem Text dabei auf eine Weise, die
typisch für die Apokalypse als historische Strömung wie als Schreibmodus ist.
Die Vernichtung des »Radikal-Bösen«,39 die »Vernichtung und Niederlage«
der deutschen »Militärautokratie«40 im Ersten Weltkrieg gelten Bloch als Vor-
aussetzung für eine mystisch erfüllte, demokratisch sozialistische Zukunftsge-
sellschaft.
Mit Blochs politischer, revolutionärer Apokalyptik werden wir uns noch
einmal in Kap. II.4.3 beschäftigen. An dieser Stelle sei die grundsätzliche
Problematik von Blochs Geist der Utopie hervorgehoben: In diesem Text fehlt
die klare Unterscheidung zwischen historischer, korrigierbarer und anthropo-
logischer, unaufhebbarer ›Entfremdung‹, vor deren Vermengung bereits Schil-
ler gewarnt hat,41 mit dem Bloch die Hochschätzung der Ästhetik und des
Symbols im politischen Befreiungsprozess teilt. Wird diese Unterscheidung
nicht getroffen, so wird die gesellschaftliche »Utopie von regressiven identi-
täts-philosophischen Träumen und narzißtischen Verschmelzungs- und All-
machtsphantasien«42 heimgesucht. Bloch zielt auf einen utopischen Flucht-
punkt, in dem die Trennung zwischen Einzelnem und Allgemeinem ebenso
wie die zeitliche Spaltung von Person und Zustand, zwischen erkennendem
und erlebendem Ich, aufgehoben ist.43 Würde mit dieser Utopie Ernst gemacht,
würde sie die Bedingungen der Möglichkeit zu subjektiver Reflexion und
Kritik – und damit die Voraussetzungen von Blochs Geist der Utopie – zerstö-
ren. Es liegt eine latente Gewalt in der identitätsphilosophischen Fundierung
des Geists der Utopie, die sich mit Derrida als Gewalt des apokalyptischen
»Selbst-Hunger[s]« begreifen lässt.

39 Ernst Bloch: Schadet oder nützt Deutschland eine Niederlage seiner Militärs? An
Volk und Heer. In: Ders.: Kampf, nicht Krieg. Politische Schriften 1917–1919. Hg.
von Martin Korol. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1985, S. 457–474, hier: S. 472.
40 Ebd., S. 473.
41 Vgl. Ulrich Wergin: Vom Symbol zur Allegorie? Der Weg von der Frühklassik zur
Frühromantik, verfolgt im Ausgang von Goethes ›Iphigenie‹ über ›Das Märchen‹ bis
hin zu Novalis’ ›Glauben und Liebe‹. In: Victor Millet (Hg.): Norm und Transgres-
sion in deutscher Sprache und Literatur. München: Iudicium 1996, S. 75–125, hier:
S. 85.
42 Ebd.
43 Mit dem utopischen Fluchtpunkt, die Differenz zwischen erlebendem und erkennen-
dem Ich aufzuheben, fällt Bloch hinter die transzendentale Erkenntnis zurück, dass
die Spaltung von Person und Zustand konstitutiv für Subjektivität ist, die darin ihre
Gebundenheit an die Zeitlichkeit zeigt.
6 (De-)Figurationen des Messianischen in Hermann
Brochs Romantrilogie Die Schlafwandler

In Hermann Brochs Romantrilogie Die Schlafwandler (erschienen zwischen


1930 und 1932) spielen messianische Motive eine große Rolle. Die Schlaf-
wandler stellen einen Epochenroman dar, dessen erzählte Zeit die 30 Jahre der
Regierungszeit Wilhelms II. von 1888 bis 1918 umfasst. Den Protagonisten
des Romans, die als Repräsentanten ihrer Epochen angelegt sind, dienen Ge-
burt, Kreuzigung und Auferstehung Christi als mehr oder weniger bewusste,
mehr oder weniger christlich verstandene, mehr oder weniger erfolgreiche
Orientierungshilfen in gesellschaftlichen Krisensituationen.
Außer diesen christlichen Figuren des Messianischen werden aber auch jü-
dische anzitiert. Im Epilog der Schlafwandler, zugleich dem letzten von insge-
samt zehn in den dritten Roman der Trilogie eingeflochtenen geschichtsphilo-
sophischen Exkursen über den »Zerfall der Werte«, wird das Bedürfnis nach
einem »neuen Ethos«1 messianisch formuliert. Einerseits wird hier der Messias
als Führergestalt evoziert, andererseits aber defiguriert sich das Messianische
zur »Messiashoffnung der Annäherung« (SW 715). Meines Erachtens wird mit
der »Messiashoffnung der Annäherung« terminologisch und konzeptuell auf
Hermann Cohen verwiesen, in dessen Religionsphilosophie nicht nur der jüdi-
sche Messianismus einen herausragenden Platz einnimmt, sondern auch die
»Annäherung« (ʺʥʡʸʷʺʤ) das Beziehungsideal zwischen Mensch und Gott
darstellt.2 Dieses ist wiederum für Cohens ethische Interpretation der Religion
charakteristisch.
Den inhaltlichen und poetologischen Implikationen der »Messiashoffnung
der Annäherung« im dritten Roman von Brochs Trilogie werde ich mich im
letzten Teil dieses Kapitels zuwenden. Dabei werde ich nicht nur dem Verweis
auf die Religionsphilosophie Cohens nachgehen, sondern auch nach dem dia-
logischen Sinn der »Messiashoffnung der Annäherung« und seinen Spiegelun-
gen auf poetologischer Ebene fragen. Hierzu laden die polyphonen Anteile ein,
die der multiperspektivisch geschriebene Schlussroman der Schlafwandler-
Trilogie aufweist. Denn die Polyphonie als literarisches Gestaltungsprinzip
1 Hermann Broch: Der Wertezerfall und die Schlafwandler. In: SW 734f., hier: 735.
2 In Brochs Bibliothek befanden sich viele Werke Cohens, darunter auch die Religion
der Vernunft (vgl. Klaus Amann und Helmut Grote: Die Wiener Bibliothek Her-
mann Brochs. Kommentiertes Verzeichnis des rekonstruierten Bestandes. Wien,
Köln: Böhlau 1990 [Literatur in der Geschichte, Geschichte in der Literatur; 19],
S. 41–43).
166 Teil I

lässt sich als poetologisches Äquivalent der dialogischen Sprachphilosophie


lesen, und zwar beim Erfinder der Theorie des polyphonen Romans selbst,
Michail Bachtin. Steht die ungefähr parallel zu Brochs Roman entstandene
Theorie des polyphonen Romans doch im Zusammenhang mit einer Philoso-
phie und Ethik der Ko-Existenz, die Bachtin in seinen Schriften der 1920er
Jahre entwickelt hat – unter Einfluss der Werke von Neukantianern und Phä-
nomenologen, aber auch von Martin Bubers Ich und Du.3
Religiöse Motive in Brochs Schlafwandler-Trilogie sind wohl gelegentlich
Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung geworden.4 Erstaunlich ist, wie
wenig die Forschung – mit Ausnahme von Gisela Brude-Firnau –5 die jüdi-
schen Momente in der Trilogie des aus einer jüdischen Familie stammenden,
1909 zum Katholizismus übergetretenen Broch beachtet hat, die insbesondere
im letzten Roman zum Tragen kommen: Es tauchen markante jüdische Figuren
auf, ferner erscheint das Judentum als diskursiver Gegenstand in den ge-

3 Vgl. Nina Perlina: Mikhail Bakhtin and Martin Buber: Problems of Dialogic Imagi-
nation. In: Studies in Twentieth Century Literature 9/1 (1984), S. 13–28.
4 Vgl. Paul Michael Lützeler: Kulturbruch und Glaubenskrise. Hermann Brochs »Die
Schlafwandler« und Matthias Grünewalds »Isenheimer Altar«. Tübingen, Basel:
Francke 2001 (Kontakte; 10). Lützeler argumentiert, dass Brochs Trilogie eine
strukturelle Analogie zum Tryptichon des Isenheimer Altars aufweist. Geburt, Ver-
kündigung und Kreuzigung würden motivisch auch die Abfolge der drei Romane
organisieren. Mit Lützeler treffe ich mich in der Annahme, dass sich der Protagonist
des ersten Romans, Joachim von Pasenow, mit dem Christusknaben identifiziert
(s. u. den Abschnitt »Der Messias als Kind«); vgl. ferner Anja Grabowsky-Hotama-
nidis: Zur Bedeutung mystischer Denktraditionen im Werk von Hermann Broch.
Tübingen: Niemeyer 1995 (Studien zur deutschen Literatur; 137). Grabowsky-
Hotamanidis vertritt die Ansicht, dass Brochs Roman eine »mystische Transformati-
on des gnostischen Denkens« (ebd., S. 102) vollziehe. Beschreibe die »Gnosis einen
heilsgeschichtlichen Gesamtprozeß, in den das einzelne Individuum nicht eingreifen
kann und durch den es determiniert ist, so stellt Mystik dessen Vollzugsgestalt von
Verstrickung ins Weltliche und Erhebung daraus zum Geistigen in die Verfügungs-
gewalt des Subjekts und begründet so die Möglichkeit von Autonomie« (ebd., S. 83).
Gnostische Motive sind sicherlich in den Schlafwandlern vorhanden; das Messiani-
sche als dialogisches Prinzip bzw. als Ethik, die ihren Ausgang vom irreduzibel An-
deren nimmt, vermag die Autorin aufgrund ihrer Konzentration auf die Geschichte
des subjektiven Bewusstseins allerdings nicht zu erfassen. Sie bleibt traditionellen
Vorstellungen von »unverstellte[r] subjektive[r] Autonomie« (ebd., S. 109) verhaf-
tet, deren Rückgewinnung sie im dritten Roman der Schlafwandler angebahnt sieht,
insofern die gnostisch gedachte »dispersio«, der Abfall in die Disparatheit, zum Äu-
ßersten getrieben und so der Umschlag in eine neue (Bewusstseins-)Einheit vorbe-
reitet werde.
5 Vgl. Gisela Brude-Firnau: Der Einfluß jüdischen Denkens im Werk Hermann
Brochs. In: Richard Thieberger (Hg.): Hermann Broch und seine Zeit. Akten des In-
ternationalen Broch-Symposiums Nice 1979. Berlin, Frankfurt a. M. u. a.: Lang
1980, S. 108–121, sowie dies.: Die 9. Episode der ›Geschichte des Heilsarmeemäd-
chens‹. In: Dies. (Hg.): Materialien zu Hermann Brochs »Die Schlafwandler«.
Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1972, S. 180–196.
6 (De-)Figurationen des Messianischen in Brochs ›Die Schlafwandler‹ 167

schichtsphilosophischen Exkursen und schließlich wird mit der »Messiashoff-


nung der Annäherung« ein bedeutender Verweis auf Cohens Religionsphiloso-
phie gegeben. Freilich sind die Offenbarungserlebnisse, vor deren Horizont die
Protagonisten der drei Romane das Geschehen ihrer Zeit deuten, am Lebens-
weg Christi orientiert: Geburt, Kreuzigung und Auferstehung. Die christlichen
und jüdischen (De-)Figurationen des Messianischen in Brochs Trilogie sollen
im Folgenden analysiert werden.

6.1 Drei Offenbarungserlebnisse – drei Figurationen des


Messianischen

Die Protagonisten aller drei Schlafwandler-Romane haben ein »Offenbarungs-


erlebnis«, eine »erlebnishafte Begegnung mit der Gottheit«, so eine religions-
wissenschaftliche Definition, die zu einer »Realität« hinführt, »die zuvor dem
Menschen verborgen war« und »[d]eren Wichtigkeit darin zum Ausdruck
[kommt], daß es ein für das Heil, die Sinnfindung, des weiteren auch für die
faktische Lebensgestaltung relevantes, notwendiges religiöses Wissen ist«.6
Die Folgen des Offenbarungserlebnisses für die »faktische Lebensgestaltung«
sind indes für die Protagonisten so unterschiedlich, wie es bereits der Ort und
der Kontext ihrer Offenbarungserlebnisse indiziert. Der Gottesdienst stellt
noch einen traditionellen Rahmen für das Offenbarungserlebnis im ersten
Roman (1888 . Pasenow oder die Romantik) dar, in dem mit Joachim v. Pase-
now ein Vertreter des protestantischen, national gesinnten preußischen Junker-
tums im Zentrum der nach dem Modell eines Familienromans aufgebauten
Handlung steht.
Dem Protagonisten des zweiten Romans (1903 . Esch oder die Anarchie),
dem verwaisten Buchhalter August Esch, erscheint eine Messerwerfernummer
im Varietétheater als Kreuzigungsszene, die seinem »Gewissen« einen »Stich«
(SW 205) gibt. Er weiß jedoch nicht, gegenüber welcher Instanz er sein Ge-
wissen verpflichtet fühlen soll: »[E]r fühlte, daß er jemandem treue zu bleiben
habe, wußte er auch nicht, wem« (SW 205). Esch ficht einen einsamen Kampf
um »die akribe Evidenz der Welt« (SW 415), die er durch ein Opferritual wie-
derherzustellen strebt. Die Einheit der Romanhandlung löst sich langsam auf,
eine längere Traumsequenz wird eingefügt, die Anzahl der Romanfiguren
vervielfältigt sich.
Auch der Protagonist des dritten Romans (1918 . Huguenau oder die Sach-
lichkeit), der Kaufmann Wilhelm Huguenau – »der wahrhaft ›wertfreie‹

6 Johann Figl: Offenbarung. I. Religionswissenschaftlich. In: Religion in Geschichte


und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. Bd 6.
Hg. von Hans Dieter Betz. 4. Aufl., Tübingen: Mohr Siebeck 2003, Sp. 461–463,
hier: Sp. 461.
168 Teil I

Mensch und damit das adäquate Kind seiner Zeit«,7 so der Autorkommentar
zur Figur – hat ein Offenbarungserlebnis. Aufgrund einer epiphanischen Chris-
tus-Vision im Schützengraben desertiert er und zelebriert das letzte Kriegsjahr
als »Ferien«8 (SW 390, 391, 392, 393, 395) von moralischen Zwängen. Er
reißt auf betrügerische Weise die geschäftliche und redaktionelle Leitung eines
Zeitungsbetriebes an sich und bringt am Ende des Romans dessen früheren
Leiter, August Esch, den Protagonisten des zweiten Romans, hinterrücks um.
»Es war alles gut« (SW 678): In Anspielung auf die Worte der Genesis (»Und
Gott sah alles, was er gemacht, und siehe, es war sehr gut« (Gen 1,31) wird
Huguenaus Empfinden nach dem Mord beschrieben. Die Positivität der Schöp-
fung vor Gut und Böse kommt im Jenseits von Gut und Böse auf das nackte,
tötbare Leben jenseits menschlicher und göttlicher Ordnung herunter. Die
Christus-Vision veranlasst Huguenau zu einer, wie man sagen könnte, Imitatio
Christi aus atheistischem Geist. Die göttliche Freiheit von irdischen Banden
wird zum Vorbild für das »wertfreie[]«, »aus jedem Wertverband entlassene«
(SW 693) Individuum, dem Endprodukt des sogenannten »Zerfalls der Werte«.
Der letzte Roman der Schlafwandler ist erzähltechnisch avanciert, es wird
multiperspektivisch erzählt, indem der Erzähler nacheinander unterschiedliche
Personen als »Reflektoren« der Handlung wählt.9 Die Einheit der Handlung
wird darüber hinaus durch die 16 Episoden der »Geschichte des Heilsarmee-
mädchens in Berlin« durchbrochen, in denen eine polyphone Schreibweise
zum Zuge kommt. Die geschichtsphilosophischen Essays über den »Zerfall der
Werte« sprengen gar den fiktionalen Rahmen.
Obwohl alle drei Protagonisten als Repräsentanten ihrer Epoche angelegt
sind, höhlt sich dieses tradierte Schema der Fiktionsbildung, das kollektive und
individuelle Erfahrung homogenisiert, immer weiter aus. Huguenau ist nicht
mehr einfach als Repräsentant einer Epoche angelegt, sondern er ist Repräsen-
tant einer nicht mehr repräsentationsfähigen Epoche. Die Offenbarungserleb-
nisse und die ihnen entsprechenden messianischen Figurationen zielen in den
7 Hermann Broch: Ethische Konstruktion in den Schlafwandlern. In: SW 726–727,
hier: 726.
8 »Ferien« als einzelne freie Tage oder Urlaub leiten sich von lateinisch »feriae« ab,
worauf etymologisch auch die »Feier« zurückgeht: »Das lateinische Substantiv feri-
ae (alat. fesiae) entstammt dem Bereich der Sakralsprache und bedeutet ursprünglich
›die für religiöse Handlungen bestimmten Tage‹. Es gehört mit den verwandten
Wörtern lat. festus ›die für die religiösen Handlungen bestimmten Tage betreffend;
festlich, feierlich‹ und lat. fanum ›heiliger, der Gottheit geweihter Ort‹; ›die für die
religiöse Feier bestimmte Kultstätte‹ zu einer Nominalwurzel *fes-, *fas- ›religiöse
Handlung‹, die keine sicheren Entsprechungen im Außeritalischen hat« (Art. »Fei-
er«. In: Duden, Etymologie: Herkunftswörterbuch der deutschen Sprache. Bearb.
von Günther Drosdowski. Mannheim, Leipzig, Wien, Zürich: Dudenverlag 1997,
S. 181).
9 Vgl. zu diesem Modell multiperspektivischen Erzählens Volker Neuhaus: Typen
multiperspektivischen Erzählens. Köln, Wien: Böhlau 1971 (Literatur und Leben,
N.F.; 13), S. 136.
6 (De-)Figurationen des Messianischen in Brochs ›Die Schlafwandler‹ 169

ersten beiden Romanen noch darauf, die Ordnung der Repräsentation, die
»allgemeine Ordnung von Identitäten und Unterschieden«,10 zu wahren (Pase-
now) bzw. (wieder) zu begründen (Esch). Die Hauptfigur des dritten Romans,
Wilhelm Huguenau, begnügt sich demgegenüber mit einer opportunistischen
»Privattheologie« (SW 696). Die atomisierte, moderne Massengesellschaft
untergräbt das Paradigma der Repräsentation, dem der in den geschichtsphilo-
sophischen Exkursen beschworene messianische »Führer« wieder zu seinem
Recht verschaffen soll. Die »Messiashoffnung der Annäherung« löst sich hin-
gegen von der Vorstellung geschlossener Totalität, die der Messias verkörpern
soll, und weist auf eine neue Ethik, die dem Verlust einer allgemeinen reprä-
sentativen Ordnung Rechnung trägt.

6.1.1 Der Messias als Kind oder Geschichte als Prozess der Reinigung
Im ersten der drei Romane (1888 . Pasenow oder die Romantik) schwebt Joa-
chim v. Pasenow das Bild der »Heiligen Familie« (SW 129) während eines
militärischen Gottesdienstes, einer »militärischen Kulthandlung« (SW 128),
vor Augen. Es handelt sich bezeichnenderweise um ein Erinnerungsbild aus
der Kindheit, das ihm vor die geschlossenen Augen tritt, als er in den von den
Soldaten gesungenen Choral einstimmt.
[D]enn mit dem Liede, das er als Kind gesungen, war die Erinnerung an ein Bild
aufgestiegen, Erinnerung an ein kleines buntes Heiligenbild, und da das Bild ihm
nun deutlich wurde, erinnerte er sich auch, daß es die schwarzhaarige polnische Kö-
chin gewesen war, die es ihm gebracht hatte, hörte ihre dunkle, singende Stimme
und sah ihre runzligen Finger mit der rissigen Spitze, hinzeigend über all die Bunt-
heit, aufzeigend, daß hier die Erde war, auf der die Menschen lebten, und wie dar-
über, nicht allzu hoch darüber, auf silbriger Regenwolke die Heilige Familie gar
friedlich beieinander saß, abkonterfeit in sehr bunter Kleidung, und das Gold, mit
dem die Gewänder verziert waren, wetteiferte mit dem Glanz der goldenen Heili-
genscheine (SW 129).

Hat man es immer mit Romantik zu tun, wie zuvor der Erzähler, mit der Figur
des Eduard v. Bertrand, sinniert, »wenn Irdisches zu Absolutem erhoben wird«
(SW 23), so ist diese Szene nicht nur ein Beispiel für eine solchermaßen ver-
standene religiöse Romantik, sondern gibt zugleich die dazugehörige Ästhetik
wieder. Irdisches spiegelt sich im Absoluten, die Familie wird zum Bild der

10 Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaf-
ten. Übers. von Ulrich Köppen. 15. Aufl., Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1999 (Suhr-
kamp-Taschenbuch Wissenschaft; 96), S. 296. Bei Foucault zeichnet sich die Reprä-
sentation dadurch aus, dass das Zeichen transparent ist auf seine Bedeutung und als
Bindeglied zwischen subjektivem Bewusstsein bzw. Vorstellungsvermögen und
»allgemeiner Ordnung der Identitäten und Unterschiede« fungiert. Vgl. zur »Krise
der Repräsentation« in der Moderne: Kerstin Behnke: Krise der Repräsentation. In:
Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd 8. Hg. von Joachim Ritter und
Karlfried Gründer. Darmstadt: Wiss. Buchges. 1992, Sp. 846–854.
170 Teil I

»Heiligen Familie« stilisiert. Die Ästhetik der Nachahmung stellt eine Korres-
pondenz zwischen Irdischem und Absolutem her, insofern das Irdische das Ab-
solute »abkonterfeit« (von französisch »contrefaire«: »nachmachen«, »nach-
bilden«), um den Raum einer geschlossenen Vorbild-Abbild-Repräsentation zu
errichten. Pasenow identifiziert sich dabei mit dem Christkind (»er selbst ein
Jesusknabe« (SW 130)). Die Orientierung am Messias als Kind entspricht der
im ersten Roman dargestellten romantisch regressiven Tendenz von 1888, als
die Ära Wilhelms II. beginnt.
Die romantische Ästhetik der anschaulichen Repräsentation ist unmittel-
bar für den Protestanten Pasenow nicht zu haben; bereits sein kindliches
Entzücken war, wie er sich erinnert, mit »Zittern ob der Ketzerei, die ein
geborener Protestant mit solchem Wunsche […] sich zuschulden kommen
ließ« (SW 129), durchsetzt. Das Bild drückt für den erwachsenen Pasenow
dann auch nicht mehr den verbotenen »Wunsch des Knaben« aus, sondern die
»Zuversicht des Zieles«, denn »er wußte, daß er den ersten schmerzlichen
Schritt zum Ziele getan hatte, zugelassen zur Prüfung, wenn auch erst am An-
fang der Prüfungsreihe stehend« (SW 130). So lautet die evangelische Ausle-
gung oder, wie es im Wortlaut heißt, die »evangelische Auflösung des Heili-
genbildes« (SW 130), wobei die »Auflösung« eine dialektische Aufhebung
anstrebt. Denn die »evangelische Auflösung des Heiligenbildes« will das Di-
lemma der »anzweifelbaren Konvention« (SW 127) lösen, das Dilemma der
Kontingenz der gesellschaftlichen »Ordnung« (SW 127), die Pasenow ange-
sichts des »Verfließen[s] der Formen« (SW 130), der gesellschaftlichen Kon-
ventionen, bewusst wird. Dieses »Verfließen der Formen« ist auch bildlich
ernst zu nehmen, denn es lösen sich auch die traditionellen Formen der sinnli-
chen Wahrnehmung in der Großstadt Berlin auf. Insbesondere ist es der »so
sehr gefürchtete Zerfall des menschlichen Antlitzes in ein Nichts« (SW 130),
der sich qua dialektischer Auflösung zur »Verheißung des Ebenbildes« (SW
130) aufheben soll, das eben nicht mehr unmittelbar in die Augen fällt (katho-
lische Heiligenverehrung), sondern auf dem evangelischen »geraden Weg der
Pflicht« (SW 158) zu verfolgen ist.
Das Offenbarungserlebnis im militärischen Gottesdienst bestätigt und be-
kräftigt für Pasenow die Legitimation der militärischen und kirchlichen Institu-
tionen, denen er angehört – hatte ihm doch schon geschwant, dass das militäri-
sche Exerzieren und auch der Gottesdienst ein bloß auf kontingenten Konven-
tionen gründender »Zirkus«11 sein könnte, ohne Rückhalt im Absoluten.
Pasenow verkörpert ein Christentum, wie es Rosenzweig vorgeschwebt ha-
ben mag, als er im Stern der Erlösung die christliche Fixierung auf den An-
fang, den ersten Christen, beschreibt. Indem das Christentum auf »Kreuz und
Krippe« als Erlösungsgeschehen zurückblicke, verwische sich ihm der klare
Unterschied zwischen Offenbarung und Erlösung: »Christus, nicht etwa erst
der wiederkehrende, nein schon der von der Jungfrau geborene, heißt Heiland

11 Vgl. SW 126 (»Manege«), 127 (»das Zirkusmäßige«), 129.


6 (De-)Figurationen des Messianischen in Brochs ›Die Schlafwandler‹ 171

und Erlöser« (SdE 409). Das messianische Kind, Figur des Anfangs, in dem
bereits die Erlösung liegt, wird zur Repräsentationsfigur für Pasenow und
bestimmt auch sein Geschichtsverständnis. In der Geschichte ereignet sich
nichts qualitativ Neues, sondern sie ist eine »Prüfung«, ein Reinigungsprozess,
in dem das »Gereinigte« vom »Unreinen« geschieden wird. Ist die historische
Gegenwart für Pasenow von einem gefährlichen »Gleiten«12 gekennzeichnet,
das die Formen verfließen und das »Reine« sich mit dem »Unreinen« vermi-
schen lässt, so kann Pasenow dies nur als eine Prüfung in der Pflichttreue, in
der Treue gegenüber den die Erlösung verwaltenden Institutionen von Kirche
und Staat, auslegen.
Die Unterscheidung zwischen dem »Reinen« und dem »Unreinen« setzt der
Ambivalenz des »Gleitens« die Vorstellung des »[E]indeutig[en]« (SW 77)
gegenüber, in der »g[i]lt: ja, ja und nein, nein« (SW 77). Broch arbeitet in der
Schlafwandler-Trilogie mit unterschiedlichen Leitmotiven. Im ersten Roman
nimmt die Vorstellung von Reinheit und Unreinheit eine dominante Position
ein.13 Die Kategorien »rein« und »unrein« tragen für Pasenow eine soziale wie
eine moralische Konnotation. Sie spiegeln seine Sehnsucht nach »Festigkeit,
Sicherheit und Ruhe« (SW 36) wider. Auch für Pasenow persönlich ist die
soziale und moralische Ordnung ins »Gleiten« geraten, nachdem er eine Affäre
mit einer »Animierdame«, der Böhmin Ruzena, angefangen hat. Er entschließt
sich letztlich gegen Ruzena und für die Heirat mit der seinem Stand entspre-
chenden Elisabeth Baddensen. Dieser Entschluss für ein Leben auf den ländli-
chen Gütern mit der für ihn »Reinheit« (SW 101) verkörpernden »Unschuldi-
gen und Unberührten« (SW 148) wendet sich gegen ein Leben mit Ruzena, die
mit der Welt des »Städtischen« verbunden ist, in der sich »das Helle[] und die
Dunkelheit« beständig »unsauber« zu mischen drohen (vgl. SW 148).
Mit der Religionsethnologin Mary Douglas ist von einer ordnenden, form-
gebenden Funktion von rituellen Verunreinigungsvorstellungen in sozialer
Hinsicht auszugehen. Verunreinigungsvorstellungen, so zeigt Douglas, spielen
besonders dort eine Rolle, wo soziale Trennungslinien gefährdet sind, aber
auch moralische Beurteilungen ins Wanken geraten.14 Für Brochs Romanfigur
Pasenow werden Reinheit und Unreinheit in eben diesem Sinne zum morali-
schen Kompass in einer historisch und biographisch prekären Situation, in der
sich die sozialen Trennungen aufzulösen beginnen.

12 Das »Gleiten« stellt eines der kontrapunktischen Leitmotive im ersten Roman dar,
vgl. SW 28 (»hineingleiten«), 29, 57, 61, 99, 128.
13 Vgl. zum Motivkomplex »rein/unrein« SW 24f., 68, 70, 101, 143, 148, 171, 173.
14 Vgl. Mary Douglas: Reinheit und Gefährdung. Eine Studie zu Vorstellungen von
Verunreinigung und Tabu. Übers. von Brigitte Luchesi. Berlin: Reimer 1985,
S. 175. Verunreinigungsvorstellungen können auf diese Weise den Moralkodex
stärken, so dass z. B. der Glaube an Verunreinigung die Menschen davor zurückhält,
eine soziale oder moralische Norm zu übertreten, wenn die »moralische Empörung«
keine praktischen Sanktionen zur Hand hat.
172 Teil I

Die Differenz »rein« vs. »unrein« ist für Pasenow im sozialen wie im mora-
lischen Bereich identisch mit der Differenz »geformt« vs. »ungeformt«, »Form
auflösend«, »Ordnung gefährdend«. In aufgelöster Form erscheinen Pasenow
die Welt der Arbeiter, der Bereich des moralisch unbekümmerten Nachtlebens
der Großstadt, aber auch die Dimension des internationalen Handels. Diese
Leitdifferenz strukturiert auch Pasenows Unterscheidung zwischen legitimer
und illegitimer Gewalt. Illegitim müssen Pasenow die »unritterlichen Waffen«
(SW 468) des Ersten Weltkrieges erscheinen, vor allem der – auf beiden Seiten
erfolgte – Einsatz von Giftgas.15 Pasenows Furcht vor dem »Verfließen der
Formen« findet im unsichtbaren, anonymen Giftgas ihren paradigmatischen
Gegenstand. Die Anonymität der Waffe widerspricht seiner aristokratischen
Vorstellung eines legitimen Kampfes, der auf dem Modell des Duells fußt,
eines Kampfes unter Personen, die um ihre »Ehre« streiten.16
Der Krieg, für dessen Gewerbe er erzogen worden war, der Krieg, für den er eine
Jugend lang Uniform getragen hatte […], war plötzlich keine Angelegenheit der
Uniform mehr, keine Angelegenheit der Blauhosen und Rothosen, keine Angele-
genheit feindlicher Kameraden, die ritterlich die Klinge kreuzen, der Krieg war
weder Krönung noch Erfüllung eines uniformierten Lebens geworden, sondern hat-
te unbemerkt und doch immer fühlbarer dieses Lebens Grundlagen erschüttert
(SW 469).

Pasenow kann den Krieg, der sich seiner kindlich-romantischen Vorstellung


eines Duells zwischen »feindliche[n] Kameraden«, »Blauhosen« gegen »Rot-
hosen«, entzieht, insofern der Feind nicht nur unsichtbar wird, sondern die
Freund-Feind-Unterscheidung gegenüber der Frage der technischen Überle-
genheit der »unritterlichen Waffen« überhaupt sekundär wird, nur noch meta-
physisch als Strafgericht deuten: »[S]o war es der Krieg, der wachsen mußte,
da der Glauben abnahm, und ehe der Glaube nicht aufs neue geboren wird und
sich entfaltet, eher wird auch der Krieg kein Ende zu finden vermögen« (SW
468), schreibt Pasenow als Stadtkommandant von Kurtrier am 1. Juni 1918 im
»Kurtrierschen Boten« in einem »Des Deutschen Volkes Schicksalswende«
betitelten Artikel, der nur bruchstückhaft und mit vielen Auslassungen wieder-
gegeben wird, so dass die rhetorischen Versatzstücke, mit denen Pasenow sich
zu helfen versucht, als solche hervorstechen.
Der Erzählerkommentar, der Pasenows Artikel folgt, stellt Pasenow in eine
genealogische Reihe mit den Stoikern und mit Augustinus (vgl. SW 470). Der
Kontext von Augustinus’ und Pasenows Geschichtsbetrachtung ist in der Tat
vergleichbar, handelt es sich doch in beiden Fällen um eine beispiellose Ge-
15 Die Protagonisten der ersten beiden Romane tauchen auch im dritten auf. Pasenow
ist nun gealterter Stadtkommandant von Kurtrier.
16 In einem Duell um die »Ehre« ist Pasenows Bruder Helmut gestorben: »Das Merk-
würdigste ist es doch, daß man in einer Welt von Maschinen und Eisenbahnen lebt
und daß zur nämlichen Zeit […] zwei Leute einander gegenüberstehen und schie-
ßen« (SW 59), so hatte Pasenows Bekannter Eduard von Bertrand noch ironisch die-
se ›Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‹ kommentiert.
6 (De-)Figurationen des Messianischen in Brochs ›Die Schlafwandler‹ 173

walterfahrung. Der Überfall der Westgoten auf Rom hatte Augustinus zu sei-
nem monumentalen apologetischen Werk De Civitate Dei veranlasst, da er sich
mit der Frage konfrontiert sah, wie »alles zugrunde gehen kann in den christli-
chen Zeiten«.17 Augustinus’ Geschichtsauffassung liegt keine weltgeschichtli-
che, keine politische Eschatologie zugrunde, sondern eine Eschatologie des
Glaubens. Die innerweltlichen geschichtlichen Vorgänge sind für ihn neben-
sächlich, ja mehr noch: der innerweltliche Geschichtsverlauf demonstriert an
sich nur die hoffnungslose Aufeinanderfolge von Reichen und Generationen,
die in der vorbestimmten Ordinatio Dei zwar einen Zweck erfüllen. Hiervon
kann die menschliche Weisheit aber allenfalls Bruchstücke wahrnehmen. Die
eigentliche Bedeutung der Geschichte ist die eines »Pädagogium[s], das haupt-
sächlich durch Leiden erzieht«.18
Auch Pasenow weicht immer weiter von der Politik auf eine Eschatologie des
Glaubens aus. Eigentlich gehören für den preußischen Protestanten Staat und
Glaube zusammen. Angesichts eines Krieges jedoch, in dem auch die eigene
Seite mit »unritterlichen Waffen« kämpft (»das Gift der Gottesleugner und
Abenteurer […] hat auch unser Vaterland nicht verschont« (SW 468)), lässt sich
bei ihm ein immer weiter gehender Rückzug auf den Glauben beobachten, dem
die Geschichte unbegreiflich bleibt. Die Identifikation mit dem messianischen
Kind führt schließlich zu buchstäblicher Regression: Zum Schluss der Roman-
trilogie ist Pasenow »willen- und kraftlos« (SW 683) und lässt sich wie ein
Baby mit dem Schnabeltopf Milch einflößen von Huguenau, der gerade Esch
umgebracht hat.

6.1.2 Ein weiblicher Messias am Kreuz oder Opferbesessenheit


Hält Pasenow an überkommenen Institutionen und Traditionen fest und ver-
schließt sich durch Bezugnahme auf Reinheitsvorstellungen den Blick auf
historische Veränderungen zugunsten der Bewahrung und Stärkung dogmati-
17 Aurelius Augustinus: Sermo 296,10, zitiert nach Wachtel, Alois: Beiträge zur Ge-
schichtstheologie des Aurelius Augustinus. Bonn: Röhrscheid 1960 (Bonner histori-
sche Forschungen; 17), S. 91.
18 Karl Löwith: Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Zur Kritik der Geschichtsphilo-
sophie. In: Ders.: Sämtliche Schriften. Bd 2. Hg. von Klaus Stichweh. Stuttgart:
Metzler 1984, S. 185. Augustinus ist daher auch der Gedanke der Entwicklung der
christlichen Wahrheit in aufeinander folgenden Epochen der Weltgeschichte fremd.
Geschichte kommt für Augustinus nur als Ort der Verkündigung der christlichen
Wahrheit in Betracht, die mit dem Erscheinen Christi ein für alle Mal offenbart ist
und feststeht, sich nicht mehr entwickelt, sondern nur noch verbreitet werden muss.
Im Vergleich mit dem Neuen des einmaligen Ereignisses Christus kann es nichts
wirklich Neues mehr geben. Die Geschichte zwischen dem ersten und zweiten Er-
scheinen Christi hat nur den einen essentiellen Sinn: die Ausbreitung der christli-
chen Botschaft und die Vervollständigung der »vorherbestimmten Zahl der Gottes-
kinder« (Aurelius Augustinus: Vom Gottesstaat. Übers. von Wilhelm Thimme.
2. Aufl., München: Artemis-Verlag 1978, S. 607).
174 Teil I

sche Gültigkeit beanspruchender weltlicher und religiöser Ordnungen, so zeigt


sich für den Protagonisten des zweiten Romans, August Esch, die gesellschaft-
liche Krise gerade im Versagen der öffentlichen Rechts- und Gesetzesinstan-
zen. Esch erlebt die historische Situation seiner Gesellschaft als profa-
ne/soziale »Opferkrise«,19 die er in eine metaphysische Perspektive stellt.
Eschs Freund, der Gewerkschafter Martin Geyring, sitzt unschuldig im
Gefängnis, nachdem es auf einer von ihm präsidierten Arbeiterversammlung
zu Unruhen gekommen war, die durch von der Industrie angeheuerte Agents
provocateurs verursacht wurden. Esch, der Angestellte, ist selbst politisch
nicht gebunden; dass ein Unschuldiger im Gefängnis sitzt, widerstrebt aller-
dings seinem ausgeprägten buchhalterischen Ordnungssinn. Da selbst Gey-
rings Gewerkschaftsfreunde nicht helfen wollen, den Industriellen Bertrand,
welchen Esch als den Schuldigen ausmacht, zur Verantwortung zu ziehen, hat
Geyring in den Augen Eschs ein sinnloses Opfer gebracht. Motivisch wird das
sinnlose Opfer Geyrings präludiert durch eine Episode, in der eine Messerwer-
fernummer im Varietétheater Esch das Bild einer »Gekreuzigten« (SW 202f.)
offenbart:
Der Jongleur […] prüft bereits einen der langen Dolche in der mörderischen Hand;
er legt den Oberkörper zurück, […] das Messer [entfliegt] pfeifend seiner Hand,
[saust] quer über die Bühne und [bleibt] neben dem Körper des gekreuzigten Mäd-
chens mit dumpfem Anschlag im Holz stecken (SW 203).

Die Szene ist sexuell aufgeladen. Esch ist es fast »ein wollüstiger Gedanke,
daß er allein und verlassen dort stünde« (SW 203). Das Geschehen evoziert in
ihm die lustvoll besetzte Vorstellung des Jüngsten Gerichtes (»Es waren die
Fanfaren des Gerichtes.« (SW 204)), das seinem »Gewissen« einen »Stich«
(SW 205) gibt: »[I]mmer wartet man, daß man zum Gericht geweckt wird,
denn mag man auch einmal dem Freidenkerbund beigetreten sein, so hat man
trotzdem sein Gewissen« (SW 204). Eschs Gewissen ist freilich »anar-

19 Der Terminus muss hier in doppelter Bedeutung verstanden werden: Einerseits


produziert die Gesellschaft sinnlose Opfer, d. h. Opfer, die sich nicht für eine Sinn-
produktion kapitalisieren lassen; andererseits ist damit das Versagen des Opferme-
chanismus selbst angesprochen. Letzteres hat René Girard die »Krise des Opferkul-
tes« genannt: »Die Krise des Opferkultes, d. h. der Verlust des Opfers ist der Verlust
der Differenz zwischen unreiner und reinigender Gewalt. Wenn diese Differenz ver-
loren geht, dann ist keine Reinigung mehr möglich, und die unreine, ansteckende,
d. h. gegenseitige Gewalt breitet sich in einer Gesellschaft aus. Die opferkultische
Differenz, der Unterschied zwischen dem Reinen und dem Unreinen, kann nicht
aufgehoben werden, ohne alle anderen Unterschiede mitzureißen. Es handelt sich
hier um ein und denselben Prozeß der Überflutung durch die gewalttätige Reziprozi-
tät. Die Krise des Opferkultes ist also als Krise der Unterschiede zu definieren und
damit als Krise der kulturellen Ordnung insgesamt« (René Girard: Das Heilige und
die Gewalt. Übers. von Elisabeth Mainberger-Ruh. Frankfurt a. M.: Fischer-
Taschenbuch-Verlag 1992 [Fischer; 10970], S. 76f.).
6 (De-)Figurationen des Messianischen in Brochs ›Die Schlafwandler‹ 175

chisch«,20 »er fühlte, daß er jemandem treu zu bleiben habe, wußte er auch
nicht wem« (SW 205).
Die Instanzen, gegenüber denen sich Eschs Gewissen verantwortlich fühlen
könnte – Familie, soziale Gruppe, Staat, Kirche, Gott –, sind für ihn nicht mehr
bindend. Mehr noch: Sie können die »Opferkrise«, die Produktion sinnloser
wie unschuldiger Opfer, deren Paradebeispiel für ihn die Abend für Abend
aufs neue »gekreuzigte« Varietédarstellerin Ilona wird, nicht mehr steuern,
geschweige beheben. Die staatlichen Instanzen, Gericht und Polizei, produzie-
ren vielmehr selbst unschuldige Opfer. Die metaphysische Perspektive auf das
Jüngste Gericht bringt Esch nicht dazu, sich mit der Vorstellung einer im Jen-
seits richtenden und auf diese Weise ordnenden Handlung zu vertrösten. Sie
befördert vielmehr in ihm den Wunsch, dass es eine den gesellschaftlichen
Konflikten übergeordnete und in diesem Sinne transzendente Instanz gäbe, die
die Opferkrise zu beheben vermöchte.
Gerichtswesen und Opfer haben die gleiche Funktion, nämlich den Teufels-
kreis der Rache zu unterbrechen.21 Der genealogische Zusammenhang zwi-
schen religiösen Opferpraktiken und modernem Gerichtswesen, den René
Girard aufgezeigt hat, wird auch im Esch-Roman sichtbar.22 Opferpraktiken
wie Gerichtsverfahren gehen aus dem Racheprinzip hervor, transformieren es
aber so, dass die Rache selbst folgenlos bleibt, selbst also nicht gerächt wird.
Im Rahmen der Opferriten wird der Teufelskreis der Rache durch Opferstell-
vertretung unterbrochen, durch die ein »opferbares« Lebewesen an die Stelle
des »richtigen« (der sog. »Täter« des modernen Strafwesens) gesetzt wird. Im
Gerichtswesen wird der Teufelskreis der Rache dadurch unterbunden, dass
»die Entscheide der gerichtlichen Autorität sich immer als das letzte Wort der
Rache [behaupten]«.23 Damit die Gewaltregulation durch Opferkult und Ge-
richtswesen funktioniert, darf die Transformation der Rache nicht erkannt
werden. Sie muss sich ins »Dunkel« der Transzendenz hüllen. »Dieses Dunkel
fällt mit der tatsächlichen Transzendenz heiliger, gesetzmäßiger und rechtmä-
ßiger Gewalt zusammen, im Gegenüber zur Immanenz der schuldhaften und
gesetzwidrigen Gewalt.«24 Diese »Transzendenz [täuscht] die Gewalt nachhal-
tig […], indem sie an einen Unterschied zwischen Opfer und Gewalt oder
zwischen Gerichtswesen und Rache glauben läßt.«25

20 Broch, Der Wertezerfall und die Schlafwandler (wie Anm. 1), SW 734.
21 Girard, Das Heilige und die Gewalt (wie Anm. 19), S. 39.
22 Vgl. zur Einordnung des Girard’schen Ansatz in die Geschichte der Opfertheorien:
Josef Drexler: Die Illusion des Opfers. Ein wissenschaftlicher Überblick über die
wichtigsten Opfertheorien ausgehend vom deleuzianischen Polyperspektivismusmo-
dell. München: Akademie-Verlag 1993; sowie Burkhardt Wolf: Die Sorge des Sou-
veräns. Eine Diskursgeschichte des Opfers. Zürich, Berlin: Diaphanes 2004, beson-
ders S. 9–19.
23 Girard, Das Heilige und die Gewalt (wie Anm. 19), S. 29.
24 Ebd., S. 40.
25 Ebd., S. 41.
176 Teil I

Die Transzendenz des weltlichen Gerichtswesens löst sich für Esch nun je-
doch auf. Denn er nimmt die Schlichtungsinstanz des Gerichts als in die Im-
manenz der Gesellschaft verstrickt, also schlicht: als parteiisch wahr (»kapita-
listische Rechtsordnung« [SW 259]), insofern sie sinnlose, unschuldige Opfer
produziert. Umgekehrt ist Esch geradezu von der Idee einer durch Opferung
neu herzustellenden Ordnung besessen. Er verfolgt (oder aber: es verfolgt ihn)
die Idee eines Ordnung stiftenden Gründungsopfers: »Man muß Opfer bringen,
denn ohne Opfer keine Erlösung«, meint Esch, und noch prägnanter: »[D]as
Opfer mußte sein, damit Ordnung in die Welt komme, damit der Stand der
Unschuld allem Lebendigen wieder geschenkt werde« (SW 306f.). Die Bedeu-
tung des Opfers schillert bei Esch zwischen schlichtem moralischem Verzicht,
physischem Selbstopfer und der Opferung eines – um mit Henri Hubert und
Marcel Mauss zu sprechen – victime, das qua Konsekration die Kommunikati-
on zwischen dem Profanen und dem (für Esch verlorenen, wiederzugewinnen-
den) Heiligen als transzendenter Ordnungsinstanz herstellen soll.26 Dieses
victime muss nicht unbedingt der von Esch für die Verhaftung Geyrings ver-
antwortlich gemachte Industrielle Eduard von Bertrand sein, auch wenn Esch
dem Plan, ihn zu opfern, anhängt. »[L]osgelöst vom Täter besteht das Unrecht
und das Unrecht allein ist es, das gesühnt werden muß« (SW 271). Für Esch
geht es nicht darum, ein einzelnes Unrecht ›wiedergutzumachen‹, sondern eine
gesellschaftliche Unordnung zu beheben, die er als metaphysische verkennt,
insofern er die Gesellschaft als Bereich guter und böser Kräfte wahrnimmt.

26 Die Konsekration, durch die ein »victime« zu einem kultischen Opfer wird, steht im
Zentrum von Henri Huberts und Marcel Mauss’ 1899 erschienenem »Essai sur la na-
ture et la fonction du sacrifice«. Mauss und Hubert haben den Konsekrations- als
Kommunikationsprozess interpretiert. Im Medium der Zerstörung des Opfers soll
die Kommunikation mit den Göttern erfolgen: »Le sacrifice est un acte réligieux qui,
par la consécration d’une victime, modifie l’état de la personne morale qui
l’accomplit ou de certains objects auxquels elle s’intéresse« (Henri Hubert et Marcel
Mauss: Essais sur la nature et la fonction du sacrifice. In: Marcel Mauss: Les foncti-
ons sociales du sacré. Paris: Éd. de Minuit 1968, S. 193–307, hier: S. 205). Die Kon-
sekration beschreiben die Autoren näherhin als einen Prozess, der die Kommunika-
tion zwischen dem Heiligen und dem Profanen vermittels eines im Vorgang der Op-
ferung (sacrifice) physisch zerstörten, zu den Göttern erhobenen Opfers (victime)
zum Ziel hat. Da es keine transzendente Instanz mehr für Esch gibt, ist diese zualler-
erst durch ein Opfer performativ zu installieren. Auch hierfür haben Hubert und
Mauss eine Vorlage geliefert, wenn sie im letzten Kapitel dem »sacrifice de dieu«
nachgehen und schreiben: »[L]a création de la divinité est l’oeuvre des sacrifices an-
térieurs« (ebd., S. 283f.). Hubert und Mauss entwickeln ihre These vom Gottesopfer
aus den antiken Mythen, wo der Held eines gewaltsamen Todes sterben muss, um
göttlich zu werden: Ein (Selbst-)Mord begründet den Opferritus, in dem der Gott
stets von neuem stirbt. Aus dieser Perspektive stellt sich für die Autoren das Chris-
tus-Opfer als Klimax einer evolutionären Entwicklung dar: Das Selbstopfer Gottes,
das in der Messe zelebriert werde, begründe das Verzicht-Ideal, durch das ein mora-
lisches Opfer an die Stelle des physischen trete.
6 (De-)Figurationen des Messianischen in Brochs ›Die Schlafwandler‹ 177

Anders als Girard es ihnen vorwirft,27 haben bereits Mauss und Hubert be-
merkt, dass am Ursprung der Opferkulte selbst ein Gewaltakt ausgemacht
werden kann. Das einmütige Opfer (»Sündenbock«-Theorie), das bei Girard
die Opferpraxis begründet und als »Gründungsopfer« gesellschaftlicher Ord-
nung veranschlagt wird, findet sich zwar in ihrer Darstellung nicht; wohl aber
beschreiben sie, wie ein Mord einen Opferkult zu begründen vermag. Die
Vorstellung, dass gesellschaftliche Ordnung durch einen Opfervorgang zu
konstituieren sei, ist der rote Faden in Eschs wilden Opferphantasien. Verdankt
sich die Installation des Gottes als transzendenter Instanz selbst einem Gewalt-
akt, so entspricht diesem Zusammenhang in Brochs Text, dass der von Esch
als Opfer privilegierte Bertrand bereits zwischen »Übermörder« (SW 268) und
göttlichem Wesen (vgl. SW 297, 335) changiert.
Die Opferbesessenheit Eschs ist nun weitaus mehr seinem Ordnungsstreben
als einem religiösen Bedürfnis zuzuschreiben (»es muß Ordnung gemacht
werden, damit man von vorne anfangen kann« (SW 339)). Das Opfer soll
wieder Ordnung schaffen (»das Opfer mußte sein, […] damit Ordnung in die
Welt komme« (SW 306)). Die Transzendenz wird in erster Linie benötigt, um
die Stabilität der Ordnung zu garantieren. Denn die Kommunikation mit den
Göttern im Opfervorgang hat einen sozialen Ordnungseffekt. Diesen regulie-
renden Aspekt des Opfers hat die strukturalistische soziologische Schule in der
Nachfolge von Mauss und Hubert immer wieder betont. Der Opfervorgang
trägt zwar Gewaltcharakter, ist aber zugleich Steuerung. Julia Kristeva bringt
dies mit der rechtlichen, aber auch sprachlichen Ordnung der Repräsentation in
Zusammenhang:
[D]er Opfervorgang markiert jenen Grat, in dem das Soziale und das Symbolische
ihren Ausgang nehmen: das Thetische, das die Gewalt lokalisiert und aus ihr einen
Signifikanten macht. Weit davon entfernt, Gewalt zu entfesseln, zeigt der Opfervor-
gang vielmehr, daß sie durch Repräsentation aufgehalten und in eine Ordnung über-
führt werden kann.28

In Eschs Vorstellungswelt erscheint der Opfer- mit dem Erlösungsgedanken


verquickt; ersehnt wird das eine Opfer, das die vielen ungesühnten Opfer »er-
löst« und ihnen einen »Sinn« gibt. Strukturalistisch gedacht würde man sagen
können, dass das Ordnung begründende Opfer die vielen Opfer »erlöst«, in-
dem sie einen Platz in der Ordnung der Repräsentation erhalten. Ab seiner
Traumbegegnung mit Bertrand bekommt Eschs Opferbesessenheit einen ge-

27 Vgl. Girard, Das Heilige und die Gewalt (wie Anm. 19), S. 18.
28 Julia Kristeva: Die Revolution der poetischen Sprache. Übers. von Reinold Werner.
Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1978 (Edition Suhrkamp; 949), S. 83f. Den Hinweis auf
Kristevas Interpretation des Opfervorgangs bzw. auf den Zusammenhang von Opfer-
und Ordnungsbesessenheit gibt bereits Friedrich Vollhardt: Hermann Brochs ge-
schichtliche Stellung. Studien zum philosophischen Frühwerk und zur Romantrilo-
gie »Die Schlafwandler«. Tübingen: Niemeyer 1986 (Studien zur deutschen Litera-
tur; 88), S. 293f.
178 Teil I

schichtsphilosophischen Index. Ist Eschs Vorstellungswelt schon vorher durch


eine Gemengelage aus christlichen und unchristlichen Opfervorstellungen
gekennzeichnet (das christlich gedachte erlösende Opfer ist unchristlicherwei-
se noch nicht vollzogen worden, sondern steht noch an), so unterrichtet ihn
Bertrand im Traum, dass
[v]iele […] geopfert werden [müssen], damit Platz für den erkennenden, liebenden
Erlöser geschaffen werde. Und erst sein Opfertod erlöst die Welt zum Stand der
neuen Unschuld. Vorher aber muß der Antichrist kommen, – der Wahnsinnige, der
Traumlose. Erst muß die Welt luftleer werden wie unter einem Vakuumrezipienten,
… das Nichts (SW 338).29

Eschs Traumbegegnung mit Bertrand bringt ihn nicht nur davon ab, Bertrand
»opfern« zu wollen, sondern seine Opferobsession bekommt auch eine andere
Stoßrichtung: Statt das eine Opfer aktiv anzustreben – sei es nun das aktive
Selbst- oder das Fremdopfer –, mit dem die vielen passiven (›unschuldigen‹)
Opfer gesühnt werden sollen, lernt Esch mit der Zeit zu rechnen und auf Ge-
schichte zu spekulieren. Es muss das »Ende der Zeit« erreicht, die Zeit voll
werden, bevor überhaupt des »Erlösers Tod« den »Stand der Unschuld« wieder
herstellen kann (vgl. SW 379). Die passive Opferrhetorik (viele Opfer müssen
erlitten werden, bis das Ende der Zeit erreicht ist) verdrängt die aktive.
Den Krieg versteht Esch apokalyptisch, als Anzeichen für das Wirken des
Antichrist (vgl. SW 586), wobei es ihm, anders als Pasenow, auf den apoka-
lyptischen Bruch ankommt, aus dem qualitativ Neues entstehen soll. Der apo-
kalyptische Diskurs, der sich im Ersten Weltkrieg mit dem revolutionären
Diskurs verbinden konnte wie z. B. bei Ernst Bloch, lässt auch bei Esch revo-
lutionäre Züge anklingen, die letztlich aber wieder in das betont unpolitische
»Reich der Erlösung« abgebogen werden: »Mord und Gegenmord … viele
müssen sich opfern, damit der Erlöser geboren wird, der Sohn, der das Haus
bauen darf« (SW 501), meint Esch, und: »Je ärger das Übel, je tiefer die Fins-
ternis, je schärfer das sausende Messer, desto näher das Reich der Erlösung«
(SW 555).
Der sektiererische, opferbesessene Messianismus eines Esch ebenso wie der
romantisch-regressiv am messianischen Kind (am »reinen«, die Erlösung be-
reits in sich tragenden Anfang) orientierte Messianismus eines Pasenow resul-
tieren aus einer Krisen- und Kriegserfahrung, die die Protagonisten in über-
kommene religiöse Deutungskategorien zu übersetzen versuchen, um der his-
torischen Situation einen »Sinn« zu induzieren. Die messianischen Vorstellun-
gen Pasenows und Eschs erfüllen so die Funktion von Abschirmdiskursen.

29 Überzeugend argumentiert Grabowsky-Hotamanidis, dass hier eine gnostische


Vorstellung Ausdruck findet, die Anfang des 20. Jahrhunderts sehr wirkmächtig
war: Das »›radikale Bis-zu-Ende-Gehen‹ des Weges durch die Entfremdung« wird
zur Vorbedingung der »Umkehr« erklärt (vgl. Grabowsky-Hotamanidis, Zur Bedeu-
tung mystischer Denktraditionen im Werk von Hermann Broch [wie Anm. 4],
S. 101).
6 (De-)Figurationen des Messianischen in Brochs ›Die Schlafwandler‹ 179

Einsicht und Blindheit gehen schlafwandlerisch Hand in Hand. Denn Pasenow


und Esch bemerken beide, dass die moderne gesellschaftliche Welt nicht mehr
in der Logik von selbständigen, unabhängigen Personen aufgeht, sondern un-
sichtbare »Kräfte« sie bestimmen:
Irgendwo kam es eben nicht mehr auf die Menschen an, die waren alle gleich und es
verschlug nichts, wenn einer im andern verfloß und der eine auf dem Platz des an-
dern saß, – nein, nicht mehr nach guten und bösen Menschen, sondern nach irgend-
welchen guten und bösen Kräften war die Welt geordnet (SW 270 [Hervorhebung
E. D.]).

Die Auflösung personaler Integrität führt dazu, dass »einer in den andern ver-
fließt und […] [k]einer ist, was er zu sein glaubt: man glaubt, daß man ein Kerl
ist, der fest auf seinen zwei Beinen steht […] und in Wirklichkeit steht man
einmal auf diesem Platz und einmal auf jenem« (SW 272). In der Logik von
»Kräften« und systemischen Positionen (»Platz«) zergeht die Schimäre eines
ganzheitlichen Subjekts. Pasenow versucht, in traditionell christlicher Weise
an der Vorstellung eines substantiellen Subjekts festzuhalten, die Gottes-
»Ebenbildlichkeit« (SW 130) löst sich ihm nur dialektisch auf, um zur »Ver-
heißung« (SW 130) zu werden, dass der »Gottesstaat[] […] alles in sich auf-
nimmt, was Menschenantlitz trägt« (SW 470 [Hervorhebung E. D.]). Für Esch
zerrinnt zwar die personale Integrität; es bleiben aber nicht nur gesellschaftli-
che »Kräfte« übrig, sondern »Kräfte« mit metaphysischem Vorzeichen: aus
»guten und bösen Menschen« werden »gute[] und böse[] Kräfte« (SW 270),
die wieder ins ordnungsmäßige Verhältnis zu bringen sind.
Am Anfang des dritten Romans der Schlafwandler erfolgt ebenfalls eine
Übertragung von Transzendentem auf Immanentes, allerdings mit einem gänz-
lich anderen Effekt: Die Identifikation mit dem Gott führt zu dessen Durch-
streichung – diese Folgen hat das Offenbarungserlebnis für den atheistischen
Kaufmann Wilhelm Huguenau. So wie das Messianische nicht mehr im Be-
wusstseinshorizont der Hauptfigur verankert ist – Huguenau sind messianische
Vorstellungen fremd –, geht es auch nicht mehr in dem Paradigma der Reprä-
sentation und der personalen Identität auf. Das heißt aber auch, dass man es bei
dem Bezug auf messianische Momente nicht mehr allein mit einem religiösen
Abschirmdiskurs zu tun hat wie in den beiden vorangehenden Romanen. Hin-
ter die Einsicht, dass anonyme Strukturen traditionelle Vorstellung von perso-
naler Integrität und Identität hinfällig machen, geht der dritte Roman nicht
zurück. Die präreflexive Tatsache des eigenen Daseins, die der Eingang des
dritten Romans in den Vordergrund rückt, ebenso wie die dialogische Existenz
schließen anonyme Strukturen nicht aus. Die dialogische Existenz zeigt viel-
mehr eine Dimension auf, die aus einer Aktualisierung anonymer Strukturen
im Hier und Jetzt der konkreten Situation entsteht. Mit der präreflexiven Tat-
sache des eigenen Daseins wiederum wird der Einzelne in der Anonymität des
technisch geführten Krieges konfrontiert, der ihn zu einer statistischen Größe
reduziert – ihm jedoch nicht das Sterben abnehmen kann.
180 Teil I

6.1.3 Von der Imitatio Christi aus atheistischem Geist zur »Messias-
hoffnung der Annäherung« als ethisch-poetischem Prinzip
Nach Geburt und Kreuzigung wird die Auferstehung Christi zum Vorbild für
den Protagonisten des letzten Romans, überschrieben Huguenau . Oder die
Sachlichkeit. Im Schützengraben hat Wilhelm Huguenau eine Auferstehungs-
vision, aufgrund derer er desertiert. Es herrschen keine Gemeinschaftsgefühle
im Schützengraben, sondern Isolation, Einsamkeit und Angst:
Schon als sie einer nach dem andern durch den Laufgraben dahintrotteten, hatten sie
wohl alle das Gefühl, hinausgestoßen zu sein aus dem Schutze des Kameradschaftli-
chen und des Zusammengehörens, und wenn sie auch sehr abgestumpft waren […],
so gab es doch keinen, der nicht wußte, daß er als einsamer Mensch mit einsamem
Leben und einsamem Tode hier herausgestellt worden war in eine übermächtige
Sinnlosigkeit, […] die sie nicht begreifen oder höchstens als Scheißkrieg bezeichnen
konnten (SW 386).

Als Huguenau in den »feuerwerkartigen Himmel« schaut, kommt ihm immer


wieder das
Bild eines in einer Orangewolke gen Himmel auffliegenden Herrn mit erhobener
Hand […] vor Augen. Dann erinnerte er sich an Colmar und daß man seine Schul-
klasse einmal ins Museum geführt und mit Erklärungen gelangweilt hatte; aber vor
dem Bild, das wie ein Altar in der Mitte stand, hatte er sich gefürchtet: eine Kreuzi-
gung, und Kreuzigungen liebte er nicht (SW 387).

Bei dem »Bild«, das in Huguenaus Erinnerung »wie ein Altar in der Mitte
stand«, handelt es sich um den in Colmar im Musée d’Unterlinden befindli-
chen »Isenheimer Altar« Matthias Grünewalds, dessen in Leidensdrastik dar-
gestellte Kreuzigung Christi ein Beispiel für die veränderten Kreuzigungsdar-
stellungen im späten Mittelalter ist.30 Sie führen nicht mehr den Weltenrichter
und göttlichen Himmelsherrn vor Augen, der für immer über den Tod trium-
phiert hat, sondern den leidenden Erlöser, den sterbenden Gott. Freilich resul-
tiert dieses ›realistisch‹ dargestellte Sterben Gottes in der umso wunderbareren
Auferstehung, die Grünewald in leuchtenden Farben auf der Wandlung des
Altars präsentiert. Die epiphanische Vision bringt Huguenau zur Desertion. Er
steht nicht wie Christus aus dem Grabe auf, sondern kriecht aus dem Graben:
der Soldat im Schützengraben als »einer der Ausgestoßenen«, wie es im Epi-
log der Schlafwandler heißt, die »die ersten sein müssen, die zur Wertfreiheit
gelangen, […] auch die ersten, den Ruf des Mordes zu vernehmen« (SW 702).
Die Christus-Vision läutet für den Deserteur Huguenau eine »Ferienzeit«
(SW 391) ein, in der er sich auf betrügerische Weise in den Besitz eines Zei-

30 Vgl. zum Isenheimer Altar und zu Matthias Grünewald Karen van den Berg: Die
Passion zu malen. Zur Bildauffassung bei Matthias Grünewald. Duisburg u. a.:
pict.im 1997; Horst Ziermann: Matthias Grünewald. München: Prestel 2001; Georg
Scheja: Der Isenheimer Altar des Matthias Grünewald. Köln: DuMont Schauberg
1969.
6 (De-)Figurationen des Messianischen in Brochs ›Die Schlafwandler‹ 181

tungsbetriebes bringt und die er mit einem Mord an dessen früherem Besitzer
Esch beendet. Huguenau rennt Esch, dessen Besessenheit von der Notwendig-
keit eines Opfers zur Wiederherstellung einer aus den Fugen geratenen Welt ja
im Zentrum des zweiten Romans der Schlafwandler gestanden hat, in den
Wirren der Revolutionstage »das Bajonett in den knochigen Rücken« (SW
677). Man könnte auch sagen: Er versetzt ihm einen Stoß ins Kreuz, kreuzigt
den vom Opfergedanken Besessenen – und verweist damit auf ein Jenseits der
Opferlogik. Denn hinter Hunguenaus Tat steht keine Ökonomie des Heils oder
des Sinns. Seine Tat ist psychologisch wie handlungspragmatisch unzurei-
chend motiviert: ein sinnloses »Töten«. Die Logik der »Opferheiligung«, die
aus den Opfern ordentliches Kapital schlägt, indem die Opfer »zu den Göttern
erhoben« und dadurch eine Sinn wie Ordnung beglaubigende Funktion be-
kommen, wird selbst liquidiert.
Huguenaus Christus-Vision, in der sich das »Orangelicht des Kanonenfeu-
erwerks und der Leuchtraketen« mit den »leuchtenden Farben jenes Grüne-
wald’schen Altarwerks« (SW 388) mischen, bedeutet ihm also keine Überhö-
hung der Kriegsszenerie zum religiösen Opfergang. Eine religiöse, kriegerisch-
propagandistische Opferrhetorik wird allenfalls karikiert, denn Huguenau
entschließt sich ja nicht zum Opfer, zum ›Heldentum‹, sondern zur Desertion.
Die Altarbilder haben für Huguenau nicht den Status eines Kultbildes – er
erinnert sie nicht als Altar, sondern in seiner Erinnerung standen sie nur mehr
»wie ein Altar« (SW 387; Hervorhebung E.D.) in der Mitte eines Museums-
raumes. Losgelöst vom Kult evoziert das Bild weder eine Imitatio Christi im
traditionellen noch im propagandistischen Sinne. Vielmehr wird die Imitatio
Christi chiastisch gewendet, insofern nicht die Leidensbereitschaft des Erlösers
für Huguenau vorbildlich ist, sondern dessen Freiheit von irdischen Banden,
wie sie in der Auferstehungsszene zum Ausdruck kommt. Es handelt sich also
um eine Imitatio Christi aus atheistischem Geist, die die eigene Freiheit an die
Stelle der göttlichen Freiheit setzt.
Der Gott erscheint, um geleugnet zu werden. Huguenaus Selbstbehauptung
hat eine atheistische Pointe, die Nietzsches Atheismus, so wie ihn Rosenzweig
interpretiert, verwandt ist. »›[W]enn Gott wäre, wie hielte ich es aus, nicht
Gott zu sein?‹« (SdE 20), zitiert Rosenzweig – nicht ganz korrekt –31 Nietz-
sche und fährt fort:
Der erste wirkliche Mensch unter den Philosophen war der erste, der Gott von An-
gesicht zu Angesicht sah – wenn auch nur, um ihn zu leugnen. […] Das trotzige
Selbst schaut […] die alles Trotzes ledige göttliche Freiheit, die ihn, weil er sie für

31 Bei Nietzsche heißt es eigentlich: »W e n n es Götter gäbe: wie hielte ich es aus, kein
Gott zu sein! Aber es giebt keine Götter« (Friedrich Nietzsche: Nachgelassene
Fragmente 1882–1884. In: Ders.: Kritische Studienausgabe. Hg. von Giorgio Colli
und Mazzino Montinari. Bd 10. München: Dt. Taschenbuch-Verlag 1999 [dtv;
59044], S. 368).
182 Teil I

Schrankenlosigkeit halten muß, zur Leugnung drängt […]. So stößt das Meta-
Ethische […] das Metaphysische aus sich ab (SdE 20f.).

Der Schluss des ersten Erzählabschnittes der Schlafwandler lässt sich parallel
dazu lesen: Christus entschwebt während der Nacht »mit aufgehobener Hand
in die Kuppel«, Huguenau aber kriecht am Morgen aus dem Graben in eine
Welt hinaus, die »wie unter einem Vakuumrezipienten – Huguenau musste an
eine Käseglocke denken – […] lag«, »grau, madig und vollkommen tot in
unverbrüchlichem Schweigen« (SW 388). Christus verschwindet aus der Welt,
und Huguenau »schritt wie unter einer Glocke voll Unbekümmertheit, abge-
grenzt von der Welt und doch in ihr« (SW 391). Am Beginn des dritten Ro-
mans der Schlafwandler zerfällt die Einheit von Gott, Mensch und Welt vol-
lends. Der Zerfall des Seins in die drei voneinander isolierten Bereiche
Mensch, Gott und Welt steht auch am Beginn von Rosenzweigs Stern der
Erlösung. Ein Vergleich zwischen Brochs Romananfang und der Einleitung
des Stern der Erlösung ist erhellend, insofern Huguenau, das »wertfreie« Indi-
viduum, als eine Figuration des »meta-ethischen Selbst« gelesen werden kann,
von dem Rosenzweig ausgeht. Am Anfang von Rosenzweigs Philosophie steht
kein abstraktes Prinzip, sondern die Erfahrung der Endlichkeit. So beginnt der
Stern der Erlösung mit der Kriegserfahrung, die den Menschen nicht nur mit
der Todesangst konfrontiert, sondern ihn auf die nackte, dem Tode preisgege-
bene Kreatürlichkeit zu reduzieren droht:
Mag der Mensch sich wie ein Wurm in die Falten der nackten Erde verkriechen vor
den herzischenden Geschossen des blind unerbittlichen Tods, mag er es da gewalt-
sam unausweichlich verspüren, was er sonst nie verspürt: daß sein Ich nur ein Es
wäre, wenn es stürbe, und mag er deshalb mit jedem Schrei, der noch in seiner Keh-
le ist, sein Ich ausschreien gegen den Unerbittlichen […] – die Philosophie lächelt
zu all dieser Not ihr leeres Lächeln und weist mit ausgestrecktem Zeigefinger das
Geschöpf […] auf ein Jenseits hin, von dem es gar nichts wissen will (SdE 3).

Das »Schützengrabenerlebnis«, metaphorisch beschrieben als ein »[V]erkrie-


chen« »vor den »herzischenden Geschossen« »in die Falten der nackten Erde«,
gilt Rosenzweig als Initial für ein »neues Denken«32 – wie anderen prominen-
ten Denkern der Zwischenkriegszeit, von denen Martin Heidegger und Ernst
Jünger die bekanntesten sind. Jünger wendet zwei Strategien an, um die Erfah-
rung der Nichtigkeit des Individuums in einem anonymen, technisch dominier-
ten Krieg zu bewältigen: In seinen frühen Texten herrscht die Bemühung vor,
eine imaginäre Innerlichkeit und eine »innerliche Gemeinschaft« der Frontsol-
daten trotz der Äußerlichkeit der anonymen Materialschlacht zu behaupten.

32 Der biographische Entstehungskontext des Sterns ist legendär: Rosenzweig war als
Soldat an der Balkanfront, als er 1917 »plötzlich wie im Blitzschlaf den ganzen in-
neren Aufbau« seines Werkes vor Augen gesehen haben soll. Im nächsten halben
Jahr schickt er seiner Mutter eine Fülle von Postkarten, die sein unablässiges Arbei-
ten am Stern bekunden und dessen Grundlage darstellen (vgl. Ulrich Sieg: Jüdische
Intellektuelle im Ersten Weltkrieg. Berlin: Akademie-Verlag 2001, S. 297–305).
6 (De-)Figurationen des Messianischen in Brochs ›Die Schlafwandler‹ 183

Später erfolgt dann die Flucht nach vorne, die heroische Überbietung der tech-
nischen ›Kälte‹ in dem technizistischen Ideal des »Arbeiters«.33 In Martin
Heideggers Sein und Zeit ist es das »Vorlaufen in den Tod«, durch das der
Einzelne den anonymen Strukturen des »Man« entkommen soll, um die ei-
gensten Daseinsmöglichkeiten zu ergreifen.34 Rosenzweig hat mit Heidegger
sehr viel mehr als mit Jünger gemeinsam, vor allem den existenzphilosophi-
schen Ansatz und die Bemühung, eine Bestimmung für das singuläre Dasein
zu finden. Rosenzweig versucht, seinem dialogischen Ansatz gemäß, das »sin-
gulare Individuum« (SdE 143) vom Ereignis des Angerufenwerdens und der
Erfahrung, dass keiner für mich/an meiner Stell in diesem Moment antworten
kann, zu bestimmen (s. oben). Die Einsicht, dass keiner für mich/an meiner
Stelle sterben kann,35 die in Heideggers Überlegungen den Impuls zum Vor-
laufen in den Tod um des Ergreifens der eigensten Möglichkeiten willen gibt,
steht bei Rosenzweig, statt im Zentrum, lediglich am Anfang seiner Philoso-
phie, nämlich in der Einleitung zum Stern.36
33 Vgl. zu den beiden bei Jünger vorfindlichen Strategien Thomas Weitin: Notwendige
Gewalt. Die Moderne Ernst Jüngers und Heiner Müllers. Freiburg i. Br.: Rombach
2003 (Rombach-Wissenschaften: Reihe Cultura; 34).
34 Vgl. Martin Heidegger: Sein und Zeit. 18. Aufl., Tübingen: Niemeyer 2001, S. 263
(»§ 53. Existentialer Entwurf eines eigentlichen Seins zum Tode«): »Das Vorlaufen
läßt das Dasein verstehen, daß es das Seinkönnen, darin es schlechthin um sein ei-
genstes Sein geht, einzig von ihm selbst her zu übernehmen hat. […] Die im Vorlau-
fen verstandene Unbezüglichkeit des Todes vereinzelt das Dasein auf es selbst. Die-
se Vereinzelung ist eine Weise des Erschließens des ›Da‹ für die Existenz. Sie macht
offenbar, daß alles Sein bei dem Besorgten und jedes Mitsein mit anderen versagt,
wenn es um das eigenste Seinkönnen geht. Dasein kann nur eigentlich es selbst sein,
wenn es sich von ihm selbst her dazu ermöglicht.«
35 Heidegger, Sein und Zeit (wie Anm. 34), S. 240 (§ 47. »Die Erfahrbarkeit des Todes
der Anderen und die Erfassungsmöglichkeiten eines ganzen Daseins«).
36 Anders als Heidegger exponiert Rosenzweig eine ontologische Abhängigkeit vom
Anderen, um »singulares Individuum« und nicht nur »stummes Selbst« zu sein. An
die Stelle des göttlichen Anderen tritt bei Heidegger der Tod. Denn was bei Heideg-
ger der existential-ontologische Begriff des Todes bezeichnet, verstanden als »die
eigenste, unbezügliche, gewisse und als solche unbestimmte, unüberholbare Mög-
lichkeit des Daseins« (Heidegger, Sein und Zeit [wie Anm. 34], S. 258), die sich
phänomenologisch im »Gewissensruf« bezeugt, erfüllt bei Rosenzweig das Offenba-
rungsgeschehen, in dem sich der Mensch von Gott angerufen und auf seinen unver-
tretbaren Ort verwiesen findet (s. o.). Trotz der frappierenden Nähe des unerwartba-
ren, plötzlich einbrechenden Heidegger’schen Gewissensrufes, der nichts aussagt
oder erzählt (vgl. ebd., S. 273), sondern das Dasein zu ihm selbst aufruft, und der
göttlichen Anrufung bei Rosenzweig, die ebenso überraschend erfolgt wie seman-
tisch leer bleibt, hält Rosenzweig doch daran fest, dass der Ruf von außen kommt
und nicht wie bei Heidegger »aus mir und doch über mich« (ebd., S. 275). Der Un-
terschied zwischen Heidegger und Rosenzweig liegt nicht nur darin, dass Heidegger
versucht, die Philosophie von jedem Bezug auf ein transzendentes Dasein (Gott) zu
›bereinigen‹, Rosenzweig hingegen Gott als Element des Seins »setzt«. Die Bedeu-
tung, die der Andere für beider Philosophie hat, fällt ebenfalls unterschiedlich aus.
184 Teil I

Im Todeserlebnis, so Rosenzweigs Gedankengang, entdeckt der Einzelne zu


der Zeit, als die Materialschlachten das »Ich« zu einem unpersönlichen, krea-
türlichen »Es« reduzieren, die unaufhebbare, präreflexive Tatsache seines
faktischen, einzelnen Daseins. Diese irreduzible Tatsache des faktischen, ein-
zelnen Daseins widerspricht dem Streben der Philosophie »von Ionien bis
Jena« nach Totalität, nach dem »allgemeinen Erkennen des All« (SdE 5), das
das Mannigfache auf ein Einheitsprinzip zurückzuführen sucht – sei dies Eine
nun eine materielle Substanz, aus der alles zusammengesetzt wird (z. B. in der
antiken Philosophie eines Thales: Alles ist Wasser), sei es Gott (wie im Mittel-
alter) oder das Denken wie in den Systemen des Idealismus.
Denn freilich: ein All würde nicht sterben und im All stürbe nichts. Sterben kann nur
der Einzelne und alles Sterben ist einsam. Dies, daß die Philosophie das Einzelne
aus der Welt schaffen muß, diese Ab-schaffung des Einzelnen ist auch der Grund,
weshalb sie idealistisch sein muß. Denn der ›Idealismus‹ mit seiner Verleugnung al-
les dessen, was das Einzelne vom All scheidet, ist das Handwerkszeug, mit dem sich
die Philosophie den Stoff […] bearbeitet (SdE 4).

Die Entdeckung des einzelnen faktischen Daseins als irreduzibler Realität ist
von grundlegender Bedeutung. Denn es genügt, wie Stéphane Mosès Rosen-
zweigs Gedanken umschreibt, »eine einzige Realität aufzufinden, die dem
Denken vorhergeht, um das ausdrückliche Postulat aller Philosophie, die
Totalitätsidee in Frage zu stellen.«37 Das irreduzible Dasein des Einzelnen
wird zum »Gärstoff, der die logisch-physische Einheit des Kosmos zerfällt«
(SdE 17).
Der Mensch, der angesichts des Todes das Faktum seines einzelnen Daseins
entdeckt, der in der »Furcht des Todes« nicht sterben, sondern »bleiben« (SdE
4) will, findet sich in seiner faktischen Existenz außerhalb von moralischen
Systemen, in denen er als Objekt eines Gesetzes rangiert. Er entdeckt sich als

Heidegger gibt zwar auch einer Dimension des Mitseins Raum, wenn er ausführt,
dass die »Entschlossenheit zum eigensten Seinkönnen« (Heidegger, Sein und Zeit
[wie Anm. 34], S. 299) das Dasein nicht von seiner Welt ablöse, sondern »es in das
fürsorgende Mitsein mit anderen stoße« (ebd., S. 298). Rosenzweig stellt aber be-
reits die ontologische Abhängigkeit vom (göttlichen) Anderen aus, um überhaupt
»singulares Individuum« zu sein, führt also den Anderen an der Stelle ein, an der in
der fundamental-ontologischen Untersuchung Heideggers der Tod steht. Die Grund-
figuration Rosenzweigs ist bereits echt dialogisch – zwei voneinander unabhängige,
getrennte Wesen begegnen einander –, wohingegen bei Heidegger der Gewissensruf
wohl auch »wie eine fremde Stimme« (ebd., 277 [Unterstreichung E. D.]) erscheint.
Es sind jedoch »der Rufer und der Angerufene je das eigene Dasein zumal selbst«
(ebd., 279). Dabei handelt es sich freilich um ein Dasein, das sich selbst als fremdes
erfährt, als ein »in der Unheimlichkeit auf sich vereinzelte[s], in das Nichts gewor-
fene[s] Selbst« (ebd., 277). Ebenso wie der eigene Tod bei Heidegger an die Stelle
des göttlichen Anderen bei Rosenzweig tritt, rückt ein ›innerer Dialog‹ an die Stelle
eines äußeren.
37 Stéphane Mosès: System und Offenbarung. Die Philosophie Franz Rosenzweigs.
München: Fink 1985, S. 51.
6 (De-)Figurationen des Messianischen in Brochs ›Die Schlafwandler‹ 185

meta-ethischen Menschen. Der Wille, »da zu sein« – Rosenzweig nennt ihn in


seiner reinen Form »Trotz« – bestimmt sich selbst als Charakter, der auf seiner
Einzigartigkeit beharrt. Der in sein Selbst verschlossene Mensch ist für keinen
Anspruch, der ihm von außen begegnet, zugänglich. Verkörpert findet Rosen-
zweig ihn im tragischen Helden der Antike und dessen stummem Widerstand
gegen das Schicksal bzw. die Götter. Der antike Held behaupte stumm sein
Dasein gegenüber der Macht der Götter, allerdings ohne der schicksalhaften
Macht entrinnen zu können. Rosenzweig denkt das meta-ethische Selbst je-
doch nicht ausschließlich im ›großen Format‹ des antiken Helden. Vielmehr
illustriert er das Beharren auf dem eigenen Charakter gerade mit den Worten
des »Theaterbösewichts«: »So bin ich nun einmal, und so will ich denn auch
sein« (SdE 18).38
Mit Huguenau behauptet das meta-ethische Selbst sein Dasein, allerdings
nur in der einen der beiden erwähnten Figurationen: dem Theaterbösewicht.
Der tragische antike Held steht der Figur des Huguenau gänzlich fern; ebenso
fern steht ihr der Dezisionist, um die moderne Figuration, die in Rosenzweigs
Konzept des meta-ethischen Selbst enthalten ist, zu benennen.39 Huguenau ist
38 Der Übergang vom meta-ethischen Ethos des Selbst zur messianischen Ethik erfolgt
bei Rosenzweig durch die Wendung nach außen: Das Selbst affirmiert noch immer
sein Dasein, das es aber nicht aus sich, sondern nur in Abhängigkeit vom Anderen
hat. Die dialogische Existenz tritt an die Stelle des stummen Helden. Der Atheismus
und das meta-ethische Selbst sind solcherart Durchgangspunkte bei Rosenzweig:
Erst vor dem Hintergrund des Atheismus entsteht die Idee eines radikal anderen
Gottes, die Rosenzweig als die eigentlich religiöse Gottesidee versteht (vgl. Mosès,
System und Offenbarung [wie Anm. 37], S. 54); und erst vor dem Hintergrund eines
meta-ethischen Selbst, das nicht Objekt der Ethik ist, sondern sein Ethos hat und
sich so von Gott und Welt abtrennt, kann die Idee einer messianischen Ethik Kontur
gewinnen, in der der Gedanke des irreduzibel Anderen zentral ist.
39 Dezisionistisch ist das Verhältnis des »meta-ethischen Selbst«, des »freien Herrn
seines Ethos« (SdE 19), zum Gesetz: »Das Gesetz ist dem Menschen, nicht der
Mensch dem Gesetz gegeben« (SdE 15). Nicht »die sittliche Persönlichkeit« (SdE
18), die sich à la Kant selbst das Gesetz gibt und in diesem Sinne auto-nom ist, soll
mit dem meta-ethischen Selbst bezeichnet werden. Setze das Sittengesetz, sobald es
die »allgemeingültige Tat« ins Zentrum rücke, den »Begriff des All« wieder über
die »Eins des Menschen«, so werde der meta-ethischen »Tatsächlichkeit« des Men-
schen nur ein Begriff des Handelns gerecht, der »in der seinshaften Grundlage eines
dennoch von allem Sein abgetrennten ›Charakter‹ veranker[t]« (SdE 11) sei. Der
Mensch »in der schlechthinnigen Einzelheit seines Einzelwesens«, in seinem »Eige-
nen« ist nicht von einem allgemeinen Gesetz her zu erfassen. Vielmehr ist seine Po-
sition hors de la loi, die Position außerhalb, der Ausnahme vom Gesetz, aus der die-
ses, ungedeckt durch ein vorgegebenes Allgemeines, begründet wird. Der theologi-
sche Gewährsmann für diese Ausnahme-Souveränitätslehre des Einzelnen gegen-
über dem Allgemeinen ist natürlich Sören Kierkegaard (vgl. SdE 8). Die Verlänge-
rung ins Politische zugunsten des großen Einzelnen, des politischen Souveräns, er-
folgt dann später bei Carl Schmitt in der Politischen Theologie (vgl. ders.: Politische
Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität. München: Duncker &
Humblot 1922).
186 Teil I

nicht Dezisionist, sondern »wertentblößter« (SW 711) Opportunist. Eine Ver-


bindung zum meta-ethischen Selbst im emphatischen (Kierkegaard’schen)
Sinne (»der Mensch in seiner schlechthinnigen Einzelheit seines Eigenwe-
sens«) liefert allerdings der Erzählerkommentar, freilich indem er über das
Bewusstsein der »derartigen Meditationen angewandt[en]« (SW 391) Figur
hinausgeht:
[A]uch für ihn [Huguenau; Anm. E.D] [muß] ein tieferes menschliches Wissen, ein
menschliches Sehnen nach der Freiheit vorhanden sein […] – und weil dies so ist
und weil dies nicht anders sein kann, so mag es wohl auch in jenem Augenblick ge-
schehen sein, in dem Huguenau aus dem Graben kroch und sich erstmalig der
menschlichen Verbundenheit entlöste, daß ein Schimmer des höheren Glanzes, der
die Freiheit ist, auf ihn fiel (SW 392).

Die Desertion Huguenaus wird von dem Erzähler unter dem Aspekt der Frei-
heit kommentiert, als deren Ausdruck die Loslösung aus der »menschlichen
Verbundenheit« postuliert wird. In der Perspektive dieses Kommentars erhält
das »Schützengrabenerlebnis« Huguenaus das Pathos einer existentiellen Ein-
samkeits-, Vereinzelungs- und Endlichkeitserfahrung, die sich durch die Be-
freiung von den Banden des Allgemeinen auszeichnet. Das Pathos bricht sich
jedoch an der Figur Huguenaus, dem gewandten, auf seinen Vorteil bedachten
Kaufmann, dessen Desertion ihn nicht davon abhält, aus dem Krieg einen
Gewinn zu schlagen. Das meta-ethische Selbst, das sich durchzusetzen weiß,
ist hier einfach ein geschickter Profiteur und Opportunist.
Huguenau repräsentiert eine Epoche, die nicht mehr repräsentationsfähig ist.
Erzähllogisch impliziert dies, dass ein Einzelleben nicht mehr für das ›Ganze‹
einer Epoche zu stehen vermag. Das multiperspektivische Erzählen im dritten
Roman der Schlafwandler zollt dem »Zerfall des Seins« in Form einer Vielzahl
von Ich-Standpunkten, die nicht mehr miteinander und dem ›Ganzen‹ ihrer
Epoche vermittelt sind, Tribut. Die Einheit der Romanhandlung, die im ersten
Roman noch durch die Handlungsstruktur des Familienromans gewährleistet
war und im zweiten sich schon aufzulösen begann, zersplittert im dritten Ro-
man zum Mosaik, indem verschiedene, nicht miteinander vermittelte perspek-
tivische Blickwinkel als »Reflektoren« der Handlung dienen. Die Erzähler-
kommentare indizieren zwar eine übergeordnete, reflektierende Erzählinstanz,
die jedoch nicht alle Abschnitte beherrscht und insgesamt nicht stark genug
ausgebildet ist, um den Roman mit einem auktorialen Bewusstsein zu dominie-
ren. Insbesondere in den Abschnitten, die zu einem dramatischen Modus ten-
dieren (Wiedergabe von Dialogen), sowie in den Abschnitten, die dominant
intern fokalisiert sind, tritt der Erzähler zugunsten der Figuren zurück. Allein
die Exkurse, in denen sich durch das Pathos des »Zerfalls der Werte« immer
wieder eine kulturkritische Lesart aufdrängt, beanspruchen, einen übergeord-
neten philosophischen Kommentar zu dem Romangeschehen zu liefern.
Mit der Reformation, so heißt es hier, sei die »mittelalterliche Ganzheit«
(SW 540) und »platonische Einheit der Kirche« (SW 540) aufgelöst und damit
6 (De-)Figurationen des Messianischen in Brochs ›Die Schlafwandler‹ 187

die »Atomisierung der Wertgebiete« (SW 536) eingeläutet worden. Jedes »Parti-
alwertsystem« strebe nun nach Autonomie, frei nach den zeitgenössischen Devi-
sen: »Krieg ist Krieg, l’art pour l’art, in der Politik gibt es keine Bedenken, Ge-
schäft ist Geschäft« (SW 496). Auf der Linie dieser Argumentation wird der
Erste Weltkrieg, in dessen letztem Kriegsjahr der dritte Roman spielt, geistesge-
schichtlich mit der Tendenz der Moderne erklärt, die wissenschaftliche Eigenlo-
gik von einzelnen »Objektgebieten« zu verfolgen, ohne dass diese noch in ein
übergreifendes Wertsystem eingebettet wären (vgl. SW 536).
Die Sehnsucht nach exemplarischer Zusammenfassung der auseinanderge-
fallenen Wertgebiete ruft bereits im ersten Exkurs den »Führer« auf den Plan,
»in dem alles Geschehen dieser Zeit sinnfällig sich darstellte, dessen eigenes
logisches Tun das Geschehen dieser Zeit ist […]. Deshalb sehnen wir uns wohl
nach einem ›Führer‹, damit er uns die Motivation zu einem Geschehen liefere,
das wir ohne ihn bloß wahnsinnig nennen können« (SW 421). Diese Führerge-
stalt soll wieder die Einheit zwischen Einzelleben und dem »Gesamtgesche-
hen« (SW 419) der Zeit verkörpern, sein Tun das »Geschehen dieser Zeit«
wiedergeben – die »Zerspaltung« kitten, die der Schreiber40 der Exkurse fest-
stellt. Denn zerspalten sei das zeitgenössische Erleben insofern, als das »Ge-
samtgeschehen« der Zeit (nämlich der Krieg) in »pathetische[m] Entsetzen«
für wahnsinnig erklärt werde, jeder Einzelne sich selbst aber als »durchaus
›normal‹« empfinde. Das führt den Schreiber der Exkurse zu der für den ersten
Exkurs tonangebenden Frage:
Sind wir wahnsinnig, weil wir nicht wahnsinnig geworden sind? (SW 419)

Die Möglichkeit des Beieinanders von der »Normalität« einer »Unterhosenlo-


gizität« (SW 418) und der Irrationalität einer »gigantischen Todesbereitschaft«
(SW 419) liegt für den Schreiber in der »Zerspaltung des Gesamtlebens und -Er-
lebens, […] eine[r] Zerspaltung, die in das Einzelindividuum und seine einheitli-
che Wirklichkeit selber hinablangt« (SW 420). Sarkastisch bemerkt der Verfas-
ser der Exkurse, dass »Völker von Bankbeamten und Profiteuren […] sich in
Stacheldrähte [werfen] […] und wenn sie glücklich wieder im Hinterland sind,
werden aus den Prothesen wieder Profiteure« (SW 418f.).
Das Auseinanderfallen der Wertgebiete, die von keinem übergreifenden
Ethos zusammengehalten werden, führe zu der »Gleichgültigkeit gegen frem-
des Leid« (SW 420), womit Broch die Formel findet, die ihm bis hin zu sei-
nem letzten, nach dem Zweiten Weltkrieg veröffentlichten Roman Die Schuld-
losen dazu dient, die Akzeptanz von Gewalt und Gewaltherrschaft bei einer
breiten Bevölkerung zu charakterisieren. Aus dem Auseinanderfallen der
40 Einige Indizien im Text sprechen dafür, dass der Schreiber der Exkurse identisch mit
dem Ich-Erzähler der »Geschichte des Heilsarmeemädchens« ist, deren Bedeutung
für den dritten Roman der Schlafwandler weiter unten ausführlicher thematisiert
wird. Durch diese mögliche Identität verlieren die Exkurse ihren fiktionsexternen
Charakter und müssen selbst als perspektivische Deutung gelesen werden, statt als
theoretische Reflexion, die der Romanwelt übergeordnet wäre.
188 Teil I

Wertgebiete entspringt die Sehnsucht nach neuer Zusammenfassung, sei es in


Gestalt des Führers, sei es in Gestalt eines neuen »übergeordnete[n] Wertsys-
tem[s]«, das »die autonom gewordenen Einzelwertgebiete wieder in sich auf-
nehmen und befrieden wird«.41 Das Begehren nach dem »Führer«, der die
Einheit zwischen Einzelnem und Allgemeinem repräsentiert, zielt auf eine
neue geschlossene Ganzheit, ein Leitmotiv des kulturkritischen Diskurses seit
der Jahrhundertwende, dessen totalitäre Tendenz sich aus einem antimodernen
Affekt speist.
Auch im Epilog der Schlafwandler wird der »Führer« als »Heilsbringer«
aufgerufen, aber sogleich wieder eingeklammert, indem sich das Messianische
zur »Messiashoffnung der Annäherung« defiguriert:
Doch selbst wenn der Führer käme, das erhoffte Wunder bliebe aus: sein Leben wä-
re Alltag im Irdischen, und gleichwie der Glaube im Für-Wahr-Halten versenkt ist
und das Für-Wahr-Halten im Glauben einer stets rationalen Religion, der Heilsbrin-
ger wandelt im unscheinbarsten Gewande und vielleicht ist es der Passant, der jetzt
über die Straße geht […] sein Weg ist der Zionsweg, dennoch unser aller Weg, […]
sein Weg ist die schmerzliche Freiheit der Pflicht, ist Aufopferung und Sühne für
das Geschehene […]. [S]o vergeblich unser Hoffen auch sei, daß mit dem sichtbaren
Leben des Führers das Absolute sich im Irdischen jemals erfüllen werde, ewig annä-
herbar bleibt das Ziel, unzerstörbar die Messiashoffnung der Annäherung, […] un-
verlierbar die Brüderlichkeit der gedemütigten Menschenkreatur, […] Einheit des
Menschen (SW 715).

Die »Sehnsucht nach dem Führer« macht einer individualethischen Interpreta-


tion des Messianismus Platz, die wesentliche Momente von Hermann Cohens
Religionsphilosophie anklingen lässt: so die Vorstellung einer »rationalen
Religion«, die bei Cohen »Religion der Vernunft« heißt, der Messias als Sym-
bol des sittlichen Individuums und der Einheit der Menschen, schließlich die
»Annäherung« als ethische und geschichtsphilosophische Aufgabe. Auch mag
man in der Formulierung, dass der Messias im »unscheinbarsten Gewande«
wandelt, eine Anspielung auf den Gottesknecht aus Jes 53,2 vernehmen, der
»nicht Gestalt und nicht Schönheit« hatte und für Cohen die Vollendung des
jüdischen Messianismus repräsentiert.
Der Messias entwickelt sich für Cohen in der Hebräischen Bibel von einem
»nationalen Heros und Befreier«42 zum »Symbol« des weltgeschichtlichen
Ziels, der »idealen Sittlichkeit« und der »Einheit der Menschheit«.43 Cohens
Interpretation des jüdischen Messianismus als universelle Ethik macht ver-
ständlich, warum er den Messianismus zum Gipfel des Monotheismus als der

41 Hermann Broch: Das Böse im Wertsystem der Kunst. [zuerst 1933] In: Ders.: Geist
und Zeitgeist. Essays zur Kultur der Moderne. Hg. von Paul Michael Lützeler.
Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1997, S. 7–42, hier: S. 42.
42 Hermann Cohen: Die Messiasidee. In: Ders.: Jüdische Schriften. Hg. von Bruno
Strauß. Bd 1. Berlin: Schwetschke 1924, S. 105–124, hier: S. 109.
43 Hermann Cohen: Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums. Wiesbaden:
Fourier 1966, Darmstadt 1966, S. 298.
6 (De-)Figurationen des Messianischen in Brochs ›Die Schlafwandler‹ 189

Lehre vom einen, einzigen Gott erklärt:44 Ist es doch ein Grundanliegen von
Cohens Religionsphilosophie, den Anteil der Religion an der Vernunft aufzu-
zeigen, den er eben in der sittlichen Erkenntnis verortet. Dementsprechend
meint Cohen mit der »idealen Sittlichkeit«, die der Messias symbolisiere, kei-
ne religiöse Ethik im Unterschied zu einer philosophischen Ethik. Cohens
religionsphilosophische Geste besteht vielmehr darin, die Begriffe der Religion
als »Ergänzung«45 zur philosophischen Ethik zu betrachten, eine Ergänzung,
die dort relevant wird, wo sich »Lücken« in der philosophischen Ethik der
griechisch-platonischen Tradition auftun.46 An zwei Stellen macht Cohen hier
»Lücken« aus: im Mangel am Begriff des Mitmenschen als eines »Du«47 und
an der Vorstellung einer »allgemeinen Menschenliebe«.48
Mit der »Messiashoffnung der Annäherung« ruft Broch nun im Epilog der
»Schlafwandler« eine zentrale Kategorie von Cohens ethischer Interpretation
der jüdischen Religion generell wie des Messianismus im Besonderen auf:
Denn in dem Terminus der »Annäherung« fasst Cohen die Liebe des Men-
schen zu Gott, die ihrer beider Beziehung als »Korrelation« entspricht. Annä-
herung an, nicht Vereinigung mit Gott bedeute die Liebe zu Gott im Judentum,
wie Cohen betont, um den jüdischen Monotheismus von aller Mystik zu unter-
scheiden. Was meint nun aber die Annäherung an Gott, wenn dieser, wie für
Cohen feststeht, strikt unkörperlich zu denken ist? Sie richtet sich auf Gott als
»Urbild der sittlichen Handlung«.49 Das »Urbild« ist kein »Abbild«, das es nur
von den natürlichen Dingen des Universums, nicht aber von Gott geben kön-
ne.50 Keine »Nachahmung« wie beim plastischen Bild, sondern nur eine
»Nacheiferung« sei möglich bei dem monotheistischen Gott. Dessen Attribute
seien nicht körperlich zu verstehen, sondern als »Attribute der Handlung«, wie
Cohen im Hinblick auf die rabbinische Auslegungstradition der Bibel konsta-
tiert.51 Anders gesagt: Die Annäherung an Gott als »Urbild der sittlichen
Handlung« ist selber nur möglich in der sittlichen Handlung (Nacheiferung
statt Nachahmung).
Kein Mensch könne das »Urbild der sittlichen Handlung« darstellen (lies:
verkörpern), so Cohen.52 Diesem Grundsatz entspricht die De- und Refigurati-
on des Messias in den literarischen Quellen des Judentums, die Cohen er-

44 Vgl. ebd., S. 24, 57.


45 Ebd., S. 18f.
46 Cohen schreibt der Religion »Eigenart« zu, die sie aber nicht selbständig gegenüber
der Ethik mache (vgl. ders., Religion der Vernunft [wie Anm. 43], S. 27).
47 Vgl. ebd., S. 17ff.
48 Ebd., S. 167. Cohen spricht auch vom »Universalismus der Humanität« (vgl. ebd.,
S. 187).
49 Ebd., S. 189.
50 Vgl. ebd., S. 62f.
51 Vgl. ebd., S. 187f.
52 Vgl. ebd., S. 186.
190 Teil I

kennt:53 Die Defiguration (Entkörperlichung) des Messias als (Amts-)


Person geht mit seiner Refiguration als Symbol einher. Cohens Ethik der mes-
sianischen »Annäherung« ist zwar deutlich idealistisch geprägt: »Annäherung«
ist die geschichtliche wie ethische »Aufgabe«, die die Wirklichkeit beständig
über sich hinaus einem idealen Ziel zutreiben soll.54 Man kann Cohens Kon-
zept der »Annäherung« aber auch dialogisch interpretieren, wie Rosenzweig,
der in seiner »Einleitung in die Akademieausgabe der jüdischen Schriften
Hermann Cohens« schreibt, dass in der Cohen’schen Korrelation »Gott und
Mensch gerade deshalb zusammenkommen, weil sie wesentlich getrennt blei-
ben«.55 Für Rosenzweig zeigt die Korrelation eine Beziehung von wechselsei-
tig unableitbaren Existenzen an, womit er Cohen zum Vorreiter seines eigenen
Dialogdenkens bzw. einer dialogischen Existenzphilosophie macht. Damit geht
Rosenzweig gewiss über Cohens Philosophie hinaus, die dem idealistischen
Denken verhaftet bleibt. Bei Cohen bewährt sich zwar die Bedeutung der Reli-
gion darin, dass sie den Menschen als Mitmenschen zur »Entdeckung« bringt.
Gott bleibt bei Cohen allerdings »Idee« statt eines personalen »Du«.56 Und
auch das »Du« des Mitmenschen kommt bei Cohen nur durch begriffliche
Deduktion zur »Entdeckung« statt durch das Ereignis des Dialogs.
Wenn der Epilog der »Schlafwandler« das Bedürfnis eines »neuen Ethos«
mit zentralen Vokabeln von Cohens Religionsphilosophie formuliert, so wertet
er diese auf, nachdem sie im achten der geschichtsphilosophischen Exkurse
noch als Symptom des Zerfalls erschienen ist. Hier wird dem Judentum ein
abstrakter Gott zugeschrieben, dessen einzige Bindung zum Irdischen »das

53 Vgl. zu Cohens hermeneutischem Verfahren in seiner Bibelexegese Eliezer Schweid:


Hermann Cohen’s Biblical Exegesis. In: Helmut Holzhey, Gabriel Motzkin und Hart-
wig Wiedebach (Hg.): »Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums«. Tradi-
tion und Ursprungsdenken in Hermann Cohens Spätwerk. Hildesheim, Zürich, New
York: Olms 2000 (Philosophische Texte und Studien; 55), S. 353–379.
54 Vgl. Cohen, Religion der Vernunft (wie Anm. 43), S. 186. Robert Gibbs betont, dass
das Fortschrittsaxiom in Cohens messianischer Geschichtsphilosophie mit einer
Kritik an der Schließung von Geschichte einhergehe: »While hope for the messianic
pulls apart the closure of history and of time, it does not supplant the progressive
tale of history – a tale that itself is incompletable. The future makes us interpret the
past as directed towards the future, without foreclosing the future« (Robert Gibbs:
Hermann Cohen’s Messianism: The History of the Future. In: Helmut Holzhey,
Gabriel Motzkin und Hartwig Wiedebach [Hg.]: »Religion der Vernunft aus den
Quellen des Judentums«. Tradition und Ursprungsdenken in Hermann Cohens
Spätwerk. Hildesheim, Zürich, New York: Olms 2000 [Philosophische Texte und
Studien; 55], S. 331–349, hier: S. 338f.).
55 Franz Rosenzweig: Einleitung in die Akademieausgabe der Jüdischen Schriften
Hermann Cohens. In: Ders.: Der Mensch und sein Werk. Gesammelte Schriften.
Bd 3. Hg. von Annemarie Mayer und Reinhold Mayer. Dordrecht, Boston, Lan-
caster: Martinus Nijhoff 1984, S. 177–223, hier: S. 214.
56 Vgl. Alexander Altmann: Hermann Cohens Begriff der Korrelation. In: Helmut
Holzhey (Hg.): Hermann Cohen. Frankfurt a. M. u. a.: Lang 1994, S. 247–268, hier:
S. 267.
6 (De-)Figurationen des Messianischen in Brochs ›Die Schlafwandler‹ 191

Gesetz« darstelle. Darin sei das Judentum dem Protestantismus ähnlich, bei
welchem die »Schrift« die Funktion des »Gesetzes« vertrete (vgl. SW 580).
Auch wenn Cohens Name nicht fällt, steht er doch Pate für die Vorstellung
einer Kongruenz zwischen Judentum und, wo nicht dem Protestantismus, so
aber doch der kantischen Philosophie, die in Brochs Roman als Konzentrat des
Protestantismus erscheint.57 Im Gegensatz zu Cohen postuliert jedoch der
Schreiber der Exkurse, dass der »protestantische Gedanke: der kategorische
Imperativ der Pflicht« zum Zerfall der Werte seit der Reformation geführt
habe. Der Autonomie der einzelnen Wertgebiete gemäß werde der religiöse
»Wert« »aus dem religiösen Wertgebiet selbst gewonnen« (SW 579). In die-
sem Rückzug der Religion aus dem Sichtbaren büße sie die Funktion ein, die
sie im Mittelalter gehabt habe: Zentralwert für alle Gebiete des Lebens zu sein.
Ein umfassendes Wertesystem, dem ein »finales Weltganzes« (SW 497)
entspricht, erscheint in den Exkursen der Schlafwandler immer wieder als
Ideal, das auf das katholische Mittelalter projiziert wird. Demgegenüber figu-
riert der Jude »kraft der abstrakten Strenge seiner Unendlichkeit« als der
»›fortgeschrittenste‹ Mensch kat’exochen« (SW 581). Erst im Epilog der
»Schlafwandler« wird es denkbar, dass »der einer ›abstrakten Unendlichkeit‹
[…] ausgelieferte Mensch aus der ihm gegebenen Autonomie heraus zu einer
neuen Ethik […] findet.«58 Die neue Ethik wird sich der »abstrakten Unend-
lichkeit« stellen müssen, wie etwa Cohens Ethik der »Annäherung«, die als
»ewige Aufgabe«59 gedacht ist und im Epilog der Schlafwandler in der »Mes-
siashoffnung der Annäherung« anklingt. Mit Cohen verstanden löst die »Mes-
siashoffnung der Annäherung« die Vorstellung geschlossener Totalität auf, um
der unendlichen Totalität der werdenden Menschheit Raum zu geben. Es mag
fraglich sein, wie weit diese Ethik trägt – der Sehnsucht nach dem Führer, der
die Einheit zwischen dem Einzelleben und dem »Gesamtgeschehen« (SW 419)
der Zeit verkörpern soll, erteilt sie auf jeden Fall eine Absage.
Für Cohen stellt die Religion ein »Grenzgebiet« zwischen Kunst und Wis-
senschaft dar.60 Brochs literarisches Schreiben in den Schlafwandlern bewegt
sich wiederum zwischen Wissenschaft und Religion. Außer den »wissenschaft-
lichen« geschichtsphilosophischen Exkursen ist nämlich die »Geschichte des
Heilsarmeemädchens in Berlin« in den Huguenau-Roman eingeschaltet. Deren
Protagonisten sind der orthodoxe Jude Nuchem Sussin, das fromme Heilsar-
meemädchen Marie und der Philosoph »Dr. phil.« (SW 450) Bertrand Müller,
aus dessen Perspektive die Heilsarmee-Episoden geschrieben sind. Er wird
auch als Schreiber der geschichtsphilosophischen Exkurse zu erkennen gege-
ben. Was die 16 Heilsarmee-Episoden auszeichnet, ist nicht ihre dürftige
57 Der Spur Cohens im 8. Exkurs ist bereits Brude-Firnau nachgegangen (vgl. Brude-
Firnau, Der Einfluß jüdischen Denkens [wie Anm. 5], besonders S. 115–118).
58 Vollhardt, Hermann Brochs geschichtliche Stellung (wie Anm. 28), S. 223.
59 Cohen, Religion der Vernunft (wie Anm. 43), S. 129.
60 Vgl. Hermann Cohen: Der Stil der Propheten. In: Ders.: Jüdische Schriften. Hg. von
Bruno Strauß. Bd 1. Berlin: Schwetschke 1924, S. 262–283, hier: S. 264.
192 Teil I

Handlung, sondern dass sich in ihnen ein Dialog zwischen den Exponenten der
unterschiedlichen Wertgebiete (Religion und Wissenschaft) und Religionen
(christliche Freikirche und Judentum) ereignet. Hiermit geht ein originär poly-
phones statt eines polyperspektivischen Erzählens einher. In den Episoden der
Geschichte um Nuchem Sussin, Marie und Bertrand Müller nimmt die »Messi-
ashoffnung der Annäherung« den echt dialogischen Sinn an, den Rosenzweig
in Cohens Konzept der Korrelation immer schon wahrgenommen hat.
Der Ich-Erzähler Bertrand Müller lebt in einer Berliner Wohnung mit einer
Gruppe orthodoxer polnischer Juden,61 unter denen sich Nuchem Sussin befin-
det, der zu dem Heilsarmeemädchen Marie eine tiefe Zuneigung fasst, was von
ihrer beider Umwelt als Vorbote einer verbotenen Liebesgeschichte gedeutet
wird. Das Entscheidende der Episoden liegt nun darin, dass der Ich-Erzähler zu
einer anderen Beurteilung des Fremden bzw. der Fremdheit kommt, als es
sonst, in den Exkursen wie in den Erzählerkommentaren der Schlafwandler,
der Fall ist, in denen eine (paradoxe) Überwindung der Fremdheit durch deren
zum Umschlag führende Steigerung angestrebt wird.62 Demgegenüber formu-
liert der Ich-Erzähler in der dreizehnten Episode: »Oft scheint es mir, als wäre
der Zustand, der mich beherrscht, nicht mehr Resignation zu nennen, als sei er
vielmehr eine Weisheit, die sich mit der allumschließenden Fremdheit abzu-
finden gelernt hat« (SW 616). Die Wahrnehmung des unaufhebbaren Fremden
wird zum zentralen Motiv der Episoden.63
Eine Faszination durch das Fremde bzw. die fremde Perspektive durchzieht
die Episoden. Schon gleich die erste Episode beginnt mit den Worten:
Zu den vielen Unduldsamkeiten und Beschränktheiten, deren die Vorkriegszeit eine
Fülle besaß und deren wir uns heute mit Recht schämen, gehört wohl auch das gänz-
liche Unverständnis gegenüber allen Phänomenen, die auch nur ein wenig außerhalb
einer sich völlig rational dünkenden Welt lagen. Und weil man damals gewöhnt war,
bloß die abendländische Kultur und ihr Denken als verpflichtend anzusehen, alles
übrige aber als minderwertig abzutun, so war man leichthin geneigt, alle Phänome-
ne, die der rationalen Eindeutigkeit nicht entsprachen, der Kategorie des Unter-
Europäischen und Minderwertigen zuzurechnen. […] Man wollte Eindeutiges und
Heroisches, mit andern Worten Ästhetisches sehen, man glaubte, daß dies die Hal-
tung des europäischen Menschen sein müsse (SW 416).

Diese Bemerkung gilt der Heilsarmee, deren »primitive Heilslehre« (SW 416)
den Erzähler keineswegs überzeugt, geschweige denn bekehrt. Die Relevanz

61 Der Ich-Erzähler stellt seine jüdischen Mitbewohner nicht ohne Ressentiment dar.
Brude-Firnau sieht darin einen Ausdruck der Abwehr osteuropäischer Juden und Jü-
dinnen, die zeittypisch war (vgl. Brude-Firnau, Der Einfluß jüdischen Denkens [wie
Anm. 5], S. 111).
62 Grabowsky-Hotaminidis hat ja, wie bereits erwähnt, eben hierin ein wichtiges gnos-
tisches Motiv in den Schlafwandlern erkannt.
63 Dieses wird in traditioneller Lesart als Resignation gedeutet (vgl. Karl Robert Man-
delkow: Hermann Brochs Romantrilogie »Die Schlafwandler«. 2. Aufl., Heidelberg:
Winter 1975 [Probleme der Dichtung; 6], S. 155).
6 (De-)Figurationen des Messianischen in Brochs ›Die Schlafwandler‹ 193

der Episoden für den Roman liegt auch weniger in religiösen Gehalten als
darin, dass sich der Ich-Erzähler mit dem Phänomen einer grundsätzlich ande-
ren Perspektive, ja, genereller: mit dem Phänomen des ›perspektivischen Da-
seins‹ konfrontiert sieht, das eine homogene Kultur, die »Eindeutiges«, und
das heißt für den Erzähler wie für Broch: »Ästhetisches« will, nicht zulassen
kann. Genau diese fremde Perspektive ist es, die der Ich-Erzähler im Hinblick
auf seine jüdischen Mitbewohner als Faszinosum geltend macht, das ihn »ge-
fangen« hält:
Ich war von dem Getriebe der Juden so gefangen, daß ich viele Stunden des Tages
der stillen Beobachtung widmete. Im Vorderzimmer hingen zwei Öldrucke, Roko-
koszenen darstellend, und ich mußte darüber nachdenken, ob sie wohl diese Bilder
und vieles andere zu erkennen und mit den gleichen Augen wie unsereins zu be-
trachten vermöchten. Und mit diesen Beobachtungen beschäftigt, hatte ich das
Heilsarmeemädchen Marie, obgleich ich sie mit alldem irgendwie in Verbindung
brachte, völlig vergessen (SW 434).

Die Wahrnehmung des unaufhebbaren Fremden hat eine unmittelbar poetolo-


gische Relevanz, insofern sie das Scheitern des Bestrebens des Ich-Erzählers
markiert, Marie und Nuchem als seine »Geschöpfe« zu dirigieren, mit ihnen zu
spielen, sie zu verkuppeln – was nicht klappt – oder voneinander zu trennen –
was auch nicht klappt. Auf die poetologische Implikation hat bereits Brude-
Firnau hingewiesen, denn insofern der Ich-Erzähler Marie und Nuchem als
seine »Geschöpfe« (SW 616) oder auch als seine »Kinder« (SW 550) bezeich-
net, schreibt er sich die Rolle des »Schöpfers« zu, »wofür das lateinische Wort
auctor und damit eben Autor eingesetzt werden kann.«64 Gegenüber der All-
macht, die sich der Ich-Erzähler als Autorfigur anmaßt, »die Welt formen zu
dürfen« (SW 616), mit seinen »Geschöpfen« sein »Spiel[]« (SW 575) zu trei-
ben, ist, wie Brude-Firnau konstatiert, eine »fortschreitende Emanzipation der
Figur zu erkennen«.65 Diese Eigenständigkeit der Figur gegenüber dem Erzäh-
ler ist nun ein zentrales Kennzeichen des polyphonen Romans,66 wie ihn für
Bachtin paradigmatisch Dostojewski ausgebildet hat:
Die Eigenart Dostojewskis besteht nicht darin, den Wert der Persönlichkeit monolo-
gisch verkündet zu haben (das haben vor ihm auch andere getan), sondern darin, daß
er sie künstlerisch-objektiv zu sehen und als andere fremde Persönlichkeit zu zeigen
vermochte, ohne sie lyrisch zu machen, ohne seine Stimme mit der ihren zu vermi-
64 Brude-Firnau, Die 9. Episode (wie Anm. 5), S. 184.
65 Ebd., S. 184.
66 Brude-Firnau hebt in ihrer Lektüre nicht auf die Polyphonie als literarisches Gestal-
tungsprinzip mit ethischen Implikationen ab, sondern erkennt in der Spannung zwi-
schen Bertrand Müller einerseits, Nuchem und Marie andererseits den Widerspruch
zwischen »ästhetischer Kunst« und »religiöser Kunst«, der sich in den Heilsarmee-
Episoden zugunsten der letzteren löse (vgl. ebd., S. 186). In der 9. Episode sieht sie
den Beginn einer »unio spirituale« (ebd., S. 194) zwischen Marie, Nuchem und Bert-
rand Müller, eine »Vereinigung« zwischen Judentum und Christentum, die den Sieg
der Religion über das von Bertrand Müller verkörperte »reine Denken« bedeute.
194 Teil I

schen und ohne sie gleichzeitig zu einer vergegenständlichten, psychischen Wirk-


lichkeit zu degradieren. Nicht die hohe Einschätzung der Persönlichkeit wurde erst-
malig in der Weltanschauung Dostojewskis sichtbar, sondern die künstlerische Dar-
stellung einer fremden Persönlichkeit […] und vieler selbständiger Persönlichkeiten,
die durch die Einheit eines geistigen Ereignisses miteinander verbunden sind, ist
zum erstenmal in seinen Romanen in vollem Maße verwirklicht worden. […] Diese
Selbständigkeit wird durch bestimmte künstlerische Mittel realisiert, vor allem durch
ihre aus der Struktur des Romans ersichtliche Freiheit und Selbständigkeit gegen-
über dem Autor.67

Durch die Technik des multiperspektivischen Erzählens realisiert der dritte


Roman der Schlafwandler grundsätzlich eine relative Selbständigkeit der Figu-
ren gegenüber dem Erzähler (den Bachtin mit dem Autor gleichsetzt). Bachtins
Konzeption der Polyphonie meint jedoch noch mehr. Denn Bachtin hebt auf
eine Dialogisierung der Erzählerstimme ab. Im polyphonen Roman tritt an die
Stelle einer Einheit des Bewusstseinszentrums der Dialog mit den Figuren.68
Diese Dialogisierung der Erzählerstimme findet so nur in den Episoden der
»Geschichte des Heilsarmeemädchens in Berlin« statt, die von einem fiktiven
Ich-Erzähler geschrieben sind. Demgegenüber erhebt sich in den restlichen
Teilen des dritten Romans die Erzählerrede oftmals über die Rede und die
Gedanken der Figuren und kommentiert sie von übergeordneter Warte, ohne
dabei in Frage gestellt zu werden. Gleichwohl weicht die Erzählersicht oft
genug der Figurensicht. Im Zuge dessen wird auch den unterschiedlichen
Stimmen Raum gewährt. Auf diese Weise erreicht auch Brochs polyperspekti-
vischer Roman eine Vielstimmigkeit und wird nicht mehr vollkommen von
einem auktorialen Bewusstsein durchdrungen.
Der Anspruch auf eine souveräne Erzählerposition wird darüber hinaus da-
durch eingeklammert, dass die Figur Bertrand Müller nicht nur als Verfasser
der theoretischen Exkurse und als Ich-Erzähler der »Geschichte des Heilsar-
meemädchens in Berlin« in Betracht kommt, sondern auch als Kandidat für die
Rolle des fiktiven Erzählers der übrigen Kapitel, insofern der Epilog der
Schlafwandler zugleich den letzten der geschichtsphilosophischen Exkurse
darstellt. Die fiktionsinterne, pragmatische Dimension des Erzählaktes, die die
zeitliche und räumliche Distanz des fiktiven Erzählers gegenüber der Ge-
schichte und den AdressatInnen betrifft,69 verändert sich jedoch grundlegend,
wenn aus einer übergeordneten Erzählinstanz, die jenseits der Erzählung steht,
eine Figur innerhalb der Erzählung wird.
Es bleibt aber dabei, dass eine originäre Polyphonie nur in der »Geschichte
des Heilsarmeemädchens in Berlin« verwirklicht wird. Deren Episoden zeich-

67 Michail Bachtin: Probleme der Poetik Dostojewskis. Übers. von Adelheid Schramm.
Frankfurt a. M., Berlin, Wien: Ullstein 1985 (Ullstein; 35228), S. 17.
68 Vgl. hierzu auch den Kommentar von Paul Ricœur: Zeit und Erzählung. Übers. von
Rainer Rochlitz. Bd 2. München: Fink 1989 (Übergänge; 18,2), S. 165.
69 Vgl. Gérard Genette: Die Erzählung. Übers. von Andreas Knop. München: Fink
1994 (UTB für Wissenschaft : Literatur und Sprachwissenschaft; 8083), S. 16.
6 (De-)Figurationen des Messianischen in Brochs ›Die Schlafwandler‹ 195

nen sich durch einen engen Bezug von Ethik und Poetik aus, wie man ihn auch
bei Michail Bachtin finden kann. Bachtin ist von seinen philosophischen An-
fängen, in denen es ihm darum ging, Sein« als »Ereignis« der Ko-Existenz
aufzufassen,70 mehr und mehr in das Gebiet der literarischen Untersuchungen
vorgedrungen, wo er am Beispiel Dostojewskis das Konzept des polyphonen
Romans erarbeitet hat. Es liegt durchaus in der Logik der Dialogphilosophie,
den Fokus wie Bachtin auf die Literatur zu legen. Ist doch die »epische Fiktion
[…] der einzig erkenntnistheoretische Ort, wo die Ich-Originität (oder Subjek-
tivität) einer dritten Person als einer dritten dargestellt werden kann«.71 Da-
durch bewegt sich das »Er« in Richtung »Du«, so dass die Literatur gewisser-
maßen der Forderung Rosenzweigs entgegenkommt: »[E]r soll dir nicht ein Er
bleiben und also für dein Du bloß ein Es, sondern er ist wie Du, wie dein Du,
ein Du wie Du, ein Ich« (SdE 267).
Der dialogische Sinn der »Messiashoffnung der Annäherung« findet sein
poetisches Komplement in der Polyphonie der »Geschichte des Heilsarmee-
mädchens in Berlin«. Die »Messiashoffnung der Annäherung«, wie ich sie in
den vorangegangenen Seiten zu verstehen versucht habe, verweist auf eine
ethische Interpretation der Religion. Diese ethische Interpretation der Religion
kann deren philosophisch begriffliche Explikation bedeuten wie bei Cohen, auf
dessen Religionsphilosophie sich die »Messiashoffnung der Annäherung«

70 Das russische Wort für »Ereignis«, »sobytie«, enthält im Präfix »so« die Kompo-
nente »mit«, im Stamm »bytie« die Bedeutung »Sein«. Sein als »Ereignis« bedeutet
also wörtlich Mitsein (vgl. Michael Holquist: Dialogism. Bakhtin and his World. 2nd
Ed. London, New York: Routledge 2002 [New accents], S. 25). Eskin spricht in An-
lehnung an und bei gleichzeitiger Differenzierung gegenüber Heidegger von »co-
existence« (vgl. Michael Eskin: Ethics and Dialogue in the Works of Levinas, Bakh-
tin, Mandel Mandel’shtam, and Celan. Oxford: Oxford Univ. Press 2000, S. 72). Die
Architektur der Ko-Existenz ist triadisch: »Ich-für-mich-selbst«, der »Andere-für-
mich«, »Ich-für-den-Anderen«. Aus der Wahrnehmungssituation leitet Bachtin die
Unabgeschlossenheit des Ich her. Ich nehme den Anderen als abgeschlossene Figur
vor einem Horizont wahr, mich selbst hingegen als unabgeschlossen. Um überhaupt
für mich wahrnehmbar zu sein, brauche ich den Anderen, der mir eine wahrnehmba-
re Form gibt. Umgekehrt braucht der Andere mich, um ein Bewusstsein seiner selbst
zu haben. Die Ko-Existenz setzt meine Ansprechbarkeit für den Anderen voraus:
»Bakhtin insists that my co-existentially active relation to the other is ›more than ra-
tional‹: it is answerable. I am always already answerable to and before the other
from within my singular time and place, in which […] I have no ›alibi‹« (ebd., S.
79). Kein »Alibi« in der Ko-Existenz zu haben, meint, wie bei Rosenzweig, dass
kein anderer an meiner Stelle antworten kann – »Alibi« heißt ja nichts anderes als
»anderer Ort«. Den ethischen Akzent setzt Bachtin wie Rosenzweig dahingehend,
den Anderen nicht als Objekt, sondern als anderes Ich wahrzunehmen. So erhält das
dritte Glied der Ich/Anderer-Reihe, »Ich-für-den-Anderen«, die Valenz einer ethi-
schen Substitution wie bei Rosenzweig (»er ist wie Du, ein Du wie Du, ein Ich«
[SdE 267]), die dem Anderen die Unabgeschlossenheit des »Ich« gibt.
71 Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung. Frankfurt a. M., Berlin u. a.: Ullstein
1980 (Ullstein-Buch; 39007), S. 79.
196 Teil I

primär zurückbeziehen lässt. Sie kann aber auch zu einem neuen literarischen
Ausdruck führen – sei es ihm Rahmen einer ›literarisierten‹ Philosophie wie
bei den Dialogdenkern Rosenzweig und Buber, sei es im Rahmen der fiktiona-
len Literatur selbst, in der sie sich in einer eigenen Schreibweise manifestiert
wie in den polyphonen Passagen der Schlafwandler.
Teil II

Figuren des Messianischen


im theologisch-politischen Denken
1 »Politische Theologie«

Welche Funktion erfüllt der Rückgriff auf theologische Konzepte im politi-


schen Diskurs? In einem sehr allgemeinen Sinne wird man sagen können, dass
dieser Rückgriff analytischen, kritischen oder legitimatorischen Zwecken die-
nen kann. Hier ist von keinem einfachen Entweder-oder auszugehen. Jan Ass-
mann hat zu Recht darauf hingewiesen, dass politisch-theologische Begriffe
sowohl analytisch-deskriptiv als auch polemisch verwendet werden können,
wenn sie im polemos der politischen Arena eingesetzt werden.1 Eine Ambiva-
lenz zwischen Analyse und Polemik kennzeichnet die meisten der hier behan-
delten Texte, ebenso wie eine Ambivalenz von Kritik und Affirmation von
Gewalt.
In loser Anlehnung an Jacob Taubes schlägt Jan Assmann vor, zwischen ei-
ner »Theologie der Herrschaft« und einer »Theologie der Gemeinschaft« zu
unterscheiden. Unter »politischer Theologie« will Assmann grundsätzlich
sowohl »Diskurse über Herrschaft und/oder Gemeinschaft verstehen, die nicht
ohne (explizite oder implizite) Bezugnahme auf Gott oder die Götter auskom-
men, als auch Diskurse über Gott und die Götter, die die Sphäre der vertikalen
bzw. horizontalen Strukturen der Menschenwelt einbeziehen.«2 Assmann ver-
sucht dies näher zu erläutern, indem er darlegt, dass eine politische Ordnung
nicht nur auf den vertikalen Strukturen von Befehl und Gehorsam beruhe,
»sondern auch auf den ›horizontalen‹ Zusammengehörigkeitsstrukturen, die
eine Gruppe von Individuen zur Gemeinschaft verbinden.«3 Die horizontale
Achse beschreibt Assmann auch als Dimension der »sozialen Bindungskräfte«,
der »Ethik« des gesellschaftlichen Zusammenlebens, welches an einem be-
stimmten »Ideal der gesellschaftlichen Harmonie« orientiert sei.4 Bereits in
ihrem Kommentar zu Jacob Taubes’ im kleinen Kreis gehaltenen Vorträgen
über »Die Politische Theologie des Paulus« haben Aleida und Jan Assmann
sowie Wolf-Daniel Hartwich auf diese beiden Spielarten politischer Theologie
1 Vgl. Jan Assmann: Herrschaft und Heil. Politische Theologie in Altägypten, Israel
und Europa. Frankfurt a. M.: Fischer-Taschenbuch-Verlag 2002 (Forum Wissen-
schaft: Bibliothek; 15339), S. 16. Vgl. auch Heinrich Meier: Was ist politische Theo-
logie? München: Carl-Friedrich-von-Siemens-Stiftung 2006, S. 13: »[D]er Begriff
der Politischen Theologie [wird] in vielfältiger Weise als Waffe gebraucht«.
2 Assmann, Herrschaft und Heil (wie Anm. 1), S. 15–16.
3 Ebd., S. 129.
4 Ebd., S. 130.
200 Teil II

verwiesen, und sie den Positionen Carl Schmitts und Jacob Taubes’ zugeord-
net. Für den Begriff der politischen Theologie gelte das Gleiche wie für den
Begriff des Politischen: Er könne sich einerseits auf die Gesellschaft, die Ge-
meinschaft und die Öffentlichkeit beziehen, andererseits auf die Herrschaft,
auf Struktur und Organisation von Befehlsgewalt im sozialen Raum.5 Anders
als Carl Schmitt, der politische Theologie »ganz im kratologischen Sinne als
Zusammenhang von Autorität, Offenbarung und Gehorsam«6 interpretiere,
stehe bei Taubes die Theologie der Gemeinschaft im Vordergrund:
Politische Theologie ist für ihn [Taubes; Anm. E. D.] in allererster Linie die Lehre
von der Bildung eines (wie er das nennt) Ver-Bundes im Sinne eines Gottesvolkes,
es geht um die religiöse Fundierung von Gemeinschaft. Damit steht er fest auf dem
Boden der jüdischen Tradition. Dort war ja die kratologische Dimension seit dem
Verlust der Staatlichkeit […] ausgelagert, zum einen in die politischen Mächte, von
denen Israel in der Geschichte abhängig war, und zum anderen in die Idee des Mes-
sias. Es gibt eine alte Tradition […], derzufolge der Messias oder das Messianische
nichts anderes als die staatliche Unabhängigkeit ist […]. Das besondere dieser hori-
zontalen Politischen Theologie besteht also darin, dass sie die kratologische Dimen-
sion in den Hintergrund verlagert […], im Aufschub des Messianischen einerseits
wie in der Vergleichgültigung der jeweils herrschenden politischen Machtkonstella-
tion andererseits. In den Vordergrund rückt dafür das andere der Mächte dieser Welt
und der letztendlich durch den Erlöser umgewendeten kommenden: das Gottesvolk
als rein horizontale, gewissermaßen ›herrschaftsfreie‹ Gemeinschaft in der Dimensi-
on der Geschichte.7

Das Ideal einer »herrschaftsfreien Gemeinschaft« jenseits des Staates, die die
Autoren im Hinblick auf Taubes geltend machen, stellt nur ein Beispiel dar,
was mit einer politischen Theologie der Gemeinschaft gemeint sein kann. Die
Art, wie Assmanns und Hartwich das Politische zwei Dimensionen zuordnen,
der vertikalen Achse, dem »Kratologischen«, und der horizontalen Achse, dem
»Sozialen«, um dementsprechend zwischen zwei Möglichkeiten politischer
Theologie zu unterscheiden, tendiert zu einer Trennung von Staat und Gemein-
schaft. Damit schreiben die Autoren eine romantische Tradition fort, in der die
terminologische Differenzierung zwischen Staat und Gemeinschaft überhaupt
erst aufgekommen ist.8 Mit dieser terminologischen Trennung von Staat und
Gemeinschaft können unterschiedliche politische Positionen verbunden sein,
keineswegs nur antistaatliche wie im wie im Falle des religiösen Anarchisten
Taubes. Analytisch sollte man nicht generell von einer Trennung, gar Entge-
5 Vgl. Wolf-Daniel Hartwich, Aleida Assmann und Jan Assmann: Nachwort. In:
Jacob Taubes: Die politische Theologie des Paulus. Hg. von Aleida Assmann und
Jan Assmann. 3. Aufl., München: Fink 2003, S. 143–181, hier: S. 178.
6 Ebd., S. 180.
7 Ebd., S. 179. Es sei dahingestellt, ob diese Analyse Taubes’ Ansatz wirklich trifft.
8 Vgl. Manfred Riedel: Gesellschaft, Gemeinschaft. In: Otto Brunner, Werner Conze
und Rainhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon
zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd 2. Stuttgart: Klett 1975, S. 801–
862, besonders S. 827–836.
1 »Politische Theologie« 201

gensetzung von Staat und Gemeinschaft ausgehen. Wo sie begegnet, ist sie als
politische Strategie zu verstehen, wie bei Taubes, aber auch wie bei den in
dieser Arbeit näher behandelten Autoren. Ein romantischer Antikapitalismus
und eine romantische, antistaatliche Gemeinschaftsidee können als deren ge-
meinsamer Hintergrund angenommen werden.9
Zu betonen ist aber, dass die Gemeinschaftsidee ambivalent ist. In seiner
einflussreichen Abhandlung Gemeinschaft und Gesellschaft (1887) verbindet
der Soziologe Ferdinand Tönnies mit der Gemeinschaftsidee weniger eine
Staats- als eine Kapitalismuskritik. Dementsprechend lautet der primäre Ge-
gensatz hier auch nicht Staat und Gemeinschaft, sondern Gemeinschaft und
(Handels- bzw. Kapital-) Gesellschaft.10 Die Gemeinschaftsidee begegnet aber
nicht nur in Gegendiskursen, in Gegenentwürfen zur bürgerlichen, kapitalisti-
schen Gesellschaft oder/und zum Staat. Vielmehr insistiert die Gemeinschafts-
idee in der modernen politischen Theorie überhaupt. Anders gesagt: Der Ge-
meinschaftsdiskurs ist nicht zwangsläufig kapitalismus- oder staatskritisch,
weder in der Romantik noch am Anfang des 20. Jahrhunderts. Vielmehr um-
schreibt die »Gemeinschaftsidee […] die äußerste Grenze und Grenzerfahrung
moderner Politik; ihre Reflexion ist zum Angelpunkt jeder immanenten Legi-
timation politischer Herrschaft geworden.«11 Man kann sich auf die Gemein-
schaft ebenso als Speicher aller Legitimationsfragen politischer Herrschaft
beziehen wie sich auf sie zu Zwecken der Suspension geltender Macht beru-
fen. Die Gemeinschaft kann als Figur einer permanenten Revolution und ideal-
typischen Form einer direkten Demokratie evoziert werden, aber auch als
Modell einer plebiszitären Ermächtigung dienen.12 Der Rekurs auf die Ge-
meinschaft stellt mithin keinen Archaismus in der Moderne dar, sondern rührt
an ein fundamentales Problem in der Konstitution moderner Gesellschaften.
Insofern diese sich nicht mehr auf eine transzendente Quelle der Legitimität
berufen, sondern Politik im Namen des Volkes machen, zieht die Möglichkeit
einer neuen Metaphysik, der Metaphysik des Volkes, auf. Der Totalitarismus
bezieht sich wie die Demokratie auf das Volk als Quelle der Legitimität und
9 Vgl. Michael Löwy: Erlösung und Utopie. Jüdischer Messianismus und libertäres
Denken. Eine Wahlverwandtschaft. Übers. von Dieter Kurz und Heidrun Töpfer.
Berlin: Kramer 1997, S. 35f.
10 Tönnies definiert die Gemeinschaft als einen Kreis von Menschen, die trotz aller
Trennungen wesentlich miteinander verbunden sind, wohingegen die Gesellschaft
einen Kreis von Menschen umfasse, die trotz aller Verbundenheit voneinander ge-
trennt bleiben (vgl. Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbeg-
riffe der reinen Soziologie. 4. Aufl., Darmstadt: Wiss. Buchges. 2005, S. 34). Wo
eigentlich kaufmännische Individuen, Geschäfte oder Firmen und Kompanien sich
gegenüberstünden, verkörpere sich die Natur der »Gesellschaft« wie in einem Ex-
trakte (ebd., S. 44).
11 Joseph Vogl: Einleitung. In: Ders. (Hg.): Gemeinschaften. Positionen zu einer Philo-
sophie des Politischen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1994 (Edition Suhrkamp; 1881 =
N.F.; 881), S. 7–27, hier: S. 10.
12 Vgl. ebd.
202 Teil II

bleibt eine latente Gefahr für die Demokratie – eine Beunruhigung, die das
Denken Claude Leforts, des Theoretikers der Demokratie, antreibt und ihn
nach der »Fortdauer des Theologisch-Politischen« fragen lässt (s. u.).
Bei aller Fragwürdigkeit einer zu einfachen Entgegensetzung von Herr-
schaft und Gemeinschaft ist der Hinweis doch wichtig, dass sich die Spielarten
politischer Theologie nicht auf den Bereich einer Herrschaftstheologie be-
schränken, die die Position der höchsten Macht im Staat, den Souverän, als
Analogon oder Säkularisat göttlicher Allmacht interpretiert, wie bei Carl
Schmitt der Fall. Denn bei allen hier behandelten Autoren dreht sich die poli-
tisch-theologische Formation um Fragen des politischen oder/und religiösen
Kollektivs. Der jüdische Messianismus ist wohl in seinem biblischen Anfang
eine Königstheologie gewesen. Politische Theorien im ersten Drittel des 20.
Jahrhunderts, die sich irgend auf die jüdische messianische Tradition beziehen,
haben jedoch kaum eine wie auch immer geartete Analogisierung des Messias
mit der höchsten Machtposition im politischen Gemeinwesen verfolgt. Sicher-
lich sind politische Führerfiguren, allen voran Herzl, immer einmal wieder als
(falscher) Messias bezeichnet worden. Daraus ist aber keine politische Theorie
im starken Sinn entwickelt worden.
In der politischen Theorie zumal der deutsch-jüdischen Autoren sind es
vielmehr Kollektive, die im Rückgriff auf die jüdische Tradition messianisch
figuriert worden sind, sei es im anarchistischen oder sozialistischen Kontext das
revolutionäre Kollektiv, sei es im religiösen oder/und zionistischen Zusammen-
hang das Judentum als religiöses Gottesvolk oder/und als politische Nation.
Christliche politische Theologien sind nun zwar keineswegs darauf beschränkt,
die höchste politische Machtposition zu fokussieren, sondern können natürlich
auch Kollektive in den Blick nehmen (s. u.). Messianische Herrschertheologien,
in denen es um die Position höchster Macht im Staat geht, begegnen gleichwohl
im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts eher in politischen Theorien, die sich auf
die christliche, statt auf die jüdische messianische Tradition zurückbeziehen.
Hierfür sind vielfältige politische, soziologische und historische Gründe anzu-
nehmen. Ein dogmatischer Unterschied zwischen der jüdischen und der christli-
chen Messiaslehre dürfte hierbei freilich auch eine Rolle spielen:
Das Judentum in seinen Hauptströmungen hat den Messias immer als Men-
schen gedacht. Dem steht die christliche Lehre von Jesu zwei Naturen, seiner
menschlichen und seiner göttlichen Natur, gegenüber, die sich politisch beson-
ders gut vereinnahmen ließ. Im Mittelalter hat die Zwei-Naturen-Lehre die
politische Theorie von den zwei Körpern des Königs begründet, deren Aus-
wirkungen bis in die Souveränitätstheorie des 20. Jahrhunderts reichen.13 Im
Unterschied hierzu wird in den politischen Entwürfen im ersten Drittel des 20.
Jahrhunderts, die explizit auf die Tradition des jüdischen Messianismus rekur-

13 Vgl. Ernst H. Kantorowicz: Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen
Theologie des Mittelalters. 2. Aufl., München: Dt. Taschenbuch-Verlag 1994 (Dtv
Wissenschaft; 4465).
1 »Politische Theologie« 203

rieren, der Messias, d. h. Reflexionen über seine Person, sein politisches


und/oder religiöses Amt, zurückgedrängt. Stattdessen treten die nationalen
und/oder universalen gesellschaftspolitischen Versprechungen in den Vorder-
grund, die traditionell mit dem Erscheinen des Messias verbunden werden.
Wer über politische Theologie im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts han-
delt, kommt nicht daran vorbei, ein Wort über Carl Schmitt zu verlieren, zumal
sich die Diskussion über die Problematik politischer Theologie bis heute im
Schatten von Schmitts 1922 erschienener Abhandlung Politische Theologie.
Vier Kapitel zur Lehre der Souveränität bewegt, die die Legitimität der höchs-
ten Macht im Staat in der souveränen Entscheidung begründet.14 »Autorität,
Offenbarung und Gehorsam sind […] unabhängig von der Aktualisierung, die
Schmitt ihr im einzelnen zuteil werden läßt, die entscheidenden Bestimmungen
der Sache der Politischen Theologie«,15 so Heinrich Meier in dem Versuch,
die Frage »Was ist politische Theologie?« zu beantworten. Mit dieser Definiti-
on generalisiert Meier einfach den Ansatz von Carl Schmitt und erklärt ihn für
die Sache der politischen Theologie schlechthin. Carl Schmitt ist nun aber
keineswegs der Begriffsschöpfer der politischen Theologie – diese kann man
auf die antike Lehre über die drei Arten von Theologie zurückverfolgen, die
»theologia tripartita«, der der römische Gelehrte Varro im 1. Jh. v. Chr. eine
klassische Prägung gegeben hat. Die »theologia tripartita« umschließt die drei
Teile »theologia politike«, »theologia mythike« und »theologia physike«, die
Varro lateinisch als »theologia civilis«, »theologia fabularis« und »theologia
naturalis« wiedergibt. Die »theologia mythike« (»theologia fabularis«) bezieht
sich auf die poetischen Geschichten und Bilder über die Götter, wohingegen
die »theologia physike« (»theologia naturalis«) auf die philosophische Wahr-
heit über die Götter referiert, die mit der Wahrheit über den Kosmos identisch
ist. Schließlich bezeichnet die »theologia politike« (»theologia civilis«) die
offiziellen Kulte, die durch Priester praktiziert und durch Politiker gewährt
werden und einen Teil des Staatskultes bilden. Die Tradition der »theologia
tripartita« lässt sich bis zu Spinoza und darüber hinaus bis zur Aufklärung im
18. Jahrhundert verfolgen.16
14 Jürgen Brofkoff und Jürgen Fohrmann konstatieren ebenfalls, dass die Diskussionen
um die politische Theologie bis dato im Schatten Carl Schmitts stehen. Mit diesem
Sachverhalt lasse sich auf zwei verschiedene Weisen umgehen. Man könne sich be-
wusst außerhalb des Schattens von Carl Schmitt stellen oder eine analytisch-
kritische Perspektive auf den von Schmitt geprägten Diskurs entwickeln. Der von
Brokoff und Fohrmann herausgegebene Sammelband verfolgt vorrangig letztere
Strategie, wohingegen es in unserem Zusammenhang primär um andere Möglichkei-
ten geht, politische Theologie zu denken (vgl. Jürgen Brokoff und Jürgen Fohrmann:
Einleitung. In: Dies. [Hg.]: Politische Theologie. Formen und Funktionen im 20.
Jahrhundert. Paderborn: Schöningh 2003, S. 7–11, besonders S. 7f.).
15 Meier, Was ist politische Theologie? (wie Anm. 1), S. 7f.
16 Vgl. Martin Terpstra: Fortdauer der theologia politikè? Varro, Spinoza, Lefort: Drei
Etappen in der Geschichte der Politischen Theologie. In: Manfred Walther (Hg.):
Religion und Politik. Zur Theorie und Praxis des theologisch-politischen Komple-
204 Teil II

Mit seiner Schrift Politische Theologie hat Carl Schmitt eine Konzeption
politischer Theologie vorgelegt, die sich nicht von der antiken Konzeption der
»theologia tripartita« her versteht, sondern von einer Offenbarungstheologie,
die sich Gott als Gesetzgeber vorstellt. Schmitt votiert nicht etwa für ein sakra-
les Königtum, das die Majestät als heilig und als Stellvertretung Gottes auf
Erden interpretiert, wie man es aus dem Mittelalter kennt.17 Vielmehr argu-
mentiert er sowohl entwicklungsgeschichtlich als auch per analogiam. So
erklärt Schmitt zu Beginn der dritten der vier Abhandlungen, die seine Politi-
sche Theologie umfasst:
Alle Begriffe der modernen Staatslehre sind säkularisierte theologische Begriffe.
Nicht nur ihrer historischen Entstehung nach, weil sie aus der Theologie auf die
Staatslehre übertragen wurden, indem zum Beispiel der allmächtige Gott zum omni-
potenten Gesetzgeber wurde, sondern auch in ihrer systematischen Struktur, deren
Erkenntnis notwendig ist für eine soziologische Betrachtung dieser Begriffe. Der
Ausnahmezustand hat für die Jurisprudenz eine analoge Bedeutung wie das Wunder
für die Theologie.18

Das Argument einer entwicklungsgeschichtlichen Herleitung der politischen


Begriffe aus theologischen deckt sich keineswegs mit dem Argument einer
systematischen »Analogie«.19 Unterstellt das erste diachronische Argument die
Nachzeitigkeit politischer Begriffe und ihre Abhängigkeit von theologischen,
so schließt das zweite Argument bei Schmitt eine synchronische Dimension
ein: »Das metaphysische Bild, das sich ein bestimmtes Zeitalter von der Welt
macht, hat dieselbe Struktur wie das, was ihr als Form ihrer politischen Orga-
nisation unmittelbar einleuchtet.«20 Eine solche epochale Identität »durch die
metaphysischen, politischen und soziologischen Vorstellungen hindurch
[…]«21 kann Schmitts eigener Darstellung zufolge im 19. Jahrhundert nicht
mehr vorausgesetzt werden, denn hier bekämpfen sich die Lager, je nachdem
was mit politischer Theologie gemeint ist – ein polemischer Vorwurf gegen-
über dem politischen Gegner oder ein positiver Bezugspunkt. »Nachdem die
Schriftsteller der Restaurationszeit zuerst eine politische Theologie entwickelt

xes. Baden-Baden: Nomos-Verl.-Ges. 2004 (Schriftenreihe der Sektion Politische


Theorien und Ideengeschichte in der Deutschen Vereinigung für Politische Wissen-
schaft; 5), S. 179–198, sowie Assmann, Herrschaft und Heil (wie Anm. 1), beson-
ders S. 16–19 sowie 265–280.
17 Vgl. Jürgen Miethke: Politische Theorien im Mittelalter. In: Hans-Joachim Lieber
(Hg.): Politische Theorien von der Antike bis zur Gegenwart. München: Olzog
1991, S. 47–156. Hatte zuerst der Papst den Titel des vicarius Christi – Stellvertreter
Christi – für sich reklamiert, so beanspruchte später der Kaiser den Titel für sich
(vgl. ebd., S. 78).
18 Carl Schmitt: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität.
München: Duncker & Humblot 1922, S. 37.
19 Ebd.
20 Ebd., S. 42.
21 Ebd., S. 43.
1 »Politische Theologie« 205

hatten, richtete sich der ideologische Kampf der radikalen Gegner aller beste-
henden Ordnung mit steigendem Bewußtsein gegen den Gottesglauben über-
haupt als gegen den extremsten fundamentalen Ausdruck des Glaubens an eine
Herrschaft und an eine Einheit.«22
Von einem Autor der Restaurationszeit, Donoso Cortes, übernimmt Schmitt
nun die Theorie der souveränen Entscheidung. »Sobald Donoso Cortes erkann-
te, daß die Zeit der Monarchie zu Ende ist, weil es keine Könige mehr gibt und
keiner den Mut haben würde, anders als durch den Willen des Volkes König
zu sein, führte er seinen Dezisionismus zu Ende, das heißt, er verlangte eine
politische Diktatur.«23 Den Staat auf die »reine, nicht räsonnierende und nicht
dikutierende, sich nicht rechtfertigende, also aus dem Nichts geschaffene abso-
lute Entscheidung« zu begründen wie Cortes (und vor ihm schon de Maistre),
»ist aber wesentlich Diktatur, nicht Legitimität«.24 Bereits in der ersten der
vier Abhandlungen hatte Schmitt argumentiert, dass der Rechtsstaat nicht auf
das diktatorische, das aus dem Nichts setzende Moment der souveränen Ent-
scheidung verzichten könne, sondern vielmehr auf ihm beruhe: »Denn jede
Ordnung beruht auf einer Entscheidung, und auch der Begriff der Rechtsord-
nung […] enthält den Gegensatz der zwei verschiedenen Elemente des Juristi-
schen in sich [i. e. Entscheidung und Norm; Anm. E. D.].«25 Die absolute
Entscheidung, die sich frei macht von normativer Gebundenheit, sei die Ent-
scheidung über den Ausnahmezustand, worin Schmitt wiederum keine Abwei-
chung von der Rechtsordnung erkennt, sondern ihren Grund: »Der Ausnahme-
fall offenbart das Wesen der staatlichen Autorität am klarsten. Hier sondert
sich die Entscheidung von der Rechtsnorm, und […] die Autorität beweist, daß
sie, um Recht zu schaffen, nicht Recht zu haben braucht.«26
Hans Blumenberg hat Schmitts politische Theologie als Rhetorik dekonstru-
iert. Schmitt erzeuge systemimmanent einen »Bedarf an Metaphorik«,27 inso-
fern er den Souverän als Willensperson denke, dessen Dezisionismus nicht mit

22 Ebd., S. 45.
23 Ebd., S. 56.
24 Ebd.
25 Ebd., S. 11. Schmitts These, dass jede Ordnung auf einer Entscheidung beruhe,
interpretiert Jürgen Fohrmann differenztheoretisch. Bei der politischen Theologie
Schmitt’scher Provenienz gehe es um die Gründungsgewalt einer Entscheidung zu
einer ersten Unterscheidung, von der alle anderen Entscheidungen im politischen
Raum abhängen sollen. Zur Debatte stehe also ein bestimmter Umgang mit Diffe-
renz, eine Politik, die das Setzen von Unterschieden für unabdingbar hält und antritt,
dem nicht beendbaren Gleiten von einer Gleichung zur anderen, das Schmitt in der
Romantik am Werk sieht, Einhalt zu gebieten (vgl. Jürgen Fohrmann: Die Grenze
der politischen Theologie. Anmerkungen zu einem Konzept. In: Jürgen Brokoff und
Jürgen Fohrmann [Hg.]: Politische Theologie. Formen und Funktionen im 20. Jahr-
hundert. Paderborn u. a.: Schöningh 2003, S. 29–38).
26 Schmitt, Politische Theologie (wie Anm. 18), S. 14.
27 Hans Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit. Erneuerte Ausgabe. Frankfurt a. M.:
Suhrkamp 1996, S. 110.
206 Teil II

einem labilen, subjektiv unberechenbaren Voluntarismus zusammenfallen


dürfe. Die Analogie zwischen dem allmächtigen Gott und dem omnipotenten
Gesetzgeber kann zu Schmitts Zeit nun aber keine »Evidenz« mehr beanspru-
chen – sie leuchtet der Epoche nicht mehr unmittelbar ein, wie Schmitt weiß.28
Schmitt benötigt also das Säkularisierungstheorem einer diachronischen Über-
tragung und Umsetzung der Theologie in Politik, um ein in der Politik noch
immer wirksames theologisches Erbe zu behaupten. In Termini der Rhetorik
gesprochen, versucht Schmitt, die Ähnlichkeitsbeziehung, die Metapher und
Analogie stiften, durch eine genetische Folgebeziehung, die durch die Meto-
nymie hergestellt wird, zu ›retten‹.
Anders als Carl Schmitt, der politische Theologie mindestens ebenso sehr
betreibt wie beschreibt, beschränkt sich der französische Philosoph Claude
Lefort auf die Analyse der »theologisch-politischen Formation«. Um die Frage
nach dem Fortdauern oder Nicht-Fortdauern des Theologisch-Politischen in
der Moderne zu untersuchen, schlägt Lefort eine historisch-systematische
Herangehensweise vor, die die Beziehung zwischen dem Politischen und dem
Religiösen nicht mehr unter dem Gesichtspunkt der Genese des einen aus dem
anderen betrachtet. Schmitt greift auf dieses genealogische Argument zurück,
wie wir gesehen haben. Demgegenüber fragt Lefort, ob es nicht besser wäre,
eine theologisch-politische Formation als logisch und historisch erste Gegebenheit
zu setzen und in den Gegensätzen, die sie impliziert, […] das Prinzip einer symboli-
schen Arbeit [zu erfassen], die sich unter der Prüfung der Ereignisse vollzieht? Wäre
es nicht besser herauszufinden, wie gewisse Organisations- und Repräsentations-
schemata fortexistieren, dank der Verlagerung des Bildes vom Körper und seiner
Doppeltheit in neue Entitäten, der Idee des Einen und einer Vermittlung zwischen
dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren, dem Ewigen und dem Zeitlichen? So gelän-
ge man besser zu der Frage, ob die Demokratie die Bühne einer neuen Übertra-
gungsweise ist, oder ob in ihr lediglich das Phantom des Theologisch-Politischen
verbleibt.29

Statt die Politik historisch oder logisch aus der Theologie abzuleiten, konsta-
tiert Lefort schlicht im Hinblick auf die französische Moderne, dass das Den-
ken auch nach der Französischen Revolution in den Horizont einer theolo-
gisch-politischen Welterfahrung eingebunden geblieben sei. So unterschiedlich
die Ansätze und Thesen Leroux’, de Maistres, Ballanches, Chateaubriands,
Michelets oder Quinets gewesen seien, sie alle teilten die Überzeugung, dass
man die Transformationen der modernen Gesellschaft nicht entschlüsseln
könne – »das heißt richtig ermessen, was verschwindet, oder was geschieht,
oder was wiederkehrt –, ohne die religiöse Bedeutung des Alten und des Neu-
en zu erfragen«.30

28 Vgl. Schmitt, Politische Theologie (wie Anm. 18), S. 45.


29 Claude Lefort: Fortdauer des Theologisch-Politischen? Übers. von Hans Scheulen.
Wien: Passagen-Verlag 1999, S. 85f.
30 Ebd., S. 31.
1 »Politische Theologie« 207

Was wird aus den »zwei Körpern des Königs«, d. h. der christlichen politi-
schen Theologie des Mittelalters, die Ernst Kantorowicz in seiner gleichnami-
gen Studie beschrieben hat, im Übergang zur Moderne? Die Vorstellung eines
sterblichen und eines unsterblichen Körpers des Königs ist im Mittelalter in ein
komplexes System von Repräsentationen eingeschaltet, dessen Bestandteile
sich im Laufe der Zeit verändern können, dessen Prinzip aber gleich bleibt.
Wie der Körper des Königs wird der politische Körper verdoppelt, so dass das
Irdische ein Transzendentes repräsentiert, sei es in der Figur der Sakralisierung
des Rechts, des Territoriums, des Königreiches oder schließlich der Spirituali-
sierung des Volkes, der Nation, des Vaterlandes, des Heiligen Krieges, des
Staatsheils.31 Lefort verfolgt nun, wie sich das Spiel der Repräsentation und
Verdopplung von Immanentem, Irdisch-Materiellem in Transzendentem,
Ewig-Göttlichem, auch nach der Französischen Revolution erhält. So habe ein
Denker wie Jules Michelet32 wohl die theologisch-politische Formation der
Monarchie kritisiert, aber die scheinbar diskreditierten theologisch-politischen
Begriffe im Dienste einer Apologie der Moderne wiederverwendet.33 Michelet
habe die Position des Königs durch das Volk ersetzt: Die Bedeutung des »mo-
narchische[n] Mysterium[s] der Verkörperung«34 sehe Michelet in der Verei-
nigung aller mit allen durch die Identifikation mit dem Bild des Königs. Auf
das Vereinigungsmysterium möge Michelet nicht verzichten und übertrage es
auf das »heilige Bild des Volkes«.35 So dränge sich der Eindruck auf, dass »die
Denker, die am meisten das Gefühl für das Aufkommen der Modernität […]
zeigen […], im Religiösen die Wiederherstellung eines Pols der Einheit suchen
würden, dank dessen die infolge der Niederlage des Ancien Régime drohende
Auflösung des Sozialen gebannt wäre.«36
Lefort erkennt jedoch zwei Triebkräfte theologisch-politischer Formationen:
das bereits zitierte Streben nach »Wiederherstellung des Pols der Einheit« und

31 Diese Verdoppelung von Materiellem und Spirituellem kennzeichnet für Lefort auch
den Säkularisierungsprozess: »Parallel zu einem Prozeß der Säkularisierung und
Laizisierung, der dahin tendiert, der Kirche ihre zeitliche Macht im Rahmen des
Staates zu entziehen und den nationalen Klerus in die Gemeinschaft des Königrei-
ches einzuschließen, vollzieht sich ein Prozeß der Einverleibung der religiösen Re-
präsentationen, die geeignet sind, dem ›natürlichen‹ Raum und den sozialen Institu-
tionen eine mystische Bedeutung einzuflößen. Quer durch die ganze Dichte der Ge-
sellschaft vollzieht sich eine Verdoppelung zwischen dem, was dem Funktionalen
und dem, was dem Mystischen angehört« (ebd., S. 91).
32 Lefort bezieht sich auf verschiedene Schriften Michelets, insbesondere auf die Ein-
leitung zur universellen Geschichte, auf Die Französische Revolution und das Vor-
wort von 1869 zur Geschichte Frankreichs.
33 Vgl. ebd., S. 67ff.
34 Ebd., S. 75.
35 Ebd., S. 82. Eine strukturell vergleichbare Bewegung findet sich in Ernst Blochs
Geist der Utopie (s. Kap. II.4.3).
36 Ebd., S. 85.
208 Teil II

die Sorge um die »Wiederherstellung einer Dimension des Anderen«,37 die der
Totalitarismus im 20. Jahrhundert in der Vorstellung vom »Volk-als-Eine[m]«38
abzuschaffen versucht habe.39 Die »Dimension des Anderen« spielt nun noch in
Leforts eigener Analyse der modernen Demokratie eine konstitutive Rolle. Die
Demokratie bildet für Lefort eine Ordnung der Unbestimmtheit, deren soziale,
kollektive Identität nicht fest-zustellen sei und sich in keiner definitiven Ges-
talt repräsentieren lasse. Dies führt Lefort darauf zurück, dass die Demokratie
das einzige politische Regime sei, in dem »eine Repräsentation der Macht
eingerichtet ist, die sinnfällig bestätigt, dass sie ein leerer Ort ist, und die so
den Abstand zwischen dem Symbolischen und dem Realen bewahrt.«40 In der
modernen Demokratie verkörpere sich die Macht nicht, weder im Volk noch in
den Autoritäten, die die Macht nach den Regeln eines periodisch wiederkeh-
renden Wettbewerbs ausüben. Insofern der Ort der Macht leer sei, vermittle er
nicht mehr zwischen dem Göttlichen und Irdischen: »Dort, wo sich ein leerer
Ort abzeichnet, ist keine Verbindung zwischen der Macht, dem Gesetz und
dem Wissen und keine Aussage über ihre Grundlage möglich. Das Sein des
Gesellschaftlichen entzieht sich«.41 Für Lefort lässt sich dies insbesondere an
der Prozedur des allgemeinen Wahlrechts beobachten.42

37 Ebd., S. 65.
38 Ebd., S. 65.
39 Lefort hat hier das Zusammentreffen von religiöser und demokratischer Opposition
in den Ostblockländern (der SolidarnoĞü) vor Augen.
40 Ebd., S. 49.
41 Ebd., S. 53.
42 Lefort demonstriert am allgemeinen Wahlrecht, wie eine interne, konstitutive Spal-
tung die soziale Identität in der Demokratie durchkreuzt. Die Prozedur des allgemei-
nen Wahlrechtes, die als Ausdruck der Souveränität des Volkes gilt, verwandele die-
ses Volk in dem Augenblick, in dem es seinen Willen vermeintlich behauptet, in ei-
ne reine Vielfalt von Individuen, eine Vielzahl von Zähleinheiten. »Kurzum: es zeigt
sich, dass der Letztbezug auf die Identität des Volkes, auf das instituierende Subjekt
den rätselhaften Schiedsspruch der Zahl verdeckt« (ebd., S. 52–53). Der »Abstand
zwischen dem Symbolischen und dem Realen« werde so in der Prozedur des allge-
meinen Wahlrechts sinnfällig. Damit bleibe die soziale Identität in der Demokratie
undefinierbar – aus unhintergehbaren Gründen ihrer symbolischen Form. Deswegen
unterscheidet Lefort auch noch einmal zwischen der Idee, dass die Macht nieman-
dem gehört (klassischer Bestandteil bereits des antiken demokratischen Diskurses),
von der Idee, dass die Macht einen leeren Ort bezeichnet. »Die Formel: ›Die Macht
gehört niemandem‹ kann in eine zweite übersetzt werden (die übrigens historisch die
erste zu sein scheint): Sie gehört keinem von uns, während die Bezeichnung eines
leeren Ortes einhergeht mit einer Gesellschaft ohne positive Determination, die in
Gestalt einer Gemeinschaft repräsentierbar ist. […] Die Macht löst sich nicht mehr
von der Arbeit der Spaltung, in der sich die Gesellschaft instituiert, und diese be-
zieht sich infolge dessen auf sich selbst nur in der Erfahrung, einer internen Spaltung
ausgesetzt zu sein, die sich nicht als de-facto-Spaltung, sondern als eine solche er-
weist, die ihre Konstituierung hervorbringt« (ebd., S. 50f.).
1 »Politische Theologie« 209

Auch wenn der leere Ort der Macht nicht mehr zwischen Transzendenz und
Immanenz vermittelt, spielt die Differenz zwischen Immanenz und Transzen-
denz, Sichtbarem und Unsichtbarem auch in Leforts Demokratieverständnis
weiterhin eine Rolle. Denn eine Gesellschaft, deren Sein sich entzieht, geht
nicht in der Immanenz ihrer sozio-empirischen »Tatsachen« auf. Sie erfasst
sich erst in ihrer besonderen symbolischen Form, wenn sie ihre Transzendenz
gegenüber sich selbst – ihren Seinsentzug – wahrnimmt. Leforts Essay dreht
sich nicht zuletzt um die Frage, welche Rolle die Transzendenz in der symboli-
schen Form der Demokratie spielt.43 Hierbei ist zu beachten, wie Lefort zwi-
schen der »Gestalt des Anderen«44 und der »Dimension des Anderen«45 unter-
scheidet. Die moderne Demokratie, recht verstanden, habe wohl die »Gestalt
des Anderen« abgeschafft, nicht jedoch die »Dimension des Anderen«.46 Die
Demokratie verweise nicht mehr auf eine »Gestalt des Anderen« im Sinne
eines »Außen […] irgendeiner anderen vorstellbaren Gewalt«,47 durch die ein
Ursprung gesetzt wird, der mit dem des Gesetzes und des Wissens überein-
stimmen soll. Genau dieser Umstand leiste aber im Gegenzug der modernen
Illusion Vorschub, eine Gesellschaft könne sich in einer reinen Immanenz zu
sich selbst ordnen. Diese Vorstellung sei jedoch illusionär, denn eine Gesell-
schaft könne das Prinzip ihrer Institution nicht in ihre eigenen Grenzen zu-
rücknehmen. Die Dimension des Anderen erweist sich als unhintergehbar,
insofern mit ihr die Differenz der konstituierten Gesellschaft von den Prinzi-
pien ihrer Konstitution/Instituierung bezeichnet wird.48 Mit der »Dimension
des Anderen« beschreibt Lefort die Einsicht, dass auch die moderne Gesell-
schaft ihr Fundament nicht in sich trägt. Deswegen müsse aber keine »Gestalt
des Anderen« als unhintergehbares religiöses Fundament der Gesellschaft
behauptet werden. Es gehöre vielmehr zur konstitutiven Form der demokrati-
schen Gesellschaft, dass sich ihr Fundament entziehe und sie eine »Gesell-
schaft ohne positive Determination«49 darstelle.
Leforts Bemerkungen über die Triebkräfte hinter theologisch-politischen
Formationen sind zwar vor einem christlichen Hintergrund geschrieben und im

43 Martin Terpstra meint, dass man es bei Leforts Konzeption der Demokratie mit einer
negativen politischen Theologie, genauer: mit einer »negativen Theokratie« zu tun
habe, die Terpstra von Spinoza her denkt (vgl. Terpstra, Fortdauer der theologia po-
litikè? [wie Anm. 16]).
44 Lefort, Fortdauer des Theologisch-Politischen? (wie Anm. 29), S. 54.
45 Ebd., S. 56.
46 Vgl. ebd.
47 Ebd., S. 53.
48 Die generierenden Prinzipien der Instituierung der Gesellschaft können nicht in der
Gesellschaft liegen (vgl. ebd., S. 37). Denn die Beziehungen zwischen den Klassen,
Gruppen oder Individuen werden erst denk- und erfahrbar durch ein In-Form-Setzen,
das einen gemeinsamen Raum instituiert, in dem sich eine Ausdifferenzierung und
ein In-Beziehung-Setzen der Klassen, Gruppen und Individuen vollziehen kann.
49 Ebd., S. 50.
210 Teil II

Engeren auf die französische Geschichte bezogen, sie sind aber auch für unse-
ren Zusammenhang fruchtbar. Denn zwischen der Wiederherstellung des Pols
der Einheit, der Dimension des Anderen und der Gestalt des Anderen bewegen
sich auch die im Folgenden zu untersuchenden politisch-theologischen Forma-
tionen. So beginnt Franz Rosenzweigs Stern der Erlösung mit der Kritik an
dem Denken geschlossener Totalität, die den »Mensche[n] in der schlechthin-
nigen Einzelheit« (SdE 10) nicht begreifen kann. Im Politischen stellt diese
Form geschlossener Totalität für Rosenzweig der Nationalstaat dar, dessen
gewaltsame »messianische Politik«50 er im dritten Teil des Sterns der Erlö-
sung untersucht. Gegen diese totalitäre Einheit macht Rosenzweig im zweiten
Teil des Sterns der Erlösung die Dimension des Anderen stark, weniger in
konstitutionstheoretischer Hinsicht wie Lefort als in ethischer Hinsicht, indem
er ein singulares Du adressiert (s. o., Kap. I.2.2, I.2.3). Im dritten Teil des
Sterns der Erlösung fundiert er dann allerdings die ethische »Dimension des
Anderen« in einer religiösen »Gestalt des Anderen«, nämlich in der kollekti-
ven religiösen Existenz des Judentums, das er in absoluter Identität mit sich
selbst beschreibt. Damit wiederholt Rosenzweig aber nur das Modell einer
geschlossenen Totalität auf anderer Ebene, nämlich der Religion statt der Poli-
tik, wie wir noch genauer in Kapitel II.5 sehen werden. Diese Ambivalenz von
Öffnung und erneuter Schließung im Denken kollektiver Identität wird uns, in
verschiedenen Formen, immer wieder begegnen.
In den folgenden Kapiteln werden wir uns mit messianischen Figurationen
und Defigurationen von Kollektiven im zionistischen, anarchistischen, sozia-
listischen und religiösen Kontext beschäftigen. Blumenbergs Ansatz, die Poe-
tik und Rhetorik politisch-theologischer Formationen in den Blick zu nehmen,
soll dabei aufgegriffen und modifiziert werden. Blumenberg kritisiert Schmitts
politische Theologie als Beispiel einer substantialistischen Säkularisierungs-
theorie. Diese unterstelle ein Übertragungsgeschehen von einem (eigentlich)
Religiösen in ein (uneigentlich) Profanes, so dass etwa die Souveränität als
Säkularisat göttlicher Allmacht oder die Fortschrittsgeschichte als Säkularisat
der Heilsgeschichte ausgegeben wird. Blumenberg meint, eine solche Argu-
mentation würde die »Legitimität der Neuzeit« immanent bestreiten, indem sie
sie bei der Religion, deren Konzepte sie entwendet haben soll, verschulde.
Damit verengt Blumenberg jedoch das Säkularisierungstheorem auf eine be-
stimmte ideologische Position. Die Behauptung einer Übersetzung von Religi-
on in Profanes muss nicht zwangsläufig mit einer geheimen oder offenbaren
theologischen Intention einhergehen. Es kann auch im Gegenteil damit gesagt
werden, dass die Religion qua Übersetzung durch das Profane überboten wird
– das dürfte Carl Schmitts Position im Übrigen sogar näherkommen. Die
»Rhetorik der Säkularisierung« ist also komplexer, als es Blumenberg an-

50 Franz Rosenzweig: Das neue Denken. Einige nachträgliche Bemerkungen zum


»Stern der Erlösung«. In: Ders.: Zweistromland. Kleinere Schriften zur Religion und
Philosophie. Berlin, Wien: Philo 2001, S. 210–234, hier: S. 229.
1 »Politische Theologie« 211

nimmt, und es gilt das gleiche für die Rhetorik »politischer Theologie«. Blu-
menbergs Kritik an einem substantialistischen Säkularisierungskonzept geht
von einem Metaphernverständnis aus, das die metaphorische Sprache als unei-
gentliche Sprache versteht, als bloßes Substitut.51 Für Blumenberg unterstellt
das substantialistische Säkularisierungsparadigma, dass aus Eigentlichem
Uneigentliches werde; als säkularisierte Heilsgeschichte sei die Fortschrittsge-
schichte eben nur uneigentliche Heilsgeschichte und bleibe die Säkularität bei
der Theologie verschuldet. Säkularisierung als metaphorische Operation der
Übertragung kann aber auch bedeuten, dass ein Bekanntes in einen neuen
Kontext eintritt und dadurch eine ganz neue Bedeutung gewinnt.52
Wer die Säkularisierung als metaphorischen Prozess der Übertragung be-
trachtet, muss mithin nicht zwangsläufig die Legitimität des Säkularisierungs-
prozesses in Frage stellen. Die Frage, ob die Übertragung von Religion in Profa-
nes als uneigentliche Übersetzung (Verschuldung der Politik bei der Theologie)
oder als Entstehung eines neuen Sinns zu verstehen ist, ist zentral, wenn es um
die Auseinandersetzung um das Verhältnis zwischen Messianismus und Zionis-
mus geht, um das sich religiöse und säkulare Parteien streiten (vgl. Kap. II.2.1).
Hier zeigt sich, dass politisch-theologische Formationen Theologie und Politik
nicht nur mit Hilfe poetischer Verfahren ins Verhältnis setzen, sondern dieses
Verhältnis oft selbst nach einem rhetorischen Modell gedacht wird,53 das zu
analysieren mehr als literaturwissenschaftliche Muße ist.
Jenseits vom Modell der metaphorischen Übertragung versucht Walter Ben-
jamin die Beziehung von Theologie und Politik zu denken, indem er im
»Theologisch-politischen Fragment« das Paradox einer dynamischen Entge-
gensetzung und gleichzeitigen Beförderung von profaner und religiöser Stre-
bung entfaltet. Diese »gegenstrebige Fügung« geht bei Benjamin mit einer
perspektivischen Schreibweise einher (vgl. Kap. II.4). Demgegenüber aktiviert
Bloch in seiner politischen Philosophie vorbehaltlos und unmittelbar eine
messianische Symbolik, um das revolutionäre Kollektiv zu figurieren und
revolutionäre Gewalt zu rechtfertigen. Im Zusammenhang mit Rosenzweigs
Stern der Erlösung verschiebt sich der Fokus der Analyse von der Rhetorik zur
Zeichentheorie. Denn im Hintergrund von Rosenzweigs Analyse der Säkulari-
sierung des jüdischen Erwähltheitsgedankens zu einer gewaltförmigen histo-
risch-politischen Idee in der »christlichen Weltzeit« (SdE 367) steht ein Zei-
chenmodell, das auch Rosenzweigs Ansatz einer Resakralisierung trägt: Im
Judentum hätten sich Land, Sprache und Gesetz zu liturgische Zeichen trans-
formiert, die dem Widerspruchs von Zeitlichem und Ewigem entgingen, der
die christlichen Völker in den Krieg treibe (vgl. Kap. II.5). Rosenzweig imagi-

51 Vgl. Daniel Weidner: Zur Rhetorik der Säkularisierung. In: Deutsche Vierteljahrs-
schrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 78/1 (2004), S. 95–132, be-
sonders S. 106f., S. 129–131.
52 Vgl. ebd., S. 130.
53 Vgl. ebd., S. 132.
212 Teil II

niert dabei das jüdische Volk als »heiligen Rest«, der eine biblische Figur
vorstellt, die auch bei Buber begegnet, der sie freilich ganz anders deutet (vgl.
Kap. II.2.3). In Landauers Aufruf zum Sozialismus erscheint der prophetische
Ruf als Modell eines literarischen Sprechens, das zugleich ein politisches ist
(vgl. Kap. II.3). Und Scholem schließlich setzt ein messianisches Konzept von
Tradition als sprachlicher Überlieferungsform voraus, was verhindert, dass er
seinen Zionismus je vom Messianismus hätte trennen können, so sehr er sich
darum inhaltlich auch immer wieder bemühte.
In den nachstehenden Kapiteln wird die Analyse von Argumenten, die die
unterschiedlichen politisch-theologischen Formationen tragen, also auf die
eine oder andere Weise mit Fragen der Rhetorik, der Ästhetik, der Literatur,
der Sprache und der Zeichentheorie verbunden. Man mag es für »höchst prob-
lematisch« halten, dass das Wort »messianisch« von der Person des Messias
ab- und an die verschiedensten Begriffe angekoppelt werden kann.54 Es gehört
dies aber zur messianischen Tradition des Judentums, schon vom Talmud an.
Die Figur des Messias ist immer schon in Figuren des Messianischen aufge-
löst. Mit der Frage, wie diese logisch und sprachlich in unterschiedlichen poli-
tisch-theologischen Textformationen funktionieren, werden sich die folgenden
Kapitel befassen.

54 Vgl. Manfred Voigts: Jüdischer Messianismus und Geschichte. Ein Grundriß. Ber-
lin: Agora 1994 (Erato-Drucke; 27), S. 15.
2 Messianische Figuren und Figurationen
messianischer Gemeinschaft bei Martin Buber

Martin Buber gehört zu denjenigen Autoren, bei denen messianische Reflexi-


onsfiguren mit einer ausgearbeiteten Lehre über Geschichte, Formen und
Funktionen des jüdischen Messianismus zusammengehen. Zu dieser findet
Buber in den 1920er Jahren, wie ein bisher unveröffentlichtes Typoskript einer
Vorlesungsreihe, die Buber am Freien Jüdischen Lehrhaus in Frankfurt gehal-
ten hat, zeigt. In der Vorkriegszeit hat Buber noch anderen messianischen
Vorstellungen angehangen, so dass an seinem Beispiel deutlich wird, dass die
messianischen Konzeptionen nicht nur von Autor zu Autor wechseln, sondern
auch bei demselben Autor in unterschiedlichen Texten und zu unterschiedliche
Zeiten variieren können. Dabei werden uns im Folgenden Variation und Kon-
stanz in Bubers messianischem Denken im Hinblick auf den politischen Dis-
kurs beschäftigen.

2.1 Sabbatai Zwi, Messianismus und Zionismus

»Zur Geschichte des Messianismus« lautet der Titel des wohl frühesten Textes,
in dem Martin Buber sich zusammenhängend mit dem jüdischen Messianismus
beschäftigt.1 Im Zentrum dieses unveröffentlichten Manuskriptes stehen Leben
und Wirken Sabbatai Zwis im 17. Jahrhundert. Dass Buber sich am Anfang
seiner lebenslangen Beschäftigung mit dem jüdischen Messianismus gerade
mit dem umstrittenen Messias-Prätendenten und Apostaten Sabbatai Zwi be-
fasst, hat weniger mit einer Faszination für einen religiösen Antinomismus zu
tun,2 für den der (radikale) Sabbatianismus berühmt und berüchtigt wurde. So

1 Vgl. Martin Buber: Zur Geschichte des Messianismus. MS, JNUL MBA Arc. Ms.
Var. 350 65 He. Margot Cohn, die noch für Buber als Sekretärin gearbeitet und das
Martin-Buber-Archiv in der Jewish National and University Library in Jerusalem
aufgebaut hat, ist der Meinung, dass der Text um 1900 zu datieren ist. Für eine sol-
che frühe Datierung spreche das Schriftbild sowie der Umstand, dass der Text noch
mit schwarzer und nicht mit blauer Tinte geschrieben ist, die Buber später benutzt
hat. Für diese Auskunft möchte ich mich an dieser Stelle noch einmal bei Margot
Cohn bedanken.
2 Dem religiösen Antinomismus hat Gershom Scholem in seinen verschiedenen wis-
senschaftlichen Arbeiten zum Sabbatianismus seine besondere Aufmerksamkeit ge-
schenkt (vgl. Gershom Scholem: Die Theologie des Sabbatianismus im Lichte Ab-
214 Teil II

schreibt Buber mit einigem Befremden von den »seltsamen Ceremonien«,3 in


denen sich die »Vorstellungen, die ihm [Sabbatai; Anm. E. D.] seine ruhelose
Einbildungskraft bot«,4 verkörperten. Buber ist kein Antinomist, der an rituel-
len Gesetzesübertretungen, wie etwa Sabbatais Vermählung mit der Thora,
besonderes Gefallen finden würde. Die Position, die Buber Zeit seines Lebens
einnehmen wird, ist nicht in erster Linie gegen das Gesetz, sondern vor dem
Gesetz. Buber ist ein Ursprungsdenker, und das Gesetz steht für ihn weder am
Ursprung des Judentums noch überhaupt der Kultur. Das Schreiben des frühen
Buber unterscheidet sich von dem späteren der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg
nicht darin, dass es das Paradigma des Ursprünglichen aufgegeben hätte – die
Position des Ursprünglichen wird nur unterschiedlich besetzt (Kraft, Erzäh-
lung/Mythos, Urjudentum, Urmessianismus).
Statt auf den Antinomismus hebt Buber vielmehr auf den Sabbatianismus
als ekstatische religiöse Massenbewegung ab, die sich Mitte des 17. Jahrhun-
derts, von Palästina ausgehend, in alle Teile der Diaspora, vom Jemen, Persien,
Kurdistan bis hin nach Polen, Holland, Italien und Marokko, ausbreitete, nach-
dem sich Sabbatai 1665 in Gaza zum Messias erklärt und in weiten Teilen der
Diapora die Hoffnung auf eine baldige Rückkehr nach Palästina geweckt hatte.
Buber versteht es als Sabbatais Verdienst, im Judentum eine »schöpferische
Urkraft«5 entdeckt zu haben, ohne die nichts »wahrhaft Gigantisches«6 ge-
schaffen werden könne. Konkret versucht Buber auf diese Weise, die sabbatia-
nische Bewegung zu einem Vorläufer des zeitgenössischen Zionismus aufzu-
bauen. Buber interpretiert den Messianismus noch ganz als nationalen Traum
bzw. nationale Bewegung:

raham Cardosos. In: Ders.: Judaica 1. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1986 [Bibliothek
Suhrkamp; 106], S. 119–146; Erlösung durch Sünde. In: Ders.: Judaica 5. Frankfurt
a. M.: Suhrkamp 1992 [Bibliothek Suhrkamp; 1111], S. 7–116; Sabbatai Zwi. Der
mystische Messias. Frankfurt a. M.: Jüdischer Verlag 1992). Die Vorstellung einer
»Heiligkeit der Sünde« speist sich aus verschiedenen Motiven. »Neben der Mei-
nung, dass manche Taten notwendigerweise den äußeren Schein der Sünde an sich
tragen, die in Wirklichkeit ihrem Wesen nach rein und heilig sind, findet sich die
andere, wonach eben das wirklich Schlechte, indem es eben mit religiöser Inbrunst
geübt wird, von innen her aufgesprengt und verwandelt wird« (Gershom Scholem:
Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen. 4. Aufl., Frankfurt a. M.: Suhrkamp
1991 [Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft; 330], S. 348–349). Wichtiger aber
noch ist die Theorie der verschiedenen Aspekte der Thora. Der Messias steht am
Übergang zwischen der alten Welt und der Welt der Erlösung und »verwirklicht in
der messianischen Freiheit ein neues Gesetz« (ebd., S. 342). Dieses neue Gesetz ist
noch immer die Thora – aber die Thora in einem ganz neuen Verständnis, insofern
diejenigen Aspekte, die im Exil allein wahrgenommen werden können, zusammen-
brechen, und eine ganz neue Schicht des Sinnes an der Thora sichtbar wird.
3 Buber, Zur Geschichte des Messianismus (wie Anm. 1), S. 10.
4 Ebd., S. 10.
5 Ebd., S. 25.
6 Ebd., S. 25.
2 Messianische Figuren bei Martin Buber 215

Das Judentum, das auserwählte Volk des Leidens, hat die ganze Nacht des Exils nie
aufgehört, diesen königlichen Traum [einer Rückkehr ins »Heilige Land«; Anm.
E. D.] zu träumen. Aber es gab Zeiten, da ward das Mass des Elends voll, und der
Traum ward Leben. Denn jede starke geistige Bewegung erschafft sich ihre Wirk-
lichkeit, und die Epoche gebiert sich selbst den Mann, der sie überwindet. So ent-
standen dem Judentum die Männer, welche man Gesalbte des Herrn, ȋȡȚıIJȠȚ,7 Mes-
siasse nannte. Es waren Männer des Heils unter ihnen, die ihre Liebe ausgossen über
die ganze Menschheit, Männer des Kampfes, die der gepeinigten Nation Augenbli-
cke des Lichts brachten, aber auch Männer der Verzückung und Trunkenheit […],
die für die harte Wirklichkeit zu schwach waren und statt die Bewegung, aus der sie
hervorgingen, zu meistern, von ihr zermalmt wurden. […] Ihre Kraft zerbricht, und
das Volk, das sie retten sollen, kehrt wieder für Jahrhunderte in die furchtbare Nacht
des dumpfen Duldens zurück.8

Sabbatai Zwi gilt Buber als ein solcher »Träumer«,9 ja, sogar als »kranke[r]
Träumer«,10 der den Augenblick für die »grosse That«11 ungenützt vorüberge-
hen lassen habe und »die beste Kraft des Judentums auf Jahrhunderte hin
gebrochen«12 habe. Denn als der Sultan ihn schließlich vor die Alternative
stellte, zu konvertieren oder zu sterben, trat Sabbatai zum Islam über. Auch
wenn Sabbatais Anhänger versuchten, seinen Übertritt als messianisches Mys-
terium zu deuten, »[griff] das furchtbare Gefühl der Enttäuschung […] doch
um sich«.13 So habe Sabbatai die »beste Kraft des Judentums auf Jahrhunderte
hin gebrochen, aber er hat doch das Geheimste, die ruhelos drängenden In-
stinkte aus der durch das Leiden verschüchterten[,] ihr Eigenstes scheu verber-

7 Mit der Nennung der griechischen Übersetzung des hebräischen Maschiach spielt
Buber natürlich auf Jesus Christus an. Buber wird bei der Strategie bleiben, Jesus in
eine Reihe mit anderen messianischen Figuren des Judentums zu stellen, rechnet er
doch Jesus und das ganze Urchristentum zu einem »Ur-Judentum« (DR 82). Buber
steht mit dem Versuch, Jesus als eine Gestalt des Judentums und nicht als ersten
Christen zu begreifen, keineswegs allein da. Anders akzentuiert begegnet diese The-
se auch in der Wissenschaft des Judentums. So betrachtet etwa Abraham Geiger Je-
sus schlicht als Pharisäer, der keine anderen Ziele verfolgt habe als die übrigen Pha-
risäer auch: Demokratisierung und Liberalisierung des Judentums. Die christlichen
Dogmen über Jesus wie Jungfrauengeburt, Menschwerdung Gottes und Auferste-
hung seien demgegenüber spätere theologische Erfindungen (vgl. Susannah He-
schel: Wissenschaft des Judentums als Gegengeschichte. In: Michael Brenner, An-
thony Kauders, Gideon Reuveni und Nils Römer [Hg.]: Jüdische Geschichte lesen.
Texte der jüdischen Geschichtsschreibung im 19. und 20. Jahrhundert. München:
Beck 2003, S. 392–404, besonders S. 399ff.; sowie dies.: Der jüdische Jesus und das
Christentum. Abraham Geigers Herausforderung an die christliche Theologie. Ber-
lin: Jüdische Verlagsanstalt 2001 [Sifria; 2]).
8 Buber, Zur Geschichte des Messianismus (wie Anm. 1), S. 1f.
9 Ebd., S. 1.
10 Ebd., S. 25.
11 Ebd., S. 19.
12 Ebd., S. 24.
13 Ebd., S. 23.
216 Teil II

genden Seele eines Volkes herausgelockt und offenbart, wie viel Lebensfülle,
wie viel Kraftüberschwang in diesen entarteten Mengen lebte.«14
Für die Moderne ist der Sabbatianismus in zweierlei Hinsicht wichtig ge-
worden. Zum einen hat er zur inneren Vorbereitung von Aufklärung und Re-
form im Judentum beigetragen, was Scholem besonders hervorhebt.15 Zum
anderen ist der Bezug auf Sabbatai Zwi für den Zionismus bedeutsam gewor-
den.16 Hiermit werden wir uns auch noch im Zusammenhang mit Gershom
Scholems Position befassen (s. Kap. II.4.5). Theodor Herzl selbst stellt in sei-
nen Tagebüchern, aber auch in dem utopischen Zukunftsroman Altneuland
(1902) wiederholt eine Verbindung zwischen Sabbatai Zwi und dem Zionis-
mus her. Im zweiten Buch von Altneuland, das in einem imaginären Haifa von
1923 spielt, wird ein Opernbesuch geschildert. Auf dem Programm steht »Sab-
batai Zwi«, das »schönste jüdische Tonwerk der letzten Jahre«,17 wie es heißt.
Auf die Frage, warum »solche Abenteurer immer wieder Glauben finden konn-
ten«,18 entgegnet David Littwak, die positive zionistische Identifikationsfigur
des Romans:
Mir scheint, das hat einen tiefen Grund. Das Volk glaubte nicht, was sie sagten, son-
dern sie sagten, was das Volk glaubte. […] Die Sehnsucht macht den Messias. Nun
müssen Sie bedenken, was das für arme dunkle Zeiten waren, in denen ein Sabbatai
oder seinesgleichen erschienen. Unser Volk war noch nicht imstande, sich auf sich
selbst zu besinnen, und da brauchte es solche Gestalten. Spät erst, am Ende des
neunzehnten Jahrhunderts, als schon alle anderen zivilisierten Völker ihr Selbstbe-
wußtsein erlangt hatten und es betätigten, kam auch unser verstoßenes Volk zu der
Erkenntnis, daß es das Heil nur von der eigenen Kraft und nicht von phantastischen

14 Ebd., S. 24.
15 »Jenes Gefühl der echten Befreiung, das sich den ›Gläubigen‹ in dem großen Auf-
schwung des Jahres 1666 mitgeteilt hatte, suchte, als es auf der historischen und po-
litischen Ebene widerlegt wurde, auf der moralischen und religiösen seinen Aus-
druck. Anstatt umwälzend nach außen zu wirken, was ihm durch die Katastrophe der
Apostasie des Messias versagt wurde, schlug es nach innen und bereitete in vielen
Seelen jene Stimmung vor, aus der dann, als der Mythos von der Sendung des Mes-
sias zu den Toren der Unreinheit zu verblassen begann, Aufklärung und Reform ih-
ren Nutzen ziehen konnten« (Scholem, Die jüdische Mystik [wie Anm. 2], S. 349).
16 Vgl. Christoph Schmidt: Vor dem Gesetz. Zur Dialektik von jüdischer Moderne und
politischer Theologie. In: Ashraf Noor (Hg.): Erfahrung und Zäsur. Denkfiguren der
deutsch-jüdischen Moderne. Freiburg: Rombach 1999 (Rombach-Wissenschaften/
Reihe Litterae; 67), S. 115–140. Schmidt macht einen inneren Widerspruch des Zio-
nismus aus: »Um der jüdischen Identität willen muss er sich auf die religiöse Tradi-
tion stützen, die die politische Souveränität auf die messianische Erlösung vertagt
und negiert. Die (Um)schreibung der jüdischen Geschichte aus der Perspektive der
politischen Souveränität stößt daher nicht zufällig immer wieder auf den Namen von
jenem Schabtai Zwi, der im Namen der messianischen Erlösung hier und jetzt das
halachische Gesetz des Moses suspendiert« (ebd., S. 131).
17 Theodor Herzl: Altneuland. In: Ders.: Gesammelte Zionistische Werke. Bd 5. Tel
Aviv: Hozaah Ivrith 1935, S. 125–420, hier: S. 218.
18 Ebd., S. 227.
2 Messianische Figuren bei Martin Buber 217

Wundertätern erwarten dürfe. Nicht eine einzelne Person, wohl aber die erwachte
und rührige Volkspersönlichkeit müsse das Erlösungswerk vorbereiten. Auch die
Frommen sahen endlich ein, dass in dieser Auffassung nichts Gottwidriges enthalten
sei. Gesta Dei per Francos, hieß es einst bei den Franzosen – Gottes Taten durch die
Juden! sagen unsere echten Frommen, die sich nicht durch parteiische Rabbiner ver-
hetzen lassen.19

Der Bezug auf Sabbatai Zwi hat bei Herzl Methode. Der Widerstand, den
Sabbatai von Seiten der Orthodoxie erfahren hat,20 lässt sich parallel führen
mit dem Widerstand, den das orthodoxe Judentum bis weit ins 20. Jahrhundert
hinein dem politischen säkularen Zionismus entgegengebracht hat. Denn die
Position, die David Littwak den »echten Frommen« in den Mund legt, »die
sich dem nationalen Befreiungswerk begeistert anschlossen«,21 repräsentierte
zu Herzls Zeiten alles andere als die Mehrheit. In der ersten Phase des Zionis-
mus im 19. Jahrhundert opponierte die Orthodoxie größtenteils gegen den
politischen Zionismus.22 Einflussreiche Ausnahmen stellten Rabbi Zwi Hirsch
Kalischer (1795–1874) und später besonders Rabbi Avraham Isaac HaKohen
Kook (1865–1935) dar, die eben die Vorstellung vertraten, die Herzl seinen
Protagonisten David Littwak als das »geklärte Räsonnement unserer From-
men«23 verkünden lässt: Das »nationale Werk« bereite das »Erlösungswerk«
vor.24
In dem Konsens zwischen religiösem Zionismus und einem politischen sä-
kularen Zionismus, wie ihn Herzls Figur imaginiert, begegnet sich die Rheto-
rik der Säkularisierung als Ersetzung der Religion durch die Politik, in der die
Religion zugleich ihre Erfüllung finden soll, mit einer religiösen Rhetorik, die
die Politik als Mittel oder Vorbereitung eines religiösen Zwecks betrachtet.25
19 Ebd., S. 227–228.
20 Der Widerstand der Orthodoxie war historisch wohl nicht so groß, wie er im Nach-
hinein dargestellt wurde (vgl. Scholem, Sabbatai Zwi [wie Anm. 2], S. 27).
21 Herzl, Altneuland (wie Anm. 17), S. 228.
22 Vgl. Jacob Katz: Zwischen Messianismus und Zionismus. Zur jüdischen Sozialge-
schichte. Frankfurt a. M.: Jüdischer Verlag 1993, S. 34.
23 Herzl, Altneuland (wie Anm. 17), S. 228.
24 Erst nach der Shoah etablierte sich eine zionistisch-orthodoxe Strömung als Mehr-
heit, und wiederum erst nach dem Sechstagekrieg von 1967 entstand ein radikaler
messianischer Nationalismus bei National- wie auch Ultraorthodoxen (vgl. Yossef
Schwartz: Zionismus als säkularer Messianismus. Der Fall deutsch-jüdische Intel-
lektuelle. In: Eveline Brugger und Martha Keil [Hg.]: Die Wehen des Messias. Zei-
tenwende in der jüdischen Geschichte. Berlin, Wien: Philo 2001, S. 193–212, be-
sonders S. 194f.; Katz, Zwischen Messianismus und Zionismus [wie Anm. 22], be-
sonders S. 35; zu der Problematik allgemein Aviezer Ravitzky: Messianism, Zio-
nism, and Jewish Religious Radicalism. Chicago: Univ. of Chicago Press 1996).
25 Jody Elizabeth Myers betont ebenfalls die Rolle der Rhetorik im Verhältnis von
säkularem Zionismus und Messianismus (vgl. Jody Elizabeth Myers: The Messianic
Idea and Zionist Ideologies. In: Jonathan Frankel [Ed.]: Jews and Messianism in the
Modern Era: Metaphor and Meaning. New York, Oxford: Oxford Univ. Press 1991
[Studies in contemporary Jewry; 7], S. 3–13). Grundsätzlich steht für Myers der Zi-
218 Teil II

Faktisch sind die beiden messianischen Rhetoriken natürlich nicht so harmo-


nisch und können in einen offenen Widerspruch und gesellschaftlichen Kampf
treten.26 Die Ersetzung von »phantastischen Wundertätern«27 als Erlöserfigu-
ren durch das Volk als messianisches Subjekt, das zum Bewusstsein seiner
eigenen Potenz, seiner eigenen »Kraft«28 gelangt, stellt die Romanfigur (säku-
laren Charakters) als Resultat der »Erkenntnis« dar, dass sich das Volk selbst
als Urheber von Erlösungsphantasien erkennt, die sich in »dunkle[n] Zeiten«,
Zeiten des Leids wie der mangelnden Aufklärung, in »phantastischen Wunder-
tätern« verdichteten. Das Aufgehen der Erlöserfigur im Erlösungsvolk, der
messianischen »einzelnen Person« in einer messianischen »rührige[n] Volks-
persönlichkeit«, setzt das Säkularisierungsparadigma von Ersetzung und Erfül-
lung rhetorisch mittels der Personificatio in Szene. Das Volk wird als hand-
lungsfähige Einheit konstruiert, indem ihm eine Persönlichkeit zugeschrieben
wird. Als das adäquate Medium, das diese Rhetorik performativ umsetzen
kann, erscheint in Herzls Roman die Oper.29
Anders als Herzl, der nicht Sabbatai Zwi, sondern die Rückständigkeit und
Schwäche des nationalen Bewusstseins sowie einen Mangel an technischen
Möglichkeiten30 für das Scheitern der sabbatianischen Bewegung verantwort-

onismus im Gegensatz zum messianischen Denken. Denn der Zionismus gehe davon
aus, dass Geschichte nur von Menschen gemacht werde, die Mittel einer Rückkehr
aus dem Exil ganz in menschlicher Hand liegen, dass die post-exilische Zeit im
Rahmen der natürlichen Ordnung bleibe und Institutionen der prä-exilischen Zeit
(wie z. B. der Tempel) in der post-exilischen Zeit nicht wiederbelebt werden müss-
ten. Daher sei der Gebrauch messianischen Vokabulars von säkularen Zionisten als
Taktik zu begreifen. Für Myers besteht die Taktik darin, »to show that Zionism and
messianism are not opposed to, but are compatible with, one another – or else to
show that Zionism has continued and renewed, not replaced, traditional messianic
beliefs« (ebd., S. 8). Auch wenn der säkulare Zionismus sich ›nur‹ als Fortsetzung
und nicht zugleich als Ersetzung des traditionellen Messianismus ausgibt, um ihren
Gegensatz zu entschärfen, bleiben die grundsätzlichen Spannungen doch unter-
schwellig erhalten.
26 Seffi Rachlevsky hat in seinem in Israel kontrovers diskutierten Buch Messiah’s
Donkey argumentiert, dass die gegenwärtige messianische orthodoxe Strömung die
säkulare israelische Mehrheit als Esel betrachte, der, solange er seinen Dienst am
messianischen Ziel verrichte, von Nutzen sei, jedoch Agressionen gewahren müsse,
sobald er sich den messianischen Zielen nicht beuge. Prominentestes Opfer dieser
Aggressionen sei Jizchak Rabin geworden (vgl. Schwartz, Zionismus als säkularer
Messianismus [wie Anm. 24], S. 195f.).
27 Herzl, Altneuland (wie Anm. 17), S. 227–228.
28 Ebd., S. 228.
29 Vgl. zu Herzls Leidenschaft für die Oper und speziell für Richard Wagner: Philipp
Theisohn: Die Urbarkeit der Zeichen. Zionismus und Literatur – eine andere Poetik
der Moderne. Stuttgart: Metzler 2005, besonders S. 129–131.
30 So schreibt Herzl in seinem Tagebuch: »Schiff sagt: das hat im vorigen Jahrhundert
Einer zu machen versucht. Sabbathai! Ja, im vorigen Jahrhundert war es nicht mög-
lich. Jetzt ist es möglich. Weil wir Maschinen haben.« (Theodor Herzl: Briefe und
2 Messianische Figuren bei Martin Buber 219

lich macht, schreibt Buber den entscheidenden Fehler Sabbatai selbst zu. Zwar
habe Sabbatai eine »ekstatische, wild und regellos waltende Triebmacht«31 im
jüdischen Volk »erweckt«,32 die dem »ausführenden festen unbeugsamen
Willen«33 vorarbeiten müsse. Aber es habe Sabbatai gerade
der Wille [gefehlt], der aus dem wogenden Dunkel des Unbewussten heraus grosse
monumentale Werke ans Tageslicht fördert, die Hand, die sich auf Jahrtausende
drückt wie auf Wachs, auf Jahrtausenden schreibt wie auf Erz: das Mannestum fehl-
te ihm. Mögen die kommen, die es im jüdischen Volk entdecken, die die jüdische
Seele in ihren Tiefen erschüttern und das höchste aus ihr herausholen: das Man-
nestum.34

Buber operiert mit einem vitalistisch-heroischen Vokabular, das er nach der


Logik von Potenz und Akt ordnet, wobei »Triebmacht«,35 »ruhelos drängende
Instinkte«,36 »Lebensfülle«,37 »Kraftüberschwang«,38 »schöpferische Ur-
kraft«39 auf die Potenz abzielen, dagegen der »feste unbeugsame Wille«40 auf
den Akt. Ganz traditionell definiert Buber den Willen, an dem es Sabbatai
gefehlt habe, als männlich, und spielt auf das zionistische Stereotyp eines
maskulinen »Muskeljuden« an, das den Kontrast zu dem passiv und oftmals
effeminiert gezeichneten Ghettojuden bilden soll. Auch in dem Text »Jüdische
Renaissance« (1900), in dem Buber die Gegenwart als eine Epoche der allge-
meinen »Selbstbesinnung der Völkerseelen« beschreibt, spricht er der jüdi-
schen »nationalen Teilnahme« an dieser Entwicklung »einen ganz eigenen
Charakter [zu]: den der Muskelanspannung, des Aufschauens, der Erhe-
bung«.41 Der Kampf gilt Ghetto und Golus, die Buber in erster Linie nicht als
äußere, sondern als »innere Feindesmächte« versteht. Buber beschwört einen
»innere[n] Kampf«42 gegen »Ghetto, die unfreie Geistigkeit und de[n] Zwang
einer ihres Sinnes entkleideten Tradition, und Golus, die Sklaverei einer un-

Tagebücher. Hg. von Alex Bein, Hermann Greive, Moshe Schaerf und Julius H.
Schoeps. Bd 2 [Zionistisches Tagebuch 1895–1899], bearbeitet von Johannes Wach-
ten und Chaya Harel. Berlin, Frankfurt a. M., Wien: Propyläen 1983, S. 139). Dass
Herzl und Friedrich Schiff das Auftreten Sabbatai Zwis auf das 18. statt auf das 17.
Jahrhundert datieren, führen die Bearbeiter von Herzls Tagebüchern auf die lang an-
haltende Wirkung der sabbatianischen Bewegung zurück (vgl. ebd., S. 794).
31 Buber, Zur Geschichte des Messianismus (wie Anm. 1), S. 25.
32 Ebd.
33 Ebd.
34 Ebd.
35 Ebd.
36 Ebd., S. 24.
37 Ebd.
38 Ebd.
39 Ebd., S. 8.
40 Ebd., S. 25.
41 Martin Buber: Jüdische Renaissance. In: Ders.: Die Jüdische Bewegung. Bd 1. 2.
Aufl., Berlin: Jüdischer Verlag 1920, S. 7–16, hier: S. 9.
42 Ebd., S. 16.
220 Teil II

produktiven Geldwirtschaft und hohläugigen Heimatlosigkeit, die allen ein-


heitlichen Willen zersetzt.«43 Bubers frühe zionistische Texte sind auf eine
nationaljüdische Subjektbildung sowie auf eine »Gestalt«44-Gebung des Vol-
kes fokussiert. Durch ein zu »neue[r] Einheit« zusammengeschlossenes Juden-
tum, durch »innere Heimat«,45 soll der äußeren Heimat vorgearbeitet werden.
Wiederholt imaginiert Buber in diesen frühen Texten das Volk als bildneri-
sches Kunstwerk. So huldigt er in seinem unveröffentlichten Manuskript »Zur
Geschichte des Messianismus« »monumentale[n] Werke[n]«,46 zu denen Sab-
batai Zwi der Wille gefehlt habe, und in »Jüdische Renaissance« ruft er das
Bild des »Denkmals« und der »Statue« auf:
Schaffen! Der Zionist, der die ganze Heiligkeit dieses Wortes fühlt und ihr nachlebt,
scheint mir auf der höchsten Stufe [des Zionismus; Anm. E. D.] zu stehen. Neue
Werte, neue Werke schaffen, aus der Tiefe seiner uralten Eigenheit heraus, aus der
eigenartigen, unvergleichlichen Kraft seines Blutes heraus, die so furchtbar lang in
die Fesseln der Unproduktivität geschlagen war – das ist ein Ideal für das jüdische
Volk! Die Denkmale seines Wesens schaffen! […] In seinem Volke das Material für
eine Statue sehen, und sich nicht davon beirren lassen, daß dieses Material nicht
Marmor von Paros oder Carrera, sondern zähes, schwerfälliges, widerstrebendes Ge-
stein ist.47

Ein nietzscheanisches Schaffens-Pathos ist an dieser wie an vielen anderen


Stellen der Texte des jungen Buber unüberhörbar, die »Sehnsucht nach Schaf-
fen und Schönheit«48 taucht immer wieder auf.49 Wenn der junge Buber im
Namen von gestaltenden Kräften gegen die Formen und Gesetze »einer des
Sinnes entkleideten Tradition«, also gegen die fertige, erstarrte Gestalt, argu-
mentiert, so bleiben die schöpferischen Kräfte doch auf eine zu fertigende
Gestalt, auf eine zu verwirklichende Einheit und Ganzheit bezogen, selbst

43 Ebd., S. 12.
44 Martin Buber: Von Jüdischer Kunst. In: Ders.: Die Jüdische Bewegung. Bd 1. 2.
Aufl., Berlin: Jüdischer Verlag 1920, S. 57–66, hier: S. 64, sowie Martin Buber: Die
Schaffenden, das Volk und die Bewegung. In: Jüdischer Almanach. Berlin 1902, S.
24–30, hier: S. 28–29.
45 Buber, Jüdische Renaissance (wie Anm. 41), S. 15.
46 Buber, Zur Geschichte des Messianismus (wie Anm. 1), S. 25.
47 Martin Buber: Wege zum Zionismus. In: Ders.: Die Jüdische Bewegung. Bd 1. 2.
Aufl., Berlin: Jüdischer Verlag 1920, S. 39–44, hier: S. 42–43. Die Metapher der
»Statue« taucht auch in dem Artikel »Jüdische Kunst« auf (in: Die Welt, 6/3 (1902),
S. 9–11, hier: S. 10).
48 Buber, Jüdische Kunst (wie Anm. 47), S. 10.
49 Vgl. Barbara Schäfer: Einleitung. In: Martin Buber: Werkausgabe. Hg. von Paul
Mendes-Flohr und Peter Schäfer. Bd 3 (Frühe jüdische Schriften 1900–1922), hg.,
eingeleitet u. kommentiert von Barbara Schäfer. Gütersloh: Gütersloher Verl.-Haus
2007, S. 13–50, besonders S. 25–30. Vgl. zur zionistischen Nietzsche-Rezeption all-
gemein: Jacob Golomb: Nietzsche and Zion. Ithaca: Cornell Univ. Press 2004; ders.
(Hg.): Nietzsche und die jüdische Kultur. Übers. von Helmut Dahmer. Wien: WUV-
Univ.-Verlag 1998.
2 Messianische Figuren bei Martin Buber 221

wenn diese nie völlig gelingen mag. Die Gewalt, die in der Vorstellung liegt,
Gemeinschaft als Werk herzustellen, Gemeinschaft als Gemeinschaft von
Wesen zu denken, »die wesenmäßig ihre eigene Wesenheit als ihr Werk her-
stellen und darüberhinaus genau diese Wesenheit als Gemeinschaft herstel-
len«,50 hat Jean-Luc Nancy in Auseinandersetzung mit der deutschen romanti-
schen Tradition, die auch auf Buber einen großen Einfluss ausübte, untersucht
und als »Immanentismus« bezeichnet. Die Vision einer Gemeinschaft, die zu
sich selbst im Verhältnis der Immanenz steht, kann man bei Buber bis in den
Ersten Weltkrieg hinein, also bis hin zu seiner Kriegsbegeisterung, verfolgen.
Der zionistischen Subjektbildung, der »Hebung des jüdischen Selbstbe-
wusstseins«,51 dient beim frühen Buber in erster Linie die Ausbildung einer
»nationalen Kunst«,52 worin sich seine kulturzionistische Position begründet,
die ihn schließlich in einen Prioritätenstreit mit den »Vätern« des politischen
Zionismus, mit Max Nordau und Theodor Herzl, bringt.53 In dem »künstleri-
schen Schaffen«, so Buber, »sprechen sich die specifischen Eigenschaften der
Nation am reinsten aus«54 und finden »lebendige Gestalt«.55 Aber auch die
»Stärkung von Körperkraft und Gewandtheit«56 steht, neben der »Verbreitung
der Kenntnisse in jüdischer Geschichte und Literatur«,57 auf dem Programm
der »Vereinigung Jüdischer Studierender« in Leipzig, die von ihm im Winter
1899 ins Leben gerufen wurde. Es geht Buber in seinen frühen zionistischen
Texten um das »einheitliche, ungebrochene Lebensgefühl des Juden«,58 das er
als »Losungswort gegen die reine Geistigkeit«59 ausgibt, um die »einheitliche

50 Jean-Luc Nancy: Die undarstellbare Gemeinschaft. Übers. von Gisela Febel und
Jutta Legueil. Stuttgart: Ed. Schwarz 1988, S. 13f. Die Prämissen dieser Vorstellung
charakterisiert Nancy wie folgt: »Die Gemeinschaft als Werk oder die Gemeinschaft
als auf Werke begründet würde voraussetzen, dass das gemeinsame Sein als solches
(in Orten, Personen, Gesellschaftsordnungen, Diskursen, Institutionen, Symbolen,
kurz: in Subjekten) objektivierbar wäre« (ebd., S. 69). Eine ästhetische Objektivie-
rung jüdischen Wesens schwebt dem jungen Buber vor.
51 Buber, Jüdische Renaissance (wie Anm. 41), S. 12.
52 Buber, Jüdische Kunst (wie Anm. 47), S. 10f.
53 Vgl. Christina Ujma: Political versus Cultural Zionism. Reflections on Herzl and
Buber. In: Ritchie Robertson (Hg.): Theodor Herzl and the Origins of Zionism.
Edinburgh: Edinburgh Univ. Press 1997 (Austrian studies; 8), S. 96–106; Schäfer,
Einleitung (wie Anm. 49), S. 20–25; Martin Treml: Einleitung. In: Martin Buber:
Werkausgabe. Hg. von Paul Mendes-Flohr und Peter Schäfer. Bd 1 (Frühe kulturkri-
tische und philosophische Schriften 1891–1924), bearb., eingeleitet u. kommentiert
von Martin Treml. Gütersloh: Gütersloher Verl.-Haus 2001, S. 13–91, besonders
S. 39–45.
54 Buber, Jüdische Kunst (wie Anm. 47), S. 11.
55 Ebd., S. 11.
56 Zitiert nach Treml, Einleitung (wie Anm. 53), S. 39.
57 Ebd.
58 Buber, Jüdische Renaissance (wie Anm. 41), S. 13.
59 Ebd.
222 Teil II

Persönlichkeit, die aus e iner Willensglut heraus schafft«.60 »Einheit« und


»Ganzheit« werden als das Ziel sowohl auf der Ebene des Subjekts als des zu
gestaltenden Volks deklariert.61 Letztlich ist Buber noch immer an dem Ideal
der Bildung orientiert,62 das seit dem 19. Jahrhundert für das Selbstverständnis
vieler deutscher Juden und Jüdinnen prägend geworden ist.63 Freilich ist bei
Buber dieses Ideal nicht mehr mit dem emanzipatorischen Anspruch des libe-
ralen Judentums verbunden, sondern meint eine zionistische Bildung des Ein-
zelnen wie des nationalen Subjekts.
Sabbatai Zwi passt nicht zu dem Ideal des zionistischen Subjekts, das Buber
in den Texten aus der ersten Phase seines zionistischen Engagements (1898–
1904) propagiert. Er ist der Bewegung, die er hervorgerufen hat, nicht gewach-
sen, er versäumt den Augenblick für die »grosse That«,64 und sein Ende lässt
sich wohl noch als »kabbalistisches Mysterium« interpretieren, widerspricht
aber dem heroischen Ideal des frühen Buber.65 Sabbatais Apostasie hat
schließlich eine Verinnerlichung der messianischen Bewegung zur Folge,66 die
dem Denken des frühen Buber, das auf die »Schaffenden, das Volk und die
Bewegung« ausgerichtet ist, widerstreben muss.
Wie versteht der frühe Buber nun das Verhältnis von Messianismus und Zi-
onismus? Beerbt der Zionismus den Messianismus auf der Linie des Fort-
schritts und der Aufklärung, wie ja Herzl das Verhältnis von Messianismus
und Zionismus konstruiert? Bubers Argumentation und Rhetorik liegen nicht
so plan zu Tage wie die Herzls. Das Manuskript »Zur Geschichte des Messia-
nismus« zeigt, dass Bubers anfängliches Interesse am Messianismus nicht auf
der Ebene der Ideen, der theoretischen Konzeptionen, liegt, sondern auf der

60 Ebd., S. 14.
61 Vgl. Buber, Von jüdischer Kunst (wie Anm. 44), S. 65: »[N]ur ganze Menschen
können ganze Juden sein«, sowie Buber, Jüdische Renaissance (wie Anm. 41),
S. 15: »Sie [die nationale Bewegung; Anm. E. D.] wird uns vor einer äußeren eine
innere Heimat schaffen: dadurch daß sie das Judentum zu neuer Einheit zusammen-
schließt.«
62 Vgl. Steven E. Aschheim: Culture and Catastrophe. German and Jewish Confronta-
tions with National Socialism and Other Crises. New York: New York University
Press 1996, S. 36.
63 Vgl. zu dem Thema allgemein: George L. Mosse: Jüdische Intellektuelle in Deutsch-
land. Zwischen Religion und Nationalismus. Übers. von Christiane Spelsberg.
Frankfurt a. M., New York: Campus 1992.
64 Buber, Zur Geschichte des Messianismus (wie Anm. 1), S. 19.
65 Vgl. Buber, Wege zum Zionismus (wie Anm. 47), S. 41–42: »Wenn ich für mein
Volk zu wählen hätte zwischen einem behaglichen, unfruchtbaren Glück, wie es in
alten Zeiten manchem seiner Nachbarn zuteil geworden war, und einem schönen
Tod in letzter Anspannung des Lebens, ich müßte diesen wählen. Denn er würde,
und sei es auch nur einen Augenblick, etwas Göttliches schaffen, jenes aber nur et-
was Allzumenschliches.«
66 Vgl. Martin Buber: Die Geschichten des Rabbi Nachman. Frankfurt a. M.: Rütten &
Loening 1906, S. 13.
2 Messianische Figuren bei Martin Buber 223

Ebene der »messianischen Bewegung«,67 der »That«, und der »Erlöser«, die
bei Buber keine Götter oder Halbgötter sind, sondern Menschen, besser gesagt:
Männer, die sich anschicken, den »königlichen Traum« einer »Rückkehr ins
heilige Land« zu erfüllen. Die »Bewegung«, die »Schaffenden« und das
»Volk« stellt Buber als überzeitliche, »ursprünglich[] waltende[] Kräfte«68 dar,
die in der Geschichte teils latent und unsichtbar bleiben, teils manifest und
sichtbar werden. Die »Schaffenden« sollen der »Bewegung« des »Volks« –
Buber beschreibt die »Bewegung« als »Fruchtbarwerden des Volks«69 – »Ges-
talt«70 geben. Die »Ghettokultur« habe Schaffen und Bewegung niedergehal-
ten, »bis die zu Schaffenden Geborenen ohnmächtige Ketzer und die ewig
aufflammenden Flammen der Bewegung taumelnde Epidemien wurden«.71
Messianismus und Zionismus gelten dem frühen Buber beide als Ausdruck
eines »uralten Dranges nach nationalem Sich-Ausleben«, der sich in den Jahr-
hunderten des Exils »entweder in dumpf sehnsüchtiger Klage oder in milden
messianistischen Ekstasen geäussert hatte«, um sich »nun in der modernen
Form zu entfalten, die wir Zionismus nennen«.72
Buber interpretiert den Zionismus nicht wie Herzl als ins Säkulare übertra-
genen Messianismus, um so dessen Legitimität zu bestärken. Statt den Zionis-
mus auf den Messianismus zurückzuführen und ihn als dessen moderne Gestalt
zu deuten, führt Buber beide, Zionismus und Messianismus, auf einen tiefer
liegenden Ursprung zurück, auf die der Geschichte unterlegten »ursprünglich[]
waltenden Kräfte«:73 »Volk«, »Bewegung« und »Schaffende«. Diese Kräfte
werden wiederum religiös aufgeladen, so wenn Buber, wie bereits zitiert, die
»Heiligkeit« des Wortes »Schaffen!« rühmt,74 oder dem »Volk« eine religiöse
Qualität/Dimension verleiht, die der traditionelle Glaube verloren habe.
Der Glaube hat die Macht verloren, Seelen in den Arm zu nehmen und an das Herz
der Welt zu legen. Heute lügt er dem Leben und thut deinen wogenden Sinnen Ge-
walt an. Aber wer seinen Gott verloren hat, mag tief verwaist sein. Auf seinem neu-
en Weg kann da das Volk eine erste Station werden.75

In seinen frühen Texten evoziert Buber immer wieder religiöse Gemein-


schaftserlebnisse jenseits der tradierten Religion, welche in seinen Augen
lebensfeindlich76 geworden ist und die er als Rabbinismus und »Zwingherr-
67 Buber, Zur Geschichte des Messianismus (wie Anm. 1), S. 24.
68 Buber, Die Schaffenden, das Volk und die Bewegung (wie Anm. 44), S. 27.
69 Ebd., S. 29.
70 Ebd., S. 28–29.
71 Ebd., S. 29.
72 Buber, Jüdische Kunst (wie Anm. 47), S. 10.
73 Buber, Die Schaffenden, das Volk und die Bewegung (wie Anm. 44), S. 27.
74 Vgl. Buber, Wege zum Zionismus (wie Anm. 47), S. 42.
75 Buber, Die Schaffenden, das Volk und die Bewegung (wie Anm. 44), S. 27.
76 So auch Bubers Stoßrichtung in der Rede »Alte und neue Gemeinschaft« (1900), in
der er vom »Glaubenswort, das dem Leben lügt«, spricht (Martin Buber: Alte und
neue Gemeinschaft. In: Paul Mendes-Flohr: Von der Mystik zum Dialog. Martin
224 Teil II

schaft des Gesetzes«77 abwertet. Das »Programm der Selbsterlösung in und mit
einer Gemeinschaft«78 ist für diese Texte leitend.
Bubers Ansichten zu Messianismus und Zionismus werden sich im Laufe
der Jahre erheblich ändern. So wird er die pauschale Verwerfung der Diaspora-
Kultur revidieren, je mehr er sich überhaupt mit den jüdischen Quellen einge-
hend beschäftigt, etwa ab 1904 mit der chassidischen Literatur. Seine Nacher-
zählungen chassidischer Geschichten in den beiden Bänden Die Geschichten
des Rabbi Nachman (1906) und Die Legende des Baalschem (1908) machen
ihn schnell berühmt. Statt Religion pauschal als lebensfeindlich abzuwerten,
wird Buber später versuchen, einen Begriff von Religion zu entwickeln, der
sich von Religion als Konfession, als Ritus und Dogma unterscheidet, sei es
nun, indem er zwischen Religiosität und Religion differenziert wie in den Drei
Reden über das Judentum (1911), sei es, dass er Religion als existentielle Le-
benseinstellung versteht wie in seiner dialogischen Philosophie nach dem
Ersten Weltkrieg (vgl. Kap. I.3.2; II.2.2).79
Die Gemeinschaft und Führergestalten bleiben allerdings Bezugspunkte von
Bubers Messianismus. Wenn Buber später80 auf unterschiedliche Weise ver-
sucht, das Verhältnis von nationaler und universaler Gemeinschaft über messi-
anische Konzeptionen zu denken, so geht der Messianismus beim frühen Bu-
ber noch nicht über den Zionismus hinaus. In dem Text »Zur Geschichte des
Messianismus« etwa interpretiert Buber den Messianismus noch ganz als nati-
onale jüdische Bewegung. Das Verhältnis von nationaler und universaler Ge-
meinschaft wird beim frühen Buber durch die Auffassung bestimmt, in einer
Epoche allgemeiner Völkerrenaissance, der »Selbstbesinnung der Völkersee-
len«81 zu leben, an der die »Jüdische Renaissance« teilhabe.82 Messianismus

Bubers geistige Entwicklung bis hin zu »Ich und Du«. Übers. von Dafna A. von
Kries. Königstein i. Ts.: Jüdischer Verlag 1979, S. 183–188, hier: S. 185).
77 Buber, Jüdische Renaissance (wie Anm. 41), S. 14.
78 Treml, Einleitung (wie Anm. 53), S. 47.
79 In einem Gespräch über »Religion und Politik« in Stuttgart am 17.02.1929 definiert
Buber Religion wie folgt: »Religion ist die unbedingte Annahme des Lebens […] in
seiner ganzen, realen Doppelseitigkeit, d. h. des Lebens, insofern es sich uns antut,
und des Lebens, insofern es von uns getan wird […].[…] Das sagt zugleich, daß […]
ich dieses Leben in meiner ganzen Unzulänglichkeit dennoch dialogisch zu leben
versuche […]. […] Also es ist nichts anderes als die Konkretheit, die mit jeder Stun-
de, mit jeder mir entgegentretenden Situation eine neue Gestalt, einen neuen Aus-
druck findet. Es gilt also nichts ein für allemal. Denn so, wie ich nicht die Situation
vorauszusehen vermag, die im nächsten Augenblick an mich herantritt bezw. meine
Bereitschaft von mir fordert, so kann ich mich schlechthin nicht vorbereiten, kann
ich nirgends nachsehen, was werde ich nun im nächsten Augenblick tun« (Martin
Buber: Stuttgarter Gespräch. 17.02.1929, TS, JNUL MBA Arc. Ms. Var. 350
43a/Zajin, S. 9–11).
80 So bereits in den Drei Reden über das Judentum.
81 Buber, Jüdische Renaissance (wie Anm. 41), S. 7.
82 Vgl. Schäfer, Einleitung (wie Anm. 49), S. 25–28.
2 Messianische Figuren bei Martin Buber 225

und Zionismus bleiben bei Buber zeitlebens eng miteinander verbunden. Wenn
Buber allerdings in »Zur Geschichte des Messianismus« den Messianismus als
nationale Bewegung und damit in der Perspektive auf den Zionismus hin inter-
pretiert, so wird er später umgekehrt den Zionismus vom Messianismus her
deuten. Damit verändert sich aber auch die Weise, wie Buber die jüdische
Nation imaginiert. In den Texten nach dem Ersten Weltkrieg stellt Buber die
Nation, im Anschluss an Deuterojesaja und die Rückkehr aus dem Babyloni-
schen Exil, als Rest vor, der weder Teil noch Alles ist und sich solcherart der
Gestalt entzieht.
Bubers Rhetorik, eine äußerliche, abgeleitete von einer inneren, unmittelba-
ren Gemeinschaft zu unterscheiden, erhält sich bis hin zu seinen späteren Tex-
ten nach dem Ersten Weltkrieg, wenngleich hier die Gemeinschaft weniger
positiv beschworen wird als Positivierungsbestrebungen entgegenläuft und
zum Hebel einer immanenten Kritik an den unpersönlichen Strukturen öffent-
licher Institutionen wird. Die berühmten Drei Reden über das Judentum (1911)
versuchen allerdings noch, eine hypostasierte innere Gemeinschaft positiv zu
benennen. Buber rekurriert in diesem Zusammenhang auf das »Blut« als Me-
dium einer transgenerationalen nationalen Gemeinschaft, was gemeinhin als
Metapher abgetan wird. Ich möchte demgegenüber im folgenden Kapitel der
Spur eines unausgesprochenen Lamarckismus in Bubers Reden nachgehen.

2.2 Auf der Suche nach der Substanz: Bubers Drei Reden über
das Judentum

Bubers Drei Reden über das Judentum (veröffentlicht 1911), auf Einladung
des Vereins Jüdischer Hochschüler »Bar Kochba« in Prag gehalten, übten auf
seine Zeitgenossen eine große Wirkung aus. Gershom Scholem erinnert sich,
dass er zu denjenigen gehöre,
die in ihrer Jugend, als diese Reden erschienen, tief von ihnen bewegt wurden, und
die – wie es auch ihrem Autor selber geschah – diese Seiten viele Jahre später nur
noch mit dem Gefühl tiefer Entfremdung lesen können. […] Und dennoch ging von
diesen Worten seinerzeit eine bedeutende Magie aus. Ich wüßte aus jenen Jahren
kein Buch über das Judentum zu nennen, das auch nur annähernd solche Wirkung
gehabt hat – nicht bei den Männern der Wissenschaft, die diese Reden kaum gelesen
haben, sondern bei einer Jugend, die hier zum Aufbruch gerufen wurde, mit dem
viele Ernst gemacht haben.83

Die Drei Reden kreisen um das Problem jüdischer Identität und appellieren
daran, sich auf ein Jüdischsein zu besinnen, das nicht in einer »immer geistes-
leerer werdenden Tradition« (DR 51), in »Dogma und Norm, Kult und Regel«
83 Gershom Scholem: Martin Bubers Auffassung des Judentums. In: Ders.: Judaica 2.
Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1970 (Bibliothek Suhrkamp; 263), S. 133–193, hier:
S. 148f.
226 Teil II

(DR 12f.) oder »Erbgewohnheit« (DR 11) aufgehe. Ein solches Judentum
kennzeichnet Buber als abstrakt und stellt ihm die Forderung entgegen, »wahr-
haft von innen heraus Jude zu sein« (DR 27), aus der Bejahung »jüdische[r]
Existenz« (DR 28) heraus. Denn nicht auf ein Bekenntnis käme es an, sondern
darauf, »dass der, der seine Wahrheit in sich aufgenommen hat, sie lebe« (DR
30). Rhetorisch dürfte die große Wirkung von Bubers Drei Reden darauf beru-
hen, dass Buber ein Jüdischsein jenseits von Religion und den äußeren Charak-
teristika einer Nation (territoriale Heimat, Sprache und Sitte) postuliert und
damit gerade auch ein überwiegend akkulturiertes Prager Publikum anzuspre-
chen vermag.
Bubers Reden bauen auf einer antithetischen Argumentation auf. Auf ver-
schiedenen Ebenen setzt Buber Dynamik und Erstarrung, »innere[] Wirklich-
keit« (DR 12) und äußere Form, einander entgegen. In der ersten Rede, »Das
Judentum und die Juden«, fragt Buber danach, welcher Art die Gemeinschaft
sei, »von der wir Zeugnis ablegen, wenn wir uns Juden nennen« (DR 11).
Zwei Antworten liegen bereit: Religion oder Nation. Nun existiere, so Buber,
eine »unmittelbare jüdische Religiosität« (DR 14) nur noch als Erinnerung
oder Hoffnung, wobei Buber als Religiosität ein Leben in einem »eigentümli-
che[n] Verhältnis zum Absoluten« (DR 13), als »elementares Gottgefühl« (DR
14) versteht. Eine solche Religiosität soll den Gegensatz zu Religion als
»Dogma und Norm, Kult und Regel« bilden (DR 12f.).84
In den Drei Reden betrachtet Buber das Judentum weder als Religion noch
als Religiosität. Stattdessen beruft er sich auf eine »nationale Existenz« (DR
15) als »lebendige«, »dauernde Substanz« (DR 16) jenseits der äußeren natio-
nalen Merkmale territoriale Heimat, Sprache und Sitte. Diese fehlten dem
Judentum, so dass ihm Umwelt und die »Welt der Substanz« (DR 22) ausei-
nanderfielen. Die »dauernde«, »bleibende[] Substanz« (DR 17), die das »inne-
re[] Judentum« (DR 15) ausmachen soll, finde, wer in der
Unsterblichkeit der Generationen die Gemeinschaft des Blutes [fühlt] […] als das
Vorleben seines Ich, als die Dauer seines Ich in der unendlichen Vergangenheit. Und
dazu gesellt sich, von diesem Gefühl gefördert, die Entdeckung des Blutes als der
wurzelhaften, nährenden Macht im Einzelnen, die Entdeckung, daß die tiefsten
Schichten unseres Wesens vom Blute bestimmt, daß unsere Gedanken und unser
Wille zutiefst von ihm gefärbt sind. Jetzt findet und empfindet er: die Umwelt ist die
Welt der Eindrücke und Einflüsse, das Blut ist die Welt der beeindruckbaren,
beeinflußbaren Substanz, die sie alle in ihren Gehalt aufnimmt, in ihre Form verar-
beitet. Und nun fühlt er sich zugehörig nicht mehr der Gemeinschaft derer, die mit
ihm die konstanten Elemente des Erlebens haben [d. h. territoriale Heimat, Sprache
und Sitte; Anm. E. D.], sondern der tieferen Gemeinschaft derer, die mit ihm die
gleiche Substanz haben (DR 19).

84 Die Unterscheidung zwischen Religion und Religiosität hat Buber offenbar von
Georg Simmel übernommen (vgl. Paul Mendes-Flohr: Von der Mystik zum Dialog.
Martin Bubers geistige Entwicklung bis hin zu »Ich und Du«. Übers. von Dafna A.
von Kries. Königstein i. Ts.: Jüdischer Verlag 1979, S. 83–85).
2 Messianische Figuren bei Martin Buber 227

Auch wenn Buber sich in der dritten Rede gegen evolutionäre Denkweisen
ausspricht,85 wird man wohl schwer umhinkommen, in einer über das Blut
erfolgenden Vererbung der »Disposition, Eindrücke zu verarbeiten« (DR 23),
eine Nähe zu lamarckistischen Vorstellungen zu bemerken.86 Man macht es
sich dann doch zu leicht, wenn man Bubers Rede vom »Blut« nur in einem
übertragenen Sinne als »Symbol der geistigen Volkspersönlichkeit«87 verstan-
den wissen will. Wohl kein reiner Lamarckismus kennzeichnet Bubers Ge-
dächtnistheorie des Blutes, wohl aber eine Gemengelage aus Lamarckismus,
d. h. der Vorstellung einer Vererbung erworbener Eigenschaften und Disposi-
tionen,88 und mystischer Geschichtsvorstellung, die die Zeitschranken ignoriert
und alle Zeitalter miteinander in aktuale Verbindung bringt.89 Die Verqui-
ckung von Mystik und Evolutionsbiologie ist uns bereits in Landauers frühen
Texten begegnet (vgl. Kap. I.3.1). Landauer behauptet eine universale Körper-
und Blutsgemeinschaft mit allen menschlichen und tierischen Vorfahren, eine
»große Gemeinschaft der Lebendigen«,90 die die lineare Zeitfolge überschreite
und einen dynamischen Zusammenhang bilde, den Landauer einem Staat und
Gesellschaft zugeschriebenen mechanischen Determinismus entgegenstellt.

85 Buber wendet sich mit der propagierten »Erneuerung des Judentums« gegen die
Vorstellung eines gesetzmäßigen, allmählichen Fortschritts, den er mit dem Begriff
der Evolution verbindet. Ein heroisches Leben werde hierdurch verhindert (vgl. DR
59–63).
86 Vom Blut als »Disposition« spricht Buber auch in: Die hebräische Sprache. In:
Ders.: Die Jüdische Bewegung. Bd 1. Berlin: Jüdischer Verlag 1916, S. 175–191,
besonders S. 180.
87 Ernst Simon: Martin Bubers lebendiges Erbe. In: Was kann uns Martin Buber heute
lehren? Hg. vom Didaktischen Zentrum der Johann Wolfgang Goethe-Universität
Frankfurt a. M. Frankfurt a. M. 1976, S. 17–51, hier: S. 20, zitiert nach: Treml, Ein-
leitung (wie Anm. 53), S. 59.
88 Mit Jean Lamarck und dessen Philosophie Zoologique (1809) werden gemeinhin
zwei von der späteren Evolutionstheorie verworfene Thesen verbunden: die These
vom allmählichen Wandel der Arten aufgrund der Anforderungen der Umwelt, der
Darwin die sprunghafte Veränderung entgegensetzt, und die These von der Verer-
bung derjenigen organischen Modifikationen, die durch den Gebrauch entstanden
sind. Unter Lamarckismus wird insbesondere diese »Vererbung erworbener Eigen-
schaften« verstanden. Eine kritische Auseinandersetzung mit der Rezeption La-
marcks als Vorläufer der Evolutionstheorie findet sich bei Sigrid Weigel, die auf den
Schwellencharakter von Lamarcks Werk zwischen Klassifikation der Arten und de-
ren Genealogie hinweist (vgl. Sigrid Weigel: Genea-Logik. Generation, Tradition
und Evolution zwischen Kultur- und Naturwissenschaften. München: Fink 2006, S.
209–215).
89 Über die Zeitschranken setzt sich nicht erst die Mystik, sondern auch schon der
Talmud hinweg (vgl. Yosef Hayim Yerushalmi: Zachor: Erinnere Dich! Jüdische
Geschichte und jüdisches Gedächtnis. Übers. von Wolfgang Heuss. Berlin: Wagen-
bach 1996 [Wagenbachs Taschenbücherei; 260], S. 50ff.).
90 Gustav Landauer: Skepsis und Mystik. Versuche im Anschluß an Mauthners
Sprachkritik. Berlin: Fleischel 1903, S. 38.
228 Teil II

Unterscheidet Landauer eine innere kosmische91 Erbmacht von einer äußeren


gesellschaftlichen Erbmacht,92 so Buber ein »inneres Judentum« von der Um-
welt der Diaspora. Bei beiden gilt das Blut als Medium eines kosmischen
(Landauer) bzw. eines transgenerationalen jüdischen (Buber) Gedächtnisses.
Noch ein anderer hat später auf den Lamarckismus zurückgegriffen, um
seine Theorie einer »archaische[n] Erbschaft«93 auf gattungs- wie auf volksge-
schichtlicher Ebene plausibel zu machen: Sigmund Freud in seinem Alters-
werk Der Mann Moses und die monotheistische Religion. Für Freud bildete die
Annahme einer »archaischen Erbschaft« das notwendige Scharnier zwischen
der Individual- und der Gruppenpsychologie. Freud betrachtet bekanntlich die
Religion als Menschheitsneurose in Analogie zum neurotischen Zwang des
Einzelpatienten. Beiden lägen Traumata zugrunde, die verdrängt worden wä-
ren, um nach einer Latenzzeit zurückzukehren. Die Frage ist nun, in welcher
Form ein in der Urzeit der Menschheit oder eines Volkes gelegenes Trauma,
von dem es keine mündlichen oder schriftlichen Zeugnisse gibt, an die Nach-
kommen weitergegeben werden könne. Hier kommt Freuds Theorie einer
archaischen Erbschaft ins Spiel, die nicht »nur Dispositionen, sondern auch
Inhalte umfaßt, Erinnerungsspuren an das Erleben früherer Generationen«94
und »unabhängig von direkter Mitteilung und von dem Einfluss der Erziehung
durch Beispiel«95 sei. Der Mord an dem Urvater als menschheitsgeschichtli-
ches Trauma und der von Freud behauptete Mord an Moses als volksgeschicht-
liches Trauma des Judentums seien in der Form einer »archaischen Erbschaft«
tradiert worden. Die Stationen der »archaischen Erbschaft«, die für Freud »den
besonderen Charakter des jüdischen Volkes«96 konstituieren, seien schlag-
wortartig ins Gedächtnis gerufen: mythischer Mord an dem Urvater, dessen
Verdrängung im Polytheismus, Wiederkehr des Verdrängten im – von Freud
als Erfindung den Ägyptern zugeschriebenen – Monotheismus in Form eines
allmächtigen Gottes, Verdrängung und Wiederkehr des Verdrängten, Wieder-
holung des Mordes durch die Juden, dieses Mal an der Reinkarnation des Ur-
vaters, Moses, Verdrängung des Mordes wie der Lehre des Moses und schließ-
lich die Erinnerung an die mosaische Lehre.
91 Landauer weitet die Gemeinschaft schließlich auch auf das »angeblich Unorgani-
sche« aus: »Und noch mehr Gemeinschaft, noch allgemeiner, noch göttlicher, noch
individueller sind wir, sofern wir mehr sind als Tier, sofern uns das angeblich Unor-
ganische, das Unendliche, das Weltall selbst einverleibt ist« (ebd., S. 41).
92 Vgl. Gustav Landauer: Durch Absonderung zur Gemeinschaft. In: Ders.: Zeit und
Geist. Kulturkritische Schriften 1890–1919. Hg. von Rolf Kauffeldt und Michael
Matzigkeit. Regensburg: Boer 1997, S. 80–99, besonders S. 97.
93 Sigmund Freud: Der Mann Moses und die monotheistische Religion. In: Ders.:
Studienausgabe. Hg. von Alexander Mitscherlich, Angela Richards und James Stra-
chey. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch-Verlag 2000, Bd 9, S. 455–581, hier: S.
545ff.
94 Ebd., S. 546.
95 Ebd., S. 547.
96 Ebd., S. 550.
2 Messianische Figuren bei Martin Buber 229

Freud analogisiert den Fortbestand von (unbewussten) Erinnerungsspuren


an das Erleben früherer Generationen mit der biologischen »Vererbung erwor-
bener Eigenschaften auf die Nachkommen«.97 Es ist hoch umstritten in der
Forschung, wie Freuds Hinweis auf die Entwicklungsbiologie zu beurteilen ist,
zumal er wusste, dass der Lamarckismus wissenschaftlich widerlegt war.98
Freud nimmt keine klare Position hinsichtlich der Frage ein, wie man sich die
Weitergabe erworbener Eigenschaften genauer vorstellen soll.99 Ein Rekurs
etwa auf das Blut, wie bei Buber, fehlt bei ihm. Dessen ungeachtet vertritt
Yerushalmi die These eines starken Lamarckismus bei Freud, den er nicht nur
auf systematische, sondern auch auf persönliche Gründe zurückführt:
Wenn nämlich ein ›Volkscharakter‹ (das ist Ihr100 Wort dafür), wirklich ›unabhän-
gig von direkter Mitteilung und von dem Einfluss der Erziehung durch Beispiel‹
übermittelt werden kann, so heißt das, daß ›Jüdischsein‹ unabhängig von ›Judentum‹
weitergegeben werden kann, daß ersteres unendlich ist, selbst wenn letzterem ein
Ende bereitet werden sollte. Womit anscheinend das Rätsel Ihrer eigenen jüdischen
Identität, welches Sie so sehr plagte, gelöst wäre.101

Es sei dahingestellt, ob für Freud selbst das Rätsel seiner jüdischen Identität
mit der Theorie einer »ererbte[n] Tradition«102 gelöst war. Wäre dem so, dann
hätte Freud dieses Rätsel auf eine Weise gelöst, die Bubers Argumentation in
den Drei Reden überraschend ähnlich ist. Was den Textbefund angeht, so lässt
sich sagen, dass Buber und Freud, bei allen Unterschieden, von der Wirksam-
keit einer ererbten, »nicht durch Mitteilung fortgepflanzte[n]«103 Tradition
ausgehen, die zur »Bildung eines Volkscharakters«104 beitrage. Freud und

97 Ebd., S. 547.
98 Vgl. ebd.
99 Vgl. Richard J. Bernstein: Freud und das Vermächtnis des Moses. Übers. von Dirk
Westerkamp. Hamburg: Europ. Verl.-Anst. 2008 (Eva-Taschenbuch; 253), S. 96.
Bernstein kritisiert die Annahme eines starken Lamarckismus bei Freud. Dadurch
werde der Blick auf Freuds eigentliche theoretische Errungenschaft: das Konzept
einer kulturellen Überlieferung, die die Dynamik des Unbewussten berücksichtigt,
verstellt. Freud habe uns einen »angemessene[n] Begriff von Tradition« gelehrt,
der »auch die Lücken und Brüche in der Überlieferung der Tradition dar[]stell[t].
Wir haben anzuerkennen, daß das, was bei der Weitergabe übermittelt wurde, nicht
immer das bewußt und direkt Mitgeteilte ist. Wir können nicht einmal angemessen
begreifen, was direkt mitgeteilt wurde, solange wir nicht verstehen, wie sehr und
wie häufig es durch die Dynamik unbewußter Vorgänge beeinflußt und entstellt
worden ist« (ebd., S. 107).
100 Yerushalmi fingiert im letzten Kapitel seines Buches einen »Monolog mit Freud«.
101 Yosef Hayim Yerushalmi: Freuds Moses. Endliches und unendliches Judentum.
Übers. von Wolfgang Heuss. Frankfurt a. M.: Fischer-Taschenbuch-Verlag 1999
(Fischer; 12336), S. 137.
102 Freud, Der Mann Moses (wie Anm. 93), S. 547.
103 Ebd.
104 Ebd.
230 Teil II

Buber stellen beide eine »offizielle[] Geschichtsschreibung«105 bzw. ein »offi-


zielle[s] […] Judentum« (DR 51) einer »verschollenen Tradition«106 bzw.
einem »unterirdische[n] Judentum« (DR 51) gegenüber. Diese Tradition füllen
sie zwar unterschiedlich. Bei Freud geht es um die verschollene Tradition des
Moses-Mordes und der mosaischen Lehre, die sich erst nach einer Latenzzeit
durchgesetzt habe.107 Buber hingegen meint mit dem »Kampf des offiziellen
gegen das unterirdische Judentum« (DR 51) einen »Kampf zwischen dem
Schema und der Sehnsucht« (DR 77), zwischen der »Erstarrung« (DR 80)
durch das »Zeremonialgesetz« (DR 80) und der »Unbedingtheit der Tat« (DR
84). Freud und Buber schreiben aber beide der verschollenen bzw. der unbe-
wusst ererbten Tradition eine viel größere Wirkung zu, als sie eine Tradition
haben könnte, die nur auf Mitteilung gegründet wäre. Diese »würde angehört,
beurteilt, eventuell abgewiesen werden wie jede andere Nachricht von außen,
erreichte nie das Privileg der Befreiung vom Zwang des logischen Den-
kens.«108 Soll sich für Freud hieraus der Zwangscharakter der religiösen Phä-
nomene erklären, so macht sich Buber die Befreiung vom Zwang des logi-
schen Denkens zunutze, um das Judentum als starkes Gefühl, jenseits des
»offiziellen Judentums«, zu evozieren, als affektives Erlebnis transgeneratio-
naler Einheit.109 »Was ist denn, ins Jüdische dekonstruiert, der Lamarckismus
anderes als das starke Gefühl, dass man, ob man will oder nicht, im Grunde
nicht aufhören kann, Jude zu sein […], weil das eigene jüdische Schicksal vor
langer Zeit durch die Väter bestimmt wurde, weil man im Blut hat, was man
am tiefsten und dunkelsten empfindet.«110 Ob Yerushalmis Analyse auf Freud
persönlich zutrifft, mag fraglich bleiben – Bubers Rhetorik in den Drei Reden
über das Judentum hat er damit aber, ohne es zu beabsichtigen, gut getroffen.
Denn im Unterschied zu Freud rekurriert Buber tatsächlich auf das Blut als
Medium einer transgenerationalen Gemeinschaft.
Die »tiefste Schicht der Disposition« (DR 23), das »große Erbe der Zeiten«
(DR 23), das Buber im Blut als dem Medium einer transgenerationalen jüdi-
schen Gemeinschaft verortet, ist das Erbe des von Buber beschworenen »Urju-
dentum[s]« (DR 53). Zu diesem, das im Gegensatz zu Priestertum, Rabbinis-
mus und Galuthjudentum stehe, zählt Buber Jakob, Moses, die Propheten, die
Rachebiten, die Essäer, das Urchristentum,111 die jüdischen Mystiker und

105 Ebd., S. 518.


106 Ebd., S. 519.
107 Vgl. ebd., S. 515–520.
108 Ebd., S. 548.
109 Vgl. zu Bubers Rhetorik des mystischen Einheitserlebnisses als Affekt Kapitel
I.3.2.
110 Yerushalmi, Freuds Moses (wie Anm. 101), S. 59.
111 Das Urchristentum stellt für Buber eine Bewegung dar, die viel eher »in einem
andern Sinne als dem historischen […] Ur-Judentum heißen [könnte], denn sie hat
mit dem Judentum weit mehr als mit dem zu schaffen, was man heute als Christen-
tum bezeichnet« (DR 82).
2 Messianische Figuren bei Martin Buber 231

Ketzer, schließlich die Chassidim. Das Erbe des Urjudentums sollen dabei die
folgenden drei Dispositionen darstellen: eine Tendenz zur Einheit, zur Tat112
und zur Zukunft. Statt von drei Tendenzen spricht Buber auch von drei Ideen,
beeilt sich aber, hinzuzufügen, dass mit Ideen »nicht abstrakte Begriffe, son-
dern natürliche Tendenzen des Volkscharakters« (DR 71) gemeint seien. Be-
reits in der ersten Rede, »Das Judentum und die Juden«, thematisiert Buber die
Einheit als nationale Einheit der Juden in der Diaspora, in einer Situation, in
der Umwelt und die von ihm hypostasierte Innenwelt auseinanderfallen. Es
gelte, »aus der Zwiespältigkeit zur Einheit zu kommen« (DR 25), indem man
eine Wahl treffe zwischen »Umwelt und Innenwelt, zwischen der Welt der
Eindrücke und der Substanz, zwischen Atmosphäre und Blut, zwischen dem
Gedächtnis seiner Lebensspanne und dem Gedächtnis von Jahrtausenden« (DR
26). Dabei könne es nicht darum gehen, sich von der umgebenden Kultur frei-
zumachen, »die ja von unseres Blutes innersten Kräften verarbeitet und uns
eingeeignet worden ist. Wir wollen und dürfen uns bewußt sein, daß wir in
einem prägnanteren Sinne als irgendein anderes Volk der Kultur eine Mi-
schung sind. Aber wir wollen nicht die Sklaven, sondern die Herren dieser
Mischung sein« (DR 26f.). Diese Sätze markieren den Abstand zwischen Bu-
bers Konzeption zu rassebiologischen Vorstellungen bzw. rassebiologischen
Reinheitsphantasien, auch wenn man Bubers Ansatz einen Lamarckismus nicht
absprechen kann.113
Buber beschließt die erste Rede mit einem Vergleich, dessen theologisch-
politische Logik von seiner Kenntnis der modernen Religionssoziologie zeugt:
[W]ie die Juden der Urväterzeit, um sich aus der Entzweiung ihrer Seele, aus der
›Sünde‹ zu befreien, sich ganz an den nichtentzweiten, den einen einheitlichen Gott
hingaben, so sollen wir, die wir in einer andern, besonderen Zweiheit stehen, uns
daraus befreien, nicht durch Hingabe an einen Gott, den wir nicht mehr wirklich zu
machen vermögen, sondern durch Hingabe an den Grund unseres Wesens, an die
Einheit der Substanz in uns, die so einig und einzig ist, wie der einige und einzige
Gott, den die Juden damals aus ihrer Sehnsucht nach Einheit hinaufgehoben haben
an den Himmel ihres Daseins und ihrer Zukunft (DR 30f.).

112 Die Tat definiert Buber als »lebendige[], mit Gott verbindende[] Tat« (DR 81), die
sich nicht inhaltlich, sondern durch die »Intention auf das Göttliche« (DR 87)
bestimme und sich gegen das »Zeremonialgesetz« (DR 80) auflehne. Die Idee der
Einheit und die Idee der Zukunft, die für Buber die Idee des Messianismus ist, wer-
den im Folgenden noch ausführlicher analysiert.
113 Alfred Rosenberg hat in den Nürnberger Prozessen versucht, sich unter Berufung
auf Passagen aus Bubers Drei Reden auf einen Zeitgeist hinaus- und vom Antise-
mitismus freizureden (vgl. Schäfer, Einleitung [wie Anm. 49], S. 37). In seinem
berüchtigten Mythus des 20. Jahrhunderts (1930) hatte Rosenberg Buber noch als
einen Exponenten des »jüdischen Mythus« behandelt, den er als »schmarotzerhaf-
ten Weltherrschafts-Traum« verunglimpfte (vgl. Alfred Rosenberg: Der Mythus
des 20. Jahrhunderts. Eine Wertung der seelisch-geistigen Gestaltenkämpfe unserer
Zeit. München: Hoheneichen-Verl. 1935, S. 459–466).
232 Teil II

Buber hat 1898 und 1900/1901 bei Georg Simmel in Berlin studiert.114 Nicht
nur dessen Unterscheidung zwischen Religiosität und Religion, sondern auch
dessen These, dass die göttliche Einheit die Sublimation und Idealisierung der
sozialen Einheit darstelle,115 macht sich Buber für seine Strategie der kulturel-
len Affirmation, der »Selbstbejahung des Juden« (DR 29), zu Nutze und inter-
pretiert sie auf seine Weise. Die Funktion, die früher die Religion erfüllt habe,
nämlich Repräsentation von Einheit zu sein, komme nun dem Volk zu. In
obigem Zitat verortet Buber, mit Lefort formuliert, die Bedeutung der Religion
in der wesentlichen Repräsentation des Einen, welche auf die politische Verei-
nigung übertragen wird.116 Wo die Religion mit der Sehnsucht nach substan-
tieller gesellschaftlicher Einheit im Bunde steht, sieht Lefort das Potential für
ein »totalitäre[s] Abenteuer«117 – das der Erste Weltkrieg eine Zeit lang in der
Tat für Buber werden sollte, als er deutschnationale und jüdische Einheit kom-
plementär denkt.118
Als allgemeine psychologische Problematik thematisiert Buber das Streben
nach Einheit in der zweiten seiner Reden über das Judentum, »Das Judentum
und die Menschheit«. Buber erklärt es hier zu einer »Grundtatsache der psy-
chischen Dynamik, daß die Vielfältigkeit seiner Seele dem Menschen immer
wieder als Zweiheit erscheint« (DR 40), die eine Wahl erforderlich mache.
Diese Grundform betreffe jeden Einzelnen und damit die Menschheit schlecht-
hin, soll es doch um das »Mysterium der Urzweiheit […] [als] Wurzel und

114 Vgl. zu Bubers Studienjahren Treml, Einleitung (wie Anm. 53), S. 29–35.
115 Vgl. Georg Simmel: Die Religion. Frankfurt a. M.: Rütten & Loening 1906 (Die
Gesellschaft; 2), S. 52f. (in Bubers Reihe Die Gesellschaft erschienen; in der über-
arbeiteten Fassung von 1912 erweist Simmel Buber seine Reverenz, indem er eine
chassidische Geschichte einfügt), sowie ders.: Die Soziologie der Religion. In:
Neue deutsche Rundschau 9 (September 1898), S. 111–123, besonders S. 114,
S. 118. Paul Mendes-Flohr ist dem Zusammenhang von Bubers und Simmels Tex-
ten eingehender gefolgt. Er vertritt freilich die These, dass Buber die Tendenz ha-
be, soziologische Termini ihres spezifischen Inhalts zu berauben, um sie in den Be-
reich der metaphysisch fundierten Persönlichkeit zu transferieren (vgl. Mendes-
Flohr, Von der Mystik zum Dialog [wie Anm. 84], S. 83–87).
116 Vgl. Claude Lefort: Fortdauer des Theologisch-Politischen? Übers. von Hans
Scheulen. Wien: Passagen-Verlag 1999, S. 56.
117 Ebd., S. 62.
118 Vgl. Martin Buber: Die Tempelweihe. In: Ders.: Die Jüdische Bewegung. Bd 1.
Berlin: Jüdischer Verlag 1916, S. 230–243, hier: S. 241: »Jetzt aber hat der Jude in
dem katastrophalen Vorgang, den er in den Völkern miterlebte, bestürzend und er-
leuchtend das große Leben der Gemeinschaft entdeckt. Und es hat ihn erfaßt. Er
blieb nicht Atom; er wurde mitgerissen; er schloß sich glühend der Gemeinschaft
an, die ihm so ihr Leben offenbarte, – der Gemeinschaft, die ihn in diesem Augen-
blick am stärksten brauchte. Wird ihn das der Gemeinschaft, die ihn in der Ewig-
keit braucht, der tiefen Gemeinschaft seines Blutes und seiner Art, entfremden?
Ich glaube, daß es ihn ihr wiederbringen wird. Gemeinschaftsgefühl ist in ihm er-
glommen, er fühlte in sich etwas entbrennen, wovor aller Nutzzweck zusammen-
fiel, er erlebte den Zusammenhang.«
2 Messianische Figuren bei Martin Buber 233

Sinn allen Geistes« (DR 41) gehen. In keinem Menschen sei die Grundform
jedoch so stark wie »im Juden« (DR 41).119 Nirgends, so Buber weiter, habe
die Grundform der Zweiheit aber »etwas so Ungeheures, so Paradoxes, Heroi-
sches, so Wunderbares geschaffen wie dieses Wunderbare: das Streben des
Juden nach Einheit« (DR 41). Aus der Entzweiung der Welt habe der Jude das
»messianische Ideal [geschaffen], das eine spätere Zeit, auch wieder unter
führender Mitwirkung von Juden, verendlicht und Sozialismus genannt hat«
(DR 47).
Bereits im Zusammenhang mit Bubers Erlebnis-Mystik hatten wir gesehen,
wie Buber verschiedene Einheiten ineinanderblendet (vgl. Kap. I.3.2). Auch in
den Drei Reden lässt Buber unterschiedliche Einheiten sich ineinander spie-
geln: die Einheit des Selbst, die Einheit der Nation, die Einheit der Mensch-
heit. In der ersten Rede repräsentieren sich der Einzelne und das Volk wech-
selseitig in der rhetorischen Figur des pars pro toto. Das Volk wird als ein
»Stück[] von mir« (DR 29) figuriert und als »Volk in mir« (DR 29) apostro-
phiert, und umgekehrt wird der Einzelne als ein »Glied« in der »Kette« der
»Gemeinschaft von Toten, Lebenden und Ungeborenen« vorgestellt (vgl. DR
20). Dieses Verhältnis spiegelt sich in der sprachlichen Performanz des Vor-
trags wider, insofern Buber teils in der Form des »wir« oder »wir Juden«
spricht, teils vom Einzelnen in der Form von »er« oder »der Jude« und zwi-
schen diesen Formen übergangslos gleitet. In der zweiten Rede lässt Buber
»den Juden« die »innere Dualität« (DR 42–44) par excellence personifizieren,
die er zu einer allgemein menschlichen psychischen Realität erklärt. In der
dritten Rede schließlich repräsentiert (oder aber verfehlt) ein endliches, relati-
ves Judentum ein unendliches, absolutes Judentum, das Buber mit dem »Ju-
dentum als geistige[m] Prozess« (DR 70) zusammenfallen lässt und durch die
bereits erwähnten drei unterstellten »natürlichen Tendenzen des Volkscharak-
ters« (DR 71) (die Idee der Einheit, der Tat, der Zukunft) charakterisiert. Das
Judentum als »geistiger Prozess« partizipiere wiederum am »wandernden und
suchenden Menschengeist[]« (DR 72).120
Mit Hilfe dieses Systems von Repräsentationen nimmt Buber immer von
neuem Anlauf, substantielle Einheiten zu konstruieren. Buber bemüht sich
nun, nicht nur über Einheit zu reden, sondern sie unmittelbar zu evozieren.121

119 Dieses allgemeine Reden über den Juden zieht sich durch alle drei Reden, worin
sich sprachlich Bubers Versuch einer phänomenologischen Volkspsychologie nie-
derschlägt.
120 Vgl. DR 72: »Jedes Volk von starken spezifischen Gaben hat solche ihm eigen-
tümlichen Tendenzen […], so daß es gleichsam zweimal lebt, das eine Mal flüchtig
und relativ in der Folge der Erdengeschlechter, der kommenden und schwindenden
Geschlechter, das zweite Mal – gleichzeitig – bleibend und absolut in der Welt des
wandernden und suchenden Menschengeistes. […] Das relative Leben bleibt der
Besitz des Volksbewußtseins, das absolute geht unmittelbar oder mittelbar in das
Bewußtsein der Menschheit ein«.
121 Vgl. zu Bubers Rhetorik der Evokation unmittelbarer »Erlebnisse« auch Kap. I.3.2.
234 Teil II

Die virtuose Schlusssequenz des ersten Vortrags ist dafür ein hervorragendes
Beispiel. Handelt Buber in der Rede von der transgenerationalen Gemein-
schaft, so identifiziert er im letzten Absatz in einer geschickten Rhetorik seine
Zuhörer und sich selbst mit Personen aus dem Talmud:
Als ich ein Kind war, las ich eine alte jüdische Sage, die ich nicht verstehen konnte.
Sie erzählte nichts weiter als dies: ›Vor den Toren Roms sitzt ein aussätziger Bettler
und wartet. Es ist der Messias.‹ Damals kam ich zu einem alten Mann und fragte ihn:
›Worauf wartet er?‹ Und der alte Mann antwortete mir etwas, was ich damals nicht
verstand und erst viel später verstehen gelernt habe; er sagte: ›Auf dich.‹ (DR 31)

Die Geschichte aus dem Talmud,122 die Buber zitiert, umfasst in Wirklichkeit
nicht nur die zwei Sätze, sondern auch noch den Fortgang, den Buber als per-
sönliches Kindheitserlebnis ausgibt. Tritt das Kind Buber in die talmudische
Geschichte ein und übernimmt die Position des Rabbi Josua Ben Levi, der im
Talmud den »alten Mann« – das ist in der talmudischen Geschichte kein ande-
rer als der Prophet Elias – fragt, wann der Messias kommt, so ist Buber zum
Zeitpunkt seiner Rede im Vergleich zu seinen Zuhörern selbst bereits ein – im
Verhältnis – älterer Mann von 33 Jahren. Mit der Antwort »Auf dich«,123 mit
der Buber die erste Rede schließt und unmittelbar seine Zuhörer in der aktuel-
len Vortragssituation adressiert, schlüpft der ältere Mann Buber in die Rolle
des Propheten Elias, der darüber hinaus noch der Tradition nach als Vorläufer
des Messias gilt und die Menschen versöhnen soll, bevor der Messias
kommt.124 Der Messianismus ist in Bubers Reden mehr als nur ein Verspre-
chen auf eine »absolute Zukunft«, tritt Buber doch als Prophet eines zur messi-
anischen Gemeinde stilisierten Publikums auf.
Vor allem über den Messianismus verhandelt Buber auch das Verhältnis
von Universalität und Partikularität in der kulturellen Selbstaffirmation des
122 Vgl. Der Babylonische Talmud. Übers. von Lazarus Goldschmidt. Bd 9. Berlin:
Jüdischer Verlag 1934, S. 71 (Sanhedrin 98a). Vgl. hierzu auch Emmanuel Levi-
nas: Messianische Texte. In: Ders.: Schwierige Freiheit. Versuch über das Juden-
tum. Übers. von Eva Moldenhauer. Frankfurt a. M.: Jüdischer Verlag 1992, S. 58–
103, hier: S. 74.
123 Buber variiert hier die talmudische Geschichte, in der der Prophet Elias in Anspie-
lung auf Ps 95,7 sagt, dass der Messias noch am gleichen Tag käme, »wenn ihr
h e u t e auf seine Stimme hören werdet«. Auch Bubers Schwiegersohn Ludwig
Strauß hat die bekannte talmudische Geschichte in seinem Fragment gebliebenen
Versepos Messianische Wanderschaft poetisch modifiziert und ihr wie Buber eine
dezidiert innerweltliche Pointe gegeben (vgl. hierzu Hans Otto Horch: »Inseln der
messianischen im Meer der unerlösten Zeit«. Messianische Spuren bei Ludwig
Strauß. In: Jens Mattern, Gabriel Motzkin und Shimon Sandbank [Hg.]: Jüdisches
Denken in einer Welt ohne Gott. Festschrift für Stéphane Mosès. Berlin: Vor-
werk 8 2001, S. 205–223, besonders S. 218).
124 Vgl. Mal 3,23f.: »Siehe, ich sende euch Elijah, den Propheten, bevor eintrifft der
Tag des Ewigen, der große und furchtbare. Und er wird zurückführen das Herz der
Väter zu den Kindern, und das Herz der Kinder zu ihren Vätern, dass ich nicht
komme und schlage die Erde mit Bann.«
2 Messianische Figuren bei Martin Buber 235

Judentums. In der dritten Rede, »Die Erneuerung des Judentums«, expliziert


Buber die postulierten drei »natürlichen Tendenzen des jüdischen Volkscha-
rakters«. Hierzu gehöre der Messianismus als »Idee der absoluten Zukunft«
(DR 91). Der Messianismus, die »am tiefsten originale Idee im Judentum«
(DR 91), sei zwar eine der Quellen des Sozialismus, gehe aber über diesen
hinaus ins Unendliche und Absolute, dessen »Gestalt« nur zu ahnen sei (vgl.
DR 95). Rhetorisch stellt der Messianismus in Bubers Rede ein so unbestimm-
tes wie pathetisches Versprechen auf eine erfüllte universale »Menschenge-
meinschaft« (DR 94) dar, zu der die Verwirklichung der nationalen jüdischen
Gemeinschaft sich wie das relative Mittel zum absoluten Ziel verhalten soll
(vgl. DR 92). Das messianische Paradox, das sich hier abzeichnet, ist charakte-
ristisch auch für Bubers spätere Schriften: Einerseits sei der Messianismus
konstitutiv für das Judentum als Nation; andererseits überschreite das Mensch-
heitsideal des Messianismus alle nationalen Grenzen.
Zur Nation werde ein Volk, wenn es sich in Differenz zu anderen Völkern
begreife und sich seiner »Aufgabe an der Menschheit«125 bewusst werde, so
Buber 1921. Buber trifft damit einen Punkt, der auch in den Augen des Histo-
rikers Hans-Ulrich Wehler Ethnie und Nation (als Konstrukt) voneinander
unterscheidet: Die Nation zehre ungleich stärker vom Bewusstsein der Diffe-
renz im Verhältnis zum »Anderen« sowie von einem »Auserwähltheits- und
Sendungsglauben mit seiner spezifischen Glücksverheißung«.126 Ein messiani-
sches Sendungsbewusstsein gehört für Wehler schlechthin zur politischen
Theologie des modernen Nationalismus.127 Wenn Buber meint, das Differenz-
kriterium zwischen einem legitimen und einem illegitimen Nationalismus
könne sein, ob eine Nation sich als Selbstzweck versteht oder von einer über-
nationalen Aufgabe her, so entgeht ihm, dass das messianische Sendungsbe-
wusstsein gerade einen nationalen Egoismus begründen kann. Eben deswegen
hat ja Franz Rosenzweig messianische Politik Kriegspolitik genannt (vgl. Kap.
II.5). Die Unterscheidung zwischen legitimem und illegitimem Nationalismus
ist zu ambivalent, um die »nationalistische[] Krisis der Menschenvölker«128 zu
beheben, wie Buber es sich nach dem Ersten Weltkrieg vorstellt.
Buber umkreist immer wieder das messianische Paradox. Ist es in den Drei
Reden mit einer Mittel-Zweck-Logik verbunden – die Verwirklichung der
jüdischen Gemeinschaft als Mittel zur Verwirklichung der universalen Ge-
meinschaft –, so operiert Buber 1916 in seiner Auseinandersetzung mit Her-
mann Cohen über den Zionismus mit einer eher lokalen Logik. Buber wehrt
125 Martin Buber: Nationalismus. Rede in Karlsbad anläßlich des XII. Zionisten-
Kongresses, am 5. September 1921. In: Ders.: Der Jude und sein Judentum. Ge-
sammelte Aufsätze und Reden. 2. Aufl., Gerlingen: Schneider 1993, S. 302–312,
hier: S. 306f.
126 Hans-Ulrich Wehler: Nationalismus. Geschichte, Formen, Folgen. 3. Aufl., Mün-
chen: Beck 2007 (Beck’sche Reihe: C.-H.-Beck-Wissen; 2169), S. 40.
127 Vgl. ebd., S. 28, 31.
128 Buber, Nationalismus (wie Anm. 125), S. 312.
236 Teil II

sich gegen den Vorwurf Cohens, der Zionismus gebe den universalen An-
spruch des jüdischen Messianismus auf. Sieht Cohen in der Zerstreuung der
Juden eine Vorbereitung der messianischen Menschheit, so hält Buber dage-
gen:
In der m e s s i a n i s c h e n Menschheit mag das Judentum dereinst aufgehen, mit ihr
verschmelzen; nicht aber vermögen wir einzusehen, daß das jüdische Volk in der
h e u t i g e n Menschheit untergehen müsse, damit die messianische erstehe: vielmehr
muss es eben darum mitten in ihr […] verharren […] als ein sein Ideal um dieser
Menschheit willen und ihr gegenüber frei und ungehindert verwirklichendes Volks-
tum.129

In der Diaspora soll die Berufung auf den Messianismus also dazu dienen, das
Nationalgefühl der Juden zu stärken und sie zur Sammlung in Palästina zu
animieren. In Palästina dagegen soll das messianische Bewusstsein die Gren-
zen dieser Nation, die es wesentlich mit begründet hat, transzendieren: »Das
Streben nach der ›Heimstätte‹ ist ein nationales; ihr eigenes Streben, das Stre-
ben des jüdischen Gemeinwesens in Palästina wird ein übernationales sein
müssen.«130 In seiner dialogischen Phase wird Buber dieses messianische
übernationale Streben als ein dialogisches erkennen. So kann sich Buber später
gerade auf den jüdischen Messianismus beziehen, um für eine binationale
politische Lösung in Palästina zu plädieren. Buber wird schließlich in den
1920er Jahren konzeptuell an eine historische Form des jüdischen Messianis-
mus anschließen, die das messianische Paradox, eine Nation zu begründen wie
zu transzendieren, figuriert: Im Rückgriff auf den biblischen Deuterojesaja, der
vor dem Hintergrund der Rückkehr aus dem Babylonischen Exil geschrieben
hat, erscheint die Nation als Rest, weder Teil noch alles, ein Nicht-Alles,
Nicht-Ganzes, dem wir im Folgenden nachzugehen haben.

2.3 »Theopolitik«. Buber über jüdischen und christlichen


Messianismus und das Verhältnis von Politik und Religion
nach dem Ersten Weltkrieg

»Aus litterarisch=historisch=mythologischer Bewunderung großer Zeiten u.


Menschen heraus betrachten sie [die Ästheten; Anm. E. D.] die Welt. Aber nie
gehen sie als Tätige heran.«131 Im Mai 1916 hat Gustav Landauer seiner Em-

129 Martin Buber: Völker, Staaten und Zion. Ein Brief an Hermann Cohen und Be-
merkungen zu seiner Antwort. Berlin, Wien: Löwit 1917, S. 18 (im Original ge-
sperrt).
130 Ebd., S. 19.
131 Gustav Landauer: Zum Thema »Gott« und zum Thema »Revolution«… MS,
JNUL, Gustav-Landauer-Archiv, Arc. Ms. Var. 432/157, S. 3. Die Sätze gehören
zu handschriftlichen, undatierten Notizen Landauers zu Buber und dem ersten
Weltkrieg.
2 Messianische Figuren bei Martin Buber 237

pörung über Bubers Kriegsbegeisterung in einem Brief Ausdruck verschafft, in


dem er Buber des Formalismus und Ästhetizismus zeiht. Nichts anderes als
dies sei Bubers Emphase für das Gemeinschafts-»Erlebnis« im Krieg, von dem
laut Buber alle – vor allem auch alle deutschen Juden – ergriffen seien.
›Nur überhaupt Gemeinschaft‹ – das ist für Sie, was dieser Krieg gebracht hat, den
Menschen im allgemeinen und den Juden im besonderen. Und eben das nenne ich
ästhetisch und formalistisch. […] [I]rgendwie hätte zum mindesten anerkannt wer-
den müssen, daß unter den Hunderttausenden von Juden, sagen wir 23 bis 37 wären,
die nicht aus Gefühl der übermäßigen Pflicht, nicht in leidenschaftlichem Verlangen
in diesen Krieg gezogen wurden.132

In diesem Brief geht Landauer mit dem »Kriegsbuber«133 hart ins Gericht, was
offenbar zu der Änderung von Bubers Ansicht über den Krieg ab 1916 geführt
hat. Bubers Kriegsbegeisterung hat nicht nur etwas mit der »dunkle[n] Sei-
te«134 des Messianismus zu tun, mit der »katastrophalen und destruktiven
Natur der Erlösung«,135 die, nach apokalyptischer Vorstellung, die Vernich-
tung des alten Äons voraussetzt. Indem Landauer Bubers Gemeinschaftshypo-
stase ästhetisch und formalistisch nennt, legt er seinen Finger auf das für sie
beide zentrale Konzept – die Gemeinschaft –, das für Bubers messianisches
Denken ein ständiger Bezugspunkt ist und bleibt. Die Analogie zu einem äs-
thetischen Werk – Statue, Denkmal, Monument –, in der der frühe Buber die
Gemeinschaft mit Vorliebe gedacht hat, wird man in den späteren Schriften
nach dem Ersten Weltkrieg so nicht mehr finden. Der Erste Weltkrieg mag
Buber vor Augen geführt haben, dass eine »Gemeinschaft der menschlichen
Immanenz«,136 in der der Mensch seinen eigenen Werken gleich geworden ist,
eine Todesgemeinschaft darstellt, um noch einmal Jean-Luc Nancys philoso-
phische Analyse der Gemeinschaft zu bemühen. Denn die Immanenz als »ein-
heitsstiftende Verschmelzung […] birgt keine andere Logik in sich als die des
Selbstmordes der Gemeinschaft«,137 des gemeinsamen Todes, gelte es doch,
noch den Tod in die Immanenz einzuholen. Im Durchgang durch die messiani-
sche Tradition des Judentums findet Buber nach dem Ersten Weltkrieg schließ-
lich eine Figur, die sich geradezu als das Gegenteil seiner früheren Konzeptio-
nen ausnimmt – die Gemeinschaft nicht als Werk, sondern als »heiliger Rest«
(JCM VII 8, 10). Auch diese Figur ist nicht unproblematisch und lässt unter-
schiedliche Lesarten zu. Dass Buber in seinen späteren Texten versucht, die
132 Gustav Landauer an Martin Buber, 12.05.1916. In: Martin Buber: Briefwechsel aus
sieben Jahrzehnten. Hg. von Grete Schaeder. Bd 1. Heidelberg: Schneider 1972,
S. 436f.
133 Ebd., S. 433.
134 Treml, Einleitung (wie Anm. 53), S. 75.
135 Gershom Scholem: Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum. In:
Ders.: Über einige Grundbegriffe des Judentums. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1970
(Edition Suhrkamp; 414), S. 121–167, hier: S. 130.
136 Ebd., S. 33–34.
137 Ebd., S. 32.
238 Teil II

Gemeinschaft in einer Figur zu denken, die einer werkhaften Objektivierung in


vollendeter Einheit zuwiderläuft, darf man aber als Folge der Erfahrung des
Ersten Weltkrieges werten.
Wie im ersten Abschnitt möchte ich wieder von einem bisher unveröffent-
lichten Text ausgehen, um zu verfolgen, in welchen Bahnen sich Bubers Be-
schäftigung mit der messianischen Tradition nach dem Ersten Weltkrieg be-
wegt. »Jüdischer und christlicher Messianismus« heißt eine aus 8 Vorlesungen
bestehende Vorlesungsreihe, die Buber am Freien Jüdischen Lehrhaus in
Frankfurt gehalten hat, wo er ab 1922 tätig war.138 Zusätzlich zu den 8 Vorle-
sungen ist eine 33seitige Zusammenfassung der Vorlesungsreihe überliefert,
die als Skript gedient haben könnte. Die Vorlesungen und die Zusammenfas-
sung liegen in Form von Typoskripten vor, die teilweise handschriftlichen
Anmerkungen und Verbesserungen Bubers enthalten. Möglicherweise sind die
Typoskripte aus Mitschriften seiner Vorlesungen – durch Mitarbeiter, Freunde,
Studenten? – hervorgegangen. Die Vorlesungsreihe bildet den Abschluss von
Bubers »Vorlesungen über Judentum und Christentum«, die sich auf drei Tri-
mester verteilt haben, wobei er im ersten Trimester über »Jüdischen und christ-
lichen Glauben«, im zweiten über »Jüdische und christliche Erlösungslehre«
und im dritten schließlich über »Jüdischen und christlichen Messianismus«
gehandelt hat.139
Buber will in der Vorlesung die Frage, was der biblische Messianismus be-
deute, als historisches Entstehungsproblem verstanden wissen: »Wie ist aus
der Geschichte des jüdischen Volkes der Messianismus hervorgegangen? […]
Geschichte ist hier ganz menschlich zu nehmen: als Tatsächlichkeit dieses
Lebens dieser Geschlechter in seiner Ganzheit« (JCMZ 5). Dementsprechend
meint Buber, dass es bei der messianischen Konzeption nicht um »›Religion‹
als etwas von der Tatsächlichkeit des Lebens Abgehobenes, weit über sie Er-
hobenes« gehe, sondern »durchaus um eine Erfahrungsweise der Wirklichkeit
und was sich daraus ergibt« (ebd.). In diesen Sätzen drückt sich Bubers exis-
tentielles Verständnis von Glauben als einer »Erfahrungsweise der Wirklich-
keit« aus, das sich auch in seiner dialogischen Philosophie nach dem Weltkrieg
niedergeschlagen hat.
»[D]er Urmessianismus ist der Glaube an die Erfüllung des Königtums
[Gottes; Anm. E. D.]« (JCM VIII 5). Der jüdische Messianismus sei in seinem
Ursprung überhaupt nicht »Messianismus«, wenn man diesen auf die Gestalt
des Maschiach als den Gesalbten beziehe. Dieser sei erst später hinzugetreten.
138 Buber erwähnt den Ort der Vorlesungen, das Lehrhaus, in der ersten Vorlesung
(vgl. JCM I 1).
139 Im Vorwort zu seiner Monographie Königtum Gottes (1932) schreibt Buber, dass
er die Frage nach der Entstehung des israelitischen Messianismus seit sieben Jah-
ren mehrfach in Vorlesungen und Vorträgen zu klären versucht habe, »am ausführ-
lichsten in einem Frankfurter Kolleg des Wintersemesters 1924/25« (Martin Bu-
ber: Königtum Gottes. Berlin: Schocken 1932, S. X). Möglicherweise handelt es
sich um Mitschriften dieser Vorlesung.
2 Messianische Figuren bei Martin Buber 239

»Zuerst ist der Messianismus der Glaube an Gott als den König der Welt«
(JCMZ 26; vgl. auch JCM VIII 4). Das Königtum Gottes verweise auf kein
Jenseits, sondern bilde eine »Urvorstellung, ein Ur- und Grundwollendes des
ganzen Volkslebens« (JCM III 3). Es sei »so ernsthaft, so politisch real« zu
verstehen, »wie nur irgend ein Volk es meinen kann, wenn es von einem Kö-
nig spricht und von einem Königtum und von einem Königreich« (ebd.). Die
Königsproklamation nach dem Durchgang durchs Schilfmeer (»König bleibt er
in Weltzeit und Ewigkeit« (Ex 15,18, übersetzt nach Buber: JCM III 3) und
Gottes Annahme des Volkes als eines »Königsbereichs von Priestern« stellen
für Buber die zwei Seiten des »theopolitischen Akt[es]« (JCMZ 8; JCM IV 1)
dar, als den er den Bund zwischen Gott und Volk interpretiert:
Andere semitische, nomadische Stämme hatten den Glauben: es gibt den Gott, der
uns aus diesem Land in ein anderes führt. Dieser Gott wird vorgestellt als der göttli-
che Führer der Landnahme und mit dem Grundwort malk oder milk genannt, hebrä-
isch melek. […] Auch Israel hat die Vorstellung des Führergottes, des Gottkönigs,
des melek. Aber hier geschieht etwas besonderes: Israel versucht damit Ernst zu ma-
chen, dass es von Gott geführt wird. Es proklamiert mit beispiellosem Ernst und
stärkster Unmittelbarkeit Gott selber zum unmittelbaren König: ›König bleibt ER in
Weltzeit und Ewigkeit!‹140 Dazu V.Mos.33, wo es um denselben Vorgang der Kö-
nigsproklamation, aber in Form eines Rückblicks geht: ›So ward in Jeschurun ein
König, da sich scharten die Häupter des Volks, in eins Israels Stäbe.‹ D. h. damals
wuchsen die Stämme zu einem Volk zusammen und dies ist geschichtlich identisch
mit der Proklamation Gottes zum König. Das findet vollgültigen Ausdruck im Bund
zwischen Gott und König, der ein echter Königsbund ist (JCMZ 6).

Das Königtum Gottes beruht auf der Vorstellung, dass »Herrschaft […] nicht
das Amt des Menschen« (JCMZ 10) sei und dass »es auf eine menschliche
Gemeinschaft ohne jedes andere Recht als das göttliche, ohne jede andere
Herrschaft als nur die göttliche ankomme« (JCMZ 22). Die Unmittelbarkeit
der Herrschaft Gottes widerstrebt der Repräsentation durch einen oder mehrere
Menschen. Das israelitische Königtum Gottes fasst Buber als unmittelbaren
Gegenentwurf zur ägyptischen repräsentativen Herrschaftsordnung des Phara-
onentums auf. Aber auch von einer hierokratischen Verfassung, einer Priester-
herrschaft, unterscheidet Buber die ursprüngliche Theokratie in Israel.141 Der
ausschließlichen und unvermittelten Herrschaft Gottes entspricht die Figurati-
on des Volkes als eines »Königsbereichs von Priestern«, wie Buber Exodus
19,5–6, die erste Rede Gottes vom Sinai, übersetzt.142 Der Königsbereich ver-
weise, so Buber, auf den nächsten Umkreis, der den König umgibt; und die

140 Vgl. Ex. 15,18.


141 »[W]as Theokratie in der Geschichte heisst, wissen wir, das ist fast durchweg
Hierokratie, also Missbrauch der Bezeichnung« (JCM III 4).
142 »Und jetzt, hört ihr gehorsam auf meine Stimme und wahrt ihr meinen Bund,/ dann
seid ihr mir/ aus allen Völkern ein Sonderschatz./ Denn mein ist die ganze Erde./
Ihr aber/ sollt mir sein/ ein Königsbereich von Priestern,/ ein ausgesonderter
Stamm.« (Ex 19,5–6, übersetzt nach Buber: JCMZ 8).
240 Teil II

Cohanim, die geläufig Priester bezeichnen, bedeuteten ursprünglich »unmittel-


bare Diener«: »Solche unmittelbaren Diener, solche in unmittelbarer Bezie-
hung zum König stehenden, sollen die sein, die sein Mamleches Kohanim
ausmachen« (JCM III 5) – also das ganze Volk. Wo alle gleichermaßen Coha-
nim sind, entfällt die Hierarchie zwischen denen, die einen bevorzugten Zu-
gang zu Gott als König haben, zwischen den Priestern als gesonderter Gruppe,
und den anderen, denn wo alle Priester sind, sind alle gottunmittelbar, und es
kann keiner, sei’s König, sei’s Priester, eine Machtposition vor anderen aus der
Gottunmittelbarkeit herleiten. Seinem anarchischen Ansatz gemäß ignoriert
Buber die schwerwiegende Problematik des göttlichen Rechts und präsentiert
das Königtum Gottes als
den schwierigen Versuch, eine Gemeinschaft aus reiner Freiwilligkeit, von Men-
schenzwang unabhängig, aufzubauen, jeweils zwischen diesen Menschen da. Das
Volk, das diesem Ungeheuren nicht gewachsen ist, fällt je und je von seinem König
ab. Damit fällt es aber zugleich von seiner Einheit ab (JCMZ 9).

Auch der erste moderne Theoretiker der Theokratie, wie man Baruch de Spi-
noza – im Unterschied zu Buber ein kühler Denker more geomatrico, weswe-
gen sie bisher kaum verglichen wurden – nennen kann, hat hervorgehoben,
dass in der ersten Form der Theokratie in Israel keine Repräsentation der gött-
lichen Macht in irdischen Machtträgern vorgelegen habe. In dem 17. Kapitel
seines Theologisch-politischen Traktates, »Der Staat der Hebräer«, vergleicht
Spinoza diese erste Theokratie sogar mit der Demokratie:
Da die Hebräer ihr Recht143 auf keinen anderen übertrugen, sondern gerade wie in
der Demokratie alle gleichmäßig darauf verzichteten und wie aus einem Mund rie-
fen: ›Was Gott spricht (ohne einen Vermittler dabei zu bezeichnen), das wollen wir
tun‹, so ergibt sich daraus, dass alle auch nach diesem Vertrag völlig gleich blieben
und alle das gleiche Recht besaßen, Gott zu befragen, Gesetze anzunehmen und aus-
zulegen, dass überhaupt alle in gleicher Weise an der Regierungsverwaltung teil-
nahmen. Aus diesem Grunde traten beim ersten Male alle zugleich vor Gott, um zu
hören, was er befehlen wollte.144

Als die Israeliten Gott sprechen hörten, gerieten sie jedoch in Todesangst,
weswegen sie Moses baten, an ihrer Stelle mit Gott zu sprechen und als Über-
träger der Botschaft Gottes zu fungieren (vgl. Dtn 5,23–33). »Damit haben sie
offenbar den ersten Vertrag aufgehoben und ihr Recht, Gott zu befragen und
seine Erlasse auszulegen, auf Moses übertragen.«145 Die oberste Befehlsgewalt
lag nach Moses bei Josua, den Moses auf Gottes Geheiß zu seinem Nachfolger
ernannte, der aber nicht wie er die ganze Staatsverwaltung innehatte. Denn das
143 Im Kontext von Spinozas Philosophie bedeutet dieses Recht das natürliche Recht
zu allem, was einer vermag (vgl. Baruch de Spinoza: Theologisch-politischer Trak-
tat. Hg. von Günter Gawlick. Übers. von Carl Gebhardt. 3. Aufl., Hamburg: Mei-
ner 1994 [Philosophische Bibliothek; 93], S. 253).
144 Ebd., S. 255.
145 Ebd.
2 Messianische Figuren bei Martin Buber 241

Recht zur Gesetzesauslegung wurde auf Moses’ Bruder Aaron als Oberstem
der Leviten übertragen, dessen Söhne wiederum zu seinen Nachfolgern be-
stimmt wurden. Gleichzeitig waren die Leviten jedoch von allen Regierungs-
geschäften ausgeschlossen (wechselseitige Machtbeschränkung). Nach Josua
blieb die Stelle der obersten Befehlsgewalt vakant; es existierte hierfür kein
dauerhaftes, institutionelles Amt. Oberste Befehlshaber gab es nur in Notzei-
ten, die so genannten »Richter«. Sie wurden von Gott unmittelbar erwählt.
Schließlich brachen »die Israeliten das göttliche Recht völlig […] und [woll-
ten] einen sterblichen König«.146
Die Geschichte der Theokratie im alten Israel gibt Spinoza zu lesen als Ge-
schichte der Aufhebung eines ersten Vertrags, der einen Vergleich der The-
okratie mit der Demokratie erlaubt. Sobald Repräsentanten Gottes eingesetzt
wurden – zuerst Moses, dann, wenngleich mit auf die Auslegung der Gesetze
beschränkter Macht, die Leviten und schließlich der König –, wurde dieser
erste Vertrag aufgehoben. Die Theokratie im alten Israel birgt nach Spinoza
den Widerspruch, dass einerseits allein Gott als Herrscher und alle Menschen
als gleich gelten im Hinblick auf das Recht, auf öffentliche Pflichten, patrioti-
sche Aufgaben und Eigentumsrechte. Andererseits bleibt der Platz Gottes nicht
leer, sondern verschiedene Personen oder soziale Gruppen verstehen sich als
Repräsentanten Gottes (Priester, König) und behaupten ihre Legitimität durch
ihren Bezug auf ihn.
Im Lichte des Vergleichs mit der Demokratie erscheint die Theokratie bei
Spinoza als imaginäre Methode der Errichtung einer Demokratie, wie man mit
Étienne Balibar sagen kann: »[C]ette modalité imaginaire d’institution de la
démocratie – seule forme sous laquelle elle peut commencer d’exister? – sup-
pose précisément une figuration, un déplacement de la souverainité collective
sure une ›autre‹ scène: la place de Dieu […] doit y être matérialisée et vacante
pour une autorité qui métamorphose les règles de la vie sociales en obligations
sacrées.«147 In der Tat schreibt Spinoza selbst, dass die Theokratie mehr auf
Meinung als Wirklichkeit beruht habe,148 wobei man sich unter Meinung eine
konstitutive, handlungsrelevante Fiktion denken muss. Denn insofern dieser
Fiktion zufolge die Menschen ihr natürliches Recht nicht auf einen anderen
Menschen, sondern allein auf Gott übertragen, evoziert sie die Vorstellung
eines Gemeinwesens, das frei von menschlicher Herrschaft ist, in dem es aber
auch keinen Unterschied zwischen bürgerlichem Recht und Religion gibt:
»[W]er von der Religion abfiel, hörte auf, ein Bürger zu sein, und wurde allein
deshalb als Feind angesehen«.149 Die Feinde des Staates mussten der theokrati-
schen Fiktion gemäß als Feinde Gottes erscheinen.

146 Ebd., S. 273.


147 Etienne Balibar: Spinoza et la politique. Paris: Pr. Univ. de France 1985
(Philosophies; 8), S. 60.
148 Vgl. Spinoza, Theologisch-politischer Traktat (wie Anm. 143), S. 254f.
149 Ebd., S. 254.
242 Teil II

Insofern kein politisches System ohne symbolische Repräsentation aus-


kommen kann, stellt die Figuration nicht per se ein Verkennen dar, das sich
auflöst, sobald sich die Demokratie nicht mehr als Theokratie missversteht. Es
macht nach Lefort gerade die Schwierigkeit der Analyse der modernen De-
mokratie aus, dass sie durch eine Bewegung gekennzeichnet sei, »die zur
Aktualisierung des Bildes des Volkes, des Staates, der Nation führt, dass sie
aber unvermeidlich durch den Bezug auf die Macht als einen leeren Ort und
die Erfahrung der sozialen Spaltung durchkreuzt bleibt.«150 Die Macht ist ein
leerer Ort in der modernen Demokratie, insofern diejenigen, die die Macht
ausüben, sie nicht verkörpern. Die Ausübung der Macht erfordert vielmehr
einen periodisch wiederkehrenden Wettbewerb. »Die Macht löst sich nicht
mehr von der Arbeit der Spaltung, in der sich die Gesellschaft instituiert, und
diese bezieht sich infolgedessen auf sich selbst nur in der Erfahrung, einer
internen Spaltung ausgesetzt zu sein, die sich nicht als eine de-facto-Spaltung,
sondern als eine solche erweist, die ihre Konstituierung hervorbringt.«151 Die
Beziehung auf einen leeren Ort der Macht korrespondiert in der modernen
Demokratie mit einer Gesellschaft ohne positive Determination, ohne definier-
bare Identität. Auch die Theokratie beruht auf der Vorstellung eines leeren
Ortes der Macht – der freilich als der Ort Gottes gilt. Die Gemeinschaft, die
sich aus ihrem Bezug auf einen leeren Ort als Ort Gottes versteht, wird sich
nicht als Gesellschaft ohne positive Determination, sondern als Reich von
»Gottes Kinder[n]« begreifen, »die übrigen Völker aber [als] Gottes Fein-
de«.152
Man kann die moderne Demokratie, wie sie Lefort beschreibt, als negative
Theokratie lesen,153 insofern der leere Ort der Macht keiner Supraessenz (Gott)
mehr zugeschrieben wird. Der leere Ort der Macht verweist in der Demokratie
darauf, dass die Gesellschaft in keiner positiven Gestalt repräsentierbar ist, da
ihr Konstitutionsprinzip die Spaltung ist. Dass man die Demokratie als negati-
ve Theokratie interpretieren kann, macht zugleich deutlich, dass die positive
Theokratie, die supraessentielle religiöse Aufladung der Gemeinschaft, eine
latente und beständige Gefahr für die Demokratie darstellt. Wenn Spinoza die
Theokratie als imaginäre Form der Demokratie beschreibt, und sich Leforts
Verständnis der Demokratie als negative Theokratie verstehen lässt, so kann
man Bubers Ansatz, den er aus seiner Beschäftigung mit der messianischen
Tradition gewinnt, als invertierte Theokratie begreifen. Den Staat bezeichnet

150 Lefort, Fortdauer des Theologisch-Politischen? (wie Anm. 116), S. 60.


151 Ebd., S. 51.
152 Spinoza, Theologisch-politischer Traktat (wie Anm. 143), S. 266.
153 Vgl. Martin Terpstra: Fortdauer der theologia politikè? Varro, Spinoza, Lefort:
Drei Etappen in der Geschichte der Politischen Theologie. In: Manfred Walther
(Hg.): Religion und Politik. Zur Theorie und Praxis des theologisch-politischen
Komplexes. Baden-Baden: Nomos-Verl.-Ges. 2004 (Schriftenreihe der Sektion Po-
litische Theorien und Ideengeschichte in der Deutschen Vereinigung für Politische
Wissenschaft; 5), S. 179–198, besonders S. 194–196.
2 Messianische Figuren bei Martin Buber 243

Buber in seinen programmatischen Texten nach dem Ersten Weltkrieg als zu


billigendes Zwangsgebilde, das er nach dem Ersten Weltkrieg immerhin
grundsätzlich republikanisch und nicht monarchistisch denkt. In staatspoliti-
scher Hinsicht »not ist: Vorschläge für die Republik«,154 erklärt Buber 1924 in
dem in Frankfurt gehaltenen Vortrag »Staat und Gemeinschaft«. Bubers Ideal
bleiben aber die »unmittelbaren Beziehungen der Menschen zueinander«.155
Parlament und Partei erscheinen, von diesem Ideal aus betrachtet, als unwirkli-
che Vertretungen und demgegenüber erstrebenswert der Aufbau kleiner kom-
munitärer Gemeinschaften.156 Das Ideal der »unmittelbaren Beziehungen« und
einer »herrschaftsfreien Gemeinschaft« stellt Buber nun den öffentlichen Insti-
tutionen nicht einfach entgegen, sondern es soll auch in den Institutionen wirk-
sam werden und sie immanent ›verwandeln‹. Buber mobilisiert die Theologie,
um die Formen der Repräsentation, die in den öffentlichen Institutionen herr-
schen, immanent zu transzendieren. Man kann von einer invertierten Theokra-
tie als Bubers eigenem programmatischen Ansatz sprechen, insofern er nicht
darauf zielt, Politik und Theologie einfach wieder zusammenfallen zu lassen
wie im alten Israel. Vielmehr baut Buber die Theologie als kritisches Gegen-
gewicht zum Imaginären politischer Institutionen auf. Dass Buber die Latenz
der unmittelbaren Theokratie in der invertierten Theokratie nicht genügend
reflektiert, ist sicherlich ein Schwachpunkt seines Ansatzes. Anders gesagt:
Die unmittelbare Theokratie kann in zwei Formen auch im Imaginären der
Demokratie wiederkehren: als Sakralisierung des Rechts und als heiliges Bild
von Gemeinschaft, das mit einer Theologisierung der Freund-Feind-Beziehung
einhergeht. Die Sakralisierung des Rechts ist keine Gefahr von Bubers religiö-
sem Anarchismus. Zu wenig bedenkt Buber jedoch die Möglichkeit, dass die
Kritik am Imaginären der (politischen) Repräsentation, die Religion bei ihm
darstellt, selber ins Imaginäre umschlagen kann: in die supraessentielle religiö-
se Aufladung einer nicht repräsentierbaren Gemeinschaft.
Mit Spinoza hat Buber gemeinsam, dass er die Theokratie im alten Israel als
»theopolitisches« Gebilde versteht, in dem Religion und Politik noch eine
Einheit darstellen. Die »primitive Theokratie«, die Buber auch »primitiven
Messianismus« nennt, scheitert, da das Volk der Zumutung nicht gewachsen
ist, eine Gemeinschaft »in reiner Freiwilligkeit, aus Freiwilligkeit miteinan-
der« (JCM III 10) zu halten, ohne feste Herrschaftsform, »ohne eine, sei es
dynastische, sei es in irgend einer anderen Form fortdauernde Herrschaft«
(JCM III 9), »ohne objektiven, ohne garantierten und garantierenden Zwang,
ohne Befehlskontinuität« (ebd.). Für Buber ist die oberste vorkönigliche Be-
fehlsgewalt im alten Israel – von Moses über Josua bis hin zu den »Richtern« –
eine Beauftragung auf Zeit und stellt eine Form charismatischer Herrschaft

154 Martin Buber: Staat und Gemeinschaft. Februar 1924, TS, JNUL MBA Arc. Ms.
Var. 47e/Beth, S. 9.
155 Ebd., S. 18.
156 Ebd., S. 14.
244 Teil II

dar: »Gott beruft einen, den SEIN Geist ergreift und den er an die Spitze des
Volkes stellt« (JCMZ 9).157 In der vorköniglichen Zeit gibt es eine oberste
Befehlsgewalt nur so lange wie der göttliche Auftrag dauert; so benennt Josua,
unter dem die Kriege der Landnahme geführt wurden, keinen Nachfolger. Das
Volk fällt in der Zeit der Interregna jedoch immer wieder von Gott als seinem
König ab; und »indem es von ihm, nämlich von dem, der sie eint, von dem, um
den sich einst die Stämme scharten in eins, Israels Stämme, indem das Volk
von ihm abfällt, fällt es von seiner Einheit ab« (JCM III 10). Die Theokratie
als eine Form (durch göttliche Satzung und Bund) regulierter Anarchie fällt in
die offene Anarchie. Das biblische Buch »Richter« erzählt, wie dieses ab- und
zerfallende Volk nun Mal um Mal Beute der Nachbarvölker wird. In dieser
Situation kehrt das Volk um. Hierauf »beruft Gott je und je einen Menschen,
den er mit seinem Geist, mit Mut, mit Kraft begabt, den sein Geist ergreift und
nun an die Spitze des Volkes stellt und gegen den Feind ausschickt in den
Sieg, in die Befreiung. Dieser Mensch heißt Schofet, Rechtschaffer« (JCM III
11). Der Rhythmus von Abfall und Umkehr bestimme das Buch »Richter«, das
»die Geschichte […] des versagenden Volkes« (JCMZ 11) enthalte.
In der 1932 erschienenen Monographie »Königtum Gottes«, die als erster
Teil von »Das Kommende. Untersuchungen zur Entstehungsgeschichte des
messianischen Glaubens« angekündigt ist, geht Buber in seiner Analyse nicht
über die »Epoche der unmittelbaren Theokratie« hinaus, »die erst in Jerusalem
von der eines die Gottessalbung tragenden, aber zugleich dynastisch verbürg-
ten Königtums abgelöst wird«.158 Nur noch fragmentarisch ist der zweite
Band, »Der Gesalbte«, erschienen. Demgegenüber verfolgt die unveröffent-
lichte Vorlesung über »Jüdischen und christlichen Messianismus« weiter, wie
die »messianische Konzeption« (JCMZ 28) sich im Exil wandelt (Deuterojesa-
ja), wie später die Apokalyptik in den Messianismus eindringt, worin der
christliche Messianismus an den jüdischen anschließt und worin er abweicht.
Als »starker Kern« des jüdischen Messianismus unter den »wandelbaren Vor-
stellungen«, die »sich je und ja daran knüpften«, gilt Buber der Glaube an das
»menschliche auf-Gott-zu-treten dürfen und ihm helfen dürfen« (JCM VIII
14).159 Insofern der jüdische Messianismus auf dem Glauben an »den Anteil

157 Die charismatische Herrschaft der Richter versteht Buber nun mit Max Weber als
Herrschaft von Menschen, die kraft einer eigentümlichen göttlichen »Gabe« (vgl.
griechisch charizomai: schenken) »führerisch wirken« (Buber, Königtum Gottes
[wie Anm. 139], S. 144). Das Charisma begabt zu einem begrenzten göttlichen
Auftrag, nicht zur dauernden Macht (vgl. ebd., S. 179). »[D]as Charisma hängt hier
an der Charis und an nichts anderem; es gibt kein ruhendes Charisma, nur ein
schwebendes, keinen Geistesbesitz, nur ein ›Geisten‹, ein Kommen und Gehen der
Ruach; keine Machtsicherheit, nur die Ströme einer Vollmacht, die sich schenkt
und sich entzieht« (ebd., S. 145).
158 Ebd., S. 153.
159 Vgl. auch Martin Buber: Das messianische Mysterium. In: Daat Nr 5 (1980),
S. 119–133, hier: S. 124: »Das zentrale jüdische Theologumenon, umformuliert,
2 Messianische Figuren bei Martin Buber 245

des Menschen an der Erlösung der Welt« (JCMZ 24) beruhe, kenne er eine
»menschliche[] Messianität« (JCMZ 23). Der jüdische Messianismus verdeut-
licht für Buber, dass sich Politik und Religion im Judentum nicht strikt vonein-
ander unterscheiden lassen im Sinne einer öffentlichen und einer privaten,
innerlichen Sphäre. Wenn Buber am Ende der Vorlesung meint, dass »unserer
Zeit […] eine Erneuerung des messianischen Glaubens« (JCM VIII 14) Not
tue, so kann dies dementsprechend nicht allein eine innerliche, spirituelle Er-
neuerung betreffen, sondern hat politische Implikationen. »Keine messianische
Politik, aber messianismusbestimmtes politisches Schauen und Handeln«,160
notiert Buber auf einem Blatt, das innerhalb eines Dossiers mit handschriftli-
chen Skizzen und Bemerkungen zum »Messianismus« überliefert ist, »keine
relig. Sanktion d. politischen Ziele (Identifizierung), aber auch keine religiöse
Indifferenz dieser Ziele«.161 Mit dieser Art der Beziehung zwischen Politik
und Religion ist weder die unmittelbare Einheit von Religion und Politik ge-
meint, wie Buber sie im Hinblick auf die unmittelbare Theokratie bis zur Rich-
terzeit untersucht, noch ein repräsentatives Verhältnis, das die Zeit des bibli-
schen Königtums charakterisiert. Beide sind letztlich Formen von Gewalt- und
Machtpolitik.
Denn die unmittelbare Theokratie ist die Zeit des »›heiligen‹ Krieges«, der
»von seinen Kämpfern als ein von JHWH befohlener und befehligter verstan-
den worden ist«.162 Es sind die Richter, die »charismatischen Volksführer«,163
die das Volk, das von Gott ab- und in sich zerfallen war, nach seiner Umkehr
gegen den Feind im »JHWH-Krieg« anführen, der »seinem Wesen nach der
gemeinsame Krieg und der Krieg der Gemeinsamkeit gewesen [ist]«.164 Nur
während der charismatischen Herrschaft der Richter – und das heißt, nur so
lange jeweils der JHWH-Krieg andauert – bleibe das »Paradox der Theokra-
tie«165 verhüllt.166
Anders als Spinoza sieht Buber eine Form repräsentativer politischer Theo-
logie erst mit der Königsherrschaft beginnen. Denn von Moses bis zu den

undogmatisch, aber Hintergrund und Zusammenhalt aller Lehre und Weissagung


ist der Glaube an den Anteil der Menschentat am Werke der Welt-Erlösung.«
160 Martin Buber: Dossier Messianismus. MS, JNUL MBA Arc. Ms. Var. Zajin 64.
Das Dossier Messianismus enthält handschriftliche Notizen Bubers ohne Titel, Da-
tum und Seitenzahl.
161 Ebd.
162 Buber, Königtum Gottes (wie Anm. 139), S. 149.
163 Ebd., S. 171.
164 Ebd., S. 154.
165 Ebd., S. 160. Dieses Paradox besteht für Buber darin, dass dem »Trieb des Men-
schen«, vom Menschen unabhängig zu sein, stattgegeben wird, aber »nicht um ei-
ner Freiheit, sondern um einer höchsten Bindung willen« (ebd., S. 143), die den
Gehorsam nicht erzwingen will.
166 Vgl. hierzu auch Norbert Bolz: Mystische Theokratie. In: Jacob Taubes (Hg.):
Religionstheorie und Politische Theologie. Bd 3 (Theokratie). München, Pader-
born, Wien, Zürich: Fink 1987, S. 293–320.
246 Teil II

Richtern habe man es mit charismatischen Führern mit einem »begrenzten


Auftrag«167 zu tun und also mit einem theopolitischen Gefüge, in dem Herr-
schaft noch keine »perennierende Institution«168 ist. Trotz der Krisen der Inter-
regna, von denen das Richterbuch berichtet, begehrt das Volk erst in dem Au-
genblick einen König, als es als Gesamtes durch die politisch und militärisch
überlegenen Philister existentiell bedroht ist. Es taucht »der menschliche Kö-
nig von Israel, der Nachfolger JHWHs, als dessen Gesalbter, meschiach
JHWH, ȤȡȚıIJòȢ țȣȡȓȠȣhervor[]«.169 Enthalte das Richterbuch die Geschichte
des versagenden Volkes, so die beiden Samuelbücher die Geschichte des
versagenden Königtums (vgl. JCMZ 11). Die statthalterische Theokratie des
»meschiach JHWH« »entartet teils zur Autokratie, teils zur Aristokratie, jeden-
falls zu einer Machtherrschaft, die sich zwischen Gott und das zur Verwirkli-
chung berufene Volk stellt« (JCMZ 28). Der Kampf der Propheten richtete
sich gegen den versagende König, demgegenüber sie den »wahren König[]«
(JCMZ 13) erhofften. Die Propheten entwarfen dabei nicht das Bild eines
»vergötterten Messias«. »Für die Propheten war der Messias so real wie ir-
gendein König und sie erwarteten ihn geschichtlich so nahe wie den Nachfol-
ger des Königs. Sie hatten durchaus nicht die Vorstellung eines übermenschli-
chen mit besonderen Kräften ausgestatteten Wesens« (JCMZ 19).
Für Buber zeichnet es den »klassischen jüdischen Messianismus« (JCMZ
24) schlechthin aus, dass der Messias als Mensch gedacht wird, wenn sich die
Gestalt dieses messianischen Menschen auch in den biblischen Büchern ändert
bis hin zu dem ungestalten Gottesknecht Deuterojesajas, der kein König eines
Staates mehr ist, von dem es vielmehr heißt, er habe »keine Gestalt und Ho-
heit« (Jes 53,2). An diesen deuterojesanischen Messianismus wird Buber an-
schließen, ihn wird er für seine Gegenwart zu aktualisieren versuchen, worauf
gleich noch näher einzugehen ist. Zuvor sei kurz skizziert, wie Buber das Ver-
hältnis von jüdischem und christlichem Messianismus konzipiert.
Eine wesentliche Scheidelinie verläuft für Buber nicht zwischen Judentum
und Christentum, sondern geht quer durch Judentum und Christentum (vgl.
JCMZ 24). Denn vom klassischen jüdischen Messianismus unterscheidet Bu-
ber den Messianismus des späteren apokalyptischen Judentums (vor und zur
Zeit des Christentums), das er unter dem Einfluss der alterpersischen und ira-
nischen Religiosität sieht. Im apokalyptischen Judentum verliere der Messia-
nismus seinen diesseitigen Charakter. An die Stelle der irdischen Vollendung
der Welt tritt die Vorstellung einer ganz anders beschaffenen »künftigen Welt«
und an die Stelle »des messianischen zentralen Menschen, der von der
Menschheit aus Gott entgegenkommt, der den Anteil des Menschen an der
Erlösung der Welt, an der Vollendung der Schöpfung verkörpert, tritt ein von
oben nach unten gesandter« (JCMZ 24; vgl. auch JCM VIII 2), ein göttliches

167 Buber, Königtum Gottes (wie Anm. 139), S. 179.


168 Ebd., S. 147.
169 Ebd., S. 182.
2 Messianische Figuren bei Martin Buber 247

Wesen. In den ersten drei Evangelien findet Buber nun durchaus noch »altjü-
disch gefärbten« (JCM VIII 3) Messianismus. Die drei synoptischen Evange-
lien würden zeigen, dass Jesus sich in der Tradition des leidenden Gottes-
knechts (Deuterojesaja) verstanden habe, das heißt als Mensch, der in seinem
Leiden Gott entgegenkomme. Zu der Vorstellung des Gottesknechtes gehöre
aber die »Verborgenheit dieser leidenden Menschen, die die messianische
Funktion durch die Geschichte tragen bis in die Erfüllung hinein« (JCMZ 30).
Aus der Verborgenheit sei Jesus aber im Vorgang bei Caesarea-Philippi (vgl.
Matth. 16,13ff.) hervorgetreten. Die Erfüllung muss nun als bereits gekommen
gelten – auch wenn sie sich erst mit Jesu Wiederkunft sichtbar durchsetzen
sollen würde. »In diesem Augenblick verbinden sich die beiden Vorstellungen:
hier der Knecht Gottes, der leidende, entgegenkommende Mensch, dort […]
der nach seinem Tode wiederkehrende Gottesgesandte, verklärt auf den Wol-
ken des Himmels (Matth. 16,27 und 24,30). Hier der altjüdische messianische
Glaube, dort die Apokalypse« (JCMZ 31).
Beide Vorstellungen gehören für Buber zum Judenchristentum, setzen sie
doch einerseits den klassischen, andererseits den apokalyptischen jüdischen
Messianismus fort. Das hellenistische Christentum bildet die dritte Schicht des
Christentums als Heidenchristentum. Dieses habe unter griechischem Einfluss
die Eschatologie, »die lebensmäßige, tiefe Befassung mit der absoluten Zu-
kunft der Welt überhaupt zurück[ge]wies[en]« (JCM VIII 3) und sich mit der
unerfüllten Geschichte gleichsam abgefunden. Die »dogmatische Resignation«
(JCM VIII 13), die Buber dem »klassische[n] Christentum« (ebd.) zuschreibt,
das er, wie gezeigt, vom Leben Jesu unterscheidet, sieht Buber begünstigt
durch die »Wandlung der Konzeption des Gott helfenden, Gott unterstützen-
den Menschen zur Konzeption eines von Gott gleichsam gesandten göttlichen
Wesens. […] Und wie der Mensch als Träger der Erlösung hier aufgegeben
wird, als Träger dieser Handlung, so die Welt als Gegenstand dieser Hand-
lung« (ebd.). Anstelle des »Weltkönigtums Gottes, eines Königtums, das sich
erfüllen soll in der Welt und an der Welt« (ebd.), trete das Reich, das im Jen-
seits sei und sich in der Seele verwirkliche.
Buber betont in seiner Gegenüberstellung von klassischem jüdischem und
klassischem christlichem Messianismus immer wieder, dass in ersterem das
menschliche Handeln Agent der Erlösung sei. Die messianische Konzeption,
an die Buber nach dem Ersten Weltkrieg unmittelbar anschließt, die er als
Folie benutzt, um politische Phänomene seiner Gegenwart zu interpretieren,
sieht nun allerdings auf den ersten Blick geradezu quietistisch aus: Es ist die
deuterojesanische, in deren Zentrum kein charismatischer Führer und kein
König, sondern der leidende Gottesknecht, der Ewed JHWH, steht. Im Baby-
lonischen Exil habe sich das messianische Bild des »zentralen Menschen, der
Gott entgegenkommt« (JCMZ 21), und des Volks gewandelt:
Diese kleine Schar in Babylonien, die wirklich litt, was zu leiden war, wird von den
Propheten erkannt als dieser verheissene Rest [den der erste Jesaja mehr als 150 Jah-
248 Teil II

re zuvor angesagt hatte; Anm. E. D.]. […] Und nun […] erkennen die Propheten das
eigentümliche Amt dieses kleinen Restes, des heiligen Restes, am Kommenden, an
den kommenden Dingen. Es kann kein herrscherliches Amt mehr sein. […] Nicht
umsonst wird in der grossen Botschaft, die das Ende des Exils ankündigt, nicht mehr
einer aus Israel, sondern der Völkerherr Cyrus, der den Rest Israels in die Heimat
zurückbringt, als Gesalbter gezeigt. Die Herrschaft ist also jetzt nicht mehr das Amt
Israels. […] Also ist es nicht mehr der gesalbte König, auf den erwartend geschaut
wird. Aber der Messias, der Gesalbte ist doch, wenn er auch nicht mehr so genannt
wird, […] auch jetzt noch in der Mitte der prophetischen Schau als der der Tat Got-
tes entgegenkommende, auf sie zuwirkende Mensch, der zentrale Mensch. […]
[D]er Rest hat die messianische Essenz, die in ihm selbst ruht, erkannt, und zwar in
seinem Leid (JCM VII 8f.).

Was ist nun von diesem messianischen Leiden des Gottesknechtes – der von
Geschlecht zu Geschlecht wiederkehrenden einzelnen zentralen Menschen,
»die in der Verborgenheit die messianische Funktion bis zur Erfüllung tra-
gen« – und dem Leiden des »heiligen Restes« zu halten? Jacob Taubes sieht
hierin nichts anderes als eine weitere Ausprägung der bereits von Hegel in
Verruf gebrachten passiven »schönen Seele«. Beschrieben sei ein Geist, der
darauf bedacht sei, sich selbst in ›ursprünglicher‹ Reinheit zu bewahren und
sich aus Furcht, den Glanz seines inneren Daseins durch Handeln zu befle-
cken, zu selbstgewollter Ohnmacht verdamme. Geschuldet sei die (Apotheo-
se der) Ohnmacht der Feindschaft Bubers gegenüber jeder Form der Instituti-
onalisierung.170
Die Vorträge, die Buber in den 1920er Jahren zu dem Thema Politik und
Religion hält, dokumentieren jedoch, dass Bubers Bezugnahme auf den Got-
tesknecht und den »heiligen Rest« nicht nur im Sinne einer Leidensmetaphysik
interpretierbar ist. Religion, so definiert Buber in dem Vortrag »Religion und
Politik« (um 1929), sei die »faktische Verbundenheit mit einem Seienden, das
nicht aufgezeigt […], aber erfahren werden kann«.171 Die »faktische Verbun-
denheit« setzt Buber einer »vorgestellte[n], gemeinte[n], gefühlte[n], visionä-
re[n]«172 entgegen. Sie soll die »unbedingte Annahme des Lebens«,173 nicht

170 Vgl. Jacob Taubes: Martin Buber und die Geschichtsphilosophie. In: Ders.: Vom
Kult zur Kultur. Hg. von Aleida Assmann, Jan Assmann und Wolf-Daniel Hart-
wich. München: Fink 1996, S. 50–67, hier: S. 65–67. Taubes bringt dies mit Bu-
bers romantischer Sehnsucht »nach Zuständen unmittelbarer charismatischer Er-
fahrung in der Geschichte« (ebd., S. 65), nach den »begeisterten Augenblicke[n] in
der Geschichte, in denen das menschliche Leben in der Unmittelbarkeit einer un-
veräußerten Beziehung gelebt wird« (ebd.), in Zusammenhang. Die Überführung
des persönlichen Charismas in eine unpersönliche Institution – sei es das König-
tum in Israel, sei es die sakramentale Kirche, seien es die Dynastien der Zaddikim
– müsse demgegenüber als Verfall erscheinen.
171 Martin Buber: Religion und Politik [1929]. TS, JNUL MBA Arc. Ms. Var.
43a/Zajin (um 1929), S. 2.
172 Ebd.
173 Ebd.
2 Messianische Figuren bei Martin Buber 249

des illusionären Lebens, sondern des Lebens in seiner ganzen Widersprüch-


lichkeit, bedeuten; Buber gibt sie als »faktische Verbundenheit vom Ich zum
Du«174 zu verstehen. Die Verantwortung gegenüber einem Du in einer je ein-
maligen Situation, für die es kein Wörterbuch gebe und die nicht übersetzbar
sei,175 erklärt Buber nun zum »menschlichen Anteil an d[]er Verwirklichung
der Gottesherrschaft«.176 Die »faktische Verbundenheit« als Verantwortung
gegenüber einem Du gilt es für Buber gerade in den unpersönlichen gesell-
schaftlichen und politischen Institutionen zu realisieren. Aus dieser Perspekti-
ve lässt sich der ungestalte Gottesknecht, dessen Leben »in der Verborgenheit
seines wirklichen Sinnes verbleibt«177 und den Buber auch mit den »Nista-
rim«, den verborgenen Gerechten, vergleicht, auch als der Gerechte (bzw. die
Gerechtigkeit), von dem (der) man sich kein Bild machen kann, interpretieren.
Das Leiden des Gottesknechts gibt Buber selbst nicht nur als ein Ertragen zu
lesen, sondern auch als ein Tun, das gleichsam ein Nichttun sei.178 Dieses
kennen wir aber auch aus Bubers zeitgleicher Dialogphilosophie, die sich mit
einem so verstandenen Tun gegen traditionelle Konzepte von Subjekt und
Objekt, Aktivität und Passivität, abgrenzt. Kurz: Bubers Rückgriff auf den
Ewed JHWH ist viel stärker im Zusammenhang mit der Ethik seiner Dialog-
philosophie zu sehen, als es bisher passiert ist.
Dass es zu kurz greift, den Gottesknecht und den »Rest«, der die Katastro-
phen des Exils übersteht, nur als Leidensfiguren zu betrachten, wird vollends
klar, wenn man sich vor Augen hält, dass Buber mit seinem Rekurs auf Deute-
rojesaja an den historischen Messianismus der Rückkehr des Volkes Israel aus
dem Babylonischen Exil unter dem persischen Herrscher Kyros II. im 6. Jahr-
hundert v. Chr. anschließen möchte. Buber gibt der historischen Situation
Deuterojesajas eine aktuelle Bedeutung.179 In einem Vortrag bei der Berliner
Feier anlässlich der Gründung der Hebräischen Universität Jerusalem
(06.04.1925), die von Anfang an zu seinen kulturzionistischen Forderungen
gehört hat, also in einer zionistischen Feierstunde, formuliert Buber:

174 Ebd.
175 Ebd., S. 3. Vgl. auch ebd., S. 4.
176 Ebd., S. 5.
177 Buber, Das messianische Mysterium (wie Anm. 159), S. 122.
178 Ebd., S. 126.
179 Hierin ist Buber, auch wenn er eine ganz spezifische Deutung vornimmt, nicht der
Einzige. Die osteuropäische Bewegung Chibbat Zion etwa hat bereits Ende des 19.
Jahrhunderts eine Parallele zwischen der Gegenwart und der Rückkehr unter Ky-
ros, einem fremden Völkerherrn, gezogen. Später wurde die Balfour-Deklaration
von 1917 mit Kyros’ Proklamation von 538 v. Chr. verglichen, die den Wiederauf-
bau des Tempels in Jerusalem erlaubte (vgl. Yaacov Shavit: Realism and Messia-
nism in Zionism and the Yishuv. In: Jonathan Frankel [Ed.]: Jews and Messianism
in the Modern Era: Metaphor and Meaning. New York, Oxford: Oxford Univ.
Press 1991 [Studies in contemporary Jewry; 7], S. 100–127, besonders S. 106
[Chibbat Zion], S. 111 [Kyros/Balfour]).
250 Teil II

Was ist die Situation dieses namenlosen Propheten? Der Moment, wo sich die
Heilsprophetie sichtbar zu erfüllen beginnt, er aber knüpft an diese Erfüllung eine
neue, jene weit überbietende Verheißung. Deuterojesaja steht in dem Moment, da
sich die alte Weissagung der Volksbefreiung […] zu verwirklich beginnt. […] Und
ebenso wird das neue, das ich jetzt prophezeie Wirklichkeit werden. Aber das ist
nicht mehr die Befreiung eines Volks, sondern die Erlösung der Welt.180

Der Rest als Figur, in der Buber die aus dem Exil zurückehrende Nation ima-
giniert, gibt dem messianischen Paradox Ausdruck, das wir oben bereits be-
nannt haben: Die Berufung auf den Messianismus begründet die jüdische Na-
tion und überschreitet sie zugleich. Zum privilegierten Medium dieser Über-
schreitung avanciert bei Buber nach dem Ersten Weltkrieg der Dialog, dessen
Philosophie wir oben bereits beschrieben haben. In Bubers Texten zum jüdi-
schen Messianismus schlägt sich seine Dialogphilosophie in der Imagination
Israels als eines Restes nieder. Der Rest ist weder Teil eines Ganzen noch ist er
alles.181 Er ist bei Buber als Nicht-Alles geöffnet auf ein Außen, ein Anderes,
ohne dieses Andere und ohne sich selbst als feste Identität zu setzen. Damit
verweist er auf ein Neues, das man eine werdende Universalität nennen kann.
Das Neue dieser werdenden Universalität konkretisiert sich zum Beispiel dar-
in, von traditionellen Vorstellungen nationaler Souveränität abzurücken, um
»die notwendige Selbstständigkeit mit der möglichen Gemeinsamkeit [zu ver-
knüpfen]«.182 Mit diesen Worten plädiert Buber für einen binationalen jüdisch-
arabischen Staat in Palästina. Nicht die kulturelle Verschmelzung und auch
keine abstrakte globale Identität schweben Buber hierbei vor, sondern eine
werdende Universalität, die sich im dialogischen Beziehungsgeschehen zwi-
schen den verschiedenen Kulturen realisiert.183

180 Buber, Das messianische Mysterium (wie Anm. 159), S. 123f.


181 Vgl. zur biblischen Figur des Rests auch: Giorgio Agamben: Die Zeit, die bleibt.
Ein Kommentar zum Römerbrief. Übers. von Davide Giurato. Frankfurt a. M.:
Suhrkamp 2006, S. 69f.: »Der Rest ist weder das Ganze noch ein Teil von ihm,
sondern bedeutet die Unmöglichkeit für das Ganze und für den Teil, mit sich selbst
und untereinander identisch zu sein. Das auserwählte Volk – jedes Volk – definiert
sich im entscheidenden Augenblick notwendigerweise als einen Rest, als ein
Nicht-Alles.«
182 Martin Buber: Jüdisches Nationalheim und nationale Politik in Palästina. In: Ders.:
Ein Land und zwei Völker. Zur jüdisch-arabischen Frage. Hg. von Paul Mendes-
Flohr. Zürich: Exlibris-Verlag 1985, S. 111–126, hier: S. 121.
183 Vgl. zur Unterscheidung zwischen dem Register des Globalen und dem Register
des (werdenden) Universalen Eric Santner: On the Psychotheology of Everyday
Life. Reflections on Freud and Rosenzweig. Chicago: Univ. of Chicago Press
2001, S. 5–8.
3 Sozialismus und Religion bei Gustav Landauer

Gustav Landauer ist von seinen Zeitgenossen als »Prophet« wahrgenommen


worden. Kurz nach Landauers Ermordung durch Freikorpssoldaten, die 1919
die zweite Münchener Räterepublik, in der Landauer das Amt des »Volksmi-
nisters für Bildung« übernommen hatte, blutig niederschlugen, schreibt Lan-
dauers Freund Martin Buber in einem Nachruf: »Gustav Landauer hat wie ein
Prophet der menschlichen Gemeinschaft gelebt und ist wie ihr Märtyrer gefal-
len.«1 Vor allem mit seinem charismatischen Auftreten hat Landauer sich den
Ruf als Prophet eingehandelt.2 Weiter scheint es mir indes zu führen, die Affi-
nität von Landauers politischer Redeweise mit der prophetischen Redeweise zu
untersuchen. Auf diese Weise lässt sich ein Zugang zu der Mischung von Reli-
gionskritik und Sehnsucht nach »echte[r] Religion«3 gewinnen, die kennzeich-
nend für Landauers Schriften überhaupt ist.
Landauer wird sich als Prophet des Gemeingeistes erweisen, den er als na-
türliche Größe dem Christentum wie dem Judentum zugrunde legt. »Geist«
soll das Bindende der kommenden Gemeinschaft sein, um die es in Landauers
beiden großen politischen Schriften, dem Essay Revolution (1907) und dem
Aufruf zum Sozialismus (1911), geht. »Geist« ist dabei nicht nur diskursiver
Gegenstand von Landauers Texten. Vielmehr schreibt und spricht Landauer

1 Martin Buber: Landauer und die Revolution. In: Masken 14 (1919), H. 18/19,
S. 282–291, hier: S. 290.
2 Vgl. Michael Löwy: Der romantische Messianismus Gustav Landauers. In: Hanna
Delf und Gert Mattenklott (Hg.): Gustav Landauer im Gespräch. Tübingen: Nie-
meyer 1997 (Conditio Judaica; 18), S. 91–104, besonders S. 92, sowie Adam
Weissberger: Gustav Landauers mystischer Messianismus. In: Aschkenas. Zeit-
schrift für Geschichte und Kultur der Juden 5/2 (1995), S. 425–439, besonders
S. 425f.
3 Gustav Landauer: Religion. MS, JNUL, Gustav-Landauer-Archiv, Arc. Ms. Var. 432
82a, S. 6a. Es handelt sich bei diesem Manuskript um den ersten Teil eines Vortrags,
den Landauer am 18.12.1890 vor dem Neu-Philologischen Verein in Heidelberg
gehalten hat. Nur der zweite Teil des Vortrags wurde veröffentlicht (vgl. Gustav
Landauer: Religiöse Erziehung. In: Freie Bühne für modernes Leben 2 [11.02.1891],
H. 6, S. 134–138). Landauer war besonders von jüdischen Kommilitonen wegen des
Vortrags kritisiert worden (vgl. Hanna Delf: »Prediger in der Wüste sein…«. Gustav
Landauer im Weltkrieg. In: Gustav Landauer: Werkausgabe. Hg. von Gert Mat-
tenklott und Hanna Delf. Bd 3, hg. von Hanna Delf. Berlin: Akademie-Verlag 1997,
S. XXIII–LIII, hier: S. XLIII [Fn. 89]).
252 Teil II

auch be-geistert, d. h. im prophetischen Sprachmodus. Es wäre nun zu wenig


gesagt, dass Landauer sprachlich nachvollzieht, wovon er handelt. Zwischen
Inhalt und Form herrscht mindestens ebenso sehr eine Spannung wie eine
Deckungsgleichheit. Denn »Geist« stellt Landauer einerseits als natürliche
Größe vor, als »natürliche Sympathie«,4 die durch die ganze Natur reichen
soll. Andererseits ist »Geist« bei Landauer medialer Sprachgeist, der erst er-
zeugt, wovon er spricht. Im ersten Teil dieses Kapitels sollen die Aspekte und
Spannungen von Landauers »Geist«-Rede betrachtet werden. Der zweite Teil
des Kapitels wird sein Augenmerk auf das Verhältnis von Sozialismus und
Judentum legen, das Landauer erst ab 1908, unter dem Einfluss von Bubers
chassidischen Publikationen, verstärkt zu beschäftigen beginnt. In diesem
Zusammenhang wird schließlich auch Landauers ambivalente Beziehung zur
messianischen Tradition des Judentums thematisiert werden.
Landauers »Aufruf zum Sozialismus« erfolgt »im Namen des Geistes« (AS
154), der sich begrifflich nur schwer fassen lässt. Immer von neuem nimmt
Landauer im Aufruf zum Sozialismus Anlauf, den »Geist« sowohl zu evozieren
als zu beschreiben, wobei er typischerweise keine argumentative, begründende
Sprache wählt. Vielmehr bevorzugt Landauer parataktische Satzkonstruktio-
nen, um dem Geist jeweils unterschiedliche substantivische Nominalattribute
zuzuweisen nach dem Muster: »Geist ist…, Geist ist…«. So schreibt er: »Geist
ist Gemeingeist, Geist ist Verbindung und Freiheit, Geist ist Menschenbund«
(AS 3), oder: »Geist ist Heiterkeit, ist Macht, ist Bewegung, die sich nicht, die
sich durch nichts in der Welt aufhalten lässt« (AS 3), oder auch: »Geist ist
Erfassung des Ganzen in lebendig Allgemeinem, Geist ist Verbindung des
Getrennten, der Sachen, der Begriffe wie der Menschen; Geist ist in den Zeiten
des Übergangs Enthusiasmus, Glut, Tapferkeit, Kampf; Geist ist ein Tun und
ein Bauen« (AS 23). Landauer adressiert den Geist auch unmittelbar. In einer
lyrisierenden Passage, die auf den mittelalterlichen Pfingsthymnus »Veni
Creator Spiritus« als Intertext verweist, ruft Landauer den »Geist« in einer
Reihung von Relativsätzen an:
Sind wir wieder einmal bei dir angelangt, herrlich erlösendes Allgemeines und Ei-
nes, das du dem wahren Denken so nötig bist wie dem wahren Leben, das Mitleben
schafft und Gemeinschaft und Einung und Innung, das im Kopf der Denkenden die
Idee ist und im Leben alles Lebenden durch alle Reiche der Natur hin der Bund der
Bünde ist? das du mit Namen heißest: Geist! (AS 33)

Diese Zeilen lassen verständlich werden, warum Landauers Aufruf zum Sozia-
lismus, neben Heinrich Manns »Geist und Tat«, als programmatische Schrift
für das intellektuelle Selbstverständnis des Expressionismus gilt.5 Nicht nur

4 Gustav Landauer: Aufruf zum Sozialismus. Revolutionsausg., 2. verm. u. verb.


Aufl., Berlin: Cassirer 1919, S. 36.
5 Rolf Kauffeldt: Die Idee eines ›Neuen Bundes‹ (Gustav Landauer). In: Manfred
Frank (Hg.): Gott im Exil. Vorlesungen über die Neue Mythologie. Frankfurt a. M.:
3 Sozialismus und Religion bei Gustav Landauer 253

programmatisch, auch sprachlich ist Landauers Aufruf ein expressionistischer


Text. Wie zu sehen ist, dichtet Landauer bereits vor Franz Werfel6 den »Veni
Creator Spiritus«-Hymnus expressionistisch um und deutet den »Geist« als
schöpferischen (Sprach-)Geist. Die unmittelbare Ansprache des Geistes in der
zweiten Person Singular und die Beschreibung des »Geistes« mit Hilfe von
Relativsätzen, die die Adressierung an das »du« nach dem Relativpronomen
wiederholen, ist dem »Veni Creator Spiritus«-Hymnus in der Übersetzung
durch Angelus Silesius nachgebildet. Dieser beginnt mit »Komm, heilger
Geist, du Schöpfer du« und beschreibt in der zweiten und dritten Strophe den
Geist in einer Reihung von substantivischen Anrufungen: »Der du der Tröster
bist genannt,/ des allerhöchsten Gottes Pfand,/ Des Lebens Brunn, der Liebe
Brunst,/ Die Salbung, wesentliche Gunst.// Du siebenfaches Gnadengut,/ Du
Finger Gottes, der Wunder tut;/ Du gibst der Erde, daß sie fließt/ So mild, als
du verheißen bist.«7 Freilich wird der Geist im Pfingsthymnus im Sinne der
christlichen Trinität beschrieben. Gegenüber einer unmittelbaren christlichen
Vereinnahmung seines Aufrufs zum Sozialismus hat sich Landauer jedoch
entschieden zur Wehr gesetzt. Mit dem Geist habe er nichts Absolutes, nichts
Transzendentes und auch nichts Vollkommenes gemeint. Zudem stehe der von
ihm gemeinte Geist nicht im Gegensatz zur Natur, der Materie oder dem Un-
bewussten, sondern sei vielmehr Natur. In einem Absatz des Aufsatzes »Gott
und der Sozialismus« (1911), in dem sich Landauer gegen eine christliche
Lesart seines Aufrufes wehrt, versucht er, eine konzisere Definition des »Geis-
tes« zu geben, die in der Beschreibung seines politischen Programms mündet:
Was ich Geist; verbindenden Geist oder Gemeingeist nenne, ist etwas, was ich in
mir verspüre, in allen Menschen vorhanden weiß und in bestimmten Perioden der
Menschengeschichte besonders stark hervortreten sehe. Er ist nie etwas anderes als
Natur, wäre aber in wissenschaftlicher Sprache gewiß nicht Naturtrieb zu nennen, da
dieser Geist vielmehr eine komplizierte Verbindung von zu Gefühl gewordenen Er-
fahrungen vieler Geschlechter, Interessewahrung und Vernunft ist. Dieser Geist lebt
als Gleiches in den Individuen und schafft darum in den hohen Zeiten aus der Spon-
taneität, der Freiwilligkeit heraus Gemeinden, Korporationen, Verbände.8

Landauer ist kein Irrationalist. Der Geist steht bei ihm für die Einheit der Ver-
mögen des menschlichen Gemüts: Er vereinigt Gefühl, Wille und Vernunfter-
kenntnis. Geist bezeichnet aber nicht nur das ganzheitliche Zusammenspiel der

Suhrkamp 1988 (Edition Suhrkamp; 1506 = N.F.; 506), Bd 2, S. 131–179, hier:


S. 135.
6 Vgl. Franz Werfel: Veni Creator Spiritus. In: Ders.: Gedichte aus den Jahren 1908–
1945. In: Ders.: Gesammelte Werke in Einzelbänden. Hg. von Knut Beck. Frankfurt
a. M.: S. Fischer 1996, S. 58f.
7 Angelus Silesius: Sämtliche poetische Werke. Bd 2. Hg. u. eingel. von Hans Ludwig
Held. 3. Aufl., München: Hanser 1949, S. 336f.
8 Gustav Landauer: Gott und der Sozialismus. In: Ders.: Der werdende Mensch. Auf-
sätze über Leben und Schrifttum. Hg. von Martin Buber. Potsdam: Kiepenheuer
1921, S. 14–39, hier: S. 33f.
254 Teil II

Vermögen des Gemüts, sondern wird von Landauer inhaltlich bestimmt als
»Gemeingeist« oder »verbindender Geist« (AS 9, 13, 14, 131, passim). Als
solch inhaltlich bestimmten Geist nennt Landauer ihn auch »natürliche Sympa-
thie« (AS 36), die durch die gesamte Natur gehe, wobei allerdings »alle Men-
schen im Vorzug vor der übrigen Natur sinnlich miteinander verbunden sind«
(AS 36). Landauers Annahme, dass sich eine natürliche Sympathie in der gan-
zen Natur finde, geht unter anderem auf Peter Kropotkins gegen den (Sozial-)
Darwinismus gerichtete Studie Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschen-
welt zurück, die Landauer 1904 ins Deutsche übersetzt hat.9 Aber auch Ferdi-
nand Tönnies hat seinem ungemein wirkungsreichen soziologischen Gemein-
schaftsbegriff eine natürliche Grundlage untergeschoben: »Gemeinschaft
überhaupt ist zwischen allen organischen Wesen, menschliche vernünftige
Gemeinschaft zwischen Menschen. […] Zusammenbleiben [ist] das von Natur
Gegebene«.10
Ist die Gemeinschaft bei Tönnies noch deskriptiv-analytisch gemeint, als ein
»Grundbegriff der reinen Soziologie«, so wird bei Landauer der vermeintlich
natürliche Gemeinschaftsgeist zum politischen Programm. Nur »aus dem Geis-
te« (AS 11) kann für Landauer die Wendung zum Sozialismus erfolgen, den er
zum ethischen Imperativ erhebt. Der Sozialismus sei kein Resultat einer
zwangsläufigen Gesetzmäßigkeit in der historischen Entwicklung, wie der
Marxismus ihn missverstehe, sondern ein »Sollen« (AS 28) bzw. ein »Wollen«
(AS 34), das »gleich jetzt« (AS 34) umzusetzen sei. Auch könne nicht der
Staatssozialismus das Ziel sein. Denn die »ungeheure Gewalt und Bureaukra-
tenödigkeit des Staates« sei nur nötig geworden, »weil unserem Mitleben der
Geist verloren gegangen ist, weil Gerechtigkeit und Liebe, die wirtschaftlichen
Bünde und die sprossende Mannigfaltigkeit kleiner gesellschaftlicher Orga-
nismen verschwunden sind« (AS 56).
Landauers politisches Ideal stellt eine dezentralisierte Gesellschaft, »eine
Gesellschaft von Gesellschaften von Gesellschaften« (AS 131), dar, deren
Kern die »selbstständig wirtschaftende Gemeinde« (AS 130) ist. Am Ideal
einer »freien« (AS 122) und »gerechten Tauschwirtschaft« (AS 82) sollen die
Gemeinden selbst wie auch der »Bund« der untereinander tauschenden Ge-
meinden orientiert sein.11 Der Sozialismus Landauers geht vom Individuum,

9 Vgl. AS 105: »Die Gegenseitigkeit stellt die Ordnung der Natur wieder her«.
10 Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Sozio-
logie. 4. Aufl., Darmstadt: Wiss. Buchges. 2005, S. 21.
11 Vgl. AS 132f.: »Das ist die Aufgabe des Sozialismus: die Tauschwirtschaft so zu
ordnen, dass auch unter dem System des Tausches jeder nur für sich arbeitet; dass
die Menschen in tausendfältiger Verbindung miteinander stehen, und dass doch kei-
nem in dieser Verbindung etwas entzogen, jedem nur gegeben wird. Gegeben nicht,
indem einer den andern beschenkt; der Sozialismus sieht keinen Verzicht wie keinen
Raub vor; jeder erhält den Ertrag seiner Arbeit und hat die Nutznießung aus der
durch Arbeitsteilung und Tausch und Arbeitsgemeinschaft entstandenen Verstär-
kung aller in der Extraktion der Produkte der Natur.«
3 Sozialismus und Religion bei Gustav Landauer 255

seinem Bedürfnis und seiner Arbeit aus. Landauers Aufruf wird letztlich von
der Idealvorstellung bestimmt, dass die Menschen unter freiem Himmel ihre
selbst produzierten Güter tauschen.12 Dementsprechend sei die Tauschwirt-
schaft einzurichten, indem etwa eine »Tauschbank« (AS 104, 139), wie bereits
von Pierre Joseph Proudhon vorgeschlagen, gegründet werde. Das Kapital soll
durch den Geist, durch gegenseitige Kreditierung, ersetzt werden (vgl. AS
130). Eine Bodenreform sei dabei zur Gründung der ländlichen Wirtschafts-
gemeinden oder »Konsumproduktivgenossenschaften« (AS 141) unvermeid-
lich: »Land und Geist also – das ist die Losung des Sozialismus« (AS 140). So
naiv Landauers Programm angesichts von modernen, bürokratisch verwalteten
Massengesellschaften anmuten mag, so hat es doch Wirkung gehabt: auf die zu
jener Zeit sich entwickelnde Kibbuzbewegung in Palästina13 sowie auf ver-
schiedene Reform- und Siedlungsbewegungen in Deutschland.14
Wie verhält sich nun der von Landauer vielfach beschworene natürliche
»verbindende Geist« zur Religion im Allgemeinen? Wie zum »christlichen
Geiste« (AS XI),15 wie zum »jüdischen Geist[]«?16 Bezeichnenderweise
kommt Landauer auf die Sprache zurück, um das Verhältnis von Gemeingeist
und Religion zu bestimmen.
[D]as ganze gemeinsame Leben der früheren Kulturzeit, der wir entstammen [damit
meint Landauer das christliche Mittelalter; Anm. E. D.] war wie umwunden und ein-
gewickelt in Himmelswahn. Untrennbar verbunden war da dreierlei: erstens der
12 Vgl. ebd., S. 104: »[S]orgt für die Einrichtung, daß ihr ohne schmarotzende und
aussaugende Zwischenglieder mit den Produkten eurer Arbeit an einander heran-
kommt«. Vgl. auch ebd., S. 83: »[D]er Arbeiter [ist] kein freier Mann, der auf den
Markt des Lebens tritt und Güter tauscht«.
13 Vgl. Bernhard Braun: Die Siedlung. In: Delf und Mattenklott (Hg.), Gustav Landau-
er im Gespräch (wie Anm. 2), S. 191–201, besonders S. 196, sowie Kauffeldt, Die
Idee eines ›Neuen Bundes‹ (wie Anm. 5), S. 135.
14 Vgl. Gertrude Cepl-Kaufmann: Gustav Landauer im Friedrichshagener Jahrzehnt
und die Rezeption seines Gemeinschaftsideals nach dem I. Weltkrieg. In: Delf und
Mattenklott (Hg.), Gustav Landauer im Gespräch (wie Anm. 2), S. 235–275. Cepl-
Kaufmann zeigt unter anderem Landauers Einfluss auf den Marburger Neukantianer
Paul Natorp, der am volks- und jugenderzieherisch ausgerichteten »Bund der Som-
merhalde« beteiligt war und für Cepl-Kaufmann ein Beispiel für die Bereitschaft
deutscher Intellektueller nach dem Ersten Weltkrieg darstellt, »aus einem bisher
staatsgläubigen Lager zu einer Zusammenarbeit mit Landauers Sozialismuskonzept«
(ebd., S. 260) zu finden.
15 Im Zusammenhang lautet die Passage wie folgt: »Wie sollte es in unsrer Aera, der
vom christlichen Geiste her in den Gewissen die Gleichheit aller Menschenkinder
nach Ursprung, Anspruch und Bestimmung feststeht, ein Gemeinwesen aus wahren
Gemeinden, wie sollte es ein freies öffentliches Leben, durchwaltet von dem alles
bewegenden Geist vorwärts befeuernder Männer und innig starker Frauen geben,
wenn in irgendwelcher Form und Maskierung die Sklaverei, die Enterbung und Ver-
stoßung aus der Gesellschaft besteht?«
16 Gustav Landauer: Judentum und Sozialismus. In: Ders., Werkausgabe (wie Anm. 3),
Bd 3, S. 160f., hier: S. 161.
256 Teil II

Geist des verbindenden Lebens, zweitens die Bildersprache für die unnennbare Ein-
heit, Unsinnlichkeit und Bedeutsamkeit des in der Seele des Einzelmenschen wahr-
haft erfaßten Weltenalls und drittens der Aberglaube (AS 96).

Der Grund der Religion wird von Landauer als ein anthropologischer veran-
schlagt; es ist der »Geist« als »Trieb zum Ganzen, zum Bunde, zur Gemeinde,
zur Gerechtigkeit« (AS 99). Landauers Rede vom »natürlichen Zwang zur
freiwilligen Vereinigung der Menschen untereinander« (AS 99) schreibt das
Paradox fort, das uns auch schon im Zusammenhang mit Landauers Sprach-
theorie begegnet ist: Der Voluntarismus der Individuen schafft und entscheidet
sich für den Gemeingeist, der ihnen zugleich vorangehen soll als »natürlicher«,
nicht »aufgelegter Zwang« (AS 6) zur »freiwilligen Vereinigung«, der zuzei-
ten verborgen, zu anderen Zeiten aus den Individuen hervorbreche. Der ver-
bindende Geist lasse sich als »unnennbare Einheit« nur in der »Bildersprache«
ausdrücken, die zum »Aberglauben« werde, wenn man sie wörtlich oder dog-
matisch verstehe (vgl. AS 6). Für Landauer ist die religiöse »Bildersprache«
eine Kunstform, als deren Matrix das Kunstsymbol der Goethezeit durch-
scheint. Als ästhetischer Ausdruck einer unaussprechlichen Idee ist das Kunst-
symbol von unerschöpflichem Sinn. Im symbolischen Bild des Besonderen
bleibe, so Goethe, die Idee »immer unendlich wirksam und unerreichbar […]
und, selbst in allen Sprachen ausgesprochen, doch unaussprechlich«.17 Das
Symbol ist Produkt der (künstlerischen) Konstruktion und doch kein bloßes
Zeichen. Das Paradox einer nicht-willkürlichen Konstruktion oder konstruier-
ten Unwillkürlichkeit wird ontologisch abgefedert, indem eine Analogie zwi-
schen natürlicher und künstlerischer Produktion behauptet wird. Diese Analo-
gie beruht nicht auf einem Repräsentationsprinzip, sondern auf einem Kon-
struktionsprinzip, insofern schaffende Natur und Kunst einander zugeordnet
werden.18 Landauers Vorstellung eines schöpferischen »Gemeingeistes«, der
als »natürliche Sympathie« (AS 36) durch die ganze Natur reiche und sich nur
symbolisch ausdrücken lasse, ohne je in seinem Sinn ausgeschöpft werden zu
können, bleibt dieser goethezeitlichen Symbolkonzeption verpflichtet. Lan-
dauer erkennt die Zeichenhaftigkeit, Historizität und Veränderlichkeit der
religiösen Bildersprache als einer Kunstform, in der sich der Gemeingeist
ausdrückt, unbedingt an. Und doch ist die symbolische Bildersprache, solange
sie nicht zum Dogma erstarrt, mehr als bloßes zeichenhaftes Konstrukt. Sie
kann als Darstellung des Gemeingeistes gelten, insofern sie sich mit ihm im
schöpferischen Prinzip trifft.

17 Johann Wolfgang von Goethe: Maximen und Reflexionen. In: Ders.: Werke. Ham-
burger Ausgabe. Hg. von Erich Trunz. München: Beck 1998, Bd 12, S. 365–547,
hier: S. 470.
18 Vgl. zur para-semiotischen Struktur des goethezeitlichen Symbols: Peter Kobbe:
Symbol. In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Bd 4. Hg. von Klaus
Kanzog und Achim Masser. 2. Aufl., Berlin: de Gruyter 1984, S. 308–333, beson-
ders S. 315–319.
3 Sozialismus und Religion bei Gustav Landauer 257

Im Hinblick auf das Mittelalter macht Landauer eine Zwischenstellung des


»Geist[es] des Christentums« (AS 36; vgl. auch R 42) aus, der zwischen »Bil-
dersprache« und »Dogma« gestanden habe. Einerseits habe der »Geist des
Christentums«, als Bild- und Symbolsprache, das Zusammenleben in »Ge-
meinden, Korporationen, Bünden der vorchristlichen Zeit«19 verklärt, als es
sich mit den »primitiv beginnenden Völkern« (R 42) im frühen Mittelalter
verbunden habe. In dieser Hinsicht spricht Landauer im Essay Revolution auch
vom Christentum als »Blütezeit unserer Geschichte« (R 36), als einer »Stufe
der Kultur, wo mannigfache Gesellschaftsgebilde, die ausschließlich sind und
nebeneinander bestehen, von einem einheitlichen Geist durchdrungen eine in
Freiheit sich zusammenschließende Gesamtheit vieler Selbständigkeiten dar-
stellen« (R 42). Als Dogma interpretiert, habe der »Geist des Christentums«
jedoch zu einer Abwendung vom Leben, von der Sinnlichkeit und der Natur
geführt.20 In Landauers Augen waren also der christliche Geist und seine Sym-
bole in den »hohen Zeiten des Christentums« (AS 114) eine legitime Interpre-
tation des Gemeingeistes. Die Versuche, »zu altem Aberglauben oder zu sinn-
los gewordener Bildersprache zurückzukehren« (AS 98), lehnt Landauer aller-
dings ab. Vielmehr gelte es, »das Alte in neuer Gestalt« (AS 102), den verbin-
denden Gemeingeist »in neuen Zungen« (AS 149) auszudrücken. Landauer
hält sich selbst nicht strikt an dieses Programm, denn er benutzt weiterhin die
»Bildersprache« der jüdisch-christlichen Tradition. Dabei kommt die jüdische
Tradition erst später in Landauers Texten zum Ausdruck als die christliche,
deren Sprache noch Landauers Revolutionsessay von 1907 beherrscht. Im
Aufruf zum Sozialismus nimmt Landauer dagegen an einer signifikanten Stelle
unmittelbar Bezug auf den Sinai-Bund und die »mosaische[] Gesellschaftsord-
nung« (AS 136) und präsentiert sie als Vorbild für seine eigene gesellschaftli-
che Utopie: Das mosaische »Jubeljahr«, da »ein jeglicher wieder zu seiner
Habe und zu seinem Geschlecht kommen [soll]« (AS 136), deutet Landauer als
Ausweis für eine Gesellschaftsordnung, die den »Aufruhr als Verfassung, die
Umgestaltung und Umwälzung als ein für allemal vorgesehene Regel, die
Ordnung durch den Geist als Vorsatz« (AS 136) habe: »Das brauchen wir
wieder […]. Die Revolution muss ein Zubehör unserer Gesellschaftsordnung,
muss die Grundregel unsrer Verfassung werden« (AS 136f.).
Anders als im Aufruf dominiert in dem Essay Revolution die Vorstellung
des christlichen Erbes. Denn hier unterscheidet Landauer noch zwischen
»Fremdgeschichte«, »Nachbargeschichte« und »Eigengeschichte« (vgl. R
31ff.), um die Geschichte der Juden wie die der Römer und der Griechen zur
»Nachbargeschichte« zu rechnen und »[u]nsere eigene Geschichte« als »die
Geschichte der Völker Europas und der Christenheit« (R 36) zu definieren. Die
›eigene Geschichte‹ stellt für Landauer die Geschichte der Völker Europas dar,
in deren Kultur die Kultur der Juden »verschlafen-traumhaft hineingespren-

19 Landauer, Gott und der Sozialismus (wie Anm. 8), S. 36.


20 Vgl. ebd., S. 37.
258 Teil II

kelt« (R 32) sei – ohne weitere Bedeutung für Landauers eurozentrische Ge-
schichtsphilosophie. Nachdem die Kirche und die offizielle Theologie das
Christentum mit ihren Dogmen um Leben und Sinn gebracht hätten, seien die
»eigentlichen Christen zu Mystikern, Ketzern und bald auch zu Revolutionä-
ren« (R 53) geworden. Bei diesen liegt für Landauer das christliche Erbe, das
er für »unsere Geschichte« anerkennt. Damit will Landauer das noch namenlo-
se neue Zeitalter, in dem sich die Völker Europas befänden – das Zeitalter der
Revolutionen seit Reformation und Renaissance – nicht auf das Christentum
als Religion festlegen.21 Nicht Rückkehr zu den alten Religionen ist Landauers
Devise, sondern »das Alte in neuer Gestalt«, wobei mit dem »Alten« nicht der
»Geist des Christentums« gemeint ist. Dieser stellt selbst doch nur eine Inter-
pretation des »Alten«: des natürlichen »verbindenden Geistes« als der eigentli-
chen natürlichen, anthropologischen Konstante, dar. Landauers Theorie, dass
jede Utopie »die Erinnerung an sämtliche bekannte frühere Utopien« (R 15)
enthalte, mag erklären helfen, warum er weiterhin die überkommene religiöse
»Bildersprache« benutzt.
Wenn Landauer im Aufruf nun auch die »mosaische Gesellschaftsordnung«
als Utopie erinnert, kann man das als Zeichen für seine Hinwendung zum
Judentum deuten, die sich ab 1908, unter dem Einfluss der Lektüre der von
Martin Buber neu erzählten und ins Deutsche übersetzten chassidischen Le-
genden, beobachten lässt. Nur mit Einschränkungen sollte man jedoch eine
»jüdische Wendung«22 bei Landauer behaupten. Was Landauers ›bekennende‹
Schriften angeht, auf die weiter unten noch näher eingegangen werden soll, so
kann man gewiss eine solche Wendung feststellen. Was seine theoretischen
Schriften anbetrifft, ist jedoch zu bedenken, dass die Ausbildung seiner »we-
sentlichen geschichtsphilosophischen und gesellschaftstheoretischen Positio-
nen bereits abgeschlossen war, als die Tradition des Judentums und aktuelle
jüdische Problematik Landauer intensiver zu beschäftigen begannen.«23 Auch
gegenüber der These, dass ein ›unbewusstes Judentum‹ Landauers gesell-
schaftstheoretische Schriften informiert habe,24 ist Vorsicht angebracht, zumal
man dieses Argument leicht umdrehen kann, so dass dann Landauers Ver-
ständnis des Judentums als christlich – nämlich durch die vorangegangene
Beschäftigung mit der christlichen Mystik – geprägt erscheinen würde. Wenn
man den Blick auf der Textoberfläche belässt, dann ist schlicht zu konstatieren,

21 Vgl. ebd., S. 39: »Nicht Vorläufer, sondern verspätete Epigonen sind die, die uns
jetzt da und dort zuverlässige, fertige und erprobte Weltanschauungen als Religionen
anbieten, um den Drang nach dem Positiven zu befriedigen.«
22 Löwy, Der romantische Messianismus Gustav Landauers (wie Anm. 2), S. 99.
23 Norbert Altenhofer: Tradition als Revolution. Gustav Landauers ›geworden-werden-
des‹ Judentum. In: David Bronsen (Hg.): Jews and Germans from 1860 to 1933.
Heidelberg: Winter 1979 (Reihe Siegen; 9), S. 173–206, hier: S. 173.
24 Vgl. Bernd Witte: Zwischen Haskala und Chassidut. Gustav Landauer im Kontext
der deutsch-jüdischen Literatur- und Geistesgeschichte. In: Delf und Mattenklott
(Hg.), Gustav Landauer im Gespräch (wie Anm. 2), S. 25–41, hier: S. 34.
3 Sozialismus und Religion bei Gustav Landauer 259

dass Landauer noch im Aufruf – geschrieben nach seiner sogenannten »jüdi-


schen Wendung« – Propheten und Apostel in einem Atemzug nennt (vgl. AS
44). Es sind die Pneumatiker, die Mystiker, die Ketzer des Judentums und des
Christentums, auf die sich Landauer als Erbe bezieht. Landauer ist vor allem
anderen Prophet des Gemeingeistes, den er als natürliche, anthropologische
Größe dem Christentum und dem Judentum, dessen Tradition er erst später als
die christliche für sich entdeckt, zugrunde legt.
Für einen transzendenten Gott ist in Landauers Konzeption kein Platz. Eine
»Religion des Tuns, des Lebens, der Liebe, die beseligt, die erlöst, die über-
windet« (AS XVII), gesteht Landauer wohl zu, nicht aber den »Glauben an
irgendwelche äußere[n] oder obere[n] Mächte« (AS 149). Erst vor diesem
Hintergrund lassen sich Landauers vielfältige Bezugnahmen auf die Propheten,
den »prophetische[n] Geist« (AS 4) sowie auf die Apostel und das Pfingst-
wunder des »Zungenreden[s]« (AS 27; vgl. auch AS 149) angemessen deuten.
Propheten wie Apostel bilden das Modell eines vom göttlichen Geist ergriffe-
nen Redens. In diesem Modell fungiert der Geist als »Träger göttlicher Offen-
barung im Wort, als Anrede«.25 Als Träger der göttlichen Offenbarung ist der
Geist Medium, und das »Brausen« (AS 4) des Geistes – das hebräische »ru-
ach« bezeichnet in seiner Grundbedeutung den Wind, die bewegte Luft, den
Hauch – ist das Rauschen des göttlichen Kanals, an den der be-geisterte Spre-
cher, Prophet oder Apostel, angeschlossen ist. Bei Landauer gilt der Geist nun
nicht mehr als Medium für die Botschaften eines transzendenten Gottes. Er
fällt nicht mehr von außen über die Menschen her, sondern bricht von innen
aus den Individuen hervor. Landauer bestimmt den Geist zwar auch inhaltlich,
indem er ihn verweltlicht und als natürlichen »verbindenden Geist« oder »Ge-
meingeist« beschreibt. Das vom Geist ergriffene Reden dient Landauer aber
zugleich auch als Modell für das poetische Sprechen. Landauer nennt das
»dichterische Schauen, das künstlerisch konzentrierte Gestalten, de[n] Enthu-
siasmus und die Prophetie« (AS 34) in einem Atemzuge. Mit der Evokation
des Geistes bezieht sich Landauer immer auch auf die Sprache als Medium an
sich. Die vielfachen Anläufe, die Landauer unternimmt, um den Geist zu be-
schreiben, zeugen nicht nur von einer dilettantischen Anhäufung verschiedener
Referenzen (sie zeugen auch davon). Sie drücken auch eine Huldigung an die
Sprache als Medium aus, das, wie das »Brausen« des göttlichen Geistes, über
die Botschaften und Bedeutungen, die es überträgt, hinausgeht. In der Evokati-
on des Geistes feiert Landauer immer auch die Sprache und die unabsehbare
Bedeutungsfülle, die sie erlaubt, da sie sich als Medium in keiner dieser Be-
deutungen erschöpft. So wie der göttliche Geist sich bevorzugt in einer bildli-

25 Ernst Käsemann: Geist und Geistesgaben im NT. In: Die Religion in Geschichte und
Gegenwart. Hg. von Kurt Galling. 3., völlig neu bearbeitete Aufl., Tübingen: Mohr
1958, Bd 2, Sp. 1272–1279, hier: Sp. 1272.
260 Teil II

chen Sprache den Propheten offenbart,26 gibt auch Landauer der »Bilderspra-
che« den Vorzug vor der wissenschaftlich begrifflichen Sprache. Damit hul-
digt er allerdings nicht mehr dem göttlichen Geist, sondern dem medialen
Sprachgeist.
Wieder lässt sich allerdings eine Remythologisierung bei Landauer feststel-
len, die schon oben (vgl. Kap. I.3.1) beobachtet wurde. Der Geist ist eben nicht
nur medialer Sprachgeist, sondern wird von Landauer inhaltlich gedeutet als
»natürliche Sympathie«, die sich in vermeintlich natürlichen Verbänden aus-
drücke wie der Familie, dem Volk (»Volksgeist« (AS 8)) oder einem (Ur-
)»Kommunismus« in »sagenhaften epischen Zeiten« (AS 12). Landauer wan-
delt nun auch nicht einfach das prophetische Sprechen in ein poetisches um,
sondern das Sprechen »im Namen des Geistes« (AS 154) gibt sich als eine
Autorisierungsstrategie zu verstehen. Letztlich baut Landauer den Geltungsan-
spruch seines Aufrufs zum Sozialismus auf dem Mythos des Dichters als Pro-
pheten und Führers des Volks auf, wie wir im Folgenden noch genauer sehen
werden.
Um Landauers Berufung auf den Geist als rhetorische, durch keine Institu-
tion abgesicherte Strategie der Selbstautorisierung deutlicher zu erkennen, ist
es hilfreich, sich die Funktionsweise der prophetischen Berufung in der Bibel
zu vergegenwärtigen. Die Berufung durch den göttlichen Geist legitimiert den
Anspruch der Propheten, als autoritative Heils- oder Unheilsverkünder aufzu-
treten. Der Prophet spricht als ein vom Geist (hebräisch »ruach«, griechisch
»pneuma«) ergriffener Redner, und nur als ein solchermaßen Berufener ist er
Rufer, wie die Etymologie des hebräischen Nabi (Prophet) zeigt:
Der Begriff nabî' ist wurzelverwandt mit akkad. nabu ›rufen, berufen‹ und kann
entweder ›Rufer‹ oder besser ›Berufener‹ (akkad. nabî'um) bedeuten. Er gewinnt je-
doch erst Farbe durch die verbalen Ableitungen, die in den Texten unserer Periode
[der ältesten Phase der israelitischen Prophetie; Anm. E. D.] vor allem im Hitpa'el in
der Bedeutung ›sich in prophetischer Ekstase befinden‹, ›als Prophet weissagen‹
oder auch einfach ›rasen‹, daneben im Nif'al im Sinne von ›in prophetischem Zu-
stande sein‹, ›sich als Prophet aufführen‹ und ›in prophetischer Begeisterung reden‹
begegnen.27

Die Hebräische Bibel kennt Ämter charismatischer, rangmäßiger und instituti-


oneller Art, wobei der Prophet in ausgezeichneter Weise ein charismatisches
Amt ausübt: Seine Legitimation leitet sich nicht von seinem Rang her, wie
etwa bei den Stammesältesten der Fall, oder von der Institution, wie z. B. beim
institutionellen Priestertum, sondern allein von der unmittelbaren Berufung
26 Vgl. zur bildlichen Sprache der Propheten auch Baruch de Spinoza: Theologisch-
politischer Traktat. Hg. von Günter Gawlick. Übers. von Carl Gebhardt. 3. Aufl.,
Hamburg: Meiner 1994 (Philosophische Bibliothek; 93), S. 14–30 (»Von der Pro-
phetie«).
27 Rudolf Meyer: Propheten. II. In Israel A. Bis auf Amos. In: Die Religion in Ge-
schichte und Gegenwart. Hg. von Kurt Galling. 3., völlig neu bearbeitete Aufl., Tü-
bingen: Mohr 1961, Bd 5, Sp. 613–618, hier: Sp. 614.
3 Sozialismus und Religion bei Gustav Landauer 261

durch Gott. Daher ist die Berufung wichtiger Bestandteil der Prophetenge-
schichten.28 Der Prophet tritt oft als Kritiker der institutionellen Herrschafts-
träger seiner Zeit auf. Lange Zeit hat sich das Bild der Propheten als der »gro-
ßen Einsamen, d[er] entschiedenen Neuerer, gar wohl ›Revolutionäre‹«29
gehalten, das auch im Hintergrund von Landauers Aufruf zum Sozialismus
steht.30
Anders als in der Bibel muss der Geist, auf den sich Landauer beruft, selbst
erst angerufen und solchermaßen im Aufruf sprachlich erzeugt werden. Er kann
nicht, wie in der Bibel, als vorhanden vorausgesetzt werden. Bei Landauers
Berufung auf den Geist handelt es sich um eine Form der »rhetorischen Selbst-
ermächtigung«,31 mit der er im Kampf gegen die Marxisten – für Landauer
»die Pest unsrer Zeit und der Fluch der sozialen Bewegung« (AS 42) – um das
Erbe des Sozialismus streitet.32 Landauer polemisiert unermüdlich gegen den
marxistischen »Wissenschaftsaberglauben« (AS 32). Dieser schiebe der Ge-
schichte objektive Entwicklungsgesetze unter, denen zufolge der Kapitalismus
an seinem eigenen Zusammenbruch arbeite und am Ende zum Sozialismus
führe. Darüber hinaus verherrlichten die Marxisten die Arbeiter als »revolutio-
näre Klasse« (AS 72), als »von der Vorhersehung erkorene Erlöser und Ver-
wirklicher des Sozialismus« (AS 71).33 »Die großen, ungeheuren Menschen-
massen, die Proletarisierten, haben wirklich fast nichts mehr für den Sozialis-
mus zu tun. Sie müssen nur warten, bis es so weit ist« (AS 40). Mit dieser
Theorie aber lähmten die Marxisten »die Gewalten der Gestaltung und die
Schöpferkraft« (AS 109). Der Marxismus sei »nicht eine Beschreibung und
eine Wissenschaft, wofür er sich ausgibt, sondern ein negierender, zersetzen-

28 Vgl. Johannes Fichtner: Propheten. II. In Israel C. Seit Amos. In: Die Religion in
Geschichte und Gegenwart. Hg. von Kurt Galling. 3., völlig neu bearbeitete Aufl.,
Tübingen: Mohr 1961, Bd 5, Sp. 618–627, hier: Sp. 622: »Sie [die Berichte über die
Berufung; Anm. E. D.] begegnen im AT als Selbstberichte der Propheten (Am
7,1ff.; 8,1ff.; 9,1ff. [?]; Hos 3; Jes 6; Jer 1; Ez 1–3; Jes 40,6ff.), als Fremdberichte
(Am 7,10ff.; Hos 1; vgl. Ex 3,7; Ri 6,11ff.) und in der Form der Vorstellung des zu
Berufenden durch Jahwe selbst (Jes 42,1ff.).«
29 Ebd., Sp. 623.
30 Die Forschung geht demgegenüber seit geraumer Zeit davon aus, dass die Propheten
stärker in der Tradition verwurzelt waren als lange angenommen wurde, auch wenn
sie ihr sehr selbstständig gegenübertraten (vgl. ebd., Sp. 623f.).
31 Delf, »Prediger in der Wüste sein…« (wie Anm. 3), S. XXXVI.
32 Vgl. AS 32f.: »[D]er Sozialismus muß zu seinen rechten Erben kommen […]. Und
weil die Erben noch schlummern und in fernen Landen des Traums und der Form
weilen, und weil doch endlich einer anfangen muß, die Hand aufs Erbe zu legen,
muß ich es sein, der die Erben zusammenruft und der sich als einer der ihren legiti-
miert.«
33 Vgl. AS 112: »[D]ie Arbeiterschaft [ist] nicht aufgrund geschichtlicher Notwendig-
keit das auserwählte Volk Gottes, der Entwicklung […], sondern eher der Teil des
Volkes, der am schwersten leidet und infolge der seelischen Veränderungen, die das
Elend mit sich bringt, am schwersten zur Erkenntnis zu bringen ist.«
262 Teil II

der und lähmender Appell an die Ohnmacht, die Willenlosigkeit, die Ergebung
und das Geschehenlassen« (AS 109).
Landauer weist nicht nur wissenschaftliche Aussagen über den Sozialismus
zurück, sondern deklariert jedes Sprechen über den Sozialismus zu einem
performativen Sprechakt. Dies macht er auch für die Marxisten geltend: Sie
beschrieben nicht einfach nur objektive Entwicklungsgesetze, sondern vollzö-
gen einen »Appell an die Ohnmacht« (AS 109), indem sie einen geschichtli-
chen Determinismus behaupteten, der das Tun der Einzelnen gleichgültig wer-
den lasse. Im Unterschied hierzu erscheint die Sozialismus-Hoffnung bei Lan-
dauer als »höchst fragile Konstruktion«, wie Hanna Delf treffend schreibt:
»[D]ie Idee des Sozialismus muß sich sozusagen sprachlich bewähren. Sie
erweist sich als Willen und Hoffen eines Einzelnen im Moment ihrer Kommu-
nikation.«34 Für Landauer sind »Aussagen über den Sozialismus […] folglich
eine radikal subjektive Sache. Sie bedürfen der Zustimmung durch alle übrigen
Subjekte, sonst gelten sie nicht.«35
Dem marxistischen »Appell an die Ohnmacht« stellt Landauer seinen pro-
phetischen Ruf entgegen, der sich auf den – im Aufruf sprachlich erst erzeug-
ten – verbindenden Geist beruft. Weder Institution noch Rang verbürgen die
Legitimität von Landauers Aufruf. Vielmehr macht Landauer, wie die Prophe-
ten, allein den inspirierenden Geist geltend, der bei den Propheten Geist Gottes
und bei Landauer Gemeingeist heißt. Doch nicht nur den berufenden Geist
erzeugt Landauer erst sprachlich im Aufruf, sondern auch den Sozialismus als
Gegenstand des Aufrufs sowie die Angerufenen, die Adressaten seiner Rede.
Immer wieder streut Landauer Leser-Adressen36 in seinen Aufruf ein und
kommt auf die Thematik des Rufs, des Rufens und der Gerufenen zurück. In
der Vorrede zur ersten Ausgabe des Aufrufs zum Sozialismus schreibt Landau-
er, dass er die Form des Vortrags37 gewählt habe, »weil unter den Aufgaben
der Sprache immer die sein wird, andere zu sich heranzurufen […]. Freilich
spreche ich hier anders als in einer Versammlung, spreche ich vor dem weiten,
unbestimmten Kreise, den der Einsame in nächtlichen Arbeitsstunden vor sich
sieht« (AS XX). Angerufen werden von Landauer die »Täter, die Beginnen-
den, die Erstlinge« (AS 153), die sich zum Sozialismus aufgerufen fühlen. Die
Anrufung des Lesers zeigt sich bei Landauer als ein perlokutionärer Sprechakt,
der die »kürzere oder längere Kette von ›Wirkungen‹«,38 welche der Sprechakt

34 Delf, »Prediger in der Wüste sein…« (wie Anm. 3), S. XXXVI.


35 Ebd., S. XXXV.
36 Vgl. AS XIII, 119, 129, 147, passim.
37 Der Aufruf zum Sozialismus basiert auf einem Vortrag, den Landauer zum ersten
Mal am 26.05.1908 gehalten hat.
38 John L. Austin: Zur Theorie der Sprechakte. Übers. von Eike von Savigny. 2. Aufl.,
Stuttgart: Reclam 1979 (Universal-Bibliothek; 9396), S. 124.
3 Sozialismus und Religion bei Gustav Landauer 263

auf einen Rezipienten ausübt, betrifft.39 Angerufen werden die, die sich zum
»Beginnen« aufgerufen fühlen.
Landauers Aufruf zum Sozialismus verhält sich letztlich wie ein literarischer
Text, der die Bedingungen der Kommunikation mit dem Leser, der Leserin erst
selbst herstellt. Denn folgt man Wolfgang Iser, so repräsentiert die fiktionale
Rede einen Sprechakt, der »nicht mit einem gegebenen Situationskontext rech-
nen kann und folglich alle die Anweisungen mit sich führen muß, die für den
Empfänger der Äußerung die Herstellung eines solchen situativen Kontexts
erlauben«.40 Damit soll nicht gesagt sein, dass Landauers Aufruf nicht ernst
gemeint sei. Allein das Gelingen seines Aufrufes ist, wie bei einer fiktionalen
Rede, nicht über textexterne Konventionen abgesichert. Keine Institution ver-
bürgt die Legitimität von Landauers Aufruf – nur die poetische Evokation des
Geistes in der literarisch gebrochenen Tradition prophetischen Sprechens. Man
kann Landauers Aufruf unter diesem Aspekt auch als literarische Machtphanta-
sie lesen, die sich Effekte im Realen darüber zu sichern versucht, dass sie auf
den Mythos vom Dichter als Propheten und Führer des Volkes rekurriert. Denn
im modernen Zeitalter der atomisierten Masse habe sich der Geist in die Ein-
zelnen zurückgezogen:
Einzelne, innerlich Mächtige waren es, Repräsentanten des Volks, die ihn dem Vol-
ke geboren hatten; jetzt lebt er in Einzelnen, Genialen, die sich in all ihrer Mächtig-
keit verzehren, die ohne Volk sind: vereinsamte Denker, Dichter, Künstler, die halt-
los, wie entwurzelt, fast wie in der Luft stehen. Wie aus einem Traum aus urlang
vergangener Zeit heraus ergreift es sie manchmal: und dann werfen sie mit königli-
cher Gebärde des Unwillens die Leier hinter sich und greifen zur Posaune, reden aus
dem Geiste heraus zum Volke und vom kommenden Volke (AS 6f.).

»[W]ir sind Dichter« (AS 34), ruft Landauer aus und macht mit diesem Ruf
mobil gegen die marxistischen »Wissenschaftsschwindler« (AS 34). Für Lan-
dauer verwirklicht sich die »freie Gemeinschaft als ein Verein individueller
Sprecher«,41 den die »Denker, Dichter, Künstler« mit der »Posaune« – der
lutherischen Übersetzung für den Schofar, das Blasinstrument aus einem aus-
gehöhlten Widderhorn, das in biblischen Zeiten als Signalinstrument im Krieg
oder bei Gefahr sowie im Tempeldienst verwendet wurde – ins Leben rufen
sollen. Landauer ersetzt die Arbeiterklasse als Repräsentanten des Volkes
durch die »Denker, Dichter, Künstler«. Ihnen schreibt er das Vermögen zu, das
39 Vgl. zur Unterscheidung von illokutionären und perlokutionären Sprechakten auch
Uwe Wirth: Der Performanzbegriff im Spannungsfeld von Illokution, Iteration und
Indexikalität. In: Ders. (Hg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kul-
turwissenschaften. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2002 (Suhrkamp-Taschenbuch Wis-
senschaft; 1575), S. 9–60, besonders S. 12–17.
40 Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung. 4. Aufl., Mün-
chen: Fink 1994 (UTB für Wissenschaft: Uni-Taschenbücher: Literaturwissenschaft;
636), S. 106.
41 Gert Mattenklott: Gustav Landauer. Ein Portrait. In: Landauer, Werkausgabe (wie
Anm. 3), Bd 3, S. VII–XXII, hier: S. XV.
264 Teil II

den Arbeitern fehle: für die Interessen der Gesamtheit sprechen zu können
(vgl. AS 77). Solange »es die Arbeiter nicht verstehen, aus dem Kapitalismus
auszutreten« (AS 77), würde der Kapitalismus selbst durch den Kampf der
organisierten Arbeiterschaft in Gewerkschaften nur weiter befestigt. Dagegen
hält Landauer die »völlige Umgestaltung der Grundlagen der Gesellschaft«
(AS 111), auf die sein föderativer Gemeindesozialismus zielt. Man muss es
wohl letztlich Landauers ungenügender politischer und gesellschaftlicher
Machtanalyse im Verein mit einer Überhöhung der dichterischen Macht zu-
schreiben, dass er es überhaupt nicht in Betracht zieht, dass seine kulturrevolu-
tionäre Strategie sich auch nur, wie der Kampf der Arbeiter, weiterhin »im
zwingenden Kreise des Kapitalismus« (AS 77) bewegen könnte. Helmuth
Plessner setzt hier einen Hebel seiner berühmten Gemeinschaftskritik von
1924 an. Ohne Landauer explizit zu erwähnen, macht Plessner auf die Grenzen
der Taktik aufmerksam, durch die Bildung kleiner Gemeinschaften die Umges-
taltung der ganzen Gesellschaft initiieren zu wollen. Der »Panarchie der Ge-
meinschaft« stünde die »Unaufhebbarkeit der Öffentlichkeit« entgegen, so
Plessner.42 Diese Öffentlichkeit sei der »wesensnotwendige Gegenspieler« der
Gemeinschaft, »der Inbegriff von Leuten und Dingen, die nicht mehr dazuge-
hören, mit denen aber gerechnet werden muß«.43 In Plessners Augen ist die
Grenze zwischen Gemeinschaft und Öffentlichkeit konstitutiv für affektgetra-
gene Gemeinschaften. Löse man diese Grenze auf, so löse man die Gemein-
schaft auf.44 Landauer hält die Entgegensetzung der kleinen, vorbildlichen
Gemeinschaften und der »Menschenmassen« für vorläufig,45 Plessner hinge-
gen für konstitutiv und unaufhebbar.
In der zweiten Hälfte dieses Kapitels möchte ich auf das Verhältnis von So-
zialismus und Judentum eingehen, wie Landauer es in seinen ›bekennenden‹
Schriften ab 1910 darstellt. Landauer entdeckt erst spät das Judentum bewusst
für sich. Bei der grundsätzlichen »Diskontinuität in Landauers jüdischem
Selbstverständnis«46 bleibt der Kampf gegen den Antisemitismus als alleinige
Konstante in Landauers Bezugnahme auf das Judentum übrig. 1901 schreibt er
noch, dass es »Zufall«47 sei, ob einer Jude sei oder nicht. Dabei meint Landau-
er hier mit Zufall eine »historische Tradition, die durch besondere Umstände,

42 Helmuth Plessner: Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalis-
mus. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2002 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft;
1540), S. 55.
43 Ebd., S. 48.
44 Vgl. ebd., S. 56.
45 Vgl. Gustav Landauer: Durch Absonderung zur Gemeinschaft. In: Ders.: Zeit und
Geist. Kulturkritische Schriften 1890–1919. Hg. von Rolf Kauffeldt und Michael
Matzigkeit. Regensburg: Boer 1997, S. 80–99, hier: S. 98.
46 Altenhofer, Tradition als Revolution. Gustav Landauers ›geworden-werdendes‹
Judentum (wie Anm. 23), S. 174.
47 Gustav Landauer: In Sachen Judentum. In: Ders., Werkausgabe (wie Anm. 3), Bd 3,
S. 156–158, hier: S. 156.
3 Sozialismus und Religion bei Gustav Landauer 265

für die die Gegenwartsmenschen nicht verantwortlich zu machen sind, verges-


sen worden ist zu vergessen«.48 In Landauers Besprechung von Bubers Die
Legende des Baalschem kann man demgegenüber lesen:
Nirgends so wie von dem Denken und Dichten Martin Bubers kann der Jude lernen,
was mancher in unseren Tagen nicht von Haus aus weiß, sondern auf einen äußern
Anstoß hin erst in sich findet: dass das Judentum nicht eine äußere Zufälligkeit, son-
dern eine unverlierbare innere Eigenschaft ist, deren Gleichheit eine Zahl von Indi-
viduen zu einer Gemeinsamkeit verbindet.49

Wieder begegnet man dem Paradox, dass Landauer eine vermeintlich natürli-
che Entität setzt – das Judentum als »unverlierbare innere Eigenschaft« –, die
erst durch Mittel der Kunst – durch einen »Anstoß von Außen«, das »Denken
und Dichten Martin Bubers« – hervorgebracht wird. In dem Aufsatz »Juden-
tum und Sozialismus« kommt Landauer Martin Bubers kulturzionistischer
Position, wie dieser sie in den Drei Reden über das Judentum formuliert hat,
am nächsten. Landauer spricht wieder vom Judentum als »natürlicher Eigen-
schaft derer, die da Juden sind […]. Man ist Jude, auch wenn man es nicht
weiß oder es nicht bekennen will.«50 Die Tatsächlichkeit dieser Nation lasse
sich aber – wie die jeder anderen Nation – nicht ohne weiteres in Begriffe
fassen und definieren. Dennoch müsse versucht werden, »das scheinbar Un-
sagbare in Worte zu bringen. Denn wenn eine Nation wieder einmal an einem
Wendepunkt steht, wenn sie das erst werden soll, was sie ihrer Möglichkeit
nach ist, dann sind die Dichter, dann die Propheten nötig.«51 Landauer versteht
hier auf der Linie Bubers die jüdische Nation als dynamische Größe, die sich
nicht in Begriffen fest-stellen lasse, sondern nur in der Sprache der Dichter und
Propheten auszudrücken sei. Diese dichterische Sprache fällt mit der Sprache
des Symbols zusammen, das nicht wörtlich, aber doch als »etwas Leibhaftes zu
nehmen und zu erleben« (R 53) sei. Das Symbol soll im Gesagten das Unsag-
bare ›leibaft‹ vermitteln. In Bubers Drei Reden findet Landauer nun »das Aus-
sprechen dessen […], was das Judentum seinem Wesen nach sein soll, weil es
im tiefsten Grunde nach unserem Wissen das ist.«52 Das Judentum sei eine
Forderung, eine Aufgabe, ein »[S]oll«, das seinen »Grund« in einem vermeint-
lich natürlichen Sein hat. Landauer überträgt die Figur, mit der er zuvor den
Gemeingeist beschrieben hat, nun auf das Judentum: Wie der Voluntarismus
der Individuen sich für den Gemeingeist entscheidet, der ihnen zugleich als
»natürlicher Zwang« vorausgehen soll, so begreift er nun das Judentum als
Verwirklichung eines Sollens, einer Forderung, die ihren Grund habe in »et-
was, das uns Juden von Natur aus zu einander bindet«.53
48 Ebd., S. 157.
49 Gustav Landauer: Die Legende des Baalschem. In: Ders., Werkausgabe (wie Anm.
3), Bd 3, S. 158–159, hier: S. 158.
50 Landauer, Judentum und Sozialismus (wie Anm. 16), S. 160.
51 Ebd.
52 Ebd.
53 Ebd.
266 Teil II

In dem Artikel »Judentum und Sozialismus« kann man nun verfolgen, wie
die beiden Ansprüche natürlicher Zusammenhänge auf Verwirklichung, d. h. der
Anspruch des Judentums und der Anspruch des Sozialismus, miteinander in
Konkurrenz treten. Auch wenn Landauer hier das Bestreben, den »verbindenden
Geist« als Grundlage einer sozialistischen Gesellschaft anzusetzen, »etwas Jüdi-
sches«54 nennt und in dieser Hinsicht vom »jüdischen Geist«55 spricht, bleibt
doch die Frage: Ist der Sozialismus die Grundlage für das Judentum oder das
Judentum als Nation die Grundlage für den Sozialismus?
Der Sozialismus ist zunächst eine Zusammenfassung eines großen Wollens und es
ist natürlich, dass die nationale Gemeinschaft die Grundlage für die Bildung einer
neuen Gesellschaft abgeben wird. Also, werden viele jüdische Sozialisten daraus
schließen, brauchen wir zunächst die jüdische Gemeinschaft. Aber für andere wird
die Galuth, das Exil als innere Stimmung der Vereinsamung und der Sehnsucht, das
Allererste sein, was ihnen Judentum und Sozialismus verbindet. Für diese wird Ju-
dentum und Sozialismus dasselbe sein, sie werden wissen, dass ihnen als Juden wie
Sozialisten auferlegt ist, die Einheit, die Gerechtigkeit zu verlangen.56

Die erste der von Landauer genannten Optionen hat der Zionist und Sozialist
Moses Hess bereits im 19. Jahrhundert propagiert. Die zweite wird Landauer
ein Jahr später in dem Aufsatz »Sind das Ketzergedanken?« vertreten, den er
im berühmten, vom Verein jüdischer Hochschüler Bar Kochba in Prag heraus-
gegebenem Sammelbuch Vom Judentum veröffentlichte. In diesem Artikel
verhält sich Landauer nicht nur ketzerisch gegenüber den von Bubers kulturzi-
onistischem Programm inspirierten Prager Studenten,57 sondern auch gegen-
über seinem eigenen früheren Aufsatz. In dem früheren Artikel, der auf einen
Vortrag zurückgeht, den Landauer in der zionistischen Ortsgruppe West-Berlin
am 07.02.1912 gehalten hat, tendiert Landauer zur ersten Option, wenngleich
auch in etwas gewundener Weise. Gegenüber den jüdischen Sozialisten, die
eine jüdische Gemeinschaft als Grundlage des Sozialismus reklamieren, gibt
Landauer zu bedenken, dass »es […] kein Volk gebe, auch kein jüdisches,
solange nicht die Grundlage jeglichen Volks gegeben ist: die auf der Gerech-
tigkeit basierte freie Wirtschaftsgemeinde.«58 Dennoch verleiht Landauer am
Schluss der »starken Meinung« Ausdruck, es könne sich das sozialistische
Leben »als unmöglich erweisen in einer aus mehreren Nationen gemischten
Gesellschaft. […] Es wird sich also bei den sozialistischen Versuchen als Al-
lerdringlichstes herausstellen, daß das Recht auf unsere Art doch nur wird
verwirklicht werden können unter uns.«59
54 Ebd.
55 Ebd., S. 161.
56 Ebd., S. 160.
57 Vgl. Delf, »Prediger in der Wüste sein…« (wie Anm. 3), S. XLV.
58 Landauer, Judentum und Sozialismus (wie Anm. 16), S. 161. Vgl. auch Gustav
Landauer: Sozialismus und Judentum. In: Ders., Werkausgabe (wie Anm. 3), Bd 3,
S. 161f., hier: S. 162: »Ohne Sozialismus gibt es kein ›Volk‹.«
59 Landauer, Judentum und Sozialismus (wie Anm. 16), S. 161.
3 Sozialismus und Religion bei Gustav Landauer 267

Die Position, die Landauer in »Judentum und Sozialismus« vertritt, lässt


sich insofern mit seinem Aufruf zum Sozialismus in Verbindung bringen, als er
auch hier »eine Wiedergeburt der Völker aus dem Geist der Gemeinde« (AS
130) fordert, der er freilich eine universale Perspektive gibt, da sie der Weg zur
Menschheit sein soll (vgl. ebd., 119). Landauer steht mit seiner Auffassung
von Volk deutlich in der romantischen Tradition.60 Er stellt die Nation dem
Staat entgegen, der bürokratischer Zwang und Künstlichkeit sei, »ein Nichts«,
das sich »lügnerisch mit dem Mantel der Nationalität bekleidet«61 und behaup-
te, ein »Jenseitiges und wie Unbegreifliches [zu] sein, für das Millionen enthu-
siastisch und todestrunken einander hinschlachten«.62 »Volk« unterscheidet
Landauer aber auch von Rasse. »Volk« beruhe auf der »gemeinsamen Ge-
schichte in Sprach-, Sitten- und Geistesgemeinschaft«.63 Für Landauer be-
zeichnet »Volk« mithin eine Kulturgemeinschaft. Darüber hinaus legt Landau-
er »Volk« im Sinne des von ihm propagierten »sozialistischen Bundes« aus.64
»Volk« gibt sich immer in diesen beiden Aspekten bei Landauer zu lesen: zum
einen im Sinne der Nation als vermeintlich natürlich gewachsener Kulturge-
meinschaft, zum anderen im Sinne der sich anarchisch selbst regulierenden,
staatsfeindlichen Gemeinschaft der kleinen Siedlungen und Bünde.65
Auch auf Landauer hat die völkische Idee, wie sie sich um 1900 in der Ge-
mengelage von Jugendbewegung und Nationalmystik entwickelte, Einfluss
ausgeübt. Wie Mosse zeigt, hat die Sehnsucht nach vorindustriellen Zeiten, in
denen anstelle der Entfremdung von der Gesellschaft eine Verbindung des
Einzelnen mit der Natur, mit dem Volk und dem »Bund« bestanden haben soll,
zur generellen neuromantischen Atmosphäre um 1900 gehört. Ein natürlich-
organischer Volksbegriff hatte Konjunktur. Die Nation als die unnennbare,
dem Begriff entgehende mystische Einheit, wie sie Buber und Landauer eine

60 Vgl. Kauffeldt, Die Idee eines ›Neuen Bundes‹ (wie Anm. 5), S. 175–179, sowie
ders.: Zur jüdischen Tradition im romantisch-anarchistischen Denken Erich Müh-
sams und Gustav Landauers. In: Bulletin des Leo Baeck Instituts 69 (1984), S. 3–28,
besonders S. 18–20.
61 Ebd., S. 20.
62 Ebd.
63 Gustav Landauer: Rechenschaft. Berlin: Cassirer 1919, S. 88.
64 Vgl. Gustav Landauer: Die 12 Artikel des Sozialistischen Bundes [Erste und Zweite
Fassung]. In: Thomas Anz und Michael Stark (Hg.): Expressionismus. Manifeste
und Dokumente zur deutschen Literatur 1910–1920. Stuttgart: Metzler 1982, S.
250–253, hier: S. 253: »Während des Aufbaus des Sozialistischen Bundes kommt es
mit Notwendigkeit zu einer Abwanderung des Proletariats aus den Industriestädten
aufs Land, zu einer Verbindung aus Landwirtschaft, Industrie und Handwerk, von
geistiger und körperlicher Arbeit und zu den starken Gefühlen der Arbeitsfreude und
Gemeinschaftsinnigkeit, durch die wir Menschen zu Gemeinden und zum Volk er-
hoben werden.«
65 Kauffeldt summiert: »Landauers Volks- und Nationenbegriff war antiautoritär,
libertär, föderalistisch und universal« (Kauffeldt, Die Idee eines ›Neuen Bundes‹
[wie Anm. 5], S. 175).
268 Teil II

Zeit lang imaginieren, verträgt sich ebenfalls gut mit der neuromantischen
Nationalmystik um 1900. Mosse macht aber auch auf Unterschiede aufmerk-
sam: »The Volkish influence on German Zionism did not, in the end, trans-
form the belief in a Jewish Volk into an aggressive, exclusive belief. But the
German Volkish movement did lead in this direction«.66 Die Vorstellung einer
unmittelbaren Gemeinschaft begründet bei Buber und Landauer nicht nur das
»Volk« wie bei vielen ihrer Zeitgenossen, sondern transzendiert es auf die eine
oder andere Weise in universaler Richtung, woraus sich notwendig Spannun-
gen und Paradoxien ergeben. Für Mosse macht das die typisch jüdische Inter-
pretation der Gemeinschaftsideologie aus.67
Der Aufsatz »Sind das Ketzergedanken« von 1913 enthält nun eine selbst-
kritische Wendung gegenüber dem ein Jahr zuvor veröffentlichten Artikel »Ju-
dentum und Sozialismus«, die in der Forschung in der Regel übersehen wird.68
Auch hier nennt Landauer das Judentum eine »Tatsächlichkeit«, die aber erst
dann
volles, schönes, strömendes und all unser Wesen erfüllendes Leben hat, wenn wir es
nicht mehr nötig haben, sie mit dem Bewußtsein zu halten und zu umklammern. Die
starke Betonung der eigenen Nationalität, auch wenn sie nicht in Chauvinismus aus-
artet, ist Schwäche. Schreibt ein Deutscher über die Romantik oder den Sozialismus
oder die Erhaltung der Energie, so schreibt er eben über die Romantik oder den So-
zialismus oder die Erhaltung der Energie. Der bewußte Jude schreibt über Romantik
und Judentum, über Sozialismus und Judentum, über die Erhaltung der Energie und
das Judentum und auch noch über das Radium und das Judentum.69

Über »Sozialismus und Judentum« wie über »Judentum und Sozialismus« hat
Landauer aber selbst noch im Jahr zuvor Vorträge gehalten und einen Artikel
geschrieben. In dem Aufsatz »Sind das Ketzergedanken?« verwahrt sich Lan-
dauer gegen die Vorstellung von Nation als einer absoluten Einheit, die rein
für sich bestünde. Schon heute sei nicht mehr eine, sondern seien verschiedene
Nationen für die Individuen konstitutiv. Sich selbst versteht Landauer nicht als
deutscher Jude oder jüdischer Deutscher, sondern als Deutscher und Jude
66 George L. Mosse: The Influence of the Volkish Idea on German Jewry. In: Ders.:
Germans and Jews. The Right, the Left, and the Search for a »Third Force«. Lon-
don: Orbach & Chambers 1971, S. 77–115, hier: S. 93.
67 Ebd., S. 89.
68 So entgeht z. B. Michael Löwy der Unterschied in der Argumentation zwischen den
beiden Aufsätzen (vgl. Löwy, Der romantische Messianismus Gustav Landauers
[wie Anm. 2], S. 103). Auch Schmidt-Bergmann vernachlässigt die feinen Unter-
schiede zwischen beiden Artikeln und rückt Landauer an die Seite Bubers, ohne de-
ren Differenzen zu berücksichtigen (vgl. Hansgeorg Schmidt-Bergmann: »Judentum
und Sozialismus«. Über Kontinuität und Bruch in Gustav Landauers anarchisti-
schem Denken. In: Eveline Goodman-Thau und Michael Daxner [Hg.]: Bruch und
Kontinuität. Jüdisches Denken in der europäischen Geistesgeschichte. Berlin: Aka-
demie-Verlag 1995, S. 151–161).
69 Gustav Landauer: Sind das Ketzergedanken? In: Ders., Werkausgabe (wie Anm. 3),
Bd 3, S. 170–174, hier: S. 171f.
3 Sozialismus und Religion bei Gustav Landauer 269

zugleich, ohne ein »Abhängigkeits- oder Adjektivitätsverhältnis«70 angeben zu


können. Er erlebe »dieses seltsame und vertraute Nebeneinander als ein Köst-
liches«71 und kenne in diesem Verhältnis nichts Primäres oder Sekundäres.
»Ich habe nie das Bedürfnis gehabt, mich zu simplifizieren oder durch Ver-
leugnung meiner selbst zu unifizieren, ich akzeptiere den Komplex, der ich
bin, und hoffe, noch vielfältiger eins zu sein als ich weiß«, hält Landauer den-
jenigen entgegen, die diesen vielfältigen Komplex, der er sei, als »Halbheit«
oder »Mischlingsprodukt« verunglimpfen und die »östlichen Juden« als die
»wahren Juden« anpriesen: »Wir in unserer Besonderheit und Vielfältigkeit
werden unsre östlichen Brüder als ebenfalls, wenn schon in anderen Abstufun-
gen, Vielfältige erkennen.«72
Was Landauer für die Individuen geltend macht, bestimmt nun auch seine
Vision der Menschheit als werdender, neuer »Als-ob-Nation«,73 die sich aus
den »alten Nationalitäten« zusammensetzt und diese zugleich in ihrer ver-
meintlichen Identität mit sich selbst in Frage stellt und transzendiert: »Nicht
nur, daß sie aus allen Nationen kommen und sich eins und neu fühlen; zu we-
nig gesagt; sie fühlen sich so durch das Band des Geistes verbunden und von
denen, die nicht mitgehen, getrennt, wie wenn sie eine neue Nation wären.«74
In jedem Volk gebe es heute entscheidende Trennungen zwischen den Vielen
und den Wenigen. Ein »Riss«75 gehe durch das Judentum wie durch die ande-
ren Völker. Landauer gibt nicht die Nationalität – sein Judentum – zugunsten
der Universalität der werdenden Menschheit auf. Vielmehr gibt er sie in einer
doppelten Perspektivierung zu denken: Einerseits konstruiert Landauer die
Nationalität als unverlierbare »Tatsächlichkeit«, die er mit einem Meister Eck-
hart (einem christlichen Mystiker!) entwendeten und umgedeuteten Wort ein
»göttliches Unwissen«76 nennt. Andererseits macht Landauer deutlich, dass die
bewusste Thematisierung den Bezug der Nationalität auf etwas anderes als sie
selbst notwendig mache, damit diese nicht in einem tautologischen Selbstbe-
zug »dürr und hohl und klappernd«77 werde. Dieser Bezug auf das andere als
sie selbst ist bei Landauer die werdende Menschheit, die jede Nation auf alle
anderen Nationen verweist und eine offene Beziehung zwischen ihnen stiftet.
Die Vorstellung einer mystischen, unaussprechbaren Identität der Nation ga-
rantiert in dem Aufsatz »Sind das Ketzergedanken?« weniger die tiefe Einheit
der Nation, die sich immer nur symbolisch, im unerschöpflichen Wort der
Dichter und Propheten, aussprechen kann. Dieser Konzeption hatte Landauer
noch ein Jahr zuvor im Aufsatz »Judentum und Sozialismus« das Wort gelie-
70 Ebd., S. 173.
71 Ebd., S. 174.
72 Ebd.
73 Ebd., S. 173.
74 Ebd.
75 Ebd., S. 172.
76 Ebd.
77 Ebd.
270 Teil II

hen.78 Vielmehr gibt Landauer in »Sind das Ketzergedanken?« die Nation als
bewusst unbewusste »Tatsächlichkeit« zu denken, die er mit Meister Eckhart
»göttliches Unwissen« nennt. Als solche erscheint sie ihm unverlierbar: »Mein
Judentum spüre ich in meiner Mimik, in meinem Gesichtsausdruck, meiner
Haltung, meinem Aussehen und so geben diese Zeichen mir die Gewißheit,
dass es in allem lebt, was ich beginne und bin.«79 Ein Judentum, das nicht als
bewusst unbewusste, sondern als bewusste Tatsächlichkeit sprachlich themati-
siert wird, lässt Landauer demgegenüber mit der werdenden Menschheit, der
»neu werdende[n] Als-ob-Nation«, zusammenfallen:
Wir Juden nun, die wir geworden-werdende Juden sind, können da nicht zweierlei
und getrenntes in uns finden; die neu werdende Als-ob-Nation, von der hier gespro-
chen wird, und das, was uns eint, wenn wir aussprechen wollen, was wir als Juden
sind, das beides ist ein und dasselbe. […] der [D]ienst an der Menschheit treibt uns
[…]. So daß, je mehr wir unsere Nation aus der verborgenen Stille bloßer Tatsäch-
lichkeit zu Worten des Willens und der Wandlung erheben, je mehr wir bewußte Ju-
den werden, die unter Judentum unser Wesen verstehen, Judentum zusammenfällt
mit einer sachlichen Richtung einer Erfüllung zu. […] Wie ein wilder Schrei über
die Welt hin und wie eine kaum flüsternde Stimme in unserem Innersten sagt uns ei-
ne unabweisbare Stimme, daß der Jude nur zugleich mit der Menschheit erlöst wer-
den kann und daß es ein und dasselbe ist: auf den Messias in Verbannung und Zer-
streuung zu harren und der Messias der Völker zu sein.80

Mit dem messianischen »Dienst an der Menschheit« weist Landauer dem Ju-
dentum eine universale Aufgabe zu, nämlich die, in der Diaspora die Schran-
ken der Nationalitäten zu überwinden. Die plurale nationale Identität, die Lan-
dauer für sich als Juden und Deutschen behauptet, wertet er als Kennzeichen
überhaupt des Judentums, das sich nicht wie die anderen Nationen in einem
Nationalstaat abgegrenzt habe. Was für ihn als Deutschen und Juden gelte,
treffe auch auf das (von Buber) glorifizierte Ostjudentum als den vermeintlich
»wahren Juden« zu. Auch in ihnen kämen vielfache Nationalitäten zusammen:
»Russische oder polnische Juden gibt es nicht, wohl aber zumindest dreifach
mit Nationalität Gespeiste: denn sie, die Östlichen, sind Juden und sind Russen
oder Polen oder Litauer und sind Deutsche eines besonderen Schlages (Mittel-

78 Vgl. Landauer, Judentum und Sozialismus (wie Anm. 16), S. 160: »Dieses Judentum
ist zunächst eine große Tatsächlichkeit, eine natürliche Eigenschaft derer, die da Ju-
den sind, etwas, das uns Juden von Natur aus zu einander bindet. Man ist Jude, auch
wenn man es nicht weiß oder es nicht bekennen will. Trotzdem oder gerade deswe-
gen ist davor zu warnen, daß man glaubt, diese Tatsächlichkeit definieren zu kön-
nen. Es ist nicht ohne weiteres in Begriffe zu fassen, was ein Alemanne oder Fran-
zose ist. Und dasselbe gilt von uns. Dennoch müssen wir uns heiß bemühen, dieses
scheinbar Unsagbare in Worte zu fassen. Denn wenn eine Nation wieder einmal an
einem Wendepunkt steht, wenn sie das erst werden soll, was sie ihrer Möglichkeit
nach ist, dann sind die Dichter, dann die Propheten nötig.«
79 Landauer, Sind das Ketzergedanken? (wie Anm. 69), S. 173.
80 Ebd.
3 Sozialismus und Religion bei Gustav Landauer 271

hochdeutsche, Jiddisch-Deutsche).«81 Anders als die Nationen, die sich zu


Staaten abgegrenzt hätten und draußen ihre Nachbarn hätten, die ihre Feinde
seien, habe die jüdische Nation »die Nachbarn in der eigenen Brust; und diese
Nachbargenossenschaft ist Friede und Einheit in jedem, der ein Ganzer ist und
sich zu sich bekennt.«82 Insofern Landauer die messianische Aufgabe der jüdi-
schen Nation darin erblickt, die Grenzen der Nationalstaaten zu überwinden,
wertet er auch das Exil auf. Gerade die Diaspora wird für Landauer »sozusa-
gen zur sozialen Basis für die Vorstellung der Juden als Erlöser der ganzen
Menschheit«.83
Für Michael Löwy handelt es sich hierbei »selbstverständlich um eine klas-
sische Form von ›Paria-Messianismus‹, die das negative Privileg (Max Weber)
des ausgestoßenen Volkes für die Spiritualität umkehrt.«84 Diese Kennzeich-
nung von Landauers Messianismus ist allerdings einseitig. Denn sicherlich
wertet Landauer die Außenseiterposition des Judentums, »das Gefühl des Ga-
luth, der Besonderheit, der Sehnsucht«,85 auf. Landauers Konzeption einer
messianischen Aufgabe des Judentums bei der Verwirklichung eines internati-
onalen Sozialismus erhellt sich jedoch erst, wenn man ihre Herkunft aus der
Tradition der Aufklärung und der Bildungsidee berücksichtigt. Das deutsch-
jüdische Bürgertum im 18. und 19. Jahrhundert war am Ideal einer allgemei-
nen Humanität orientiert, in der die Unterschiede zwischen den Völkern auf-
gehoben sein sollten. Bildungs- und Aufklärungsprinzip stellten die individuel-
le Autonomie in den Vordergrund, die Schöpferkraft aller Menschen, unab-
hängig von Nationalität und Religion. Diese liberale Tradition lässt sich bis zu
den jüdischen Linksintellektuellen des Kaiserreichs und der Weimarer Repu-
blik verfolgen, die sich zwar vom bürgerlichen Liberalismus ihrer Eltern ab-
wandten, den liberalen Idealen des Aufklärungs- und Bildungsprinzips aber
verpflichtet blieben, die sie freilich von der Beschränkung auf die bürgerliche
Mittelklasse loszulösen trachteten.86 »Linksintellektuelle erblickten im Sozia-
lismus die Konkretisierung des Humanitätsideals.«87 Das Produkt der Emanzi-
pationsgeschichte der Juden in Deutschland lässt sich mit Mosse als eine
»Sonderform des Sozialismus«88 charakterisieren, die die sozialistische Ortho-
doxie ablehnte und den Marxismus zu humanisieren versuchte, indem sie dem
Individuum, der Erkenntnis und besonders der ästhetischen Bildung eine zent-

81 Ebd., S. 174.
82 Ebd.
83 Paul Breines: The Jew as Revolutionary, the case of Gustav Landauer. In: Year
Book of the Leo Baeck Institute 12 (1967), S. 75–84, hier: S. 82.
84 Löwy, Der romantische Messianismus Gustav Landauers (wie Anm. 2), S. 102.
85 Landauer, Sozialismus und Judentum (wie Anm. 58), S. 162.
86 Vgl. George L. Mosse: Jüdische Intellektuelle in Deutschland. Zwischen Religion
und Nationalismus. Übers. von Christiane Spelsberg. Frankfurt a. M., New York:
Campus 1992, S. 90–111 (»Die Linksintellektuellen«).
87 Ebd., S. 91.
88 Ebd.
272 Teil II

rale Rolle im revolutionären Prozess zusprach. Über die Frankfurter Schule ist
dieser Teil des jüdisch-deutschen Erbes bis heute lebendig geblieben.
Wie sehr Landauer dem Bildungsideal der Aufklärung verpflichtet geblie-
ben ist, zeigt sich insbesondere an seiner 1917/18 entstandenen Interpretation
von Shakespeares Der Kaufmann von Venedig. Shakespeare habe mit Shylock
»den Juden im Verkehr mit der Welt, die ihn zu dem gemacht hat, was er
ist«,89 auf die Bühne gebracht. »Er ist nichts als Verkehr; er kann nicht mit
sich allein umgehen. Vermöchte er es, täte er es, er mit seinen reichen ver-
schütteten Gaben wäre ein anderer als der er erscheint, er wäre er selbst, er
käme zu sich.«90 Shylock sei aber keine Selbstentfaltung gestattet. Er sei »fürs
Leben geprägt und verdorben, er ist fertig und gestempelt. Das Große aber an
Shakespeares Erkenntnis ist, daß dieser Teufel nicht einfach der Teufel ist,
sondern daß er geworden ist, was er ist, durch Schuld vor allem derer, die – im
Gegensatz zu ihm – noch wandelbare Menschen sind«,91 durch Schuld derer,
denen es möglich ist, »in ihrer eigenen Individualität hinaufgebildet«92 zu
werden. Shylock ist von den Möglichkeiten und Institutionen der individuellen
Entwicklung abgeschnitten, seine Gaben – Landauer sieht in ihm verschiedene
Talente angelegt, vor allem das Talent zum Künstler, das unter dem gesell-
schaftlichen Druck zur Kunst der Rache verkümmert sei – können nicht zur
Entfaltung kommen: Der »große Bann ist über ihn gesprochen«,93 denn ihm ist
der Zugang zum Reich der Bildung, der Kunst, vor allem der Musik, das in
Shakespeares Stück das Schloss Belmont verkörpert, verwehrt. Shylocks
Tochter Jessika jedoch finde im letzten Akt durch ihren christlichen Geliebten
Zutritt zu diesem Reich der Musik, in dem Geist und Natur eins seien.
Komm, Jessika! Dieser Zuruf des Liebenden an Shylocks Tochter […], dieser Ruf
zum gemeinsamen Aufstieg – Komm, hebe dich zu höhern Sphären – ist mir die er-
greifend schönste Stelle der ganzen Dichtung. Das ist Jessikas wahre Taufe im
Geist; das ist der Aufstieg der Tochter Shylocks aus dem Ghetto, im Flug über alle
geschichtlich relativen Stufen hinweg, zur Höhe der vom Geist beflügelten, im Geist
einigen Menschheit.94

Nicht die christliche, sondern die »wahre Taufe im Geist« soll die Schranken
der Konfessionen, der Nationen und der Geschlechter überwinden. Landauer
formuliert hier noch einmal das klassische Programm der Aufklärung, die
Emanzipation durch Bildung versprach. Die exponierte Stellung, die Landauer
der Musik in diesem Programm zuschreibt, charakterisiert er selbst als eine

89 Gustav Landauer: Der Kaufmann von Venedig. In: Ders., Werkausgabe (wie Anm.
3), Bd 3, S. 194–221, hier: S. 203.
90 Ebd.
91 Ebd., S. 209.
92 Ebd.
93 Ebd., S. 210.
94 Ebd., S. 219.
3 Sozialismus und Religion bei Gustav Landauer 273

Idee der Romantik.95 Freilich geht Landauers Ansatz nicht einfach in dem
Emanzipations- und Bildungsideal der Aufklärung auf. Zum einen nimmt bei
ihm eben der Sozialismus die Stelle wahrer Humanität ein. Zum anderen
spricht sich Landauer mit seiner Konzeption des Judentums als unverlierbarer
»Tatsächlichkeit« dagegen aus, das Judentum als Nation einfach aufzugeben.
Landauer setzt sich sowohl von der Assimilation als auch vom politischen
Zionismus ab. Aber auch gegenüber dem Kulturzionismus Bubers, dem Lan-
dauer als einem »erweckenden Zionismus«96 mit nachhaltiger Sympathie ge-
genübersteht, wahrt Landauer eine eigene Position, insofern er der Fixierung
auf das Ideal des ›wahren‹, ›ganzen‹ Juden eine Absage erteilt zugunsten plu-
raler nationaler Identität. Auch Bubers Konzentration auf Palästina folgt Lan-
dauer nicht, sondern weist die messianische Aufgabe einem Diaspora-
Judentum zu.
Soll man nun in einer »spezifische[n] Auslegung des jüdischen Messianis-
mus«97 die Matrix für Landauers Anarchismus sehen oder gar annehmen, dass
»der jüdische Messianismus die verbindende unbewusste Struktur in Landau-
ers Werk war«,98 wie Positionen der Forschung lauten? Der Grund, warum
diese Frage erst so spät aufgeworfen wird, liegt in Landauers Texten selbst:
Äußerst spärlich sind die expliziten Bezüge auf die messianische Tradition, die
man in ihnen finden kann. Landauer ist der messianischen Tradition gegenüber
ambivalent eingestellt. Im Gegensatz zur positiven Referenz in »Sind das Ket-
zergedanken« auf eine messianische Aufgabe der jüdischen Nation bei der
Verwirklichung des internationalen Sozialismus, kann man in den Notizen zu
einem Vortrag über »Sozialismus und Judentum« lesen: »nicht drittes Reich
und Messianismus, sondern schlichte Verwirklichung nach Möglichkeit; nicht
›Religion‹, sondern Sehnen und Mitleben.«99 Wie ein Echo hierauf nimmt sich
eine Passage im Aufruf zum Sozialismus aus:
Sorge jede Generation tapfer und radikal für das, was ihrem Geist entspricht: es
muss auch später noch Grund zu Revolution geben […]. Keinerlei Sicherheitsvor-
kehrungen fürs tausendjährige Reich oder die Ewigkeit sollen hergestellt werden,
sondern eine große und umfassende Ausgleichung und die Schaffung des Willens,
diesen Ausgleich periodisch zu wiederholen (AS 135f.).

Im Anschluss hieran folgt Landauers bereits zitierte positive Wertung der


»mosaischen Gesellschaftsordnung«, die den »Aufruhr als Verfassung, die

95 Vgl. ebd., S. 209: »[F]ür sie [die anderen Personen des Stücks; Anm. E. D.] gibt es,
und für Shylock nicht, – einen fünften Akt, eine mondbeglänzte Zaubernacht, ein
Reich der Romantik. Was unterscheidet sie, mögen sie sonst sein, wie sie wollen,
von Shylock? Musik!«
96 Gustav Landauer: Zur Poesie der Juden. In: Ders., Werkausgabe (wie Anm. 3),
Bd 3, S. 175–177, hier: S. 176.
97 Schmidt-Bergmann, »Judentum und Sozialismus« (wie Anm. 68), S. 152.
98 Weisberger, Gustav Landauers mystischer Messianismus (wie Anm. 2), S. 433.
99 Landauer, Sozialismus und Judentum (wie Anm. 58), S. 162.
274 Teil II

Umgestaltung und Umwälzung als ein für allemal vorgesehene Regel, die
Ordnung durch den Geist als Vorsatz« (AS 136) instituiert habe. Ganz ähnlich
interpretiert Buber, wie wir gesehen haben, in seinen späteren »Vorlesungen
über Judentum und Christentum« sowie in seiner Studie Königtum Gottes den
Sinai-Bund als eine »Gemeinschaft aus Freiwilligkeit«,100 die sich nicht durch
das Gesetz, sondern durch den Widerstand gegen jede Form institutionalisier-
ter Herrschaft auszeichne. Buber nennt dies den jüdischen »Urmessianismus«
(JCM VIII 5) – anders als Landauer, der die »mosaische Gesellschaftsord-
nung« von der messianischen Tradition trennt. Es ist der apokalyptische As-
pekt der messianischen Tradition, der Landauer zur Vorsicht anhält.101 Es
bleibt ein fragwürdiges Unternehmen, Landauers gesamtem Werk einen unbe-
wussten strukturellen Messianismus zu unterstellen, indem man wie Weisber-
ger mit einem Idealtyp des jüdischen Messianismus operiert und diesem Ideal-
typ, mit dem späten Gershom Scholem, drei Charakteristika zuordnet: »Kol-
lektivismus, Diesseitigkeit, die Verbindung konservativer und utopischer Kräf-
te«.102 Diese Charakteristika dürften auf eine Vielzahl utopischer Entwürfe
zutreffen; ohne dass ein expliziter Bezug auf die jüdische messianische Tradi-
tion vorliegt, sind sie viel zu unspezifisch, um den jüdischen Messianismus als
»verbindende unbewußte Struktur in Landauers Werk«103 zu reklamieren.
Stattdessen sollte man Landauers Zurückhaltung gegenüber dem messiani-
schen Vokabular ernst nehmen: Es scheint sich für ihn um eine Tradition zu
handeln, die sich schwer kontrollieren lässt und apokalyptisch ausschlagen
kann.
Positiv bezieht sich Landauer auf die Tradition des jüdischen Messianismus
in dem ganz bestimmten Sinne, dass er sie, wie in »Sind das Ketzergedan-
ken?«, als messianisches Amt der jüdischen Nation interpretiert, eine im So-
zialismus geeinte Menschheit zu verwirklichen. Dass dieses Amt nicht nur ein
jüdisches Amt ist, sondern dass an ihm andere Nationen teilhaben, drückt er in
seiner Interpretation von Strindbergs Historischen Miniaturen aus, die er als
eine große Geschichtsdichtung von der Zeit Israels in Ägypten bis zur Franzö-
sischen Revolution vorstellt. Diese Geschichtsdichtung sei von der Verheißung
an Abraham geprägt: »In deinem Namen sollen alle Geschlechter gesegnet
werden!«, die Landauer als Verheißung liest, »daß die Menschheit in diesem
Geiste, der vom Judentum kommt« geeint werde.
Messianisch ist die Anschauung, der Glaube, der Wille, der hier zum Ausdruck
kommt. Frage keiner, was solche Geschichtsdichtung, die vom jüdischen Geist aus-

100 Martin Buber: Königtum Gottes. Berlin: Schocken 1932, S. 144.


101 Auch wenn Landauer mit dem »tausendjährigen Reich« einen Topos der christli-
chen Johannes-Apokalypse zitiert, wird man seinen Vorbehalt kaum auf den christ-
lichen Messianismus beschränken können. Er gilt einem jeden apokalyptisch aus-
gerichteten Messianismus, der auf eine Endzeit als Ziel ausgerichtet ist.
102 Weisberger, Gustav Landauers mystischer Messianismus (wie Anm. 2), S. 433.
103 Ebd.
3 Sozialismus und Religion bei Gustav Landauer 275

geht und in jüdischen Geist mündet, dem Juden solle. Wir Juden haben nicht bloß
unser Amt an der Menschheit; die Wege, die die Menschheit nimmt, Umwege, Irr-
wege, schwere und gefährliche Wege, die Wege der andern Völker werden auch um
unsertwillen gegangen, sind auch unsre Wege. Sind nicht unser ganzer Weg, neh-
men uns nichts von unserer besonderen Aufgabe ab, sind auch unser Weg. Unser
Weg ist auch der Weg Europas bis zum 18. Brumaire, unser Weg auch, was dann
kam bis März 1848, unser Weg auch, was anschloß und weitergeht über unsre Zei-
ten hinweg.104

Landauer bleibt bis zu seinem Lebensende ein Prophet des Gemeingeistes, den
er nach 1908 zwar wiederholt, aber keineswegs ausschließlich, mit dem »jüdi-
schen Geist« identifiziert, welcher sich aber nicht auf die jüdische Nation oder
auf Juden als seine Botschafter beschränkt. Wie in »Sind das Ketzergedan-
ken?« tragen auch in Landauers Strindberg-Interpretation alle die, die sich
»durch das Band des Geistes verbunden«105 fühlen, auch wenn sie aus ver-
schiedenen Nationen stammen, zur sozialistisch vereinigten Menschheit und
damit zur Erfüllung der Verheißung an Abraham bei. Aber auch Landauer
kann die Spannung zwischen Universalität und Partikularität nicht vermeiden:
Einerseits partizipieren alle »durch das Band des Geistes [V]erbund[en]« ge-
wissermaßen am jüdischen Geist und am jüdischen Amt an der Menschheit;
andererseits fällt doch wieder dem Judentum als Nation eine »besondere[]
Aufgabe« zu. So äußert sich auch bei Landauer das messianische Paradox,
dass der Rückgriff auf die messianische Tradition einerseits der jüdischen
Identitätsbildung dienen und andererseits alle nationalen Identitäten über-
schreiten soll.106 Dieses Paradox ist aber anders gelagert als bei Buber. Denn
im Rekurs auf die messianische Tradition konstituiert sich bei Landauer das
Diaspora-Judentum. Im Unterschied zu Buber geht Landauer immer schon von
einer pluralen nationalen Identität aus, die das Diaspora-Judentum kennzeich-
ne. Die jüdische Identität ist daher bei Landauer immer schon plurale Identität.
Hierin begründet sich für ihn die messianische Aufgabe des Judentums. Lan-
dauer setzt im Hinblick auf die jüdische Identität voraus, was bei Buber der
Rückkehr aus dem Exil folgt bzw. mit dieser einhergeht: die Überschreitung
nationaler Grenzen.

104 Gustav Landauer: Strindbergs Historische Miniaturen. In: Ders., Werkausgabe


(wie Anm. 3), Bd 3, S. 139–151, hier: S. 151.
105 Landauer, Sind das Ketzergedanken? (wie Anm. 69), S. 172.
106 Die werdende »neue Nation«, die werdende Menschheit, stellt bei Landauer alle
Nationenbildung in Frage, beruht sie doch auf einem »Riss«, der »durchs Juden-
tum […] wie durch die andern Völker [geht]« (Landauer, Sind das Ketzergedan-
ken? [wie Anm. 69], S. 172), einer Trennung zwischen den Vielen und den Weni-
gen.
4 Mystische, apokalyptische und profane Figuren des
Messianischen (Benjamin, Scholem, Bloch)1

Walter Benjamins kurzer, aus drei Absätzen bestehender Text »Theologisch-


politisches Fragment« (vermutlich um 1920/21, möglicherweise aber auch erst
1922/23) gilt als »›Urzelle‹ seines Werkes – und zwar des frühen wie des spä-
ten«.2 Dem Fragment wird ein »Schlüsselcharakter«3 für Benjamins Denken
zugeschrieben, insbesondere für seine so genannte »Messianitätsthese«4 und
für seine Verhältnisbestimmung von Politik und Theologie. Dass Benjamin im
»Theologisch-politischen Fragment« eine Kritik an der unmittelbaren »Integra-
tion oder Indienstnahme des Messianismus«5 für die Politik betreibt, dürfte als
opinio communis der Forschung gelten. Zur Komplexität von Benjamins Den-
ken gehört es nun aber, dass Benjamin die Theologie für die politische Analyse
nicht verwirft, sondern sie vielmehr benötigt, um seine »Kritik politischer
Theologie«6 durchzuführen. Mehr noch: Um den Messianismus als politische
Zielsetzung zu kritisieren, operiert Benjamin selber mit verschiedenen Konzep-
tionen des Messianischen. Benjamin ordnet, so werde ich zeigen, diese Kon-
zeptionen perspektivisch an. Grundsätzlich ist zu fragen, ob Benjamins Frag-
ment, bei aller Kritik, selbst frei ist von ›politischer Theologie‹.7 Wie verhält

1 Dieses Kapitel stellt eine überarbeitete und erweiterte Fassung einer Aufsatzpublika-
tion dar (vgl. Elke Dubbels: Zur Logik der Figuren des Messianischen in Walter
Benjamins »Theologisch-politischem Fragment«. In: Daniel Weidner [Hg.]: Profa-
nes Leben. Walter Benjamins Dialektik der Säkularisierung. Berlin: Suhrkamp 2010,
S. 39–65).
2 Werner Hamacher: Das Theologisch-politische Fragment. In: Burkhardt Lindner
(Hg.): Benjamin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, Weimar: Metzler
2006, S. 175–192, hier: S. 175. Zur Frage des unsicheren Titels und der Datierung
des Fragments vgl. Hermann Schweppenhäuser und Rolf Tiedemann: Anmerkungen
der Herausgeber. In: GS II 946–948.
3 Schweppenhäuser und Tiedemann, Anmerkungen der Herausgeber (wie Anm. 2), S. 946.
4 Ebd., S. 948.
5 Sigrid Weigel: Entstellte Ähnlichkeit. Walter Benjamins theoretische Schreibweise.
Frankfurt a. M.: Fischer-Taschenbuch-Verlag 1997 (Fischer; 12964), S. 71.
6 Sigrid Weigel: Souverän, Märtyrer und ›gerechte Kriege‹ jenseits des Jus Publicum
Europaeum. Zum Dilemma Politischer Theologie, diskutiert mit Carl Schmitt und
Walter Benjamin. In: Daniel Weidner (Hg.): Figuren des Europäischen. Kulturge-
schichtliche Perspektiven. München: Fink 2006, S. 101–129, hier: S. 123.
7 Wohlfarth schreibt z. B. dem »Theologisch-politischen Fragment« und Benjamins
Denken überhaupt eine bruchstückhafte politische Theologie zu (vgl. Irving Wohl-
278 Teil II

sich der »Untergang« (GS II 204) alles Irdischen, der in Benjamins Fragment
eine paradox dynamische Beziehung zu dem »Kommen des messianischen
Reiches« unterhält, zu einer apokalyptischen Gewaltpolitik? Hat der »Unter-
gang« überhaupt irgendetwas mit intentional brachialer Gewalt zu tun?
Statt aus Benjamins Texten einen ›Messianismus‹ herauszupräparieren und
ihn durch Epitheta zu spezifizieren,8 möchte ich das Arrangement der unter-
schiedlichen theoretischen und sprachlich-rhetorischen Figuren des Messiani-
schen untersuchen, die in Benjamins Text begegnen. Wie funktionieren diese
Figuren logisch, wie funktionieren sie sprachlich? Im »Theologisch-
politischen Fragment« zeigt Benjamin über verschiedene Figuren des Messia-
nischen unterschiedliche Möglichkeiten auf, wie Politik und Theologie ins
Verhältnis gesetzt werden können, wobei apokalyptische, mystische und pro-
fane Figuren des Messianischen auftauchen. Wie werden diese perspektivisch
arrangiert und welches historische Wissen über Formen und Funktionen des
jüdischen Messianismus rufen sie auf?
Was das historische Wissen um die Formen und Funktionen des jüdischen
Messianismus angeht, dürfte Gershom Scholem die maßgebliche Auskunfts-
quelle für Benjamin gewesen sein. Statt nun wie üblich vom späten Scholem
und dessen Arbeiten zum Messianismus auf den jungen zurückzuschließen,
werde ich mich auf Scholems Notizen zum jüdischen Messianismus von
1918/1919 beziehen, die im Zusammenhang mit der oben bereits vorgestellten
messianischen Zeit- und Sprachphilosophie des jungen Scholem stehen (vgl.
Kap. I.4.2). Insofern das »Theologisch-politische Fragment« sich im Span-
nungsfeld von mystischen und apokalyptischen Figuren des Messianischen
bewegt, positioniert es sich gegenüber Scholem einerseits, Ernst Bloch ande-
rerseits, dessen Geist der Utopie Benjamins Fragment explizit nennt. Form und

farth: Nihilismus kontra Nihilismus. Benjamins ›Weltpolitik‹ aus heutiger Sicht. In:
Bernd Witte und Mario Ponzi [Hg.]: Theologie und Politik. Walter Benjamin und
ein Paradigma der Moderne. Berlin: Schmidt 2005, S. 107–136, hier: S. 132).
8 Unterschiedliche Spezifikationen von Benjamins ›Messianismus‹ sind im Umlauf:
Wohlfarth spricht von Benjamins »nihilistische[m] Messianismus« (Irving Wohl-
farth: Nihilistischer Messianismus. Zu Walter Benjamins Theologisch-politischem
Fragment. In: Ashraf Noor [Hg.]: »Jüdische« und »christliche« Sprachfigurationen
im 20. Jahrhundert. Paderborn: Schöningh 2002, S. 141–214), Hamacher vom
»Messianismus der Ironie« (Hamacher, Das Theologisch-politische Fragment [wie
Anm. 2], S. 191), Weigel von einem »negativen oder inversen Messianismus« (Sig-
rid Weigel: Zu Franz Kafka. In: Burkhardt Lindner [Hg.]: Benjamin-Handbuch. Le-
ben – Werk – Wirkung. Stuttgart, Weimar: Metzler 2006, S. 543–556, hier: S. 543),
Rabinbach von »messianic anarchism« (Anson Rabinbach: In the Shadow of the Ca-
tastrophe. German Intellectuals between Apocalypse and Enlightenment. Berkeley,
Los Angeles, London: Univ. of California Press 1997 [Weimar and now; 14], S. 59)
und Schulte meint, »Walter Benjamins Messianismus ist apokalyptisch« (Christoph
Schulte: Der Messias der Utopie. Elemente des Messianismus bei einigen modernen
jüdischen Linksintellektuellen. In: Menora. Jahrbuch für deutsch-jüdische Geschich-
te 11 [2000], S. 251–278, hier: S. 272).
4 Mystische, apokalyptische und profane Figuren des Messianischen 279

Funktion der Figuren des Messianischen in Benjamins »Theologisch-


politischem Fragment« erschließen sich im Vergleich zu Texten von Scholem
(s.u., Kap. II.4.2) und Bloch (s.u., Kap. II.4.3). In Bezugnahme auf und Ab-
grenzung von Apokalyptik und Mystik kristallisiert sich in Benjamins Frag-
ment eine profane Figur des Messianischen heraus, die Benjamin als »weltli-
che« »restitutio in integrum« (GS II/1 204) bezeichnet und mit einer »messia-
nischen Natur« (GS II/1 204) zusammenfallen lässt. In dieser profanen Figur
des Messianischen kollabiert die Unterscheidung zwischen dem Messianischen
und dem Profanen, zwischen der Theologie und der Politik, die das Fragment,
in immer wieder neuen Anläufen, zu treffen versucht, um sich sowohl von
theologischer Vereinnahmung der Politik als auch von deren religiöser Selbst-
aufladung abzugrenzen. Gänzlich immun gegen theologische Überwältigung
oder religiöse Anmaßung der Politik ist aber auch Benjamins profane Figur des
Messianischen nicht.
In Kapitel II.4.4 wende ich mich schließlich dem »Bilde« (GS II 203) zu,
von dem im zweiten Absatz des Fragments die Rede ist. Denn Benjamin gibt
die Beziehung zwischen der »profanen Ordnung des Profanen« (II/1 204) und
dem »messianischen Reich« (ebd.) als eine geschichtsphilosophische zu den-
ken, die in einem »Bilde« (II/1 203) darzulegen sei. Die sprachliche Problema-
tik und die darstellungstheoretischen Implikationen des »Bilde[s]« sind bisher
nur ansatzweise analysiert worden. Es bleibt daher zu untersuchen, wie Ben-
jamin die Beziehung von Theologie und Politik im Medium ästhetischer Re-
flexion bedenkt.
Das abschließende Kapitel ist nicht mehr an Benjamins Fragment orientiert,
sondern verfolgt, wie Scholems Konzeption und Interpretation des jüdischen
Messianismus durch die politischen Auseinandersetzungen im Jischuv beein-
flusst werden. Scholem wird unmittelbar mit den politischen Gefahren des
Messianismus konfrontiert, was ihn zu einer ambivalenten Haltung gegenüber
der messianischen Tradition veranlasst. Einerseits trennt Scholem den Zionis-
mus vom Messianismus, andererseits verbindet er sie wieder. Dies ist mehr als
Unentschiedenheit und hat systematische Gründe, die oben bereits angedeutet
wurden (vgl. Kap. I.4.2).

4.1 Zum Arrangement der Absätze und der Perspektiven in


Walter Benjamins »Theologisch-politischem Fragment«

Das »Theologisch-politische Fragment« beschreibt drei Ordnungen, die im


Groben seinen drei Absätzen entsprechen: die politisch unverfügbare Ordnung
des »Gottesreiches« (GS II 203); die Ordnung der Geschichte in Verbindung
mit der »profane[n] Ordnung des Profanen« (II/1 204) und die Ordnung der
»Natur« (ebd.). Die Argumentation des ersten Absatzes läuft darauf hinaus,
Historisches und Messianisches, die »Ordnung des Profanen« (GS II 203) und
280 Teil II

das »Reich Gottes« (ebd.) kategorisch voneinander zu trennen. »Erst der Mes-
sias selbst vollendet alles historische Geschehen, und zwar in dem Sinne, daß
er dessen Beziehung auf das Messianische selbst erst erlöst, vollendet,
schafft.« (ebd.) Mit dieser These beginnt Benjamin und folgert daraus in einer
syntaktisch durch ein viermaliges »darum« strukturierten Sequenz, dass
»nichts Historisches von sich aus sich auf Messianisches beziehen wollen«
(ebd.) könne; dass das Reich Gottes nicht das Telos der historischen Dynamis
sei und nicht zum Ziel gesetzt werden könne, denn historisch gesehen sei es
»Ende« (ebd.), nicht Ziel; dass die »Ordnung des Profanen nicht am Gedanken
des Gottesreichs aufgebaut werden« (ebd.) könne und darum die »Theokratie
keinen politischen sondern allein einen religiösen Sinn« (ebd.) habe.
Die Position, die Benjamin im ersten Absatz des »Theologisch-politischen
Fragments« thesenhaft vertritt, stimmt mit dem klassischen orthodoxen Stand-
punkt des rabbinischen Judentums überein. Diesem zufolge kann das Kommen
des Messias nicht erzwungen und soll das Ende nicht »bedrängt« werden.
Stattdessen gilt der Grundsatz des »talmud tora li-schmah«, womit das Lernen
der Thora um ihrer selbst willen bezeichnet wird.9 Wer die Weisung, d. h. die
Thora und ihre Mitzwot, erfüllt, nimmt das ›Joch des Himmelreiches‹ auf sich.
Das ist Theokratie im religiösen Sinn, den Benjamin im ersten Absatz des
Fragments im Gegensatz zum politischen Sinn der Theokratie zugesteht. Von
religiöser Warte aus betrachtet heißt dies, dass die Theokratie im »religiösen
Sinn« nicht politisch ist und sich nicht zum Mittel der Politik funktionalisieren
lassen soll. Aus politischer Perspektive bedeutet dies, dass das Gottesreich
kein politisches Ziel ist.
Bemerkenswert ist es, dass Benjamin in seiner Argumentation für eine strik-
te Trennung der Ordnung des Gottesreiches und des Profanen nicht die Per-
spektive der Aufklärung wählt, die einen Anspruch auf Emanzipation von
religiöser Bevormundung erhebt, sondern die Perspektive der Orthodoxie. Es
zeichnet sich das charakteristische Profil von Benjamins dialektischem Denken
darin ab, dass er einen stark mit der Aufklärung verbundenen Standpunkt –
Trennung der religiösen und politischen Ordnungen – mit Argumenten der
jüdischen Orthodoxie vertritt. Damit schreibt Benjamin der Orthodoxie nicht
nur ein aufklärerisches Potential zu. Indirekt legt seine Art der Argumentation
vielmehr auch nahe, dass der Aufklärung allein nicht zuzutrauen ist, die Tren-
nung zwischen den Ordnungen zu vollziehen und aufrechtzuerhalten. Damit
die Trennung zwischen den Ordnungen gelingt, ist es notwendig, die theologi-
sche Perspektive in ihrer Eigenständigkeit und Differenz zur politischen Per-
spektive wahrzunehmen und zu würdigen. Sonst droht die Politik zu verken-
nen, was sie ist – nämlich Politik, und nicht Theologie – und sich unbemerkt
religiös aufzuladen.

9 Vgl. Yeshayahu Leibowitz: Lishmah and Not-Lishmah. In: Ders.: Judaism, Jewish
Values, and the Jewish State. Ed. by Eliezer Goldman. Cambridge (Mass.), London:
Harvard Univ. Press 1992, S. 61–78, sowie Scholem, T II 371.
4 Mystische, apokalyptische und profane Figuren des Messianischen 281

Die »Beziehung« (GS II 203) zwischen den beiden Ordnungen, das stellt
der erste Absatz des Fragments heraus, geht in keiner Mittel-Zweck-Relation
auf. »Erst der Messias selbst« (ebd.) »schafft« (ebd.) die »Beziehung« (ebd.)
zwischen »alle[m] historische[n] Geschehen« und dem Messianischen.
»[N]ichts Historisches [kann] von sich aus sich auf Messianisches beziehen
wollen« (ebd.; Hervorhebung E. D.). Vom Messias aus gesehen ist die Bezie-
hung zwischen Historischem und Messianischem Erlösung und Vollendung,
wie der erste Satz zu verstehen gibt. Historisch gesehen ist sie hingegen Ende
– nicht Ziel – alles Historischen. Dieses Arrangement von Perspektiven ist
kennzeichnend für Benjamins Schreibweise im Umgang mit dem theologisch-
politischen Komplex.10 Jacob Taubes hat richtig bemerkt, dass mit einem »En-
de«, das weder ein historisch immanentes noch historisch zu setzendes Telos
darstellt, eine apokalyptische Zeitvorstellung angesprochen wird. Das »Ende«
bezeichnet einen »Bruch« mit der Geschichte. »Da ist nichts vom Immanenten.
Von daher kommt man zu nichts. Die Fallbrücke ist von der anderen Seite.
Und ob man geholt wird oder nicht, […] das liegt nicht an einem selbst. […]
Deshalb der klare Bruch.«11
Taubes’ Interpretation ist insofern problematisch, als er nicht zwischen den
unterschiedlichen Perspektiven und Sprecherpositionen des ersten und zweiten
Absatzes vom »Theologisch-politischen Fragment« differenziert. Das führt
dazu, dass er von der apokalyptischen Sichtweise, die der erste Absatz ein-
nimmt, einen politischen Standpunkt ableitet, und so nicht den strategischen
Wert erkennt, der in Benjamins Arrangement der Perspektiven liegt. Im ersten
Absatz des »Theologisch-politischen Fragments« wird wohl die apokalypti-
sche Vorstellung des Endes als eines Bruches mit allem Historischen evoziert.
Allein, Benjamin spricht dieser Vorstellung dezidiert jede politische Bedeu-
tung ab, indem er sich auf den orthodoxen Standpunkt stellt. Die Apokalyptik,
will dies besagen, ist nur religiös von Belang; politisch ist sie unfruchtbar,
egal, ob man sie politisch nun in einem anarchistisch-nihilistischen Sinne in-
terpretiert wie Taubes oder revolutionär wie Ernst Bloch.
Spricht im ersten Absatz der Theologe, so im zweiten der Theoretiker des
Profanen als Theoretiker des Politischen. Die »Ordnung des Profanen« (GS II
203) habe sich aufzurichten an der »Idee des Glücks« (ebd.). »Die Beziehung
dieser Ordnung auf das Messianische ist eines der wesentlichen Lehrstücke der
Geschichtsphilosophie. Und zwar ist von ihr aus eine mystische Geschichts-
auffassung bedingt« (ebd.). Hat der erste Absatz die Beziehungslosigkeit zwi-
schen den Ordnungen des Profanen und des Gottesreiches herausgestellt, so
hat sich damit offenbar nicht die Frage der Beziehung zwischen den Ordnun-
gen erledigt. Sie ist eine Frage der Perspektive. Der Theologe geht von der
Beziehungslosigkeit aus, wie sie in der apokalyptischen Zeitvorstellung zum

10 Vgl. Weigel, Entstellte Ähnlichkeit (wie Anm. 5), S. 67ff.


11 Jacob Taubes: Die Politische Theologie des Paulus. Hg. von Aleida Assmann und
Jan Assmann. 3. Aufl., München: Fink 2003, S. 105.
282 Teil II

Ausdruck kommt, die das Ende als Bruch vorstellt. Für den politischen Denker
stellt sich die Frage nach der Beziehung zwischen der »profanen Ordnung des
Profanen« (GS II 204) und dem »messianische[n] Reich« (ebd.) aber offenbar
weiterhin. Durch den Theologen ist er belehrt worden, wie die Beziehung nicht
zu denken sei: als eine Mittel-Zweck-Relation. Auch die apokalyptische Zeit-
vorstellung, so lehrt der Theologe, kann der politische Denker sich nicht zu
eigen machen, da er nicht eigenmächtig, »von sich aus«, den Bruch mit allem
Historischen anstreben kann. Dem politischen Denker, vom Theologen in die
Schranken gewiesen, bleibt die mystische Geschichtsauffassung, um eine Be-
ziehung zwischen den Ordnungen zu denken. In einem »Bilde« (ebd.) sei de-
ren Problem darzulegen:
Wenn eine Pfeilrichtung das Ziel, in welchem die Dynamis des Profanen wirkt, be-
zeichnet, eine andere die Richtung der messianischen Intensität, so strebt freilich das
Glückssuchen der freien Menschheit von jener messianischen Richtung fort, aber
wie eine Kraft durch ihren Weg eine andere auf entgegengesetzt gerichtetem Wege
zu befördern vermag, so auch die profane Ordnung des Profanen das Kommen des
messianischen Reiches. Das Profane also ist zwar keine Kategorie des Reichs, aber
eine Kategorie, und zwar der zutreffendsten eine, seines leisesten Nahens. Denn im
Glück erstrebt alles Irdische seinen Untergang, nur im Glück aber ist ihm der Unter-
gang zu finden bestimmt. – (GS II 203f.)

Um die Beziehung zwischen der »profane[n] Ordnung des Profanen« und dem
»messianische[n] Reich« denken zu können, müssen die beiden Ordnungen
von ihrer Zeitlichkeit her verstanden werden. Dem »Kommen des messiani-
schen Reiches« korrespondiert der »Untergang« der »profanen Ordnung des
Profanen«. Dieses Verhältnis ist aber nicht als zeitliche Abfolge zu denken,
sondern als Gleichzeitigkeit. Anders als die apokalyptische Zeitauffassung, die
zwischen diesem Äon und dem kommenden Äon, zwischen Geschichte (als
Mangel) und Erlösung (als Fülle), streng scheidet und einen radikalen Bruch
zwischen beiden annimmt,12 widerspricht die »mystische Geschichtsauffas-
sung« einem mechanischen Zeitverständnis des Nacheinanders verschiedener
isolierter Abschnitte auf einer Zeitachse. Der »Untergang« der »profanen Ord-
nung des Profanen« ist nicht einmalig, kein Bruch als Ende eines alten und
Anfang eines neuen Äons, sondern ein ›ewiger Untergang‹:
Der geistlichen restitutio in integrum, welche in die Unsterblichkeit einführt, ent-
spricht eine weltliche, die in die Ewigkeit eines Untergangs führt und der Rhythmus
dieses ewig vergehenden, in seiner räumlichen, aber auch zeitlichen Totalität verge-
henden Weltlichen, der Rhythmus der messianischen Natur ist Glück (GS II 204).

Benjamin erklärt die »Ewigkeit eines Unterganges«, d. h. den Untergang in


Permanenz, zum zeitlich-historischen Modus der »profanen Ordnung des Pro-
12 Vgl. zu diesem apokalyptischen Strukturschema und seiner Wirkmächtigkeit in der
Geschichtsdeutung sowie Geschichtspolitik im und nach dem Ersten Weltkrieg:
Klaus Vondung: Die Apokalypse in Deutschland. München: Dt. Taschenbuch-
Verlag 1988 (dtv; 4488).
4 Mystische, apokalyptische und profane Figuren des Messianischen 283

fanen«, die er – mit einem Begriff der jüdischen Mystik und zugleich jenseits
ihrer Denkmöglichkeiten – als weltliche »restitutio in integrum« (Wiederher-
stellung eines Ganzen) bezeichnet. Der ›ewige Untergang‹ ist also keinesfalls
mit dem apokalyptischen Untergang gleichzusetzen, wovon z. B. Taubes aus-
geht, der nicht zwischen dem »Ende«, das der erste Absatz des »Theologisch-
politischen Fragments« benennt, und der »Ewigkeit eines Unterganges«, die
der zweite Absatz beschreibt, differenziert. Taubes zieht beide Absätze zu-
sammen, um Benjamins »Weltpolitik, deren Methode Nihilismus zu heißen
hat« (GS II 204), als nihilistische Entwertung der »Dinge der Welt« vor dem
Horizont des baldigen Weltuntergangs zu deuten – im Sinne von Paulus’ Rö-
merbrief und erstem Korintherbrief. Taubes verkennt damit den Wert der stra-
tegischen Verschiebung, die Benjamin vornimmt, der den »Untergang« vom
apokalyptischen »Ende« trennt, ihn stattdessen in Permanenz erklärt und einer
»mystische[n] Geschichtsauffassung« (GS II 203) zuschreibt. Diese entwertet
aber nicht auf apokalyptisch-nihilistische Weise die Geschichte sowie die
»Dinge der Welt« in Erwartung eines baldigen Weltuntergangs.13 Vielmehr
gibt die Vorstellung der »Ewigkeit eines Unterganges« den zeitlich-
geschichtlichen Modus des Weltlichen als Aufschub des Endes zu denken –
und zwar als Aufschub des Endes im permanenten Enden.
Der Übergang vom zweiten zum dritten Absatz des »Theologisch-
politischen Fragments« verläuft zwischen einer messianischen Natur und einer
nicht-messianischen Natur. Messianisch sei die Natur »aus ihrer ewigen und
totalen Vergängnis« (GS II/1 204), postuliert Benjamin am Ende des zweiten
Absatzes, und zieht hieraus praktische, politische Konsequenzen im dritten
Absatz: »Diese zu erstreben, auch für diejenigen Stufen des Menschen, welche
Natur sind, ist die Aufgabe der Weltpolitik, deren Methode Nihilismus zu
heißen hat« (GS II/1 204). Die unheilvolle Ordnung, gegen die sich der welt-
politische Nihilismus richtet, wird durch eine Natur repräsentiert, die nicht-

13 Eine apokalyptische Fehllektüre des »Theologisch-politischen Fragments« liegt


ebenso bei Rabinbach vor, der wie Taubes nicht zwischen den Sprecherpositionen
des ersten und des zweiten Absatzes unterscheidet. »In the end, however, Benjamin
reaffirmed his rejection of the connection between history and the messianic impul-
se. Yet history is somehow implicated in the coming of messianism, if only nega-
tively, through its completely profane character. This image of history as a catastro-
phic ›second nature‹ […] will continue to play an important role in Benjamin’s phi-
losophy« (Rabinbach, In the Shadow of the Catastrophe [wie Anm. 8], S. 60). Ra-
binbach identifiziert das Profane mit dem Negativen und dem Katastrophalen. Dem-
entsprechend findet Rabinbach gewissermaßen eine tragische Ironie im zweiten Ab-
satz des »Theologisch-politischen Fragments« ausgedrückt: Das »Glückssuchen der
freien Menschheit« (GS II 203–203) befördere das »Kommen des messianischen
Reiches« (GS II 204) »by bringing about misfortune and suffering, which, in its
transience, presses towards the messianic epoch« (Rabinbach, In the Shadow of the
Catastrophe [wie Anm. 8], S. 59). Es ist eine dämonische Vorstellung, die Rabin-
bach entwirft und die meines Erachtens an Benjamins Fragment vorbeizielt: »[T]he
quest for happiness […] is doomed to bringing about unhappiness« (ebd., S. 61).
284 Teil II

messianisch ist und die in eine »messianische[] Natur« der »ewigen und tota-
len Vergängnis« zu überführen ist. Die nicht-messianische Natur lässt sich nun
als Chiffre für die »Ordnung des Rechts« (II/1 174) lesen, die Benjamin mit
Schicksal, Mythos und Schuld assoziiert. Dies legt zumindest ein vergleichen-
der Blick auf die frühe Skizze »Schicksal und Charakter« nahe, in der die
Natur auch, ganz analog zum »Theologisch-politischen Fragment«, unter zwei
Aspekten erscheint: unter dem Banne des »Schuldzusammenhang[s] des Le-
bendigen« (GS II/1 175), den das Recht etabliere, und im Licht der »Freiheit«
(GS II/1 178) des Charakters. Den Schuldzusammenhang des Lebendigen lässt
Benjamin einer »natürlichen Verfassung des Lebendigen« (GS II/1 175) ent-
sprechen, die Freiheit des Charakters verbindet sich ihm mit der »Vision der
natürlichen Unschuld des Menschen« (GS II/1 178). Schicksal und Freiheit
betreffen also beide die »Natur im Menschen« (GS II/1 176). Benjamin denkt
Freiheit mithin nicht als Befreiung von der Natur, sondern als befreite »Natur
im Menschen«, der nach der hier vorgeschlagenen Lesart die »messianische
Natur« im »Theologisch-politischen Fragment« korrespondiert. Freiheit gibt
sich als Freisetzung natürlicher »Vergängnis« zu verstehen, die den Bann des
Schuldzusammenhangs des Lebendigen löst, den die schicksalhafte Rechts-
ordnung errichtet.14

4.2 Scholem, Benjamin und die Mystik

Die »mystische Geschichtsauffassung« des »Theologisch-politischen Frag-


ments«, die Profanes und Messianisches in eine paradoxe Beziehung der Be-
ziehungslosigkeit bringt, gewinnt schärfere Konturen, wenn man sie mit der
messianischen Zeitkonzeption von Gershom Scholem und deren politischen
Implikationen vergleicht. Wir haben oben bereits gesehen, dass der junge
Scholem eine bestimmte Form der jüdischen Überlieferung, der traditio, als
messianisch interpretiert (vgl. Kap. I.4.2). Diese Überlieferungsform führt
Scholem nun auch mit einer besonderen historischen Ausprägung des jüdi-
schen Messianismus eng, nämlich mit dem mystischen Messianismus in seinen
verschiedenen Spielarten. Scholem unterscheidet grundsätzlich zwischen ei-

14 Auf dieser Linie interpretiert Eric Santner Benjamins Messianismus, den er in Bezug
setzt zum Konzept der Kreatur, das Benjamin erst später, im Zusammenhang mit
seiner Beschäftigung mit den Barockdramen, gewinnt: »Benjamin’s messianism,
which was a constant throughout his career, must in turn be understood in direct re-
lation to this figure of the creaturely, of life captured in the (ever shifting and muta-
ting) threshold of the juridicopolitical order. For Benjamin, the only possibility for
genuinely new social, political, and ethical relations in human life – for genuine
creativity in these domains – emerges where this capture/captivation can be inter-
rupted« (Eric Santner: On Creaturely Life. Rilke, Benjamin, Sebald. Chicago: Univ.
of Chicago Press 2006, S. 86).
4 Mystische, apokalyptische und profane Figuren des Messianischen 285

nem apokalyptischen und einem mystischen Messianismus, wie es die folgen-


de markante Passage dokumentiert:

Zwei Strömungen des Messianismus lassen sich theoretisch wie historisch unter-
scheiden: eine revolutionäre und eine verwandelnde. Die erstere stellt sich so dar:
der Messias am Ende der Tage, ungeheure Kriege und Edom gegen Moab, Weltge-
richt = Weltuntergang, Rückkehr der Seelen in jene Welt. Gleichung von ʠʡʬ ʣʩʺʲ
[’atid la-vo, die Zukunft, die kommt (messianische Zeit)] und ʠʡʤ ʭʬʥʲ [’olam ha-ba,
die zukünftige Welt (neue Schöpfung)]. Grundlage wortwörtlicher Verstand der Zu-
kunft als empirischer Zukunft.
Die zweite besagt: Reinigung der Seelen, Verwandlung der Natur ganz innerlich,
Weltgericht neutralisiert, jedenfalls kein Untergang, Unterscheidung von ʠʡʬ ʣʩʺʲ
[’atid la-vo, die Zukunft, die kommt (messianische Zeit)] und ʠʡʤ ʭʬʥʲ [’olam ha-ba,
die zukünftige Welt (neue Schöpfung)].
Resultante: das Ende der Tage – heute. Jene Welt ist diese Welt. Messianische Zu-
kunft ist keine empirische Zukunft.
Diese Anschauungen stufen sich in unendlich vielen Graden ab. Erlösung durch
Einzelne – Erlösung durch alle (Lurja – Bescht). Demokratie und Aristokratie inner-
halb der Theokratie. ›Athid labo‹ heisst wörtlich: bereit zu kommen! Das ist noch
die richtige Terminologie der messianischen Zeit als der stets bereiten Zeit (TII
380f.).

Mit der revolutionären und der verwandelnden Strömung des Messianismus


stellt Scholem »theoretisch und historisch« apokalyptische und mystische
Strömungen des Messianismus einander gegenüber. Er unterscheidet sie vor
allem im Hinblick auf ihre Zeitkonzeptionen. Die verwandelnde, mystische
Strömung differenziere zwischen der zukünftigen Welt, olam ha-ba, und der
messianischen Zeit, athid la-bo, wohingegen die apokalyptische beide zusam-
menfallen lasse. Die Unterscheidung zwischen der »messianischen Zeit« und
der »zukünftigen Welt« begegnet bereits im Talmud, wie Scholem weiß (vgl.
T II 372). Im Talmud ist das »messianische Zeitalter […] eher ein Scharnier
zwischen zwei Epochen denn ein Ende der Geschichte«.15 Das messianische
Zeitalter liegt zwischen dieser Welt, »olam ha-ze«, und jener Welt, »olam ha-
ba«. In Scholems Deutung bildet die messianische Zeit, so sie im Unterschied
zur zukünftigen Welt gedacht wird, nicht mehr ein Segment zwischen zwei
Äonen; sie stellt keine »empirische Zukunft« dar, keinen Abschnitt auf der
Zeitachse, der noch nicht erreicht ist, sondern die messianische Zeit ist als
»athid la-bo« eine »Zukunft, die kommt« – eine Zukunft, die als Zukunft im-
mer schon im Kommen begriffen und als solche gegenwärtig ist. Scholem
profiliert die messianische Zeitauffassung, die er der verwandelnden, mysti-
schen Strömung des Messianismus zuschreibt, als Kritik und Gegenentwurf zu
einer mechanischen Zeitauffassung des Nacheinanders von Vergangenheit,
Gegenwart und Zukunft auf einer linearen Zeitachse. Wenn Scholem als »Re-
15 Emmanuel Levinas: Messianische Texte. In: Ders.: Schwierige Freiheit. Versuch
über das Judentum. Übers. von Eva Moldenhauer. Frankfurt a. M.: Jüdischer Verlag
1992, S. 58–103, hier: S. 60.
286 Teil II

sultante« der verwandelnden, mystischen Zeitauffassung notiert: »[D]as Ende


der Tage – heute. Jene Welt ist diese Welt. Messianische Zukunft ist keine
empirische Zukunft« (T II 380), so will er nicht den Unterschied zwischen
jener Welt und dieser Welt kassieren, sondern sie in einen anderen Zusam-
menhang bringen als den einer Diesseits-Jenseits-Dichotomie bzw. den einer
mechanischen Zeitfolge. Die »kommende Welt« ist kein transzendentes Jen-
seits, sondern »[w]esentlich ist […] die Erkenntnis, dass die kommende Welt
das messianisch verstandene Heute ist« (T II 357). Hiermit bezieht sich Scho-
lem wieder auf die Idee der »messianischen Zeit« als »ewiger Gegenwart«, die
in Kapitel I.4.2 bereits vorgestellt wurde. Die »messianische Zeit« als »ewige
Gegenwart« verbürgt die Gegenwärtigkeit des Kommens der »kommenden
Welt« (vgl. T II 530). Dabei fungiert die messianische Zeit bei Scholem nicht
als Scharnier zwischen den olamot auf einer imaginären Zeitachse, sondern als
Medium der Verwandlung. Als »ewige Gegenwart« birgt sie die Möglichkeit
der Verwandlung der (empirischen) Zeitstufen, von Vergangenheit in Zukunft,
Zukunft in Vergangenheit, wie oben gezeigt wurde.
Der ›verwandelnde Messianismus‹ der jüdischen Mystik erscheint als histo-
risches Komplement zu Scholems sprachmetaphysischen Überlegungen zur
»Zeit der Verwandlung«, die er als Zeit der jüdischen Überlieferung, als Zeit
ihrer formalen Struktur, deutet. Für den jungen Scholem stellt es sich so dar,
dass die jüdische Mystik von der Kabbala bis zum Chassidismus, von »Lurja«
alias Isaak Luria, dem Begründer der spätmittelalterlichen lurianischen Kabba-
la, bis zum »Bescht« alias Baal Schem Tov, dem Begründer der chassidischen
Bewegung, die messianische Zeit als Zeit der Verwandlung auffasse. Dass der
junge Scholem messianische Überlieferung und überlieferten Messianismus in
der jüdischen Mystik engführt, verwundert nicht, wenn man sich vergegenwär-
tigt, dass »Kabbala« »Empfängnis«, »Erhalt«, bedeutet und auf das Verb ʬʡʷʬ
(lekabel: erhalten, bekommen) zurückgeht. Franz Joseph Molitor, dessen Dar-
stellung der Kabbala den jungen Scholem maßgeblich beeinflusst hat, hat die
Kabbala als Theorie des Empfangs, als Theorie einer Überlieferung begriffen,
die nicht am Gesetzesinhalt, sondern an der äußeren sprachlichen Form der
Thora ansetze, aus der sie die sprachlichen Bedingungen von Tradition und
Interpretation ableite.16
Aus der Unterscheidung zwischen dem Kanonischen der Thora und den
Deutungsmöglichkeiten der Tradition gewinnt der junge Scholem auch sein

16 Vgl. Andreas Kilcher: Die Sprachtheorie der Kabbala als ästhetisches Paradigma.
Die Konstruktion einer ästhetischen Kabbala seit der Frühen Neuzeit. Stuttgart,
Weimar: Metzler 1998, S. 254. Der Rezeption Molitors durch Scholem ist auch
Christoph Schulte nachgegangen. Schulte konzentriert sich dabei besonders auf
Ähnlichkeiten und Unterschiede in Molitors und Scholems spekulativer Geschichts-
philosophie auf der Grundlage kabbalistischer Vorstellungen (vgl. Christoph Schul-
te: »Die Buchstaben haben... ihre Wurzeln oben.« Scholem und Molitor. In: Eveline
Goodman-Thau, Gert Mattenklott und Christoph Schulte [Hg.]: Kabbala und Ro-
mantik. Tübungen: Niemeyer 1994 [Conditio Judaica; 7], S. 143–164).
4 Mystische, apokalyptische und profane Figuren des Messianischen 287

Verständnis des Zionismus. »Jüdisch leben ist der substantielle Anschluss an


die Tradition« (T II 622), schreibt Scholem in einem Manuskript von 1919/
1920, das ʯʥʩʶʮ ʤʸʥʺ [tora mi-zijon, Die Lehre von Zion] betitelt ist. Dieser
apodiktischen Feststellung geht eine Deutung des Zionismus voraus, die
zugleich unmessianisch und messianisch ist:
Die Lehre von Zion ist die ungeschriebene und noch unschreibbare Deutung, lehrbar
in allen Dimensionen des Symbolischen, die das jüdische Volk von sich zu geben
vermag. Diese tiefste denkbare Erkenntnis vom Zionismus beruht in der limitativen
Erkenntnis, dass der Zionismus auch und gerade auf der tiefsten Schicht keine mes-
sianische Bewegung ist. Dieser Satz ist heute verlacht. Die Erlösung, die der Zio-
nismus bringt, ist aber keine messianische, nur dann wäre sie es und also der Zio-
nismus messianisch, wenn sein Anspruch darauf ginge, die Lehrbarkeit der Lehre
herzustellen und zu verwirklichen (T II 622).

Messianisch wäre der Zionismus, wenn er die Thora als religiöse Ordnung
unmittelbar verwirklichen wollte. Aber auch wenn für Scholem der Zionismus
dies nicht beabsichtigt bzw. nicht beabsichtigen sollte, behält er in seiner Dar-
stellung einen Bezug zur Thora als Lehre, die »die letzte, elastische und un-
endlich tragfähige Schicht« (T II 621) des jüdischen Lebens sei. Als solche
könne sie sich nur in Verwandlungen aussprechen. Mehr noch: Sie könne zwar
»aus unserm Leben in all seinen Bezirken strahlen, aber auch im Worte bleibt
sie nur mehr Strahl« (T II 621). Aus der Thora erstreckt sich wohl ein
»Strahl«, der auf die ›Blendung der Offenbarung‹ (s.o., Kap. I.4.3) voraus-
weist, in alle Bezirke des Lebens; als solcher »Strahl« gibt die Thora aber kein
Gesetz vor, sondern ihr Verhältnis »aufs Pragmatische muss ein anarchisches«
(T II 622) sein.17 Eben dies nennt Scholem den »messianische[n] Gesichts-
punkt« (T II 622), aus dem er positiv das »Schweben zwischen Zweifel und
Tat« (T II 622), negativ die Missbilligung der Maßregeln der Regierung fol-
gert. Hieraus ergibt sich für Scholem, dass die »Lehre von Zion […] die Eli-
mination der Herrschaft aus den Handlungen (Anarchismus) zugunsten der
Elevation der neuen Schöpfung, die die ältere ist ((ʸʩʤʡ) ʠʡ ʸʡʫʹ ʠʡʤ ʭʬʥʲ)
[’olam ha-ba sche-kvar ba (bahir), die kommende Welt, die schon gekommen
war (Bahir)]«18 (T II 622), betreffe.
An dem Manuskript »Die Lehre von Zion« lässt sich nachvollziehen, wie
Scholem über seinen »Zionismus in gewisser Weise zugleich messianisch und
unmessianisch«19 spricht. Der Zionismus ist nicht messianisch, weil er keine
17 Scholem nennt diese Form des religiösen Anarchismus auch »theokratischen Anar-
chismus« (Gershom Scholem: Walter Benjamin – die Geschichte einer Freund-
schaft. 4. Aufl., Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1997 [Bibliothek Suhrkamp; 467],
S. 108).
18 Über das kabbalistische Buch Bahir hat Scholem seine Doktorarbeit geschrieben
und es auf Deutsch herausgegeben (vgl. Das Buch Bahir. Ein Schriftdenkmal aus der
Frühzeit der Kabbala. Hg. von Gershom Scholem. Leipzig: W. Drugulin 1923).
19 Daniel Weidner: Gershom Scholem. Politisches, esoterisches und historiographi-
sches Schreiben. München: Fink 2003, S. 99.
288 Teil II

religiöse Gesetzesordnung aufrichtet. Der Zionismus ist messianisch, insofern


er sich auf die »Elimination der Herrschaft aus den Handlungen« (T II 622)
richtet und die »Lehre von Zion«, die Thora Mi-Zijon, nicht als Gesetzestext,
sondern als »letzte, elastische, unendlich tragfähige Schicht« (T II 621), als
vielfältig deutbaren, aus Bedeutungsüberfülle bedeutungslosen Grund, zum
Fundament hat. Scholems Zionismus beruht auf der Vorstellung, dass jüdi-
sches Leben der »substantielle Anschluss an die Tradition« (T II 622) sei, die
plurale Deutungsmöglichkeiten der heiligen Texte erlaubt und religiöse wie
säkulare Positionen umfasst. Insofern Scholem eben diese Tradition als messi-
anisch versteht, bleibt auch sein auf dieser Tradition gründender Zionismus
messianisch, so sehr er ihn auch von aggressiven Formen des messianischen
Zionismus, seien sie religiöser oder säkularer Provenienz, zu trennen versucht
(siehe unten, Kap. II.4.5).
Ein offensichtlicher Unterschied zwischen Benjamins und Scholems mysti-
schen Geschichtsauffassungen liegt in Benjamins universaler und Scholems
zionistischer Perspektive. Bei Benjamin erscheint die »freie[] Menschheit«
(GS II/1 203) als kollektives politisches Subjekt des »Glückssuchen[s]« (GS
II/1 203f.), das Benjamin zur »Dynamis des Profanen« (GS II/1 203) erklärt. In
Scholems »Lehre von Zion« ist zwar auch von einer »messianischen Substanz
der Weltgeschichte […], die sich im jüdischen Volk in der größten Weise dar-
gestellt und allen Weisen der Betrachtung dargeboten hat« (T II 622 (Hervor-
hebung E. D.)), die Rede. Der universale Aspekt wird von Scholem aber nicht
weiterentwickelt – für Scholem ist die universale messianische Perspektive
offenbar zu stark mit der Tendenz zur Assimilation im liberalen deutschen
Judentum verbunden.20 Über dieses Offensichtliche hinaus ist es interessant zu
beobachten, dass Scholem und Benjamin beide versuchen, in einer »mysti-
sche[n] Geschichtsauffassung« (GS II/1 203) über die einfache Entgegenset-
zung religiös versus säkular hinauszukommen. Scholem hebt die Opposition
religiös/säkular im Rahmen seines Verständnisses von Tradition auf. Damit
bleibt bei Scholem noch das Säkulare auf die Offenbarung bezogen. Benjamin
hingegen bemüht sich, die »profane Ordnung des Profanen« (GS II 204) ganz
profan, unabhängig von der Offenbarung zu denken. Im zweiten Absatz des
»Theologisch-politischen Fragments« fordert Benjamin, das Profane aus sei-
nen eigenen Begriffen (»Glück«, »Untergang«, »Vergängnis«) zu entwickeln.
Diese beschreiben eine Dynamik, welche der von den theologischen Begriffen
bezeichneten Dynamik sowohl entgegengesetzt sei als auch diese auf paradoxe
Weise befördere. In diesem Sowohl-als-auch steckt das Mysterium der spezi-
fisch benjaminischen »mystische[n] Geschichtsauffassung«.

20 Vgl. hierzu Amnon Raz-Krakozkin: The Golem of Scholem. Messianism and Zion-
ism in the Writings of Rabbi Avraham Isaac HaKohen Kook and Gershom Scholem.
In: Christoph Miething (Hg.): Politik und Religion im Judentum. Tübingen: Nie-
meyer 1999 (Romania Judaica; 4), S. 223–238, besonders S. 231f.
4 Mystische, apokalyptische und profane Figuren des Messianischen 289

Hatte Benjamin im ersten Absatz des »Theologisch-politischen Fragments«


die profane Ordnung und das, was er »Reich Gottes«, »Gottesreich« oder
»Theokratie« nennt, noch abstrakt einander entgegengestellt und ihre Bezie-
hungslosigkeit hervorgehoben, so operiert er im zweiten Absatz mit der para-
doxen Figur einer dynamischen Entgegensetzung von Kräften, die sich
zugleich befördern. Die apokalyptische Einstellung, die im ersten Absatz des
»Theologisch-politischen Fragments« als theologische Perspektive markiert
wird, weicht einer mystischen Betrachtung im zweiten Absatz. Wie Scholem
stellt auch Benjamin eine apokalyptische und eine mystische Form des Messi-
anismus einander gegenüber. Auch lässt sich eine Differenzierung zwischen
der »zukünftigen Welt«, »olam ha-ba«, und der »messianischen Zeit«, »athid
la-bo«, welche Scholem zufolge die mystische Zeitauffassung im Gegensatz
zur apokalyptischen vollziehe, in Benjamins »Theologisch-politischem Frag-
ment« erkennen. Aus der theologischen Perspektive des ersten Absatzes hat
die Ordnung des Profanen keinen Bezug zum Gottesreich als »olam ha-ba«, als
zukünftiger Welt. Die Vorstellung einer solchen Beziehungslosigkeit zwischen
Geschichte und Erlösung ist charakteristisch für die apokalyptische Zeitauffas-
sung, die, so Scholem, keinen Unterschied mache zwischen der zukünftigen
Welt und der »messianischen Zeit«. Erst die Differenzierung zwischen der
»zukünftigen Welt« und der »messianischen Zeit«, die in der verwandelnden,
mystischen Strömung des Messianismus begegnet, erlaubt es dem politischen
Denker als Denker des Profanen, aus dessen Perspektive der zweite Absatz des
»Theologisch-politischen Fragments« geschrieben ist, eine Beziehung der
Ordnung des Profanen »auf das Messianische« (GS II 203) anzunehmen.
In diesem Sinne gesteht der zweite Absatz eine Beziehung zwischen dem
zeitlichen Modus der profanen Ordnung, der ewigen Vergängnis, und der
»messianischen Zeit« als »athid la-bo«, als Zukunft, die kommt, zu. Der ewige
Untergang des Profanen befördere das »Kommen des messianischen Reiches«
(GS II 204; Hervorhebung E. D.), und insofern der Untergang als ewig be-
zeichnet wird, muss auch das Kommen ein ewiges sein. Benjamin konzipiert
im »Theologisch-politischen Fragment« die messianische Zeit als »athid la-
bo«, als ewig kommende, ewig nahende Zukunft, die, ständig kommend, nie
an-kommt.21 Im Unterschied zu Scholem deutet Benjamin die messianische

21 In dieser Konzeption der »messianischen Zeit« als ewig naher Zukunft ist Benja-
mins Fragment auch Franz Rosenzweigs Stern der Erlösung verwandt, mit dem er
durch Scholem vertraut gemacht wurde: »[D]as Reich, die Verlebendigung des Da-
seins, kommt von Anfang an, es ist immer im Kommen. […] Es ist immer zukünftig
– aber zukünftig ist es immer. Es ist immer ebenso da wie zukünftig. Es ist einfüral-
lemal noch nicht da. Es kommt ewig. Ewigkeit ist nicht eine sehr lange Zeit, sondern
ein Morgen, das ebensogut Heute sein könnte. Ewigkeit ist eine Zukunft, die ohne
aufzuhören Zukunft zu sein, dennoch gegenwärtig ist. Ewigkeit ist ein Heute, das
aber sich bewußt ist, mehr als Heute zu sein« (SdE 250). Vgl. zur losen Verbindung
zwischen Rosenzweig und Benjamin: Stéphane Mosès: Walter Benjamin and Franz
290 Teil II

Zeit im »Theologisch-politischen Fragment« nicht als »ewige Gegenwart«,


sondern als ewig nahende, ewig kommende Zukunft. Scholem macht die Figur
einer messianischen »ewigen Gegenwart« im Hinblick auf ein Verständnis von
Tradition stark, die so elastisch ist, dass sie auch noch den säkularen Stand-
punkt als Deutung der Thora integrieren kann. Dagegen sind in Benjamins
paradoxer Kräftelehre Profanes und Messianisches einander entgegengesetzt
und wirken zugleich als gegenseitige Verstärker. Die »Vergängnis« als Rich-
tung und Ziel des Profanen beschreibt das Vergehen der Zeit von der Vergan-
genheit in die Zukunft, das Kommen als Richtung des Messianischen be-
schreibt ein Nahen aus der Zukunft in die Gegenwart. Eine Politik der Ver-
gängnis macht die Auflösung von Ordnung zum konstitutiven Prinzip der
»profane[n] Ordnung des Profanen« (GS II/1 204). Damit unterläuft sie visio-
näre politische Zielsetzungen – Politik, so ist Benjamins Folgerung, kann nicht
die Dimension von Zielsetzungen sein. Uwe Steiner resümiert: »Das Ziel der
Politik ist Glück; ihre Methode aber, wie es abschließend heißt: ›Nihilismus‹
(ebd.). […] Indem sich Politik auf das Profane beschränkt, sind ihre Zielset-
zungen letztlich nichtig.«22
Der »anarchische Verzicht auf politische Ziele«23 kennzeichnet Benjamins
Begriff des Politischen als eines Profanen. Er weist weit über das »Theolo-
gisch-politische Fragment« hinaus. Denn er charakterisiert sowohl Benjamins
Verständnis von Technik als eines integralen Bestandteils von Politik und
Dimension »reine[r] Mittel« (GS II 192) als auch seinen Begriff von Revoluti-
on, demzufolge erst »im Moment der revolutionären Aktion […] politisches
Handeln eine Vorstellung von sich selbst [gewinnt]. Dies geschieht dadurch,
dass die Aktion das revolutionäre Kollektiv erzeugt, im revolutionären Kollek-
tiv buchstäblich Gestalt annimmt«,24 so Uwe Steiner im Hinblick auf den ca.
10 Jahre später geschriebenen »Sürrealismus«-Aufsatz Benjamins. Mit Steiner
kann man davon ausgehen, dass sich für Benjamin ab dem Beginn der 1920er
Jahre »das Problem der Politik […] auf die Frage des kollektiven Subjekts
zugespitzt hat«.25 Das »Theologisch-politische Fragment« gibt nun die »freie[]
Menschheit« als kollektives Subjekt des Glückssuchens zu lesen. Dieses kol-
lektive Subjekt ist ohne Gestalt, ja, die Orientierung an der »Idee des Glücks«

Rosenzweig. In: Gary Smith (Ed.): Benjamin. Philosophy, History, Aesthetics. Chi-
cago, London: Univ. of Chicago Press 1989, S. 228–246.
22 Uwe Steiner: Der wahre Politiker. Walter Benjamins Begriff des Politischen. In:
Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 25 (2000),
S. 48–92, hier: S. 54f.
23 Ebd., S. 85. Vgl. auch Wohlfarth, Nihilistischer Messianismus (wie Anm. 8), S. 212:
»Die Politik des Ziel- und Recht-Setzens ist auszusetzen; der ›weltpolitische Nihi-
lismus‹ setzt nichts. […] ›Teleologie ohne Endzweck‹, ›Methode‹ ohne ›Endziel‹,
der Nihilismus zielt auf die Unterbrechung, und Annihilierung politischer Zielset-
zungen.«
24 Steiner, Der wahre Politiker (wie Anm. 22), S. 85.
25 Ebd., S. 76.
4 Mystische, apokalyptische und profane Figuren des Messianischen 291

bestimmt es als Subjekt in der »Entstaltung« (GS VI 114–116), denn »im


Glück erstrebt alles Irdische seinen Untergang« (GS II 204). Dass dieser ›ewi-
ge Untergang‹ nichts mit brachialer, intentionaler Zerstörung zu tun hat, zeigt
ein vergleichender Blick auf das Fragment »Phantasie«, in dem die Motive der
»ewigen Vergängnis« (GS VI 115) und des »Untergangs«, der »verewigt«
wird (vgl. ebd.), wiederbegegnen. Die darstellungstheoretischen Implikationen
der »ewigen Vergängnis« werden in diesem Fragment in der Figur der »Ent-
staltung« expliziert, worauf weiter unten noch näher einzugehen ist.
Die Politik der Vergängnis vermag das »Kommen des messianischen Rei-
ches« zu befördern, indem »sie den Platz räumt, den das Reich Gottes zwar
nicht füllen kann – denn es ist ein Reich bloß des Kommens und der Annähe-
rung an das Profane –, den es aber für sein Nahen braucht«.26 Folgt man Wer-
ner Hamachers Interpretation weiter, so erzeuge die Politik der Vergängnis
diejenige Vakanz, die einem anderen als Zeit, Raum und Welt den Eintritt
erlaube – und zugleich dieses Andere fernhalte, indem das Profane in der
Ewigkeit seiner Vergängnis sich selbst erhält. Das messianische Reich, das
»sich naht, und nicht anders ist als in der Weise des Nahens, hält sich im Na-
hen zurück oder wird zurückgehalten und bleibt in seiner Zurückhaltung ein
immer nur Kommendes.«27 Die Dynamis des Profanen soll also das Nahen des
messianischen Reiches ermöglichen und zugleich seine Ankunft beständig
aufhalten. Diese Konstruktion, die man wohl als eine originär benjaminische
veranschlagen muss, läuft freilich Gefahr, von theologischen Kräften überrannt
zu werden, die das Profane sei’s als Mittel, sei’s als (Um)Weg zur Errichtung
einer Theokratie (v)erkennen. Solche Ansätze hat es im 20. Jahrhundert gege-
ben, etwa bei Rav Kook, der den säkularen Zionismus als Vorbereitung zur
Theokratie angesehen hat (s. unten, Kap. II.4.5).
Die unterschiedlichen Perspektiven, die das »Theologisch-politische Frag-
ment« aufruft, die des Theologen und die des Politikers, stehen zueinander in
der Beziehung einer wechselseitigen Ausschließlichkeit.28 Die Kräfte des Pro-
fanen und des Messianischen, mit denen sie zusammenhängen, sind einander
entgegengesetzt und befördern sich doch. Der zweite Absatz geht aber noch
über die Figur einer Entgegensetzung bei gleichzeitiger Beförderung hinaus,
indem er eine Entsprechung per contrarium zu lesen gibt (»Der geistlichen
restitutio in integrum, welche in die Unsterblichkeit einführt, entspricht eine
weltliche, die in die Ewigkeit des Untergangs führt […]« (GS II 204; Hervor-
hebung E. D.).). Diese mystische Geschichtsauffassung ist ohne Parallele in
der mystischen Tradition. Diese kennt wohl die ›schwarzen Rituale‹ der Sab-
batianer und Frankisten, die sich anschicken, in heiliger Gesetzesübertretung
das Kommen des Gottesreiches zu beschleunigen bzw. die Gesetzesübertre-
tung als Ausdruck der neuen Ordnung des bereits angebrochenen Gottesreiches

26 Hamacher, Das Theologisch-politische Fragment (wie Anm. 2), S. 189.


27 Ebd., S. 190.
28 Vgl. Steiner, Der wahre Politiker (wie Anm. 22), S. 76.
292 Teil II

zu zelebrieren.29 Von einer solchen Profanierung als Mittel zum Zweck unter-
scheidet sich Benjamins »profane Ordnung des Profanen«, die eine Ordnung
sui generis und keine heilige Ordnung des Profanen vorstellt.30 Die »profane
Ordnung des Profanen« definiert sich bei Benjamin nicht über die Profanie-
rung von Heiligem. Mit der weltlichen »restitutio in integrum«, die schließlich
mit einer »messianischen Natur« (GS II/1 204) zusammenfällt, gibt Benjamin
die kategorische Unterscheidung zwischen Profanem und Messianischem auf,
die den Gang der Argumentation bis dahin bestimmt hatte. Die Figur der welt-
lichen »restitutio in integrum« – identisch mit einer Natur, die messianisch
»aus ihrer ewigen und totalen Vergängnis« (GS II/1 204) ist –, stellt eine pro-
fane Figur des Messianischen dar. Das ganz Profane, die ewige und totale
Vergängnis, gewinnt messianische Qualität. Benjamin geht es darum, messia-
nische Potenzen im gänzlich Profanen zu entdecken. Auch wenn dies nicht als
religiöse Selbstermächtigung der Politik gemeint ist, tut sich hier doch ein
Einfallstor für die religiöse Aufladung profaner Ordnung in Benjamins Frag-
ment auf, das vielleicht mehr als alles andere zeigt, wie schwierig es ist, profa-
ne und religiöse Kräfte in einem austarierten Kräftegleichgewicht zu halten.
Benjamin übernimmt den Begriff der »restitutio in integrum« (hebräisch
»Tikkun«) wohl aus der mystischen Tradition, aber nur im Hinblick auf eine
geistliche »restitutio in integrum« finden sich Vorbilder. Der lurianischen
Kabbala zufolge wirkt der Mensch durch Vollzug der Thora an der »Wieder-
herstellung seiner geistigen Urgestalt«,31 die durch den Bruch der Gefäße, die
kosmische Urkatastrophe im Entstehungsprozess der Welt, beschädigt wurde.
Eine profane, weltliche restitutio in integrum hat demgegenüber keine religi-
onsgeschichtlichen Vorläufer. Entgegengesetzt gerichtete, gleichwohl sich
befördernde Dynamiken, die auf unterschiedliche »restitutiones«, Wiederher-
stellungen, hinarbeiten, finden sich jedoch in einer profanen, spekulativen
Lehre über die (nicht nur menschliche) Natur, deren Urheber selbst zugeben
musste, dass sie einen »mystischen Eindruck«32 mache: Gemeint ist Sigmund
Freuds Theorie über den Lebens- und den Todestrieb, die er erstmals 1921 in
Jenseits des Lustprinzips vorstellte. Lebenstrieb und Todestrieb streben beide
die »Wiederherstellung eines früheren Zustandes«33 an. Für Freud ergibt sich

29 Vgl. Gershom Scholem: Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen. 4. Aufl.,


Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft; 330),
S. 315–355.
30 Vgl. Wohlfarth, Nihilistischer Messianismus (wie Anm. 8), S. 182.
31 Gershom Scholem: Die Theologie des Sabbatianismus im Lichte Abraham Cardo-
sos. In: Ders.: Judaica 1. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1986 (Bibliothek Suhrkamp;
106), S. 119–146, hier: S. 142; vgl. hierzu auch Wohlfarth, Nihilistischer Messia-
nismus (wie Anm. 8), S. 178f.
32 Sigmund Freud: Jenseits des Lustprinzips. In: Ders.: Kritische Studienausgabe. Hg.
von Alexander Mitscherlich, Angela Richards und James Strachey. Bd 3. Frankfurt
a. M.: S. Fischer 1975, S. 213–272, hier: S. 263.
33 Ebd., S. 246.
4 Mystische, apokalyptische und profane Figuren des Messianischen 293

aus dem Triebdualismus ein »Zauderrhythmus im Leben der Organismen«,34


denn die »eine Triebgruppe stürmt nach vorwärts, um das Endziel des Lebens
möglichst bald zu erreichen« – das ist aber der Tod –, »die andere schnellt an
einer gewissen Stelle dieses Weges zurück, um ihn von einem bestimmten
Punkt an« – der »Belebung der lebenden Substanz«35 – »nochmals zu machen
und so die Dauer des Weges zu verlängern.«36 Es laufen »in der lebenden
Substanz unausgesetzt zweierlei Prozesse entgegengesetzter Richtung ab, die
einen aufbauend – assimilatorisch –, die anderen abbauend – dissimilato-
risch.«37 Kann man im Streben alles Irdischen nach dem »Untergang« einen
Anklang an Freuds Todestrieb vernehmen,38 so denken Freud und Benjamin
die Auflösung, mit der der Todestrieb verbunden ist, doch ganz unterschied-
lich. Bei Freud geht die Auflösung mit Aggression gegen das Ich (»primärer
Masochismus«) einher, die, nach außen gewandt, als Sadismus erscheint. Ben-
jamin denkt die Destruktion hingegen im zweiten Absatz des »Theologisch-
Politischen Fragments« als konstruktives Prinzip, nämlich als Prinzip einer
weltlichen »restitutio in integrum«. Diese lässt sich im Rahmen des Begriffs
von Anarchie lesen, den der frühe Benjamin entwickelt und der um die »para-
doxe Vision einer Gemeinschaft [kreist], als deren konstruktives Prinzip sich
die Destruktion erweist«.39 Benjamins messianische Reformulierung des
Freudschen Triebdualismus stellt die Auflösung der Einheit – den Todestrieb –
in den Dienst der Bildung einer Einheit – des Lebenstriebes, so dass das Mo-
ment der Auflösung als Bindung bzw. als Prinzip der Herstellung einer unab-
schließbaren Einheit denkbar wird.

4.3 Bloch, Benjamin und die Apokalyptik

Die Präferenz für mystische und der Vorbehalt gegenüber apokalyptischen


Figuren des Messianischen verbinden Benjamin und den jungen Scholem, bei
allen sonstigen Unterschieden. Für den politischen Denker ist die Apokalyptik
untauglich, so gibt Benjamin mit den ersten beiden Absätzen des »Theolo-
gisch-politischen Fragments« zu verstehen – und markiert damit die Differenz
seines Ansatzes zu Ernst Blochs Geist der Utopie (1918). Wenn Benjamin es
zu dem größten Verdienst von Blochs Geist der Utopie erklärt, »[d]ie politi-
sche Bedeutung der Theokratie mit aller Intensität geleugnet zu haben« (GS II

34 Ebd., S. 250.
35 Ebd., S. 267.
36 Ebd., S. 250.
37 Ebd., S. 258 (Hervorhebung E. D.).
38 Vgl. Weigel, Entstellte Ähnlichkeit (wie Anm. 5), S. 72, sowie dies.: Walter Benja-
min. Die Kreatur, das Heilige und die Bilder. Frankfurt a. M.: Fischer-Taschenbuch-
Verlag 2008 (Fischer; 18018), S. 53f.
39 Steiner, Der wahre Politiker (wie Anm. 22), S. 77.
294 Teil II

203), so sollte man sich darauf verstehen, in diesem »entschieden lobend[en]«


Satz eine »esoterisch tadelnd[e]« Spitze zu lesen.40
Denn Bloch kritisiert zwar im Geist der Utopie die wilhelminische »Staats-
mystik« (GU 298), die den »Geist der Autorität, […] de[n] Staatsglauben des
Allgemeinen, Überpersönlichen, mit der erblichen, geheimnisvollst verwurzel-
ten, von Gott selbst gesetzten Hierarchie« (GU 297) vereinige. Das hält ihn
aber nicht davon ab, die Theologie für politische Zwecke zu gebrauchen, gel-
ten ihm doch »die Seele, der Messias, die Apokalypse […] [als] das Apriori
aller Politik und Kultur« (GU 433). Der Rückgriff auf die Theologie hat in
Blochs politischer Philosophie hauptsächlich zwei Funktionen: revolutionäre
Gewalt zu rechtfertigen und das revolutionäre Kollektiv messianisch zu figu-
rieren. Es entspricht der apokalyptischen Logik, dass Leidenschaft und Politik
sich durchdringen und einer »exzentrischen Bahn, die von der Politik zur Ka-
tastrophe, von der Katastrophe aber zum Topos der reinen und unverbrüchli-
chen Gemeinschaft führt«,41 folgen. Bloch evoziert immer wieder sprachliche
Bilder zur Verkörperung einer solchen »reinen, unverbrüchlichen Gemein-
schaft« jenseits der Repräsentation und der medialen Vermittlung. Die parado-
xe Aufgabe der messianischen Gemeinschaftssymbolisierungen im Geist der
Utopie liegt darin, Bilder für das Bildlose, Repräsentationen für das Repräsen-
tationslose zu liefern – für eine Gemeinschaft absoluter, messianischer Fülle.
So aktualisiert er das aus der Johannes-Apokalypse tradierte Motiv des ›Ver-
schlingens des Buches‹ (vgl. Offb. 10,9–10) zu einem Bild für die Seinsfülle
einer Gemeinschaft, deren Supraessenz sich nicht repräsentieren lässt und die
so an die Stelle Gottes selber gesetzt wird:
Gott, als das Um uns, der Dritte, die beseelte Distanz [also das Medium, die Verbin-
dung; Anm. E. D.] deckt sich endlich mit unserem Gold, das Buch wird verschlun-
gen und der schöpferische Raum der Versammlung hebt an (GU 382).

40 Mit diesen Ausdrücken beschreibt Benjamin seine Kritik zu Ernst Blochs Geist der
Utopie, welche ungedruckt geblieben ist und als verschollen gilt: »Meine Kritik
werden Sie hoffentlich in absehbarer Zeit gedruckt finden: höchst ausführlich,
höchst akademisch, höchst entschieden lobend, höchst esoterisch tadelnd« (Walter
Benjamin an Ernst Schoen, 02.02.1920. In: Ders.: Gesammelte Briefe. Bd 2. Hg.
von Christoph Gödde und Henri Lonitz. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1996, S. 72).
Vgl. zu Benjamins Kritik an Bloch auch Astrid Deuber-Mankowski, die besonders
auf Blochs gnostische Ablehnung der materiellen Welt, seine Christologie und er-
kenntnistheoretische Mängel im Geist der Utopie abhebt, auf die sie Benjamins Kri-
tik bezieht (Astrid Deuber-Mankowsky: Walter Benjamin’s Theological-Political
Fragment as a Response to Ernst Bloch’s Spirit of Utopia. In: Year-Book of the Leo
Baeck Institute XLVII [2002], S. 3–19).
41 So Joseph Vogl im Hinblick auf Kleists Erzählung »Das Erdbeben in Chili« (vgl.
Joseph Vogl: Einleitung. In: Ders. [Hg.]: Gemeinschaften. Positionen zu einer Philo-
sophie des Politischen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1994 [Edition Suhrkamp; 1881 =
N.F.; 881], S. 7–27, hier: S. 7).
4 Mystische, apokalyptische und profane Figuren des Messianischen 295

Eine bevorzugte messianische Metapher Blochs, um eine Gemeinschaft jen-


seits der Repräsentation zu verkörpern, stellt das »aufgedeckte Angesicht« des
Herrn (also das apokalyptische Angesicht (apocalypto: aufdecken); vgl. Offb
22,4) dar. Das »aufgedeckte Angesicht« soll sich »in uns allen« spiegeln, »und
wir werden verklärt in dasselbe Bild« (GU 445). Blochs Christologie findet
hier einen starken Ausdruck, denn im Unterschied zum Christentum bleibt das
Individuell-Personenhafte im jüdischen Messianismus abstrakt.42 Man mag es
als demokratisierende Geste werten, dass Bloch die Gemeinschaft nicht als
Körper,43 sondern als Spiegelhaupt Christi figuriert. Die Vereinigung aller im
Bilde des Messias, das zugleich alle Bilder übersteigt, verspricht ein absolutes
Haben des eigenen Seins in der Gemeinschaft, in der das Gegenüber aufgeho-
ben ist (vgl. GU 371) und die Identifikation aller mit dem Messias zu der Ges-
talt des »universellen Christus« (GU 432) führt.
Insofern sich der Geist der Utopie inhaltlich wie rhetorisch-performativ ge-
gen ein Urbild-Abbild-Schema wendet, ist der Text repräsentationskritisch,
wobei er aber bezogen bleibt auf ein Telos von gemeinschaftlicher präsenti-
scher Totalität. Dies unterscheidet ihn maßgeblich von Benjamins »Theolo-
gisch-politischem Fragment«, das die Menschheit als kollektives Subjekt der
Glückssuche in der Figur einer weltlichen »restitutio in integrum« zu lesen
gibt. Die weltliche »restitutio in integrum«, »die in die Ewigkeit eines Unter-
gangs führt« (GS II 204), evoziert ein Ganzes, ein »integrum«, das, ständig
endend, nie zu einem abschlusshaften Ende kommt. Die permanente Selbst-
aufhebung, die »Ewigkeit eines Untergangs«, stellt das paradoxe Aufbauprin-
zip einer diesseitigen Ordnung dar, das diese daran hindert, jemals mit sich
selbst zusammenzufallen und sich in der Figur eines Selbst zu ›erfüllen‹, was
bei Bloch noch anvisiert wird.
Ebenso unterscheiden sich Benjamin und Bloch in ihren Konzeptionen re-
volutionärer Gewalt. Bloch legitimiert die revolutionäre Gewalt, indem er sie
als apokalyptischen Vollzug darstellt. Zur Figuration der revolutionären Ge-
walt bietet Bloch die Gestalt eines kämpfenden Christus auf. Die »große Rein-
heit« des gekreuzigten Christus sei ein Irrtum. Denn
[e]s steht doch in der Regel so, dass die Seele schuldig werden muss, um das blöde
Bestehende zu vernichten, und das alles, was jehovahisch, das heißt von dem uner-
leuchteten Jehova, dem bloßen unklaren Demiurgen [hier spielt Bloch mit einem
gnostischen Motiv; Anm. E. D.], geschaffen ist, auch nur mit jehovaischen Waffen,
mit ›verwandter Kraft‹, mit der umgekehrten, genau einschlagenden Gewalt und ei-

42 Vgl. Gershom Scholem: Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum. In:
Ders.: Über einige Grundbegriffe des Judentums. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1970
(Edition Suhrkamp; 414), S. 121–167, hier: S. 142f.
43 Vgl. 1. Kor 12,12: »Wie nämlich der Leib nur einer ist, jedoch viele Glieder hat, alle
Glieder des Leibes aber trotz ihrer Vielheit einen einzigen Leib bilden, so ist es auch
mit Christus. Denn in einem Geist sind auch wir alle zu einem Leibe getauft wor-
den« (zitiert nach: Die Bibel. Nach der Übersetzung Martin Luthers. Stuttgart: Deut-
sche Bibelgesellschaft 1985).
296 Teil II

ner unseelischen, unchristlichen, aber von Christus geführten Homogeneität be-


kämpft werden kann (GU 406).

In dem Kapitel »Über das Gewaltrecht des Guten« in der drei Jahre später
erschienen Monographie Thomas Münzer als Theologe der Revolution schreibt
Bloch Christus den »Zorn, den peitschentragenden, verfluchenden Zorn als
einzigen Affekt neben der Liebe«44 zu und versucht auf diese Weise, Christus
als Figur einer »gewalttätigen Gegenbewegung gegen die Gewalt«45 zu profi-
lieren.
Blochs Darstellung revolutionärer Gewalt bedient die Logik des gerechten
Zweckes, der Gewalt als Mittel rechtfertigen soll. Eine solche Logik kenn-
zeichnet, so Benjamins Analyse in »Zur Kritik der Gewalt«, die naturrechtli-
che Argumentation. Denn das Naturrecht strebe, »durch die Gerechtigkeit der
Zwecke die Mittel zu ›rechtfertigen‹, das positive Recht durch die Berechti-
gung der Mittel die Gerechtigkeit der Zwecke zu ›garantieren‹.« (II/1 180)
Allerdings geht das Naturrecht, folgt man weiter Benjamins Darstellung, von
der Gewalt als »natürlicher Gegebenheit« (ebd.) aus, dessen »Verwendung
keiner Problematik unterliegt, es sei denn, dass man die Gewalt zu ungerechten
Zwecken mißbrauche« (ebd.), wogegen Bloch postuliert, dass das
Herrschen und die Macht an sich böse [sind], aber es ist nötig, ihr ebenfalls macht-
mäßig entgegenzutreten, als kategorischer Imperativ mit dem Revolver in der Hand,
wo sie nicht anders vernichtet werden kann; und danach erst des Herrschens, der
›Macht‹ auch des Guten, der Lüge der Vergeltung und des Rechts sich so reinlich als
möglich zu entledigen (GU 406).

Die naturrechtliche Legitimation der Gewalt als Mittel zum gerechten Zweck,
die bereits »dem Terrorismus der Französischen Revolution zur ideologischen
Grundlage diente« (II/1 180), findet sich bei Bloch in einer gnostisch-
apokalyptischen Abwandlung wieder, insofern sich die Gewalt im revolutionä-
ren Vollzug selbst abschaffen soll. Beansprucht Bloch ein göttliches Mandat
für die revolutionäre Gewalt, so gilt für Benjamin, dass die »göttliche Gewalt
[…] niemals Mittel heiliger Vollstreckung ist« (GS II 203). Welche Relevanz
für das menschliche Handeln hat dann aber die »göttliche reine Gewalt« (GS II
200), die Benjamin in seinem Essay »Zur Kritik der Gewalt« (1921) als »rei-
ne[] unmittelbare[] Gewalt« (GS II 199) interpretiert?
Benjamin definiert die revolutionäre Gewalt als »höchste Manifestation rei-
ner Gewalt durch den Menschen« (GS II 202). Die meisten Interpreten haben
aufgrund dieses Satzes zwischen der »reinen Gewalt« und dem proletarischen
Generalstreik à la Sorel, den Benjamin zuvor thematisiert hat, kurzgeschlos-
sen. Wenn man aber annimmt, dass Benjamin »eine metaphysische Begrün-

44 Ernst Bloch: Thomas Münzer als Theologe der Revolution. In: Ders.: Gesamtausga-
be. Bd 2. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1977, S. 115.
45 Ebd., S. 113.
4 Mystische, apokalyptische und profane Figuren des Messianischen 297

dung der Legitimität revolutionärer Gewalt«46 entwickele, die »Sorels Konzep-


tion des revolutionären Generalstreiks […] den Stellenwert einer von Men-
schen ausgeübten reinen Gewalt«47 verleihe, dann rückt man die »göttliche
Gewalt« unversehens wieder in die Position eines »Mittel[s] heiliger Vollstre-
ckung« (GS II 203), das sie gerade nicht sein soll. Mindestens ebenso schwer
wiegt ein weiterer Einwand: Benjamin diskutiert den proletarischen General-
streik nach Sorel nämlich als ein Beispiel für »reine Mittel« (GS II 191), die
als solche gerade »gewaltlose[]« (ebd.) Mittel sein sollen.
Um die Frage zu beantworten, wie die Rede von der »revolutionäre[n] Ge-
walt« als »höchste[r] Manifestation reiner Gewalt durch den Menschen« (GS
II 202) zu verstehen ist, sollte man sich die Stelle des Aufsatzes genauer anse-
hen, an der es tatsächlich um revolutionäre Gewalt und nicht um den proletari-
schen Generalstreik geht. Wie sieht es mit dem »extremen Fall« der »revoluti-
onären Tötung der Unterdrücker« (GS II 201) aus, die die Pazifisten um Kurt
Hiller herum ablehnen? Benjamin hält dafür, dass das Gebot »Du sollst nicht
töten« nicht als »Maßstab des Urteils, sondern als Richtschnur des Handelns
für die handelnde Person oder Gemeinschaft [steht], die mit ihm in ihrer Ein-
samkeit sich auseinanderzusetzen und in ungeheuren Fällen die Verantwortung
von ihm abzusehen auf sich zu nehmen haben.« (GS II 201) Wenn in »unge-
heuren Fällen« vom Tötungsverbot abzusehen ist, so können sich die handeln-
de Person oder die Gemeinschaft dafür nicht auf Gott berufen, sondern haben
die Verantwortung dafür auf sich zu nehmen.
Es ist offenkundig: Man kann sich nicht auf die reine, göttliche Gewalt be-
rufen, um politische Handlung zu legitimieren. Die göttliche Gewalt ist kein
»Mittel heiliger Vollstreckung« (GS II 203), denn sie ist überhaupt kein Mittel,
das man im politischen Kampf gebrauchen kann, um einen vorgesetzten
Zweck zu erreichen. Vermag die reine Gewalt sich in der revolutionären Ge-
walt zu »manifestieren«, so ist diese Manifestation nichts, worauf man im
Vorhinein rechnen kann. Mit der Manifestation als Äußerungsform der göttli-
chen Gewalt bringt Benjamin ein unwillkürliches, unkalkulierbares Moment
ins Spiel.48 Die »reine Gewalt«, die sich manifestiert, stellt überhaupt keine
handlungsrelevante Kategorie dar, sondern eine geschichtsphilosophische.
Denn
[n]icht gleich möglich noch auch gleich dringend ist […] für Menschen die Ent-
scheidung, wann reine Gewalt in einem bestimmten Fall wirklich war. Denn nur die
mythische, nicht die göttliche wird sich als solche mit Gewißheit erkennen lassen, es

46 Chryssoula Kambas: Benjamin, Walter. In: Simone Barck, Silvia Schlenstedt und
Tanja Bürgel (Hg.): Lexikon sozialistischer Literatur. Ihre Geschichte in Deutsch-
land bis 1945. Stuttgart, Weimar: Metzler 1994, S. 57–59, hier: S. 57.
47 Ebd.
48 Vgl. hierzu Jacques Derrida: Gesetzeskraft. Der »mystische Grund« der Autorität.
Übers. von Alexander García Düttmann. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991, S. 110–
112.
298 Teil II

sei denn in den unvergleichlichen Wirkungen, weil die entsühnende Kraft der Ge-
walt für Menschen nicht zutage liegt. (GS II 203)

Ob die revolutionäre Gewalt eine Manifestation der göttlichen Gewalt ist, zeigt
sich erst darin, was sie gewesen sein wird, d. h. in ihren »unvergleichlichen
Wirkungen«. Eine solche unkalkulierbar in die Zukunft weisende »göttliche
Gewalt« eignet sich wahrlich nicht zu Zwecken der Legitimation menschlicher
Handlung. Diese geschichtsphilosophische Perspektive stellt jeden Machtan-
spruch nachhaltig in Frage. Denn durch die geschichtsphilosophische Perspek-
tive bleibt die Frage lebendig, ob die revolutionäre Gewalt vielleicht nur eine
»mythische Manifestation« (GS II 198) gewesen sein wird, deren Prinzip die
Macht- und Rechtsetzung ist. Eben diese Dimension der unkalkulierbaren
Zukünftigkeit unterscheidet das Göttliche vom Mythischen.
Das »Theologisch-politische Fragment« und der Essay »Zur Kritik der Ge-
walt« treffen sich in der Tendenz, das Göttliche – die Dimension der »gerech-
ten Zwecke«, über die Gott entscheidet (vgl. GS II 198) – und das Menschliche
– die Dimension der (reinen) Mittel – voneinander möglichst »rein« zu trennen
und sie als »rein« Unterschiedene wieder aufeinander zu beziehen. Eine ähnli-
che Bewegung kennzeichnet Benjamins frühe ästhetische Reflexion.

4.4 Bild und Entstaltung: Das Verhältnis von Politik und


Theologie im Medium ästhetischer Reflexion

Durch das »Bild[]« (ebd.) der zwei Pfeilrichtungen und der sich in ihrer Ent-
gegensetzung befördernden Kräfte des Profanen und des Messianischen veran-
schaulicht Benjamin weniger die Beziehung der Ordnung des Profanen auf das
Messianische, als dass er die Beziehung zwischen den Ordnungen in der ästhe-
tischen Kategorie des »Bilde[s]« (ebd.) reflektiert. Das Bild ist nicht bloß als
eine sekundäre Hülle gegenüber einem geschichtsphilosophischen Gehalt zu
werten, sondern in seiner ästhetischen Beschaffenheit ernst zu nehmen und zu
analysieren. Für das Verständnis der Geschichtsphilosophie im »Theologisch-
politischen Fragment« ist es essentiell zu fragen, welche darstellungstheoreti-
schen und politischen Implikationen das »Bild[]« als Bild hat. Insofern Benja-
min das geschichtsphilosophische Verhältnis von Politik und Theologie in
ästhetischen Kategorien reflektiert – außer dem »Bilde« kommt im zweiten
Absatz der »Rhythmus«49 ins Spiel –, zeigt sich, dass er sich bei seinen an-
fänglichen Bemühungen um eine philosophische Durchdringung der Politik
auf seine ästhetischen Essays und Fragmente zurückbezieht. Im »Theologisch-
politischen Fragment« pointiert er deren politische Implikationen.

49 Vgl. zum Rhythmus auch Benjamins Essay »Goethes Wahlverwandtschaften«, GS I


123–201, besonders S. 182.
4 Mystische, apokalyptische und profane Figuren des Messianischen 299

Das Bild der zwei Pfeilrichtungen ist als »kryptisch«50 empfunden worden,
es sei »schwer […] sich graphisch vorzustellen«.51 Für Werner Hamacher
besteht das Rätsel weniger »in Benjamins Bild von den gegenstrebigen Bewe-
gungen«52 der »Dynamis des Profanen« und der »messianischen Intensität«,
das Hamacher auf die »Vorstellung eines – profanen – Zeitstrahls, der in die
Zukunft geht, und eines zweiten – messianischen –, der aus der Zukunft
kommt«,53 zurückführt. Vielmehr liege das Rätsel »in der damit verbundenen
Versicherung, ›die profane Ordnung des Profanen‹ vermöge das ›Kommen des
messianischen Reiches‹ so zu ›befördern‹ wie eine Kraft eine entgegengesetzte
andere.«54 Diese paradoxe Dynamik lasse sich mit den Kategorien einer me-
chanischen Kräftelehre, die sich an dem Gesetz der Erhaltung der Kraft orien-
tiere, nicht erfassen. Hamacher bringt Benjamins Fragment mit dem kritischen
Idealismus Kants und dessen Thematisierung des Erhabenen in der Kritik der
Urteilskraft in Zusammenhang. Benjamins Denkbild verteidige die Unvor-
stellbarkeit der Zukunft, indem es jedes Bild von der Zukunft als unstatthaft
zurückweise. Meines Erachtens reichen die darstellungstheoretischen Implika-
tionen des von Benjamin bemühten »Bilde[s]« sehr viel weiter. Der Wider-
stand, die Zukunft in ein Bild zu bannen, ist genauer zu fassen als Widerstand
gegen eine Gestaltgebung der Zukunft. Dieser Widerstand drückt sich also
weniger in einem Bilderverbot als in der »Auflösung des Gestalteten« (GS VI
114), in der »Entstaltung der Gebilde« (GS VI 115) aus. Die Dynamiken des
Profanen, das im Glück seinen Untergang erstrebt, und des Messianischen
entsprechen sich in der Tendenz, das Gestaltete aufzulösen, wenn auch aus und
in entgegengesetzter Richtung: einmal in Richtung eines Glücks der Ver-
gängnis (Dynamik des Profanen, des kollektiven politischen Subjekts in der
»Entstaltung«), das andere Mal in Richtung der Unsterblichkeit (»geistliche[]
restitutio in integrum«). Im Kontext von Benjamins zeitgenössischen Reflexi-
onen zu Malerei, Farbe und Phantasie lassen sich die darstellungstheoretischen
Implikationen von Benjamins paradoxem, geschichtsphilosophischem »Bild[]«
noch weiter erhellen. Denn das Bild steht auf der Grenze zwischen Graphik
(Pfeile) und ungegenständlicher Malerei (»Untergang« als »Entstaltung«), die
im Zusammenhang mit Benjamins ästhetischen Reflexionen auch als Grenze
zwischen Semiotischem und Nicht-Semiotischem, »Zeichen und Mal« (vgl.
GS II 603–607) lesbar wird.
Bereits seit 1914/15 verfolgt Benjamin ästhetische Fragen der Farbe und der
Malerei, der Phantasie und der Kindheit, die ihn jahrelang beschäftigen wer-
den. Nachdem Benjamin bereits 1915 von einer Arbeit zum Thema Phantasie

50 Wohlfarth, Nihilistischer Messianismus (wie Anm. 8), S. 196.


51 Vgl. ebd., S. 181.
52 Hamacher, Das Theologisch-politische Fragment (wie Anm. 2), S. 187.
53 Ebd.
54 Ebd.
300 Teil II

und Farbe berichtet hat,55 greift er das Thema zwischen 1918 und 1921 wieder
verstärkt auf.56 Aus dieser Zeit ist eine Gruppe von Aufzeichnungen überlie-
fert, zu der das Fragment »Phantasie« zählt, das frappierende motivische Paral-
lelen zum »Theologisch-politischen Fragment« aufweist. Die Phantasie äußert
sich für Benjamin in der »Entstaltung des Gestalteten« (GS VI 114), denn sie
treibe ein auflösendes Spiel um die Gestalten. Wo die Phantasie entstalte,
zerstöre sie dennoch niemals, denn die Erscheinungen der Phantasie entstün-
den vielmals »in jenem Bereich der Gestalt, da diese sich selbst auflöst« (GS
VI 115). Von dem »zerstörerischen Verfall der Empirie« (ebd.) unterscheide
sich die phantasievolle Entstaltung der Gebilde dadurch, dass sie zwanglos sei,
»frei und daher schmerzlos, ja leise beseeligend« (ebd.), sowie dadurch, dass
sie niemals in den Tod führt, sondern […] den Untergang [verewigt] den sie herauf-
führt, in einer unendlichen Folge von Übergängen. […] Diese Entstaltung zeigt […]
die Welt in unendlicher Auflösung begriffen, das heißt aber: in ewiger Vergängnis.
Sie ist gleichsam das Abendrot über dem verlassnen Schauplatz der Welt mit seinen
entzifferten Ruinen. Ebenso wie der Schein rein ist in seiner Auflösung ist er es in
seinem Werden. [Hier fügt Benjamin eine Fußnote an: »Diese Reinheit der verge-
henden Natur correspondiert der untergehenden Menschheit.«] Im Morgenrot er-
scheint er anders aber nicht uneigentlicher als im Abendrot. So gibt es einen reinen
Schein, den werdenden, auch im Morgenalter der Welt. Es ist der Glanz, der über
den Dingen im Paradies liegt (GS VI 115).
Das Medium der Phantasie, welches die Gebilde entstaltet, ist die Farbe. Der
»Farbe in ihrer eignen Welt« trete der Mensch nur »im selbstvergessnen We-
ben der Phantasie gegenüber« (GS VI 118); diesen ästhetischen Zustand nennt
Benjamin »reine Empfängnis« (GS VI 115f.). Die Farben »entstalten« die
Gebilde, indem sie alles Objekthafte wieder ins freie Spiel der Farben auflö-
sen, denn Farben »sind nicht objektkonstitutiv, sie sind präobjektal, sie bilden
darum keine Form und haben keinerlei denotative Funktion«.57 Der Untergang
als »Entstaltung« löst die mit Bedeutung geladenen Gebilde in die reine Er-
scheinung von Farben auf – so wie im Abendrot die »entzifferten Ruinen« in
eine Welt aus unendlich ineinander übergehenden Farben diffundieren.
Wenn man sich von hier aus den Figuren der »ewigen […] Vergängnis« und
des Untergangs im »Theologisch-politischen Fragment« zuwendet, so wird
deutlich, dass die weltliche »restitutio in integrum«, welche »in die Ewigkeit
eines Untergangs« führt, nichts mit Zerstörung und intentionaler Gewalt zu tun
55 Möglicherweise stimmt diese Arbeit, die er in einem Brief an Ernst Schoen erwähnt,
mit dem Dialog »Der Regenbogen. Gespräch über die Phantasie« (GS VII 19–26)
überein, den Giorgio Agamben 1977 entdeckt hat (vgl. GS VI 693).
56 Vgl. zu Benjamins frühen ästhetischen Reflexionen Heinz Brüggemann: Walter
Benjamin über Spiel, Farbe und Phantasie. Würzburg: Königshausen & Neumann
2007.
57 Hartmut Böhme und Yvonne Ehrenspeck: Nachwort. Zur Ästhetik und Kunstphilo-
sophie Walter Benjamins. In: Walter Benjamin: Aura und Reflexion. Schriften zur
Ästhetik und Kunstphilosophie. Hg. von Hartmut Böhme und Yvonne Ehrenspeck.
Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2007, S. 445–488, hier: S. 447.
4 Mystische, apokalyptische und profane Figuren des Messianischen 301

haben kann. Die weltliche »restitutio in integrum« dient Benjamin als Bild für
eine Gemeinschaft, die sich unendlich auflöst, unendlich defiguriert. Der Ge-
dankenstrich, welcher am Ende der Ausführungen zu dem »Bilde« über die
entgegengesetzten Kräfte steht, markiert eine Leerstelle, die als Verweis auf
das Fehlen einer Gestalt gelesen werden kann. Benjamin denkt die Gemein-
schaft philosophisch nicht als Werk, sondern von ihrer entstaltenden Potentia-
lität, der »Dynamis des Profanen«, her, die der Zukunft ihre Offenheit bewahrt:
»Sehertum ist der Blick für werdende Gestaltung, Phantasie der Sinn für wer-
dende Entstaltung. Sehertum ist Genie der Ahnung. Phantasie Genie des Ver-
gessens« (GS VI 116f.).
Benjamins Reflexionen zur Farbe treffen sich mit seinem Sprachkonzept in
»Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen« darin, dass die
Farbe wie die Sprache nicht als Mittel gedacht werden, das etwas außer sich
selbst mitteilen soll. Sprache ist im paradiesischen Zustand kein bloßes Zei-
chen, das etwas anderes als es selbst bedeutet, sondern Medium der Überset-
zung, in dem (und nicht durch das) sich die Dinge mitteilen (vgl. GS II 144).
Diese Vorstellung leitet auch Benjamins Konzeption der Farbe:
Die künstlerische Ordnung ist paradiesisch, weil noch nirgends an Verschmelzung
im Gegenstand der Erfahrung aus Anregung gedacht ist, die Welt vielmehr farbig im
Zustand der Identität, Unschuld und Harmonie ist (GS VI 111f.).

Die messianische »Entstaltung« als Auflösung der denotativen Funktion der


Sprache (der Farbe) stellt eine weltliche »restitutio in integrum« dar, die den
Fall der Sprache (Farbe) in die Mittelbarkeit nicht in Richtung der paradiesi-
schen Unmittelbarkeit überschreitet. Ließe diese sich als Ziel einer geistlichen
»restitutio in integrum« interpretieren, so verwandelt die weltliche »restitutio
in integrum« die Mittelbarkeit zu einer reinen Mittelbarkeit. Das Wort (die
Farbe) als »Träger […] [der] »Bedeutung« (GS II 138) löst sich aus seiner
(ihrer) »Starre« (GS II 140) und verwandelt sich in den Resonanzraum seines
Klanges (in das Spiel ihrer Erscheinung).
Giorgio Agamben bewegt sich ganz auf der Linie des frühen Benjamin,
wenn er der Erfahrung reiner ästhetischer Mittelbarbeit eine politische Bedeu-
tung zuspricht:
Das, worum es in der politischen Erfahrung geht, ist nicht ein höherer Zweck, son-
dern das In-der-Sprache-Sein selbst als reine Mittelbarkeit, das In-einem-Mittel-Sein
als irreduzible Bedingung der Menschen. Politik ist die Darbietung einer Mittelbar-
keit, das Sichtbarmachen eines Mittels als solchem. Sie ist weder die Sphäre eines
Zwecks an sich, noch die Sphäre der einem Zweck untergeordneten Mittel, sondern
die einer reinen Mittelbarkeit ohne Zweck als Feld menschlichen Handelns und
Denkens.58

58 Giorgio Agamben: Noten zur Politik. In: Ders.: Mittel ohne Zweck. Noten zur Poli-
tik. Übers. von Sabine Schulz. 2. Aufl., Zürich, Berlin: Diaphanes-Verlag 2006,
S. 95–102, hier: S. 101.
302 Teil II

Die »reinen Mittel« stellen eine profane Kategorie dar, in welcher Benjamin
den proletarischen Generalstreik genauso wie die Diplomatie, die »Unterre-
dung als eine Technik ziviler Übereinkunft« (GS II 192) und »Technik im
weitesten Sinne des Wortes« (ebd.) zu denken versucht. Die profane Kategorie
des reinen Mittels ebenso wie die paradiesische Unmittelbarkeit widerstreben
beide der Mittel-Zweck-Relation, meinen aber nicht das Gleiche. Charakteri-
siert letztere Sprache als Medium im paradiesischen Zustand, so setzt das »rei-
ne Mittel« den Sündenfall, die »Mittelbarmachung der Sprache« (GS II 154)
voraus, die nicht rückgängig zu machen ist. In Kap. I.4.1 haben wir gleichwohl
gesehen, dass man nicht trennscharf zwischen sprachlicher Unmittelbarkeit
und Sprache als reinem Mittel bei Benjamins unterscheiden kann. Ebenso
wenig stabil ist Benjamins Unterscheidung zwischen Profanem und Messiani-
schem im »Theologisch-politischen Fragment«, das am Ende das Messianische
ins gänzlich Profane verschiebt und damit deren kategorische Unterscheidung
aufgibt.
Im »Theologisch-politischen Fragment« sondiert Benjamin die Beziehung
von Politik und Theologie und probiert hierfür tentativ verschiedene Konzepte
aus. Benjamin operiert dabei hier wie auch später mit Mehrfachreferenzen,
insofern er neben Theologie und Politik den Aspekt der Ästhetik sowie der
Natur und der Psychoanalyse ins Spiel bringt. Benjamins Versuch, Theologie
und Politik in einer Beziehung wechselseitiger Ausschließlichkeit bei gleich-
zeitiger dynamischer Beförderung und Entsprechung per contrarium zu den-
ken, steht der Logik von Übertragung und Analogiebildung zwischen Theolo-
gie und Politik, wie sie etwa Carl Schmitt vertritt, entgegen. Dies verhindert
nicht, dass auch bei Benjamin die Logik der Entsprechung die der Entgegen-
setzung in den Hintergrund zu schieben vermag. Benjamins profane Figur des
Messianischen, sein Messianismus der Vergängnis, ist offen für die religiöse
Aufladung des Politischen. So nähert sich Benjamin der Bloch’schen Verein-
nahmung der Theologie für die Politik immer weiter an, je verzweifelter die
Lage und dringender die politische Aktion wird. Anders gesagt: Die profane
Mystik schlägt in politische Apokalyptik um. Im Umfeld der geschichtsphilo-
sophischen Thesen, die knapp 20 Jahre nach dem »Theologisch-politischen
Fragment« unter dem Eindruck des Nationalsozialismus entstehen, identifiziert
Benjamin im Interesse revolutionärer Politik unter apokalyptischen Vorzeichen
die messianische Zeit unmittelbar mit der klassenlosen Gesellschaft. So heißt
es dann: »Dem Begriff der klassenlosen Gesellschaft muss sein echtes messia-
nisches Gesicht wiedergegeben werden, und zwar im Interesse der revolutionä-
ren Politik des Proletariats selbst« (GS I/3 1232). Das »Theologisch-politische
Fragment« zeichnet sich demgegenüber noch durch ein Arrangement von
Perspektiven und unterschiedlichen Figuren des Messianischen aus, in dem
sich die apokalyptische Sichtweise als politisch unbrauchbar darstellt.
4 Mystische, apokalyptische und profane Figuren des Messianischen 303

4.5 »Der Zionismus wird seine Katastrophe überleben«:


Apokalyptik und Mystik in Scholems dialektischer
Konstruktion des Zionismus nach 1923

Der Umschlag von Mystik in Apokalyptik, von Apokalyptik in Mystik wird


zum beherrschenden Thema in Scholems programmatischen und wissenschaft-
lichen Texten, die er nach seiner Auswanderung nach Palästina (1923) ge-
schrieben hat. Es existiert ein Konvolut mit Aufzeichnungen und Reflexionen
über den Zionismus aus den Jahren 1924 bis 1931, von denen bisher nur der an
Rosenzweig gerichtete Text »Bekenntnis über unsere Sprache« veröffentlicht
wurde. Was an diesen Texten besonders hervorsticht, ist ihr apokalyptischer
Ton. Die Konfrontation mit den im Jischuv wirksamen zionistischen Kräften,
vor allem mit dem militanten, nationalistischen Revisionismus Zeev Jabo-
tinskys, versetzt Scholem in eine allumfassende Katastrophenstimmung.
[U]nser Unternehmen wird der grauenhaften Krise, die wir noch weiterleben müs-
sen, der Epoche wo die Juden auf einer eisernen Wand werden hinaufklettern sollen,
wehrlos, innerlich wehrlos, gegenüberstehen, weil wir der Erbsünde verfallen sind:
der Anticipation unseres Sieges. [W]ir haben zu früh gesiegt, denn wir sind in der
sichtbaren Welt der Intelligenz die Sieger, bevor wir es in der unsichtbaren der Dä-
monen waren, die die Sprache unserer in Versammlungen bekämpften Wiedergeburt
bedrohen. Der Abgrund, auf dem der Zionismus geht, ist fürchterlich: es hat sich ge-
zeigt, dass ›Propaganda‹ eine Macht ist, die beschworen werden konnte, uns zu hel-
fen, und wie alle Geister nicht mehr ging. Nun, wo wir gar nicht mehr still sein kön-
nen, verhindert uns unsere ›Propaganda‹ zu siegen. Unheimlicher konnte die Rache
nicht sein, mit der der getretene Wille zur Erlösung sich für seine Pervertierung
durch die Zionisten gerächt hat. Katastrophaler wird noch nie eine jüdische Bewe-
gung gescheitert sein.59

Für Scholem hat der Zionismus zu früh gesiegt, weil er einerseits zu einer
Trennung zwischen der Palästina-Bewegung und der »Jüdischen Renaissance«
in der Galuth geführt habe.60 Andererseits habe er zu früh gesiegt, weil er sich
politisch unter den Schutz der Sieger des Krieges geflüchtet und sich mit der

59 Gershom Scholem: Die Verzweiflung des Siegenden. 12.04.1926, TS, JNUL, Gers-
hom-Scholem-Archiv, Arc. 40 1599/277 I 57, S. 1f.
60 Vgl. Gershom Scholem: »Um was geht der Streit«. In: Hechaluz. Deutscher Landes-
verband (Hg.): Informationsblatt 4/39 (Nov. 1931), S. 15–23, hier: S. 17: »[D]er Zi-
onismus [hat sich] seit einiger Zeit in zwei nur durch eine Fiktion verbundene Be-
wegungen gespalten, deren eine sich einer Ideologie bedient, die leer von jedem In-
halt ist. Die Palästinabewegung ist nicht mehr identisch mit der nationalen Renais-
sancebewegung, die nur scheinbar von der ersten sich nährt, aber ihre wirkliche
Kraft aus tiefen Schichten der Wirklichkeit der Golah zieht und nicht aus dem Wil-
len zur Emigration. So hat sich der Zionismus auf dem Weg eingerichtet. Dubnow,
wenn ich diesen Namen als Symbol nehmen darf, hat zusammen mit dem Zionismus
gesiegt, das ist das Paradoxon der zionistischen Bewegung.«
304 Teil II

Balfour-Deklaration (1917) an den Imperialismus gebunden habe.61 Der ver-


frühte Sieg habe keine Augen für die »Dämonen« gehabt, die er mit der Pro-
paganda heraufbeschworen habe. Nach dem Motto »Die ich rief, die Geister,
werd ich nun nicht los«, habe die Propaganda ein bedrohliches Eigenleben
entwickelt. Diese dämonische »Propaganda« gibt sich aber als Chiffre für den
militanten Revisionismus Zeev Jabotinskys zu lesen, wenn man das Bild, dass
die Juden »auf einer eisernen Wand werden hinaufklettern sollen«, als Anspie-
lung auf den programmatischen Titel eines Zeitungsartikels Jabotinskys er-
kennt. »Die eiserne Wand« hieß ein Artikel, den Jabotinsky am 04.11.1923 in
der in Paris erscheinenden russischsprachigen Zeitschrift Rassvyet veröffent-
licht hatte, um seine Ansichten zum jüdisch-arabischen Verhältnis in Palästina
zu verkünden:
Either our colonization must be stopped or it must be continued independently of the
feeling among the Arabs. In other words, it must continue and develop under the
protection of a power which is not dependent on the local population, behind an iron
wall which the local population cannot break. […] The only way to achieve […] an
agreement [with the Arabs; Anm. E. D.] is the iron wall, that is, the strengthening of
our rule in Eretz Israel. In other words, for us the only way to an agreement in the
future involves complete abandonment of all efforts to reach an agreement in the
present.62

Jabotinsky insistierte auf dem politisch-militärischen Aspekt des Zionismus,


durch den er sich auf Konfrontationskurs mit der offiziellen zionistischen Füh-
rung in den 1920er und 1930er Jahren begab. Die zionistische Führung unter
Chaim Weizmann verband die Siedlungsaktivitäten in Palästina mit vorsichti-
ger Diplomatie, ohne sich auf einen jüdischen Staat als Endziel festzulegen,
um die Araber nicht zu beunruhigen. Dagegen sahen sich die Revisionisten
unter Jabotinsky als eigentliche Erben der Tradition von Herzl und Nordau und
der Forderung nach einem jüdischen Staat an.63 Eine jüdische Bevölkerungs-
mehrheit auf beiden Seiten des Jordans herzustellen, war das programmatische
Ziel der revisionistischen Partei Jabotinskys. Auf diese Weise sollte die Grund-
lage für einen jüdischen Staat geschaffen werden. Bei ihrer Gründung 1925
formulierte die revisionistische Partei das Ziel noch etwas vorsichtiger, inso-

61 Vgl. ebd., S. 19.


62 Zeev Jabotinsky: On the Iron Wall (We and the Arabs). In: Rassyvet, 04.11.1923,
zitiert nach: Shmuel Katz: Lone Wolf. A Biography of Vladimir (Ze’ev) Jabotinsky.
New York: Barricade Books 1996, Bd 2, S. 932.
63 1924 beschreibt Jabotinsky seine politische Agenda wie folgt: »The aim of Zionism
is a Jewish state. The territory – both sides of the Jordan. The system – mass coloni-
zation. The solution of the financial problem – a national loan. These four principles
cannot be realized without international sanction. Hence the commandment of the
hour – a new political campaign and the militarization of the Jewish youth in Eretz
Israel and the diaspora« (zitiert nach Walter Laqueur: In Blood and Fire. Jabotinsky
and the Revisionism. [Tel-Aviv?]: World Executive of Betar 1975, S. 17).
4 Mystische, apokalyptische und profane Figuren des Messianischen 305

fern sie noch nicht von einem jüdischen Staat sprach.64 Offen forderten die
Revisionisten diesen schließlich auf dem 17. Zionistenkongress 1931.65 Jabo-
tinsky hielt den Widerstand der einheimischen arabischen Bevölkerung gegen
die Bildung einer jüdischen Bevölkerungsmehrheit, die er nach dem Modell
der europäischen Kolonialpolitik dachte,66 für unausweichlich. Daher bedürfe
es einer offiziellen, starken jüdischen Legion, einer »iron wall«, die die arabi-
sche Bevölkerung schließlich zur Kooperation zwinge, weil ihr kein anderer
Ausweg bleibe. Nur dann könne man mit Vorschlägen moderater arabischer
Gruppen über gegenseitige Konzessionen rechnen, praktische Fragen betref-
fend wie etwa eine Garantie gegen Vertreibungen oder Gleichheit und nationa-
le Autonomie.
Jabotinsky, der selbst im jüdischen Bataillon der britischen Armee 1918
nach Palästina gekommen war, forderte eine jüdische Legion in Palästina, die
allerdings nicht gegen die britische Mandatsmacht gerichtet sein sollte, son-
dern mit deren Unterstützung und Billigung aufzustellen sei. Bei diesem politi-
schen Kurs blieb Jabotinsky aus Überzeugung.67 Seiner Meinung nach waren
die britischen und zionistischen Ziele im Nahen Osten letztlich identisch.68

64 Vgl. Yaacov Shavit: Fire and Water: Zeev Jabotinsky and the Revisionist Move-
ment. In: Jehuda Reinharz and Anita Shapira (Eds): Essential Papers on Zionism.
New York, London: New York Univ. Press 1996, S. 544–568, besonders S. 554.
65 Vgl. Laqueur, In Blood and Fire (wie Anm. 63), S. 12: »This position was revolu-
tionary inasmuch as it demanded the establishment of a Jewish state at a time when
it was not openly advocated by any other Zionist leader of the movement. At this
early stage [Mitte der 20er Jahre; Anm. E. D.] Jabotinsky was perhaps not thinking
of full independence. The concept state (he once said) had various meanings in po-
litical usage – France was a state, so was Nebraska and Kentucky. State did not nec-
essarily imply complete independence, but while the degree of self-government
could be discussed, there was no room for manoevring with regard to one basic fac-
tor: either there was a Jewish majority or there wasn’t.« Shavit meint, dass die unter-
schiedlichen Formulierungen, denen man bei Jabotinsky im Hinblick auf das Ziel
revisionistischer Politik begegnet, auf den wachsenden Einfluss der radikalen Frak-
tion seiner Bewegung zurückgehe (vgl. Shavit, Fire and Water [wie Anm. 64],
S. 555).
66 Vgl. Shlomo Avineri: Profile des Zionismus. Die geistigen Ursprünge des Staates
Israel. 17 Portraits. Übers. von Eileen Bayer, Perdita Schulz und Andreas Wirwalski.
Gütersloh: Kaiser/Gütersloher Verlagshaus 1998, S. 210f.
67 Die revisionistische militärische Untergrundorganisation Etzel hat sich in den 30er
Jahren nicht auf Jabotinskys Initiative gebildet, der sie dann freilich unterstützte
(vgl. Shavit, Fire and Water [wie Anm. 64], S. 562).
68 Vgl. Avineri, Profile des Zionismus (wie Anm. 66), S. 209: »Der Zionismus, daran
hält Jabotinsky fest, war ein europäischer Ableger im Nahen Osten. Deshalb wäre
eine jüdische Legion besser zur Verteidigung britisch-imperialistischer Interessen in
diesem Gebiet geeignet als irgendeine andere Streitmacht.« In dem Aufsatz »Was
möchten die zionistischen Revisionisten?« (1928) schreibt Jabotinsky, dass die »Ju-
den im Mittelmeerraum, dem Korridor Englands zum Orient, an dessen östlichen
und südlichen Ufern sich anti-europäische Gefahren vereinigen – die einzige feste
306 Teil II

Dem von Jabotinsky vertretenen Typus des »militanten Realpolitiker[s], der


ein Kolonialvolk in Schach zu halten [versteht]«, stand Scholem diametral
entgegen.69 Scholem war Mitglied der 1925 ins Leben gerufenen Vereinigung
Brith Schalom, die sich gegen die Politik, eine jüdische Majorität in Palästina
herzustellen, aussprach. Der Brith Schalom votierte für einen binationalen
Staat, »in dem Juden und Araber gleichmäßig an der politischen und bürgerli-
chen Verwaltung des Landes beteiligt sein würden, ohne Rücksicht auf ihren
zahlenmäßigen Anteil an der Gesamtbevölkerung«.70 In seinen privaten Refle-
xionen wie in seinen öffentlichen Äußerungen stellt Scholem den Brith Scha-
lom und die Revisionisten als politische Kontrahenten dar.71 Auch nach den
Unruhen von 1929 plädierte Scholem für eine Politik der Annäherung, denn
für ihn bedeutete die revisionistische Alternative nichts anderes als den »abso-
lute[n] Untergang des Zionismus«.72

Stütze [sind], die heute moralisch zu Europa gehört, und immer gehören wird« (zi-
tiert nach Avineri, Profile des Zionismus [wie Anm. 66], S. 210).
69 Vgl. Gershom Scholem: Zur Frage des Parlaments. In: Jüdische Rundschau 34/11
(08.02.1929), S. 65. In dem zitierten Artikel spricht sich Scholem für ein arabisch-
jüdisches Parlament aus, und macht den Vorschlag, die Rechte der beiden Bevölke-
rungen, unabhängig von der Mehrheitsfrage, in der Verfassung festzuschreiben:
»Wenn man in der zionistischen Diskussion ehrlicher spricht, so wendet man ein,
dass wir in einem solchen Parlament eine schwache Minderheit wären, dass wir ein-
fach all unsere Positionen verlieren würden, die Einwanderung abgeschnürt, Land-
kauf unmöglich gemacht werden würde usw. Oder aber wir würden den Arabern ein
gänzlich machtloses Parlament anbieten, was sie mehr verbittern würde als unsere
entschlossene Gegnerschaft zu dem Projekt des Parlaments überhaupt. Nun ist ja
eben das die prinzipielle Konzeption des ›Brith Schalom‹, mit der er sich vorerst in
beiden Lagern missliebig macht, dass er die Frage von Mehrheit und Minderheit
durch geeignete, in friedlichen Verhandlungen zu erstrebende, konstitutionelle Ver-
einbarungen grundsätzlich, d. h. also auch für den Fall einer eventuellen jüdischen
Mehrheit, auszuschalten sucht« (ebd.).
70 So beschreibt Mendes-Flohr die Agenda des Brith Schalom in dem von ihm heraus-
gegebenen Band von Martin Buber: Ein Land und zwei Völker. Zur jüdisch-arabi-
schen Frage. Hg. von Paul Mendes-Flohr. Zürich: Exlibris-Verlag 1985, S. 111–126,
hier: S. 105f.
71 Vgl. ebd.: »Übertriebene Vorstellungen von den Vorzüglichkeiten des Parlamenta-
rismus hegt keines seiner [des Brith Schalom; Anm. E. D.] Mitglieder. […] [W]ie
immer man den absoluten Wert parlamentarischer Einrichtungen beurteilen mag, sie
[stellen] jedenfalls in diesem Land und in der gegenwärtigen Situation einen Fort-
schritt dar[]. Freilich gibt es, wie schon gesagt wurde, logisch noch einen anderen
Weg: den der Revisionisten, die von einer auf die Legion gestützte Herrschaft –
neuerlich gern harmlos als ›kolonisatorisches Regime‹ firmiert – nicht zurückschre-
cken wollen.« Zum Brith Schalom vgl. auch Hagit Lavsky: German Zionists and the
Emergence of Brit Shalom. In: Reinharz and Shapira (Eds), Essential Papers on Zi-
onism (wie Anm. 64), S. 648–670.
72 Gershom Scholem: Ist die Verständigung mit den Arabern gescheitert? In: Jüdische
Rundschau 33/92 (20.11.1928), S. 644. Scholem schreibt: »Es bleibt nur dieser dor-
nenvolle Weg, in unserem Lager und im Lager der Araber für die Annäherung zu
4 Mystische, apokalyptische und profane Figuren des Messianischen 307

Das apokalyptische Vokabular, mit dem Scholem den Revisionismus be-


schreibt, ist keine sprachliche Äußerlichkeit. Scholem hat – wie viele seiner
Zeitgenossen – die revisionistische Bewegung als apokalyptischen »falschen
Messianismus« wahrgenommen.73 »Seit so unverkennbar die Revisionisten als
echte Utopisten die Erbschaft der zionistischen Apokalypse angetreten haben,
ist die innerliche Entblößung des Zionismus deutlich geworden.«74 Zum Vor-
schein gekommen sei ein »verlogene[r] Chauvinismus«, ein »bare[s] Außen,
mit einer messianischen Fratze verhängt«.75 Die Revisionisten hätten die Erb-
schaft der »zionistischen Apokalypse« in Form einer »hemmungslose[n] Apo-
kalyptik«76 angenommen. Scholems Formulierung impliziert, dass unabhängig
von den Revisionisten eine apokalyptische Erbschaft des Zionismus besteht, so
dass die entscheidende Frage ist, wie mit dieser apokalyptischen Erbschaft
umgegangen wird. Scholem scheint wohl in seiner Auseinandersetzung mit
den Revisionisten, denen er »Mißbrauch messianischer Kategorien für politi-
sche Aktionen«77 vorwirft, für eine Trennung von Zionismus und Messianis-
mus zu plädieren. Seine eigene Konstruktion des Zionismus bleibt aber an eine
messianische Dialektik gebunden, die noch genauer zu untersuchen ist.
Jabotinskys Nationalismus war nach eigener Aussage vom italienischen Na-
tionalismus, vom Pathos und der Rhetorik des Heldentums der Freiwilligen
Garibaldis, geprägt.78 Eine vom Staat kontrollierte korporative Ordnung ver-
suchte Jabotinsky als Alternativprogramm gegenüber der Arbeiterbewegung
im Jischuv zu profilieren. Jabotinskys »integrierender Nationalismus« spiegelt,
so der Historiker Shlomo Avineri, die »vorherrschenden, zeitgenössischen
Ideen des europäischen Denkens nach dem Ersten Weltkrieg wider. Folglich
ist sein Gedankengut von Ideen zur Rasse, Führung, Hierarchie und einer Visi-
on des etatistischen Korporatismus durchdrungen.«79 Jabotinskys nationales
und gesellschaftspolitisches Denken wurde mithin nicht von Kategorien der

wirken. Oder es bleibt der Weg der Revisionisten, sich auf ein imaginäres Schwert
zu stützen und nicht vor der Vergewaltigung der Landesbewohner zurückzuschre-
cken, um den Judenstaat durchzusetzen. Aber dies gerade, falls es sich durchsetzen
ließe, wäre nichts anderes als der absolute Untergang des Zionismus« (ebd.).
73 Vgl. Yaacov Shavit: Realism and Messianism in Zionism and the Yishuv. In: Jona-
than Frankel (Ed.): Jews and Messianism in the Modern Era: Metaphor and Mean-
ing. New York, Oxford: Oxford Univ. Press 1991 (Studies in contemporary Jewry;
7), S. 100–127, besonders S. 104, 112ff., 123 (Fn. 10).
74 Gershom Scholem: Nach 15 Jahren: Selbstbetrug? 24.12.1930, TS, JNUL, Gershom-
Scholem-Archiv, Arc. 40 1599/277 I 72, S. 2.
75 Ebd., S. 1.
76 Gershom Scholem: Politik der Mystik. Zu Isaac Breuers »Neuem Kusari«. In: Jüdi-
sche Rundschau 39/57 (19.07.1934), S. 1f., hier: S. 2.
77 Gershom Scholem: Offener Brief an den Verfasser der Schrift »Jüdischer Glaube in
dieser Zeit«. In: Bayerische Israelitische Gemeindezeitung 8/16 (15.08.1932),
S. 241–244, hier: S. 242.
78 Vgl. Avineri, Profile des Zionismus (wie Anm. 66), S. 190.
79 Ebd., S. 204.
308 Teil II

jüdischen Tradition bestimmt, sondern speiste sich aus verschiedenen europäi-


schen Quellen. Wenn er allerdings vor dem radikalen Flügel seiner Revisionis-
tischen Partei, der Jugendgruppe Betar, sprach, dann gab er seinen Reden ger-
ne einen biblischen Anstrich, indem er der Jugend einen spezifisch hebräischen
Nationalismus verkündete.80 Yaakov Shavit meint, Jabotinsky habe hiermit auf
das Begehren reagiert, den jüdischen Nationalismus als ein Phänomen zu ver-
stehen, dass immanent aus dem Judentum und der jüdischen Geschichte ent-
stamme, statt ein Produkt äußerlichen Zwanges zu sein.81 Wenn er die Jugend-
organisation »Betar« adressierte, griff Jabotinsky dementsprechend zu biblisch
messianischem Vokabular.82
Bei den Anhängern und Sympathisanten der Revisionisten findet sich häu-
figer eine messianische Rhetorik als bei Jabotinsky selbst, der sie je nach Be-
darf aktivierte. Die ideologische Dichtung von Uri Zvi Greenberg gab einer
nicht-religiösen messianischen Vision den stärksten Ausdruck. Greenbergs
Gedichte evozieren Blut und Schwert, Eroberungskrieg und Opfer als eschato-
logisches Setting für die messianische Restauration des jüdischen Volkes in
einem Großisrael, das nicht durch Diplomatie oder Besiedlung, sondern durch
Eroberung allein gewonnen werden könne.83 Greenbergs Mitstreiter Abba
Ahimeir imaginierte 1928 einen Messias, der nicht wie beim biblischen Sa-
charja als armer Mann auf einem Esel dahergeritten komme, sondern auf ei-
nem Panzer einziehe.84
Messianismus war in den 20er Jahren im Jishuv nicht nur ein Phänomen der
politischen Rhetorik, die je nach Autor mehr oder weniger systematische ideo-
logische Konsistenz aufweisen konnte. Wissenschaftler wie Ben-Zion Dinur,
Joseph Klausner, aber eben auch Gershom Scholem und Martin Buber wand-
ten sich der Geschichte des jüdischen Messianismus zu, um dem Zionismus
einen Platz innerhalb der jüdischen Geschichte zu geben. Motiviert wurden
diese wissenschaftlichen Untersuchungen des jüdischen Messianismus – so
unterschiedlich sie in ihren Annahmen, Resultaten und politischen Implikatio-
80 Vgl. Shavit, Fire and Water (wie Anm. 64), S. 558f.
81 Shavit, Realism and Messianism (wie Anm. 73), S. 103.
82 Vgl. Laqueur, In Blood and Fire (wie Anm. 63), S. 53: »It was not just the notion of
Statehood that Jabotinsky endeavoured to imbue the youth of Betar, but Malchut
Yisrael – the Kingdom of Israel – with all its historic, spiritual, and poetic connota-
tions that the term implied, though monarchy, of course, was not one of them.« Dass
man besonders die Jugend mit messianischen Tönen zu locken versuchte, reflektiert
sich auch in Scholems kritischer Bemerkung von 1929 aus einem Artikel für die
Zeitung Davar: »The Zionist ideal is one thing and the messianic ideal is another,
and the two do not touch except in pompous phraseology of mass rallies, which of-
ten infuse into our youth a spirit of new Sabbatianism that must inevitably fail« (zit-
iert nach: Gershom Scholem: On Jews and Judaism in Crisis. Selected Essays. Ed.
by Werner J. Dannhauser. New York: Schocken Books 1976, S. 44).
83 Vgl. Shavit, Realism and Messianism (wie Anm. 73), S. 113ff.
84 So Abbi Ahimeir in der Zeitung Doar hayom vom 14.10.1928, zitiert nach: Shavit,
Realism and Messianism (wie Anm. 73), S. 115.
4 Mystische, apokalyptische und profane Figuren des Messianischen 309

nen waren – alle dadurch, den Zionismus immanent aus der jüdischen Traditi-
on heraus zu erklären. Sie wurden von einigen Revisionisten durchaus rezi-
piert.85 Ideologisch stand Joseph Klausner dabei den Revisionisten am nächs-
ten. Biale bezeichnet ihn als frühen Ideologen eines vom jüdischen Messia-
nismus inspirierten Revisionismus.86 Klausner war Historiker, der sich mit
allgemeiner jüdischer Geschichte, Religions- und hebräischer Literaturge-
schichte beschäftigte.87 Er promovierte in Heidelberg mit einer Arbeit über die
Messianischen Vorstellungen des jüdischen Volkes im Zeitalter der Tannaiten
(1904), in der er bereits den irdischen, national-politischen Aspekt der jüdi-
schen »Messiasidee« hervorhebt:
Die Messiasidee an sich, von einem politischen Bestreben ausgehend, von einer
Sehnsucht, die verlorene politische Macht wieder zu gewinnen und das gerechte da-
vidische Königtum wieder eingesetzt zu sehen, musste bei aller Vergeistigung und
bei allem moralischen Schwunge, doch wesentlich irdisch und politisch bleiben.88

Klausner reiht den Zionismus explizit in die Geschichte des jüdischen Messia-
nismus ein. Im Vorwort zur zweiten Ausgabe (1927) der Studie ʩʧʩʹʮʤ ʯʥʩʲʸʤ
ʬʠʸʹʩʡ (Die messianische Idee in Israel), die die Zeit von den Propheten bis

85 Vgl. ebd., S. 119ff. Yehoshua Heshel Yeivin, der mit Uri Zvi Greenberg und Abba
Ahimeir zum maximalistischen Flügel der Revisionisten gehörte, publizierte 1928
einen Artikel in der Wochenzeitschrift Ha’olam mit dem Titel »Minaftulei derekh
hegeulah« (»Die gewundene Straße der Erlösung«), der von Klausners und Dinurs
Forschungen Gebrauch machte, aber auch Buber erwähnt, um sich von ihm abzuset-
zen.
86 Vgl. David Biale: Gershom Scholem. Kabbalah and Counter-History. Cambridge
(Mass.), London: Harvard Univ. Press 1979, S. 178.
87 Scholem und Klausner waren Kollegen an der Hebräischen Universität und gerieten
hier auch persönlich aneinander, als es um die Einrichtung eines Lehrstuhls für Jid-
disch ging. Klausner war einer der Protagonisten der neuhebräischen Sprachbewe-
gung und lehnte Jiddisch ab, das für ihn »jargon, folk tongue of the galut and a sym-
bol of the ghetto« (Simcha Kling: Joseph Klausner. New York, South Brunswick,
London: Yoseloff 1970, S. 67) war. Klausner setzte sich durch – erst nach der
Staatsgründung 1948 wurde ein Lehrstuhl für Jiddisch an der Hebräischen Universi-
tät in Jerusalem etabliert. Die Ablehnung des Jiddischen stand im Zusammenhang
mit Klausners radikaler Form der Verneinung der Galuth und ihrer Tradition zu-
gunsten von nationalem Neuanfang und Unabhängigkeit. Ein Gespräch zwischen
Klausner und dem Dichter Chaim Nachman Bialik, der zwar auf Hebräisch schrieb,
dem Jiddischen aber positiv gegenüberstand, gibt Klausners radikale Negation der
Galuth auf bezeichnende Weise wieder: »Once, after a lengthy discussion about Ju-
daism and Palestine, Klausner said to Bialik: ›If Hadrian were alive today and would
decree destruction for either the Bible or the Talmud, you would weep over the Bi-
ble and choose the Talmud, whereas I would cry over the Talmud and choose the
Bible.‹ To this, Bialik responded: ›You are right‹« (zitiert nach Kling, Joseph
Klausner [wie Anm. 87], S. 39).
88 Joseph Klausner: Die messianischen Vorstellungen des jüdischen Volkes im Zeital-
ter der Tannaiten. Berlin: Poppelauer 1904, S. 119.
310 Teil II

zur Mischnah abdeckt,89 unterstreicht er den unmittelbaren Zusammenhang


zwischen Zionismus und Messianismus. Die »Idee der Erlösung in Israel«
habe sich in den 25 Jahren, die zwischen der Veröffentlichung des ersten und
des letzten Teils der Studie liegen, ausgebreitet und sich mit großer Macht in
die Herzen ergossen.90 In der Einleitung betont Klausner dann, dass es sich bei
der messianischen Idee um eine original hebräische Idee handele. Die Unter-
suchung solle die Grundlage für ein größeres Projekt darstellen, das ein voll-
ständiges Bild der Entwicklung der messianischen Idee von ihrem Ursprung
bis zur gegenwärtigen Zeit zu liefern verspreche. Für Klausner geht die poli-
tisch-nationale Dimension der messianischen Idee Hand in Hand mit ihrer
ethisch-universalen Seite.91 Bei Klausner stellt der universale Aspekt den nati-
onalen nicht in Frage, sondern bestärkt ihn vielmehr. Denn die messianische,
universale Aufgabe des Judentums sieht Klausner nicht darin, nationale Gren-
zen zu überwinden, sondern ein nationales Ideal zu verwirklichen, das als
Vorbild für alle anderen Nationen dienen soll.92
Die öffentlichen Äußerungen Scholems, in denen er sich für eine kategori-
sche Trennung zwischen Messianismus und Zionismus ausspricht, finden sich
vor allem im Kontext der Auseinandersetzung mit den Revisionisten. Insofern
sich der Brith Schalom für eine zeitweilige Beschränkung der jüdischen Ein-
wanderung nach Palästina aussprach, um der Furcht der Araber vor einer Be-
herrschung durch die Juden entgegenzutreten, lieferte er sich dem Vorwurf

89 Klausners Buch führt drei Einzelpublikationen zusammen (1909, 1921, 1923). Den
dritten Teil bildet Klausners frühere Doktorarbeit, die erst 1923 ins Hebräische über-
setzt worden war. Klausners Studie ist 1955 auf Englisch erschienen unter dem Ti-
tel: The Messianic Idea in Israel. From Its Beginning to the Completion of the
Mischnah. New York: Macmillan 1955.
90 Vgl. ebd., S. ix (»Preface to the Second Edition«). Vgl. auch ebd., S. x: »If this book
can succeed in giving an idea of the close connection between the political redemp-
tion of Israel in its own land and the ideal of righteousness, peace, and brotherhood
among all peoples; and if a prophetic social outlook can be gained from this idea,
and can be laid as a foundation stone in the building of our politico-spiritual Na-
tional Home, I shall know that my labor of many years has not been in vain.«
91 Vgl. ebd., S. 11f.: »And in our times and before our very eyes, the politico-national
part which is in the hope for redemption has returned to life together with the spiri-
tual-universalistic element which is in the Messianic expectation. […] Only when
the two of them flow together to make one mighty stream can the most important
Jewish movement, Zionism, consider itself to have come into possession of the in-
heritance of the Messianic idea.«
92 Vgl. ebd., S. 12. Vgl. hierzu auch Shavit, Realism and Messianism (wie Anm. 73),
S. 123 (Fn. 8): »It is important to distinguish here between the common nineteenth-
century ideas of Judaism’s universal mission as well as the Judaeo-messianic views
of revolutionary and missionary movements and an outlook such as that of Klausner.
The latter saw in national unity and national sovereignity a condition essential both
for the fulfillment of the universal messianic idea within the framework of Jewish
society and for the dissemination of the Jewish national ideal among the nations.«
4 Mystische, apokalyptische und profane Figuren des Messianischen 311

aus, die vollständige ›Erlösung‹ des jüdischen Volkes im Sinne der Rückfüh-
rung aus dem Exil zu verraten. Scholem erwiderte 1929:
I, a member of the Brit Schalom, am opposed […] to mixing up religious and politi-
cal concepts. I categorically deny that Zionism is a messianic movement and that it
is entitled to use religious terminology to advance its political aims. The redemption
of the Jewish people, which as a Zionist I desire, is in no way identical with the reli-
gious redemption I hope for in the future.93

Die kategorische Trennung von Messianismus und Zionismus, die Scholem im


ersten Satz befürwortet, wird im dritten Satz schon wieder fraglich, wenn
Scholem eine zionistische, politische, nicht-religiöse Erlösung des jüdischen
Volkes von einer religiösen Erlösung unterscheidet. Es findet sich sogar ein
strukturell gleiches Argument auf der Seite der Revisionisten, wenn diese sich
gegen den Vorwurf der Heterodoxie mit dem Argument zur Wehr setzten, dass
eine politische, physische Erneuerung der religiösen Erneuerung vorangehen
müsse.94
Scholems Plädoyer für eine Trennung von Zionismus und Messianismus
stellt in erster Linie eine Invektive gegen die ultranationalistische Vermi-
schung religiöser und politischer Begrifflichkeiten auf Seiten der Revisionisten
dar. Die Position, die Scholem demgegenüber bezieht, ist durch die Spannung
gekennzeichnet, dass »das religiöse Element im Zionismus weder ganz liqui-
diert werden soll, wie im politischen Zionismus, noch einfach realisiert werden
kann«.95 Es gibt einen systematischen Grund dafür, dass Scholem die Tren-
nung zwischen Messianismus und Zionismus selbst nicht kategorisch vollzieht,
versucht doch auch er den Zionismus als rein innerjüdische Bewegung zu
verstehen und nicht etwa als europäische Nationalbewegung. Die historische
Konstitution des Zionismus ist für Scholem immanent zu erklären, aus jüdi-
scher Geschichte und Tradition, die durch eine Dialektik von Revolte und
Kontinuität geprägt sei, wie er im Rückblick schreibt.96
Von den unveröffentlichten Aufzeichnungen, die Scholem im Jishuv ange-
fertigt hat, zeigt besonders ein einseitiger, unbetitelter Text von Ende 1924,
dass Scholem den Zionismus nicht schlicht politisch säkular begriffen hat:

93 Die Passage stammt aus demselben Artikel für die Zeitung Davar, aus dem ich oben
bereits zitiert habe (zitiert nach: Scholem, On Jews and Judaism in Crisis [wie Anm.
82], S. 44).
94 Vgl. Shavit, Realism and Messianism (wie Anm. 73), S. 115 und S. 146 (Fn. 46).
Shavit hebt zurecht hervor: »It is worth noting that their stance [der Standpunkt der
Revisionisten, die sich gegen den Häresie-Vorwurf wehrten; Anm. E. D.] on this is-
sue was little different from that of members in the traditional religious camp who
harbored activist messianic leanings. They, too, viewed religious revival as condi-
tional on political and territorial renewal rather than vice versa« (ebd., S. 115).
95 Weidner, Gershom Scholem (wie Anm. 19), S. 49–50.
96 Vgl. ebd., S. 53.
312 Teil II

Der Zionismus wird seine Katastrophe überleben. Die Stunde ist da, wo die Herzen
sich entscheiden müssen, ob sie den Zionismus, dessen Sinn die Vorbereitung des
Ewigen ist, gegen den Zionismus des Judenstaates, der die Katastrophe ist, aufgeben
wollen. Die Theokratie hat sich als zu schwach erwiesen, und Gottes Priester haben
sich nicht in die Bresche des Volkes gestellt. Und in die Lücke einer noch unvoll-
ziehbaren Theokratie hinein will sich nun eine weltlich-vorgestrige Zionsstaatlich-
keit stellen. Die lebendigen Kräfte des Volkes, die gerade in Palästina am wenigsten
wirken, sterben ab, fließen ab in andere Volksadern, weil wir unserer Berufung nicht
treu geblieben sind. Bei Gott – es war ja nicht dieses das was wir wollten. Wir
glaubten im Innern an die Fülle des Herzens, und jene magere und kalte Kleinbür-
gerlichkeit, die einen Chaluz mit einem Klausner verbindet […] bringt uns um. […]
So müssen wir sehend einem Zusammenbruch entgegengehen, und noch wünschen,
dass er bald käme.97

Wer sind »Gottes Priester, die sich nicht in die Bresche des Volkes gestellt«
haben? Wenn man Shmuel Hugo Bergmanns Tagebüchern trauen kann, dann
soll Scholem 1928 gesagt haben, dass nach der Balfour-Deklaration von 1917
eine messianische Stimmung geherrscht habe:
Damals hätte Kook [Rav Abraham Isaak HaCohen Kook, religiöser Zionist; Anm.
E. D.] durch eine revolutionäre Tat, durch Erleichterungen, die jüdische Religion
retten können. Die Stunde verging, Kook fand den Mut nicht dazu angesichts seiner
vielen Gegner. […] Wenn der Zionismus einmal sein Ziel erreicht hätte und eine
Gemeinschaft neu geschaffen würde, dann würde auch der Schulchan Aruch [1565
in Venedig geschriebener Gesetzeskodex von Josef Karo; Anm. E. D.] neu geschaf-
fen werden. Bis dahin müsse man zwischen zwei Stühlen sitzen, es gibt legitim vor
Gott Menschen, die zwischen zwei Stühlen sitzen.98

Die Auffassung, dass der »Sinn« des Zionismus »die Vorbereitung des Ewigen
ist«, wie es in Scholems kurzem Text von 1924 heißt, berührt sich nun in der
Tat mit Rav Kooks religiösem Zionismus. Nach Kooks Ansicht bereitet der
säkulare Zionismus die religiöse Erneuerung vor, auch wenn dessen Protago-
nisten, die zionistischen Pioniere, sich nicht mehr an die Halacha gebunden
fühlten. Ohne es selbst zu wissen, nehme der säkulare politische Zionismus am
Erlösungsprozess teil; selbst die Gesetzesübertretungen können aus dieser

97 Gershom Scholem: Der Zionismus wird seine Katastrophe überleben… Ende 1924,
TS, JNUL, Gershom-Scholem-Archiv, Arc. 40 1599/277 I 52, S. 1. Als Scholem sich
1930 in einer privaten Aufzeichnung darüber Rechenschaft ablegt, was »am Zionis-
mus uns anzog«, kommt ebenfalls auf ambivalente Weise die Religion ins Spiel:
»[O]hne messianischen Verführungen zu erliegen, waren wir uns doch des religiösen
Begriffes unserer Aufgabe gewiss« (Scholem, Nach 15 Jahren: Selbstbetrug? [wie
Anm. 74], S. 4f.). Doch die »Hoffnung auf Wiederherstellung einer Kontinuität, die
durch Europa gefährdet schien, die religio, das Bemühen um ›Wiederverbindung‹
mit den entschwindenden Lebenskräften ist in einen verlogenen Chauvinismus um-
gebogen worden, bis nur das bare Außen, mit einer messianischen Fratze verhängt,
noch blieb« (ebd., S. 1).
98 Shmuel Hugo Bergmann: Tagebücher und Briefe. Bd 1. Königstein i. Ts.: Jüdischer
Verlag, Athenäum 1985, S. 261.
4 Mystische, apokalyptische und profane Figuren des Messianischen 313

Perspektive noch als heilige Akte begriffen werden. Am Ende des Erlösungs-
prozesses würden die Buße und die Rückkehr zu einem halachischen Gemein-
wesen erfolgen. Kooks Schriften sind bis heute die Quelle der Inspiration für
rechte, religiös-nationale Siedlungsbewegungen, vor allem für die Gruppe
»Gush Emunim«.99 Die Extreme eines säkularen politischen Zionismus bzw.
einer nicht-religiösen messianischen Vision, wie wir sie bei den Revisionisten
gefunden haben, auf der einen Seite und eines religiösen Zionismus auf der
anderen Seite berühren sich. Scholem war sich dessen bewusst, wie sein an
Rosenzweig gerichteter Text »Bekenntnis über unsere Sprache« von 1926
bezeugt, in dem er sich bemüht, zwischen den Extremen eines religiösen Zio-
nismus und eines politisch säkularen Zionismus zu navigieren (s. Kap. I.4.3).
Die prästabilierte Harmonie zwischen religiösem und säkular politischem
Zionismus, die sich bei Rav Kook findet, dürfte für Scholem weniger Lösung
als Teil des Problems gewesen sein, wenn Scholem auch in prekärer Nähe zu
Rav Kooks Ansatz verbleibt. »[I]n die Lücke einer noch unvollziehbaren The-
okratie hinein«100 stellt Scholem, statt einer »weltlich-vorgestrige[n] Zions-
staatlichkeit«,101 seinen religiösen Anarchismus. Bei Rav Kook wirkt der häre-
tische, säkulare politische Zionismus unbewusst an der religiösen Erlösung
mit, so dass man geradewegs von einer List der Theologie sprechen kann.
Scholem hingegen leitet von einem bewussten religiösen Anarchismus ein
undogmatisches Verständnis jüdischer Identität her. Die Grundannahmen von
Scholems religiösem Anarchismus finden sich bereits in dem Text »Die Lehre
von Zion« (1918/1919), der weiter oben schon besprochen wurde (vgl. Kap.
II.4.2). Die »Lücke einer noch unvollziehbaren Theokratie«102 weist aber auch
schon voraus auf eine programmatische Stellungnahme von 1939, in der Scho-
lem seinen religiösen Anarchismus als Übergangsphänomen beschreibt. Hier
erklärt Scholem zwar, dass die orthodoxe Auslegung der schriftlichen Thora in
der mündlichen Thora, d. h. im Talmud und der hierauf gründenden halachi-
schen Tradition, nicht bindend sei. Damit stellt Scholem aber nicht die Thora
als offenbarten Text in Frage, sondern nur deren Lesbarkeit und Verständlich-
keit nach gegenwärtiger orthodoxer Auslegung.103 In die »Lücke einer noch
99 Vgl. hierzu Aviezer Ravitzky: Messianism, Zionism, and Jewish Religious Radi-
calism. Chicago: Univ. of Chicago Press 1996, S. 80.
100 Scholem, Der Zionismus wird seine Katastrophe überleben… (wie Anm. 97), S. 1.
101 Ebd.
102 Ebd.
103 »[W]e are unable to accept the Oral Torah of Orthodoxy. Yet with respect to the
Written Torah it is incumbent upon us to recall that nothing therein is in itself fixed
without the exegesis of the Oral Torah. We must therefore wait for our own Oral
Torah, which will have to be binding for us, leaving no room for free, non-
authoritative decision«, so Scholem laut Protokoll eines Treffens von jungen zion-
istischen Intellektuellen am 13.07.1939 auf Einladung von Judah L. Magnes, dem
ersten Präsidenten der Hebräischen Universität. Das hebräische Protokoll wurde
übersetzt und veröffentlicht von Paul Mendes-Flohr (vgl. Paul Mendes-Flohr: Law
and Sacrament: Ritual Observance in Twentieth-Century Jewish Thought. In:
314 Teil II

unvollziehbaren Theokratie«, in die Lücke bis zur Entstehung einer neuen,


bindenden mündlichen Thora, tritt Scholems religiöser Anarchismus: »[O]ur
anarchism is transitional, for we are the living example that this [our anar-
chism] does not remove us from Judaism.«104
Wie verhält sich nun Scholems religiöser Anarchismus, den man als Grund-
lage seines esoterischen Zionismus und seiner undogmatischen Auffassung
jüdischer Identität auffassen kann, zu der von ihm abgelehnten »messianischen
Phraseologie des Zionismus«?105 Vor dieser wird Scholem nicht müde zu
warnen, sei sie doch »nicht die geringste jener sabbatianischen Verführungen,
die die Erneuerung des Judentums, die Stabilisierung seiner Welt aus ungebro-
chenem Sprachgeist, zum Scheitern bringen können«.106 Damit aber kommen
wir zur Kernfrage: In welcher Beziehung stehen Scholems Ablehnung der
messianischen Rhetorik bzw. der »sabbatianischen Verführungen« der Revisi-
onisten, sein eigener esoterischer Zionismus und seine Historiographie des
jüdischen Messianismus? David Biale hat vorgeschlagen, Scholems Zionismus
als eine Antwort auf den Sabbatianismus zu betrachten, so wie Scholem selbst
den Chassidismus und die Haskala als Reaktion auf den Sabbatianismus ge-
deutet hat.107 Ähnlich wie der Chassidismus und die Haskala würde Scholems
Zionismus die apokalyptischen, zerstörerischen Energien des Sabbatianismus
zu neutralisieren versuchen. Damit wäre Scholems Zionismus Teil der Nach-
geschichte des Sabbatianismus, die Scholem von Anfang an am Sabbatianis-
mus interessiert hat. So betont Scholem bereits in seiner ersten wissenschaftli-
chen Veröffentlichung über den Sabbatianismus (1928), dass »das eigentlich
Entscheidende« am Sabbatianismus, »die tiefgreifende religiöse Bewegung,
die innerhalb des Judentums nach seinem [Sabbatai Zwis; Anm. E. D.] Über-
tritt vor sich ging«,108 bisher kaum berücksichtigt worden sei. Weniger die
Taten Sabbatai Zwis – seine antinomistischen Handlungen; sein Anspruch, der
Messias zu sein, der eine religiöse Massenbewegung im 17. Jahrhundert aus-
löste, da vielen die Hoffnung auf Rückkehr aus dem Exil sich zu erfüllen

Ders.: Divided Passions. Jewish Intellectuals and the Experience of Modernity.


Detroit: Wayne State Univ. Press 1991 (The culture of Jewish modernity), S. 341–
369, hier: S. 344–346. Das Zitat stammt von ebendort, S. 345.
104 Ebd., S. 346 (Hervorhebung im Original). Mendes-Flohr weist zu Recht auf den
Unterschied zwischen Scholems und Bubers religiösem Anarchismus hin:
»Scholem’s anarchism was, as he emphasized, ›transitional‹, Buber’s wasn’t.
Scholem looked forward to a new Oral Torah, articulating God’s authoritative,
binding mitzvot; for Buber, dialogue with God (and one’s fellow men) must be
unmediated, and thus it cannot countenance any form of heteronomy whatsoever«
(ebd., S. 349).
105 Scholem, Die Theologie des Sabbatianismus im Lichte Abraham Cardosos (wie
Anm. 31), S. 146.
106 Ebd.
107 Biale, Gershom Scholem (wie Anm. 86), S. 185.
108 Scholem, Die Theologie des Sabbatianismus im Lichte Abraham Cardosos (wie
Anm. 31), S. 119 (Hervorhebung E. D.).
4 Mystische, apokalyptische und profane Figuren des Messianischen 315

schien; schließlich Sabbatais Übertritt zum Islam unter Druck des türkischen
Herrschers – sind vorderhand von wissenschaftlichem Interesse für Scholem.
Vielmehr erklärt Scholem die religiöse Nachgeschichte des Sabbatianismus zu
seinem Thema. Welche Messianologie entwickelte die sabbatianische Theolo-
gie, um die diversen Gesetzesübertretungen Sabbatais bis hin zu seinem Über-
tritt zum Islam theologisch plausibel zu machen, und was implizierte diese
Theologie für die Morallehre?
Bereits in der alten jüdischen Theologie sei, so Scholem, die Frage strittig
gewesen, wie sich die Thora im messianischen Zeitalter verwirklichen werde.
Antinomistische Tendenzen zeichneten sich dabei schon in der älteren Kabbala
ab. So habe das Buch Temuna (13. Jahrhundert) sieben Konkretisationsstufen
der Thora gelehrt. Dieser Lehre zufolge gibt es einen Zyklus der Welt von
sieben mal siebentausend Jahren. In allen diesen Zyklen und Äonen bleibt die
Thora das »absolute Medium der Offenbarung. Sie ist das corpus mysticum:
der entfaltete Name Gottes. Aber wie wir die Tora lesen, ist abhängig von der
betreffenden Schemita [dem Weltzeitalter; Anm. E. D.].«109 In der sabbatiani-
schen Bewegung hätten sich diese Elemente »als Dynamit erwiesen, und in der
frankistischen Bewegung, dem letzten Stadium des Sabbatianismus, hat dies
Dynamit, durch eine kleine Verlagerung entzündet, das ganze Gebäude selbst
gesprengt.«110 Auf diese Weise erklärt Scholem den Sabbatianismus aus der
Kabbala und damit als originäres Phänomen der jüdischen Tradition.
Die sabbatianische Theologie erhellt sich Scholem in dem Werk des Marra-
nen Abraham Cardoso (1627–1706), das in Scholems Augen einen »virtuell
gnostischen Antinomismus innerhalb der Welt des Judentums«111 dokumen-
tiert. Cardoso unterscheide zwischen einer prima causa, deren Existenz schon
mit der Ratio eines Schulkindes erfassbar sei, und einem primum causatum,
dem Gott Israels als dem wahren Schöpfergott. Mit der Zerstörung des Tem-
pels habe sich die Erkenntnis Gottes verwirrt, indem die prima causa angebetet
und mit dem Gott Israels identifiziert worden sei. 1500 Jahre sei das Judentum
auf Abwegen gewesen, habe man doch nicht recht gewusst, zu wem man bete.
Denn in der Nacht des Exils habe sich die Erkenntnis Gottes verdunkelt, und
nur einige Wegzeichen seien im Talmud und im kabbalistischen Buch Sohar
gegeben, deren wahrer Sinn in der Zeit des Exils freilich dunkel bleiben müs-
se. »Mit dem Erscheinen des Messias aber wird mit einem Schlag die alte
Weisheit offenbart.«112 Der Messias sei bei Cardoso der wahre Erkennende,
der unter einem höheren Gesetz der Erlösung antrete und handle. Sein Abfall
unter die Heiden stelle kein Vorbild dar, sondern der Messias sei gesandt, die
Funken des Urlichts, die der lurianisch-gnostischen Kosmologie zufolge unter
die Macht der Materie geraten sind, aus den Völkern zu befreien. Er könne

109 Ebd., S. 125.


110 Ebd., S. 124.
111 Ebd., S. 122.
112 Ebd., S. 134.
316 Teil II

seine Sendung nur erfüllen, indem er sich unter die Völker begebe und ihre
Handlungen ausführe.
Die Taten des Messias, sein offener Antinomismus, haben nun bei Cardoso
noch keinen Vorbildcharakter für die jüdische Gemeinde. Diesen Schluss ha-
ben erst später die Frankisten gezogen. Allerdings habe bereits die sabbatiani-
sche Theologie die Welt der Thora innerlich ausgehöhlt und den Weg für die
jüdische Aufklärung, die Haskala, geebnet. Deren theologische Vorgeschichte,
postuliert Scholem, liege im Sabbatianismus. Mit dieser starken und umstritte-
nen These zielt Scholem darauf ab, die jüdische Aufklärung als spezifisch
jüdische Aufklärung zu konzipieren. Statt die Haskala aus äußeren Gründen
herzuleiten, verschafft er ihr eine originär jüdische, religiöse Genealogie.
Scholems Ansatz, die jüdische Geschichte auf eigenen, inneren Gesetzmäßig-
keiten aufzubauen, findet hierin einen markanten Ausdruck. Die Verbindung,
die Scholem zwischen Sabbatianismus, Reform und Emanzipation herstellt,
folgt dabei nicht dem Narrativ des Fortschritts, sondern der »Krise«, die von
innen schließlich nach außen schlägt.113 Die »Erneuerung des Judentums«,114
die Scholem allein dem Zionismus zutraut,115 müsse sich auf die jüdische
Geschichte und die sie konstituierenden Kräfte besinnen. Diese sind aber für
Scholem Tradition und Apokalyptik.116 Dabei meint Scholem mit Tradition
vor allem die Tradition der jüdischen Mystik, der Kabbala (ʤʬʡʷ), die ja den
»Empfang« und solchermaßen die Tradition bedeutet. Die Apokalyptik wie-
derum sieht Scholem als Motor revolutionärer Erneuerung im Judentum, die
freilich, wie Scholem am Beispiel des Sabbatianismus zeigt, eine selbstzerstö-
rerische Seite hat.
Was seine eigene zionistische Programmatik anbetrifft, versucht Scholem,
die Apokalyptik nicht einfach zu negieren, sondern Apokalyptik und Tradition
so aufeinander zu beziehen, dass der Zionismus weder als säkularer, häretisch
apokalyptischer Bruch mit der jüdischen Tradition in toto noch als deren mes-
sianische, religiöse Erfüllung erscheint. Anders gesagt: Scholem opponiert

113 Vgl. ebd., S. 132: »Im Sabbatianismus ist jene Krise, welche die Reform nach
außen dokumentiert hat, schon 150 Jahre früher im innersten Herzen des Juden-
tums in Permanenz gesetzt worden.«
114 Ebd., S. 146.
115 Vgl. Scholem, »Um was geht der Streit« (wie Anm. 60), S. 16: »[W]enn wir aber
einmal etwa Deutschland betrachten, so war dort der Zionismus zweifellos die
Kraft, die das vertrocknete Judentum wieder belebte und vor dem geistigen und
historischen Untergang rettete.«
116 »Die Beziehung einer historischen auf eine ewige Gegenwart scheint mir nur auf
zwei Weisen realisierbar zu sei (die sich keineswegs widersprechen müssen): im
Medium der Apokalyptik oder der Tradition. Der ›biblische‹ Standort jenseits von
beiden ist eine Chimäre«, so Scholem in seiner Kritik an Julius Schoeps’ Kon-
struktion des jüdischen Glaubens aus einer die Geschichte überspringenden, unmit-
telbar »biblischen Theologie« (Scholem, Offener Brief an den Verfasser der
Schrift »Jüdischer Glaube in dieser Zeit« [wie Anm. 77], S. 244).
4 Mystische, apokalyptische und profane Figuren des Messianischen 317

sowohl gegen die Inanspruchnahme messianischer Konzepte und sprachlicher


Bilder, wie sie auf Seiten radikal säkularer Politiker, z. B. der Revisionisten, zu
finden sind, als auch gegen die messianische Sprache der religiösen Dogmati-
ker und deren Traum von einem Gottesstaat in Erez Israel.117 Scholem hat,
trotz seiner Ablehnung der als apokalyptisch gebrandmarkten Politik der Revi-
sionisten, in seinen historiographischen Schriften über den jüdischen Messia-
nismus seit Ende der 1920er Jahre, beginnend mit dem Aufsatz über Cardoso
von 1928, die Apokalyptik immer besonders gewürdigt. Historiographisch
setzt Scholem damit einen Gegenakzent zur »tiefe[n] Tendenz, dem Organis-
mus des Judentums den apokalyptischen Stachel zu nehmen«.118 Im Gegensatz
zum traditionellen rabbinischen Standpunkt würdigt Scholem das »anarchi-
sche[] Element« der Apokalyptik, das »für Lüftung im Haus des Judentums
gesorgt hat«.119 Nicht nur die konservative rabbinische Position, auch die jüdi-
sche liberale Geschichtsschreibung im 19. Jahrhundert hat die apokalyptische
Seite des Messianismus verdrängt, da sie nicht zum Narrativ von Aufklärung,
Fortschritt, Reform und Emanzipation passte. Als eine Reaktion auf die An-
forderungen der Emanzipation geriet mit der Apokalyptik auch der jüdisch
nationale Aspekt des Messianismus in den Hintergrund zugunsten universaler
Theorien.
Scholems Zionismus, verstanden als Antwort auf den Sabbatianismus, ist
nicht selbst sabbatianisch. Als eine apokalyptische Bewegung hat der Sabbati-
anismus eine befreiende und eine zerstörende Gewalt gehabt, wobei letztere in
Scholems Augen die stärkere war. Der Sabbatianismus führte zur Zersetzung
der jüdischen Grundbegriffe, zum Zerfall der »religiösen Substanz des Juden-
tums«.120 Schon allein weil der Sabbatianismus den Zerfall der Tradition be-
deutete, kann Scholems eigener Zionismus nicht unmittelbar an ihn anschlie-
ßen. Gleichwohl nennt Scholem aber auch ganz allgemein die zionistische
Hoffnung auf Erneuerung »apokalyptisch«121 und erkennt somit grundsätzlich
ein apokalyptisches Moment am Zionismus an, setzt dieser doch die apokalyp-
tische Logik des Bruchs voraus, insofern die Erneuerung des Judentums allein
in Palästina für möglich gehalten wird. Nach Scholems Dafürhalten soll nun
aber die apokalyptische Ideologie des Bruchs, die der Auswanderung aus Eu-

117 Letztere kritisiert Scholem u. a. in »Politik der Mystik« (wie Anm. 76).
118 Gershom Scholem: Zur Neuauflage des »Stern der Erlösung«. In: Ders.: Judaica 1.
Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1963 (Bibliothek Suhrkamp: 106), S. 226–234, hier: S.
232. Die Metapher vom »apokalyptischen Stachel« begegnet immer wieder in
Scholems Geschichtsschreibung des jüdischen Messianismus.
119 Ebd.
120 Scholem, Die Theologie des Sabbatianismus im Lichte Abraham Cardosos (wie
Anm. 31), S. 123.
121 Vgl. Scholem, Nach 15 Jahren: Selbstbetrug? (wie Anm. 74), S. 4.
318 Teil II

ropa nach Palästina entspricht, in Palästina durch »historische[] Besinnung«122


auf die Tradition überwunden und entschärft werden.123
Auch Biale kommt zu dem Schluss, dass Scholem eine Synthese versucht:
»apocalyptic energies moderated by tradition, a solution that parallels his theo-
logical anarchism in which tradition regulates the freedom of interpretati-
on.«124 Biale bezeichnet Scholems Zionismus als »neutralisierten Messianis-
mus«.125 Scholems Zionismus greife die messianischen Versprechungen der
vergangenen Jahrhunderte auf, sei aber darum bemüht, deren destruktives
apokalyptisches Potential zu neutralisieren, das die Tradition zerstören würde.
Hierzu passt, dass Scholem 1929 in einem oben bereits zitierten Artikel in der
Zeitung Davar schreibt, dass die »Erlösung des jüdischen Volkes«, die der
Zionismus erhoffen könne, keine messianische sei, insofern sie keine endgülti-
ge religiöse Erlösung darstelle. Gleichwohl bleibt für Scholem auch der Zio-
nismus mit der Hoffnung auf eine Form der Erlösung verbunden. So nimmt
Scholem immer wieder Anlauf, Politik und Religion, Zionismus und Messia-
nismus voneinander zu unterscheiden. Diese Unterscheidung wird aber immer
wieder, so auch in diesem Zeitungsartikel, kontaminiert. Wie oben bereits
ausgeführt wurde, liegt dies strukturell auch daran, dass Scholems Begriff von
Tradition als traditio selbst messianisch ist, unabhängig von allem überliefer-
ten Messianismus als traditum. Insofern Scholem einen messianischen Begriff
von Tradition als Überlieferungsform hat, wird die Tradition den Messianis-
mus stets erhalten, auch wenn sie sich bemüht, dessen apokalyptische Energien
zu neutralisieren. Scholems Zionismus neutralisiert den Messianismus nicht
vollständig, sondern versucht, dessen apokalyptische Energie durch die Tradi-
tion abzufangen, die Scholem weniger in Termini der rabbinischen Orthodoxie
als der Mystiker denkt.
Scholems Intention zielt auf eine Erneuerung des Judentums, die das Juden-
tum als »Volkstum«, als nationale Identität auf der Grundlage der religiösen
Tradition, konstituiert. Diese religiöse Tradition legt keine Identität dogma-
tisch fest und schließt auch den liberalen Standpunkt ein, insofern er sich aus
der Interpretation der Tradition ergibt. Sehr deutlich hat Scholem dies in seiner
Replik auf Hans Joachim Schoeps’ Jüdischer Glaube in dieser Zeit gemacht,
in der er gegen Schoeps’ Orientierung an der biblischen Offenbarung einwen-
det, dass die Offenbarung das »Absolute[], Bedeutung-Gebende[], aber selbst

122 Ebd., S. 3.
123 Vgl. hierzu auch Christoph Schmidt: Der häretische Imperativ. Überlegungen zur
theologischen Dialektik der Kulturwissenschaft in Deutschland. Tübingen: Nie-
meyer 2000 (Conditio Judaica; 31), S. 113–156.
124 Biale, Gershom Scholem (wie Anm. 86), S. 186.
125 Biale leiht den Begriff vom späteren Scholem, der über den Chassidismus als
neutralisierten Messianismus gesprochen hat, dies allerdings in kritischer Weise,
insofern der Chassidismus die messianische Energie vom nationalen auf den per-
sönlichen Bereich, die Heiligung des Alltags, gelenkt habe und Scholem quie-
tistisch erschien (vgl. ebd., S. 165–170 sowie S. 184–188).
4 Mystische, apokalyptische und profane Figuren des Messianischen 319

Bedeutungslose[], Deutbare[]« sei, »das erst in der kontinuierlichen Beziehung


auf die Zeit, in der Tradition sich auseinanderlegt.« Scholem fährt fort:
Ich bin nicht orthodox, aber das ist mir evident, daß ohne die Restitution eines sol-
chen ›fruchtbaren ȕȐșȠȢ der Erfahrung‹, das aus der Verwandlung des menschlichen
Wortes im Medium des göttlichen entsteht, nichts von Ihrem Vorhaben zu realisie-
ren ist. Gewiß, die Tat des Liberalismus – und man sollte keineswegs vergessen, daß
wir alle dort tief in Schulden stecken – hat ihre Bedeutung im Religiösen noch kei-
neswegs verloren, im Gegenteil: die Aufschmelzung der Tradition in einem neuen
lebendigen Gefühlszusammenhang bleibt für jede jüdische Zukunft zu leisten (um es
in liberaler Terminologie auszudrücken). Ja, mehr als das: gerade wenn die Juden
wieder Juden geworden sein werden und nicht mehr Zwittergeschöpfe eines Dop-
peldaseins im Selbstbetrug, wird der vom Liberalismus auf einer schiefen und fal-
schen Ebene unternommene, aber an sich legitime Versuch auf einer richtigen (mit
dem Blick ins Zentrum des eigenen Volkstums, nicht aus der Perspektive seiner
Auflösung) wiederholt werden müssen.126

Diese Argumentation kehrt wieder in Scholems Beschreibung seines religiösen


»transitional anarchism«, seines Übergang-Anarchismus, und erweist sich als
Grundlage seines Denkens jüdischer Identität. Scholem erkennt ein liberales
Erbe an, argumentiert aber, dass eine liberale Kultur pluraler Deutungsmög-
lichkeiten das jüdische »Volkstum« begründen müsse, statt das Judentum als
»Volkstum« aufzulösen. Darüber hinaus versucht Scholem, die liberale Kul-
tur pluraler Deutungsmöglichkeiten selbst noch als eine Figur der Mystik zu
verstehen. Er fügt sie in einen spezifischen religiösen Horizont ein: Im Zu-
sammenhang seiner unveröffentlichten Reflexionen erscheint sie als Über-
gangsphänomen, das die Lücke einer »noch unvollziehbaren Theokratie«127
füllen soll.
Neutralisiert der Zionismus, wie ihn Scholem sich denkt, die Apokalyptik,
die er selbst evoziert, so vollzieht sich diese Neutralisierung in Form einer
anarchischen, »religiös-mystischen« Erneuerung des Judentums.128 Die dialek-
tische Bewegung einer Mystik (Kabbala), die in Apokalyptik (Sabbatianismus)
umschlägt, um sich wieder in Mystik (Chassidismus) zu wandeln, hat Scholem
aber auch seiner Historiographie des jüdischen Messianismus zugrunde gelegt.
Der mystische Messianismus kann in Apokalyptik umschlagen, wie Scholem
am Beispiel der lurianischen Kabbala gezeigt hat. Die apokalyptische Energie
wird in Scholems geschichtsphilosophischer Konstruktion nie gänzlich neutra-
lisiert, sondern allenfalls dialektisch aufgehoben. Bei Scholem meint Dialektik
dabei eine Bewegung zwischen den Extremen, deren Spannung in keiner Syn-

126 Scholem, Offener Brief an den Verfasser der Schrift »Jüdischer Glaube in dieser
Zeit« (wie Anm. 77), S. 244.
127 Scholem, Der Zionismus wird seine Katastrophe überleben… (wie Anm. 97), S. 1.
128 Vgl. Scholems Brief an Walter Benjamin vom 01.08.1931, in dem er schreibt, dass
er »seine Intention des Zionismus […] als eine religiös-mystische schließlich mit
Zustimmung charakterisiert« hört (zitiert nach: Scholem, Walter Benjamin [wie
Anm. 17], S. 214).
320 Teil II

these vollständig aufgelöst wird und immer wieder akut werden kann. Auf
Scholems Konzeption eines anarchischen, »mystisch-religiösen« Zionismus
bezogen, heißt dies, dass er die Gefahr, in religiöse Gewalt – sei es in eine sich
zum Vollzug anschickende Theokratie, sei es in die häretische Liquidation der
Tradition – umzuschlagen, nicht gebannt hat, sondern sie virtuell enthält. Dies
ist der eine kritische Einwand, der gegen Scholem vorgebracht werden kann.
Der andere kritische Einwand bezieht sich auf Scholems Konstruktion jüdi-
scher Identität aus inneren Gesetzmäßigkeiten, die die eigene, spezifisch jüdi-
sche Geschichte ausmachen. Zu Recht betont Daniel Weidner, dass Scholems
methodische Vorentscheidung, jüdische Identität auf der eigenen Geschichte
und der ihr unterstellten immanenten Dialektik von Kontinuität und Revolte zu
begründen, keinesfalls selbstverständlich ist. Was Scholem bei seinem Ver-
such, den Zionismus als innerjüdische Bewegung zu interpretieren, beständig
ausblendet, ist »die Dialektik von Eigenem und Fremden, also des Verhältnis-
ses der jüdischen und der europäischen Kultur«.129 Hierin zeigt Scholem sich
letztlich tiefer von Bubers Drei Reden über das Judentum (1911) beeinflusst,
als er es später selbst wahrhaben wollte. Nicht nur sind Dynamik und Erstar-
rung die beiden Pole, zwischen denen jüdische Geschichte bei Buber verläuft;
in seinen Drei Reden ruft Buber darüber hinaus dazu auf, »wahrhaft von innen
heraus Jude zu sein« (DR 27) und zwischen der Umwelt und der Innenwelt
eine Entscheidung zu treffen (vgl. Kap. II.2.2). Auch wenn sich Scholem von
Bubers Vorstellung einer »inneren Wirklichkeit« (DR 13) des Judentums, die
sich im subjektiven Erleben manifestiere, abwendet, so bleibt er doch Buber
insofern verhaftet, als er das Judentum aus inneren – freilich historischen, der
wissenschaftlichen Analyse zugänglichen – Kräften konstruiert. Bubers Kon-
zeption jüdischer Identität ändert sich nach dem Ersten Weltkrieg jedoch, und
mit ihr seine Konzeption des jüdischen Messianismus (vgl. Kap. II.2.3). Nach
dem Ersten Weltkrieg bestimmt sich bei Buber das Jüdisch-Nationale in Be-
ziehung zu einer universalen Aufgabe, der »Bildung einer neuen menschlichen
Gemeinschaft«.130 Bei Buber wird daher, wie Paul Mendes-Flohr zutreffend
bemerkt, »die arabische Frage für das Judentum die Probe aufs Exempel«.131
Bubers Mitgliedschaft im Brith Schalom steht im Einklang mit seiner nach
dem Ersten Weltkrieg vertretenen Konzeption des jüdischen Messianismus,
anders als die Mitgliedschaft Scholems, der sie im Rückblick auch nur als
»symbol of conduct«132 bezeichnet. Die Beziehung zum Anderen und das
Verhältnis von Partikularem und Universalem werden nach dem Ersten Welt-
krieg Themen der Philosophie Bubers, nicht der Philosophie Scholems. Bei
129 Weidner, Gershom Scholem (wie Anm. 19), S. 53.
130 Martin Buber: Jüdisches Nationalheim und nationale Politik in Palästina. In: Ders.:
Ein Land und zwei Völker. Zur jüdisch-arabischen Frage. Hg. von Paul Mendes-
Flohr. Zürich: Exlibris-Verlag 1985, S. 111–126, hier: S. 120.
131 Mendes-Flohr (Hg.), Martin Buber: Ein Land und zwei Völker (wie Anm. 70),
S. 112.
132 Scholem, On Jews and Judaism in Crisis (wie Anm. 82), S. 43.
4 Mystische, apokalyptische und profane Figuren des Messianischen 321

Scholem hingegen nimmt »der jüdische Mystizismus sozusagen den Platz des
Universalismus ein«.133 Dementsprechend bleibt der Messianismus – bei allen
Risiken, die er birgt – für Scholem ein jüdisches Erbe, dem er keine universale
Aufgabe zuschreibt.

133 George L. Mosse: Jüdische Intellektuelle in Deutschland. Zwischen Religion und


Nationalismus. Übers. von Christiane Spelsberg. Frankfurt a. M., New York:
Campus 1992, S. 65.
5 Sub specie aeternitatis: Politik und Religion bei
Franz Rosenzweig

Im dritten Teil des Sterns der Erlösung, dem das Motto »in tyrannos« voran-
steht, analysiert Franz Rosenzweig Politik und Religion als soziale Systeme,1
die die flüchtige, vergängliche Zeit ordnen, indem sie sie unter den Gesichts-
punkt der Ewigkeit stellen. Dies ist der Ausgangspunkt für Rosenzweigs Ana-
lyse »messianische[r] Politik«, die auf eine »Theorie des Krieges« hinaus-
läuft.2 Nation und Staat erscheinen bei Rosenzweig als die beiden Gestalten
einer »messianischen Politik«, die versuche, den »Völkern in der Zeit Ewigkeit
zu geben« (SdE 369) und unvermeidlich mit Gewalt einhergehe. Durch das
Christentum seien »Erwähltheitsgedanken über den einzelnen Völkern aufge-
gangen, und mit ihnen notwendig auch ein Anspruch auf Ewigkeit« (SdE 366).
Der Anspruch auf Erwähltheit und Ewigkeit sei den Völkern der Welt jedoch
nicht gewiss, er müsse erst historisch, »in der Zeit«, erwiesen werden. »[D]as
Bewußtsein der Einzelnen entscheidet darüber nichts; der Krieg allein […]
entscheidet« (SdE 367f.). Rosenzweig erklärt den Krieg so zur existentiellen
Bedingung »messianischer Politik«.3
Als Voraussetzung der »messianischen Politik« stellt Rosenzweig die Säku-
larisierung des jüdischen Erwähltheitsgedanken in der »christlichen Weltzeit«

1 Vgl. Franz Rosenzweig: Das neue Denken. Einige nachträgliche Bemerkungen zum
»Stern der Erlösung«. In: Ders.: Zweistromland. Kleinere Schriften zur Religion und
Philosophie. Berlin, Wien: Philo 2001, S. 210–234, hier: S. 228: »Auf soziologi-
scher Grundlage wird also hier Judentum und Christentum neben- und gegeneinan-
dergestellt.« Dazu schreibt Mosès: »In der Tat verhält es sich so, daß Rosenzweig
seine vergleichende Beschreibung dieser beiden Religionen nicht an ihren Glau-
bensüberzeugungen, ihrer Theologie und ihren Dogmen orientiert, sondern an ihrem
Gemeindeleben, das heißt an den sozialen Formen ihres religiösen Lebens. Der Sinn
von Judentum und Christentum offenbart sich ihm anhand ihrer Riten und Feste, an-
hand ihres liturgischen Kalenders« (Stéphane Mosès: Politik und Religion. Zur Ak-
tualität Franz Rosenzweigs. In: Wolfdietrich Schmied-Kowarzik [Hg.]: Der Philo-
soph Franz Rosenzweig. Bd 2. Freiburg, München: Alber 1988, S. 855–875, hier:
S. 859).
2 Rosenzweig schreibt selbst über das erste Buch des dritten Bandes des Sterns der
Erlösung, dass es mit der Darstellung einer »messianischen Politik, also einer Theo-
rie des Krieges, schließt« (Rosenzweig, Das neue Denken [wie Anm. 1], S. 229).
3 Vgl. Christoph Miething: Franz Rosenzweigs »Messianische Politik«. In: Ders.
(Hg.): Politik und Religion im Judentum. Tübingen: Niemeyer 1999 (Romania Juda-
ica; 4), S. 61–78, besonders S. 66.
324 Teil II

(SdE 367) dar, die diesen zu einer historisch-politischen Idee gemacht habe.
Hingegen habe die Erwählung beim Judentum nach dem Verlust der Staatlich-
keit nur mehr religiöse Bedeutung, so Rosenzweigs These. Im religiösen Fest-
zyklus, im liturgischen Jahr, lebe das jüdische Volk bereits in der Ewigkeit,
deren es sich historisch nicht mehr vergewissern müsse. Anders die Völker der
Welt. Solange sich diese noch, wie in der Antike der Fall, für sterblich gehal-
ten hätten, konnten sich, wie Cicero gesagt hatte, »salus« und »fides« eines
Volkes, seine Selbsterhaltung und das Einlösen eines verpfändeten Treuewor-
tes, unter Umständen widersprechen – ein Volk, das in den Krieg zog, über-
nahm die Gefahr des eigenen Todes, die Gefahr seines Untergangs: »Es ist
schließlich kein Grund zu nennen, warum Sagunt und sein Volk nicht von der
Erde verschwinden soll« (SdE 366), zitiert Rosenzweig Cicero. Augustinus
hatte diesen Widerspruch zwischen dem eigenen Heil und dem einem Höheren
getreuen Glauben für die Kirche nicht anerkannt, denn für sie seien »salus«
und »fides« eins (vgl. SdE 366). Dieser Gedanke habe sich auf die weltliche
Politik übertragen und die Idee des Krieges als selbst »kultische[r] Handlung«
befördert. Denn wenn ein Volk oder ein Staat einmal begännen, ihr eigenes
Sein unter höchstem Gesichtspunkt zu sehen, würde auch das Kriegführen, so
Rosenzweig, ein anderes Ansehen bekommen. Denn das Leben des Volkes,
das aufs Spiel gesetzt werde, wäre nun etwas,
das ernsthaft gar nicht aufs Spiel gesetzt werden darf. Woran soll denn die Welt ge-
nesen, wenn dieses Volkes Wesen aus ihr getilgt wird? Und je ernsthafter ein Volk
so die Einigung von ›Salus‹ und ›Fides‹, eigenem Dasein und Weltsinn, in sich voll-
zogen hat, um so rätselhafter wird ihm die Möglichkeit, die ihm der Krieg er-
schließt: die Möglichkeit des Untergangs (SdE 367).

Der Krieg als »religiöse Handlung«, als »Glaubenskrieg«, habe sich erst in der
»christlichen Weltzeit« etablieren können – nachdem das jüdische Volk den
»Glaubenskrieg« entdeckt habe. Die Ansicht des Krieges als »um Gottes wil-
len notwendiger Handlung« habe den »Glaubenskrieg gegen die sieben Völker
Kanaans« charakterisiert, »durch den sich das Volk Gottes den ihm notwendi-
gen Lebensraum« eroberte (vgl. SdE 367). Das jüdische Volk habe jedoch
seinen Glaubenskrieg in mythischer Vergangenheit hinter sich liegen. Ihm
seien alle Kriege nur noch »rein politische Kriege« (SdE 368).
Rosenzweigs Unterscheidung zwischen »Glaubenskrieg« und »politischem
Krieg« geht auf Dtn 20 (»Kriegsgesetze«) zurück, wo zwischen den Kriegen
gegen Städte, die sehr fern liegen, und gegen Städte, die zu den sieben Völkern
Kanaans gehören, unterschieden wird. »Politisch« nennt Rosenzweig den ers-
ten Kriegsfall, da hier ein Kriegsrecht formuliert wird, das den ›Schutz der
Zivilpersonen‹ fordert, nämlich Schonung für Frauen, Kinder und Vieh. Diese
sollen zwar als »Beute« behandelt, aber nicht getötet werden. »Jedoch von den
Städten dieser Völker, die der Ewige dein Gott dir zum Besitz gibt, sollst du
keine Seele leben lassen. Sondern bannen musst du sie, den Chitti und Emori,
5 ›Sub specie aeternitatis‹: Politik und Religion bei Franz Rosenzweig 325

den Kenaani und den Perisi, den Chiwi und Jebusi, wie dir geboten der Ewige
dein Gott« (Dtn 20,16f.).
Die Unterscheidung zwischen Glaubenskrieg und politischem Krieg verliere
ihre Distinktionskraft für die christlichen Völker, so Rosenzweig, da das Chris-
tentum auf universelle Ausbreitung ausgerichtet sei:
Dem keine Grenzen duldenden Geist des Christentums gemäß gibt es keine ›sehr
fernen‹ Völker. […] Gerade weil sie [die christlichen Völker; Anm. E. D.] nicht
wirklich Gottesvölker sind, sondern erst auf dem Wege, es zu werden, können sie
jene scharfe Grenze nicht ziehen; sie können gar nicht wissen, wie weit ein Krieg
Glaubenskrieg ist, wie weit bloß weltlicher Krieg. Aber auf jeden Fall wissen sie,
daß irgendwie Gottes Wille sich in den kriegerischen Geschicken […] [des] Staates
verwirklicht. Irgendwie – das wie bleibt rätselhaft; das Volk muß mit dem Gedanken
des Untergangs vertraut gemacht werden; ob es als Volk zu einem Stein im Bau des
Reichs gebraucht werden wird, – […] der Krieg allein […] entscheidet (SdE 367f.).

Auch wenn Rosenzweig die existentielle Interpretation des Krieges, der das
Volk mit dem Gedanken des Untergangs« vertraut mache und entscheide, ob
ein Volk »Gottesvolk« sei oder untergehe, an dieser Stelle pauschal der
»christlichen Weltzeit« zuschreibt, so lässt sich in ihr doch ein historisches
Phänomen wiedererkennen, das eng mit der Entstehung der modernen Natio-
nalstaaten zusammenhängt: das Konzept des ›totalen Krieges‹.4 Dessen Ur-
sprünge sehen Historiker in den französischen Revolutionskriegen, der ideell
die gesamte Bevölkerung erfassenden »levée en masse«. Bezüglich des Ersten
Weltkrieges kann man, was die deutsche Seite betrifft, ab 1916 von der Aus-
weitung des Krieges zum »totalen Krieg« sprechen, da Deutschland faktisch
unter der Militärregierung der Obersten Heeresleitung steht.5 Der Gedanke
»der notwendigen Ewigkeit des Volkes«, die sich im Krieg zuallererst als
solche zu erweisen hat, ist für Rosenzweig die Keimzelle des ›totalen Krieges‹.
Dass er hierbei den Ersten Weltkrieg und speziell die deutsche Seite im Auge
hat, verrät das Vokabular: »Woran soll denn die Welt genesen, wenn dieses
Volkes Wesen aus ihr getilgt wird?« (SdE 367) – in der Frage klingt das im
Kaiserreich populäre Geibel-Zitat »Und es mag am deutschen Wesen / Einmal
noch die Welt genesen« an.
Das Konzept des »totalen Krieges« auf der Grundlage einer existentiellen
Interpretation des Krieges entsteht erst mit dem »messianischen Nationalis-

4 Vgl. zur Geschichte des Begriffs »totaler Krieg«: Roger Chickering: Total War. The
Use and Abuse of a Concept. In: Manfred F. Boemeke, Roger Chickering and Stig
Förster (Eds): Anticipating Total War. The German and American Experiences,
1871–1914. Cambridge: Cambridge Univ. Press 1999 (Publications of the German
Historical Institute), S. 13–28.
5 Vgl. Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1914–1948. München:
Beck 2003, besonders S. 112–147 (»Die Dritte Oberste Heeresleitung und der Totale
Krieg«).
326 Teil II

mus«6 der Neuzeit, so gibt Rosenzweig zu bedenken. Dieser messianische


Nationalismus wird wiederum in dem Moment möglich, in dem die vollkom-
mene Säkularisierung des Christentums erreicht sei und das Politische selber
einen religiösen Sinn annehme.7 Mit den spekulativen Systemen des deutschen
Idealismus geht Rosenzweig davon aus, dass das Christentum das eigentliche
Prinzip der Kultur des Abendlandes darstellt. Anders gesagt: Geschichte
kommt bei Rosenzweig einer spekulativen Geschichte des Christentums
gleich. So übernimmt Rosenzweig etwa das idealistische Schema einer Abfol-
ge von »Kirchen«, mit dem Philosophen des deutschen Idealismus (Fichte,
Schelling) operierten.8 In der dritten, der »johanneischen« Kirche sollen Ge-
sellschaft und Individuum miteinander versöhnt sein, nachdem die erste, die
»petrinische« Kirche auf Durchsetzung institutioneller Hierarchie drang und
die Individuen einem äußerlichen Zwang unterwarf (Mittelalter, Heiliges
Reich)9 und die zweite, die »paulinische« Kirche die unerreichte »Seele« des
Individuums adressierte, es aber faktisch den säkularen Mächten auslieferte
(Reformation) (vgl. SdE 312ff.).
Rosenzweigs Darstellung des »johanneischen Zeitalters«, das im Idealismus
für ein ›freies‹, undogmatisches Christentum und ein mit der Französischen
Revolution 1789 eingeläutetes progressives Zeitalter steht, ist ambivalent.
Denn den Anbruch des »johanneischen Zeitalters« schließt Rosenzweig mit
der Entstehung der Nationalstaaten, die die alten Machtstaaten ersetzten, zu-
sammen.10 Im Stern spricht Rosenzweig diesen zwar auch einen demokratisie-
renden Impuls zu, hebt aber mehr noch deren destruktives Potential hervor. Als
Schlüssel für die Analyse des messianischen Nationalismus dient Rosenzweig
Hegels Lehre des »Volksgeistes«. Über die Triftigkeit von Rosenzweigs He-
gel-Interpretation kann hier nicht geurteilt werden. Wichtig ist in diesem Zu-
sammenhang allein, dass Rosenzweig Hegels »Volksgeist«-Theorie zu Zwe-
cken seiner Analyse des messianischen Nationalismus benutzt. Wir folgen
Mosès, um zu skizzieren, wie sich Hegels Lehre in Rosenzweigs Augen dar-
stellt:
6 Stéphane Mosès: Der Engel der Geschichte. Franz Rosenzweig, Walter Benjamin,
Gershom Scholem. Frankfurt a. M.: Jüdischer Verlag 1994, S. 62.
7 Vgl. Mosès, Politik und Religion (wie Anm. 1), S. 862.
8 Vgl. Alexander Altmann: Rosenzweig on History. In: Paul Mendes-Flohr (Ed.): The
Philosophy of Franz Rosenzweig. Hanover (NH), London: Univ. Press of New Eng-
land 1988 (The Tauber Institute for the Study of European Jewry series; 8), S. 124–
137, hier besonders S. 125–128.
9 Vgl. SdE 311: »So schafft die petrinische Kirche einen sichtbaren Leib, sich selber
und den Menschen, die ihre Glieder sind […] doch weiterhin auch der Welt draußen,
die sie stufenweise durchgestaltet und durchwaltet, in der Einheit des Kaisertums
über den Königtümern der Nationen; im Bau der Stände und Berufe über den Ein-
zelnen«.
10 Vgl. ebd., S. 315: »Es gibt nun erst christliche Völker, während es in der paulini-
schen Epoche weltliche Obrigkeiten, in der petrinischen die dem heiligen Reich un-
tergetanen Nationen gab.«
5 ›Sub specie aeternitatis‹: Politik und Religion bei Franz Rosenzweig 327

Für Hegel verkörpert sich der Weltgeist abwechselnd in den verschiedenen Völkern;
daher wird der ›Volksgeist‹ jedes einzelnen Volkes bestimmt als die spezielle Form,
die der Weltgeist jeweils angenommen hat. Alle ›historischen Völker‹ wissen um
diese ihnen zugefallene Aufgabe; sobald ihr Schicksal sie ruft, sind sie sich ihrer
Rolle als bevorzugte Werkzeuge der Geschichte bewußt und wissen, daß sich durch
ihren ›Volksgeist‹ der Weltgeist vollendet. […] In seinem Briefwechsel von 1916–
1917 hatte Rosenzweig den Ursprung dieses messianischen Nationalismus im Geist
der Französischen Revolution gesehen. In seiner Darstellung des ›herrschenden‹
Volkes war Hegel vom Frankreich Napoleons beeinflußt. Fichte wiederum hatte für
Deutschland die Rolle eines neuen ›auserwählten Volkes‹ in Anspruch genommen.
[…] [I]m Jahre 1914 hatten sämtliche europäische Großmächte bei dieser oder jener
Gelegenheit Anspruch auf die Rolle des Herrenvolkes erhoben.11

Während des Ersten Weltkrieges hat Rosenzweig in gewisser Weise noch


selbst die Denkweise eines messianischen Nationalismus bedient.12 Denn Ro-
senzweig gibt während des Krieges noch der idealistischen Hoffnung Aus-
druck, der Weltkrieg möge, in einer dialektischen Wendung, die Nationalstaat-
lichkeit in einem »Weltstaat«, einer, wie es bei ihm heißt, neuen »Ökume-
ne«,13 transzendieren. Dafür müssten sich die Kriegsparteien des »weltge-
schichtlichen Schicksal[s]14 des Krieges bewusst werden, was für Deutschland
– das in Rosenzweigs Augen »blind«15 in den Krieg hineingeraten sei – bedeu-
te, seine »geistig-politischen Aufgaben«16 anzunehmen, die ihm aus seiner
»mitteleuropäischen Bestimmung«17 erwüchsen: Statt einer Politik der imperi-
alistischen Annexion entlang der Nord-West-Achse solle es eine der politi-
11 Mosès, Der Engel der Geschichte (wie Anm. 6), S. 62f. Mosès zeigt, dass sich Ro-
senzweigs Darstellung der Politik der Völker im Stern der Erlösung auf die Paragra-
phen von Hegels Philosophie des Rechts stützt, in denen es um das Wesen des Staa-
tes (Paragraphen 257–258), um den Krieg (Paragraphen 324–340) und um die Welt-
geschichte (Paragraphen 341–360) geht. Mit diesen Abschnitten hat sich Rosen-
zweig in seiner Dissertation Hegel und der Staat auseinandergesetzt, die als Schar-
nier zwischen der Philosophie des Rechts und dem Stern der Erlösung zu betrachten
sei, in dessen Staatsanalyse Hegel nicht explizit genannt wird (vgl. Mosès, Der En-
gel der Geschichte [wie Anm. 6], S. 53–58).
12 Vgl. zu Rosenzweigs Aufsätzen während des Ersten Weltkrieges grundsätzlich Paul
Mendes-Flohr: Rosenzweig and the Crisis of Historicism. In: Ders. (Ed.): The Phi-
losophy of Franz Rosenzweig. Hanover (NH), London: Univ. Press of New England
1988 (The Tauber Institute for the study of European Jewry series; 8), S. 138–161.
13 Franz Rosenzweig: Globus. Studien zur weltgeschichtlichen Raumlehre. In: Ders.:
Der Mensch und sein Werk. Gesammelte Schriften. Bd 3. Hg. von Annemarie May-
er und Reinhold Mayer. Dordrecht, Boston, Lancaster: Martinus Nijhoff 1984,
S. 313–368, hier: S. 314. Die zu Rosenzweigs Lebzeiten unveröffentlichte Studie
besteht aus zwei Teilen, »Ökumene. Weltstaat und Staatenwelt« sowie »Thalatta.
Seeherrschaft und Meeresfreiheit«.
14 Franz Rosenzweig: Realpolitik. In: Ders., Der Mensch und sein Werk (wie Anm.
13), Bd 3, S. 261–265, hier: S. 265.
15 Ebd., S. 264.
16 Ebd., S. 265.
17 Ebd.
328 Teil II

schen und kulturellen Kooperation entlang der Süd-Ost-Achse anstreben. So


könne es einen Beitrag zur weltpolitischen Einigung leisten.18 In diesem Sinne
bezieht sich Rosenzweig in einer Tagebucheintragung aus dem Jahr 1916 auf
den Krieg als ein dem johanneischen Zeitalter zugehöriges Ereignis, insofern
das johanneische Zeitalter eben nicht im Prinzip der Nationalstaatlichkeit kul-
miniere. Dieses trage vielmehr das dialektische Moment seiner eigenen Über-
windung in sich.19
Rosenzweig gibt mit dieser Idee nicht nur der Nationalstaatlichkeit und dem
Krieg der Nationalstaaten einen dialektisch konstruierten Sinn, sondern bewegt
sich im Horizont einer Denkweise, die bis zum Zweiten Weltkrieg virulent
bleiben wird: Deutschland sei durch seine »mitteleuropäische Bestimmung« zu
welthistorischen Aufgaben prädestiniert, die freilich bei Rosenzweig im Diens-
te eines endlich zu errichtenden »Weltstaates« gedacht sind und nicht im Sinne
einer imperialistischen Politik. Auch wenn die Ziele sehr unterschiedlich sind,
argumentiert Rosenzweig während des Krieges noch in prekärer Nähe zur
Rhetorik eines messianischen Nationalismus, die den nationalen Diskurs zwi-
schen den Weltkriegen prägte und die Rosenzweig später selbst luzide analy-
sieren wird.20
Rosenzweigs Analyse der religiösen Struktur des modernen Nationalismus
ist durchaus anschlussfähig an die zeitgenössische Nationalismus-Forschung.
Der Nationalismus lässt sich als spezifisches Konstrukt verstehen, das die
europäische Moderne zur »Schaffung, Mobilisierung und Integration eines
größeren Solidarverbandes (Nation genannt), vor allem aber [zu] der Legitima-
tion neuzeitlich politischer Herrschaft«21 erfunden hat. Auch Hans-Ulrich
Wehler betont dabei den »religionsgleichen Charakter des Nationalismus«.22
Der Rückgriff besonders auf folgende vier Elemente der jüdisch-christlichen
Tradition sei entscheidend im Bildungsprozess der modernen europäischen

18 Vgl. Rosenzweig, Franz: Nordwest und Südost. In: Ders., Der Mensch und sein
Werk (wie Anm. 13), Bd 3, S. 301–308.
19 Vgl. Rosenzweigs Tagebucheintrag vom 14.01.1916. In: Ders.: Der Mensch und
sein Werk. Gesammelte Schriften. Bd I/1 (Briefe und Tagebücher). Hg. von Rachel
Rosenzweig und Edith Rosenzweig-Scheinmann. Den Haag: Nijhoff 1979, S. 183.
20 Auch Derrida hebt hervor, dass der nationale Diskurs zwischen den Weltkriegen
Nationalismus und Universalismus miteinander verschränkt habe, insofern die
»Selbstbehauptung einer Identität stets den Anspruch [erhebt], auf den Anruf oder
die Anweisung des Universellen zu antworten. […] Keine kulturelle Identität stellt
sich als der undurchlässige Leib oder Körper eines Idioms dar, im Gegenteil: jede
erscheint immer als die unersetzbare Einschreibung des Universellen in das Singulä-
re, als das einzigartige Zeugnis des menschlichen Wesens und des Eigentlichen des
Menschen« (Jacques Derrida: Das andere Kap. In: Ders.: Das andere Kap. Die ver-
tagte Demokratie. Zwei Essays zu Europa. Übers. von Alexander García Düttmann.
Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1994, S. 9–80, hier: S. 54).
21 Hans-Ulrich Wehler: Nationalismus. Geschichte, Formen, Folgen. 3. Aufl., Mün-
chen: Beck 2007 (Beck’sche Reihe: C.-H.-Beck-Wissen; 2169), S. 13.
22 Ebd., S. 33.
5 ›Sub specie aeternitatis‹: Politik und Religion bei Franz Rosenzweig 329

Nationen gewesen: der Rückgriff auf die Vorstellung vom »auserwählten


Volk«; auf die Idee eines »gelobten Landes« als providentieller Heimstätte;
auf den Messianismus im Sinne der historischen Mission einer Nation, also
eines nationalen Sendungsbewusstseins; und schließlich auf die Brüderlich-
keitsidee des paulinischen Christentums, die zur Vorstellung von einer brüder-
lich-egalitären Nationalgenossenschaft umgedeutet worden sei, welche durch
eine Dialektik von egalitärem Denken bei gleichzeitiger Exklusion des Frem-
den charakterisiert sei.23
Die Nation ist eine der beiden politischen Ewigkeitshypostasen, die Rosen-
zweig im Stern analysiert und als gewaltförmig beschreibt; die andere ist der
Staat, der »Versuch, den Völkern in der Zeit Ewigkeit zu geben« (ebd.,
S. 369). Ist die Gewalt nach außen, der Krieg, existentielle Bedingung der
Nation, so kennzeichnet die Gewalt nach innen den Staat als Rechtsstaat. Dem
»dauernden Wechsel des Lebens« versuche der Staat durch das Gesetz beizu-
kommen. Aber
Recht und Leben, Dauerndes und Wechselndes, scheinen auseinanderzugehen. Da
enthüllt der Staat sein wahres Gesicht. Das Recht war nur sein erstes Wort. Es kann
sich nicht gegen den Wechsel des Lebens behaupten. Nun aber spricht er sein zwei-
tes Wort: das Wort der Gewalt (ebd., S. 369f.).

Den Widerspruch zwischen »Erhaltung und Erneuerung«, zwischen »Vergan-


genheit und Zukunft« könne der Staat nur mittels Gewalt lösen. Denn Gewalt
»ist keine Leugnerin des Rechts, […] sondern im Gegenteil seine Begrün-
dung« (ebd., 370 [Hervorhebung E. D.]). Dass kein höheres Prinzip der Legi-
timität, sondern die Gewalt das Recht begründet, ist ein altes Thema der
Rechtsphilosophie, man findet es bei Montaigne und bei Pascal, die von Derri-
da wiederum mit Walter Benjamins Analyse des Rechts in »Zur Kritik der
Gewalt« (1921) in Verbindung gebracht worden sind. Der Ursprung der Auto-
rität und die Setzung des Gesetzes stellen in sich selbst eine grund-lose Ge-
walttat dar, insofern sie sich auf nichts anderes stützen können als auf sich
selbst. »Das bedeutet nicht, dass sie an sich ungerecht sind (im Sinne von
›unrechtmäßig‹). Im gründenden Augenblick […] sind sie weder recht- noch
unrechtmäßig.«24 Derrida beschreibt die Gewalt der Rechtsstiftung als eine
»performative[] Kraft oder Macht«,25 für die es keinen rechtfertigenden Dis-
kurs geben könne, der die Rolle einer Metasprache übernähme; diese Grenze
des Diskurses nennt Derrida mit Montaigne und Pascal den »mystischen
Grund der Autorität«.26

23 Vgl. ebd., S. 27–35.


24 Jacques Derrida: Gesetzeskraft. Der »mystische Grund« der Autorität. Übers. von
Alexander García Düttmann. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991, S. 29.
25 Ebd., S. 28.
26 Ebd. Derrida führt aus, dass »selbst wenn das Gelingen performativer Akte, die das
Recht begründen (solcher Akte zum Beispiel – dies ist jedoch mehr als nur ein Bei-
spiel –, die den Grund für den Staat als Rechtsgaranten legen), vorgängige Bedin-
330 Teil II

Auch Rosenzweig meint, man gehe fehl, verstünde man Gewalt als Leug-
nung des Rechts. Vielmehr sei »der Sinn aller Gewalt, daß sie neues Recht
gründe« (ebd., 370). Die absolute Ursprünglichkeit der grund-losen Grün-
dungsgewalt wird nun, so argumentiert Derrida, durch die Iterabilität des Ge-
setzes in Frage gestellt. Denn es gehöre zur Struktur der (be)gründenden Ge-
walt, dass sie eine Wiederholung ihrer selbst erfordere, dass sie jenes
(be)gründe, was erhalten werden müsse: »Die Setzung ist bereits Iterabilität,
Ruf nach einer selbsterhaltenden Wiederholung.«27 Genau diesen Zusammen-
hang von Rechtssetzung und Rechtserhaltung hebt nun auch Rosenzweig her-
vor:
[E]s steckt ein Widerspruch in dem Gedanken eines neuen Rechts. Recht ist seinem
Wesen nach altes Recht. Und nun zeigt sichs, was die Gewalt ist: die Erneuerung
des alten Rechts. Das Recht wird in der gewaltsamen Tat ständig zum neuen Recht.
Und der Staat ist also gleichsehr rechtlich und gewaltsam, Hort des alten und Quelle
des neuen Rechts […]. [I]ndem er den Augenblick […] herrisch ergreift und nach
seinem Willen und Vermögen formt […][,] bringt der Staat den Widerspruch von
Erhaltung und Erneuerung, altem und neuen Recht, gewaltsam zum Austrag (SdE
370).

Wenn das Recht seinem Wesen nach altes Recht ist, dann lässt sich dies ent-
weder, mit Derrida, so verstehen, dass das neue Recht immer schon altes Recht
ist, weil es auf Wiederholbarkeit angelegt ist;28 oder man kann dies so interpre-
tieren, dass sich das Recht, zu Zwecken seiner Legitimation, als alt-neues
Recht ausgibt, also, wieder mit Derrida, Zuflucht zu einer »legitime[n] Fikti-
on«29 sucht, um seiner Grund-losigkeit beizukommem und sich durch die fin-
gierte »Kraft des Alten« (SdE 371) zu legitimieren. Wenn für Derrida die
Iterabilität des Gesetzes die Möglichkeit einer nicht-identischen Wiederholung
birgt – die Möglichkeit einer Einzigartigkeit, deren Bedingung die Wiederho-
lung ist –, so lässt in Rosenzweigs Darstellung der Staat keinen Raum für eine
solche singuläre Wiederholung. Denn das neue Recht, das immer schon das
alte Recht ist, bannt den einzelnen Fall und den je neuen Augenblick, indem
das Neue gewaltsam mit dem Alten verschmolzen wird (vgl. SdE 371). Eric
Santner schreibt hierzu: »In existential terms, sovereignity, is for Rosenzweig,

gungen und Übereinkünfte voraussetzen (etwa im nationalen oder internationalen


Raum), […] die nämliche ›mystische‹ Grenze sich dort wieder bemerkbar machen
[wird], wo diese Bedingungen, Regeln, Konventionen und deren vorherrschende
Deutung ihren Ursprung haben« (ebd., S. 29).
27 Ebd., S. 83.
28 Santner liest Rosenzweig ebenfalls mit Derrida, verbindet aber die Struktur der
Derrida’schen Iterabilität mit dem Freud’schen Wiederholungszwang und macht auf
Nietzsches Genealogie der Moral als wichtigen Referenztext für Rosenzweigs
Staats- und Rechtsanalyse aufmerksam (vgl. Eric Santner: On the Psychotheology of
Everyday Life. Reflections on Freud and Rosenzweig. Chicago: Univ. of Chicago
Press 2001, besonders S. 61).
29 Derrida, Gesetzeskraft (wie Anm. 24), S. 25.
5 ›Sub specie aeternitatis‹: Politik und Religion bei Franz Rosenzweig 331

a juridico-political ›solution‹ to the problem of positing lasting meaning within


and against the forward rush of time.«30
Nation und Staat analysiert Rosenzweig als die beiden politischen Ewig-
keitshypostasen, die nicht ohne Gewalt zu denken seien.31 Rosenzweigs »spe-
kulative Geste« besteht darin, so Mosès, dass er mit Hegel gegen Hegel argu-
mentiert, indem er die Hegelsche Geschichts- und Staatsauffassung durch die
Konfrontation mit der historischen Wirklichkeit sich selbst verurteilen lasse.32
Repräsentiere bei Hegel die Zivilisation Europas die Vollendung der Weltge-
schichte, so erscheint in der historischen Wirklichkeit »die wahre Gestalt
durchaus nicht als ›die wahrhafte Versöhnung…, welche den Staat zum Bilde
der Wirklichkeit der Vernunft entfaltet‹ [Zitat aus Hegels Philosophie des
Rechts; Anm. E. D.]. […] Wenn Hegels Endstufe der Geschichte in einer Ka-
tastrophe gipfelt, dann hat sich – hegelsch gesprochen – die Weltgeschichte
selbst verdammt.«33 Was hält nun Rosenzweig der Hegel’schen Universalge-
schichte, die er in seiner Interpretation sich selbst verurteilen lässt, entgegen,
und wieweit bleibt er in seiner Abwendung noch Hegel verhaftet? Das »singu-
lare Individuum« und die meta-gesetzliche, auf den je singulären Augenblick
ausgerichtete Ethik, die Rosenzweig im zweiten Teil des Sterns der Erlösung
zu denken gibt, ließen sich als Alternative zur Politik der Völker stark machen.
Die meta-gesetzliche Ethik könnte zu einer Figur des Jenseits des Staates im
Staat, des Jenseits des Rechts im Recht, das immanent transzendiert wird,
führen; zu einer Figur also, die wir bei Buber finden können (vgl. Kap.II.2.3).
Man kann Rosenzweig so lesen,34 sollte sich aber bewusst sein, dass man auf
30 Santner, On the Psychotheology of Everyday Life (wie Anm. 28), S. 60.
31 Vgl. SdE 371: »So ist Krieg und Revolution die einzige Wirklichkeit, die der Staat
kennt, und in einem Augenblick, wo weder das eine noch das andere statthätte – und
sei es auch nur in Gestalt eines Gedankens an Krieg und Revolution –, wäre er nicht
mehr Staat.«
32 Vgl. Mosès, Der Engel der Geschichte (wie Anm. 6), S. 55.
33 Ebd., S. 56.
34 Diese Ausrichtung charakterisiert die Interpretation Eric Santners, der sprechakt-
theoretisch argumentiert und die Anrufung im Rahmen einer »Ethik der Singu-
larität« von der identitätsstiftenden Anrufung unterscheidet, die das Subjekt den In-
stitutionen der staatlichen Macht unterwirft: »The key to understanding
Rosenzweig’s project is to grasp the difference between two kinds of interpellation
and their distinctive ›objects‹, to grasp the difference, that is, between being identi-
fied as a part, as a member of a larger social or political whole […] and being sin-
gled out as a part which is no part (of a whole) and which, in Rosenzweig’s view,
transpires in and through a call of love … These two modes of interpellation are,
moreover, fundamentally linked; one can be singled out, Rosenzweig suggests, only
on the basis of an impasse within the logic of identification, on the basis, that is, of a
symptomatic remnant generated by ›identificatory‹ interpellation« (Santner, On the
Psychotheology of Everyday Life [wie Anm. 28], S. 65). Santner assoziiert gleich
mehrere Konzepte miteinander, die in keinem unmittelbaren Zusammenhang stehen:
Rosenzweigs Theorie des meta-ethischen Selbst, seine Theorie des Rests als Figur,
die das Judentum als jenseits der Geschichte lebende Gemeinschaft annehme, und
332 Teil II

diese Weise mit Rosenzweig über Rosenzweig hinausgeht. Denn Rosenzweig


verfährt im dritten Teil des Sterns der Erlösung, in dem er Politik und Religion
als soziale Formen kollektiver Existenz analysiert, anders, insofern er eine
metahistorische Existenz des Judentums postuliert.
Im Unterschied zum Staat, der den Völkern in der Zeit Ewigkeit zu geben
versuche und der sich gegen das Verfließen der Zeit immer wieder behaupten
müsse, indem er den Widerspruch zwischen Altem und Neuem, Vergangenheit
und Zukunft je und je mit einem Schwertstreich »zerhaue[]« (SdE 371), lebe
das Judentum, so Rosenzweigs starke These, bereits in der Ewigkeit. Ist die
von Rosenzweig behauptete metahistorische Existenz des Judentums wirklich
das Andere der Gewalt, auf der die politischen Ewigkeitshypostasen Staat und
Nation beruhen? Man kann einen gewaltsamen Gestus bereits in der These
selbst sehen, postuliert sie doch eine allgemeine jüdische Identität, die nach
dem Vorbild eines Besonderen geformt ist, nämlich dem Leben in den vor-
emanzipatorischen Gemeinden des Ostjudentums, und andere Formen jüdi-
schen Lebens ausblendet. Entscheidender scheint mir aber noch die Frage zu
sein, ob die von Rosenzweig vorgeschlagenen Konstitutionsprinzipien des
Judentums als des »ewige[n] Volk[s]« (SdE 335, 364f.) wirklich ein Anderes
gegenüber den von ihm als gewaltsam analysierten Konstitutionsprinzipien
von Staat und Nation, den beiden politischen Ewigkeitshypostasen, darstellen.
Rosenzweig schreibt:
[A]lles, worin die Völker der Welt ihr Leben verankerten, uns ist es schon vorlängst
geraubt; Land Sprache Sitte und Gesetz ist uns schon lange aus dem Kreis des Le-
bendigen geschieden und ist uns aus Lebendigem zu Heiligem erhoben; wir aber le-
ben noch immer und leben ewig; mit nichts Äußerem mehr ist unser Leben verwo-
ben, in uns selbst schlugen wir Wurzel, wurzellos in der Erde, ewige Wanderer dar-
um, doch tief verwurzelt in uns selbst, in unserm eignen Leib und Blut. Und diese
Verwurzelung in uns selbst und allein in uns selbst verbürgt uns unsre Ewigkeit
(SdE 338f.).

Alle Zuschreibungen, die Rosenzweig vornimmt, sind darauf ausgerichtet, dem


Judentum gegenüber dem Christentum eine irreduzible Eigenständigkeit zu
bewahren, ja mehr noch: es als »Fremdling« (SdE 333) in der geschichtlichen
Welt und vor allem: in der auf dem Christentum begründeten »gegenwärtigen

Slavoj Žižeks im Anschluss an Schelling gewonnene Theorie eines unsichtbaren


Rests. Den Rest interpretiert Santner auf diese Weise als Überschuss eines opaken
Selbstseins über alle denkbaren prädikativen Bestimmungen (vgl. ebd., S. 79f.). Die-
se Lektüre ist gewiss sehr anregend. Problematisch erscheint mir jedoch zum einen,
dass Santner die Unbestimmtheit des Anderen vom meta-ethischen Selbst her denkt,
das bei Rosenzweig sein Selbstsein aus sich behauptet und als stummes Selbst jeden
Dialog verweigert. Zum anderen ist Santner entgegenzuhalten, dass die absolute,
d. h. absolut bestimmte Identität mit sich selbst, die Rosenzweig dem als »Rest« ge-
dachten meta-historischen Judentum zuschreibt (mehr dazu im Folgenden), nicht das
gleiche wie ein dunkler, unbestimmbarer Kern des Selbst ist.
5 ›Sub specie aeternitatis‹: Politik und Religion bei Franz Rosenzweig 333

Kultur«35 zu behaupten. Rosenzweig wendet dafür die Merkmale des Juden-


tums, die im Vergleich zu den anderen Völkern einen Mangel anzuzeigen
scheinen (kein Territorium, kein Staat, keine eigene, lebendige Sprache), ins
Positive. Es fehlten dem Judentum zwar das eigene Land, Sprache und Gesetz
als historische Parameter nationaler Identität. Was historisch einen Mangel
anzuzeigen scheint, wird jedoch sub specie aeternitatis zum Vorzug, hätten
sich doch Land (als ewiges Land der Sehnsucht), Sprache und Gesetz zu heili-
gen (liturgischen) Bezugsgrößen des ewigen Volks verwandelt.36 Diese Strate-
gie der Umwertung schließt selbst antisemitische Clichés (der Jude als ewiger
Wanderer, als Fremdling) ein.37 Die Staatenlosigkeit des Judentums stellt an-
gesichts der konstitutiven Gewaltsamkeit des Staates keinen Mangel dar, son-
dern vielmehr eine Negation des Negativen, des Widersprüchlichen, das im
Staat beschlossen und immer nur gewaltsam gelöst werden kann. Die Negation
des Negativen führt nun bei Rosenzweig zu der Figur eines Judentums als
»einmaliger Positivität«:38
Das Judentum besitze, so Rosenzweig, die »Eintracht von Leben und Glau-
ben« (SdE 368); Eigenart und Universalität gingen ohne Zwiespalt in der
»Einheit des Mythos« (SdE, 365) zusammen, so dass das Judentum »jenseits
des Gegensatzes steht, der die eigentliche bewegende Kraft im Leben der Völ-
ker bildet, des Gegensatzes von Eigenart und Weltgeschichte, Heimat und
Glaube, Erde und Himmel« (SdE 365f.). Das Judentum als das »ewige Volk«
(SdE 364) »steht schon da, wohin alle Völker der Welt erst trachten. Seine
Welt ist am Ziel« (SdE 365), weswegen es sich nicht mehr, wie die Völker der
Welt, auf den Weg zum Ziel durch die Geschichte machen müsse.39 Das Ju-
35 Franz Rosenzweig an Eugen Rosenstock, Oktober 1916. In: Ders.: Der Mensch und
sein Werk (wie Anm. 19), Bd I/1, S. 252.
36 Vgl. Mosès, Politik und Religion (wie Anm. 1), S. 867: »Diese Distanz macht aus
dem jüdischen Volk das am wenigsten in der Welt eingerichtete und zugleich das
am meisten in sich verwurzelte Volk. Seine Losgelöstheit von den natürlichen Ge-
gebenheiten nationaler Identität zwingt es, die Kraft seines Lebenwollens allein in
sich selber zu schöpfen. Und gerade weil ihm diese natürlichen Gegebenheiten feh-
len, ist es in der Lage, alle Völker zu überleben. Das jüdische Volk ist ewig gerade
insofern, als es der Geschichte fernbleibt.«
37 Vgl. zu Rosenzweigs Strategie der Umwertung auch Cordula Hufnagel: »über Grä-
ber vorwärts«. Anmerkungen zum Begriff »messianische Politik« bei Franz Rosen-
zweig. In: Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg.): Franz Rosenzweigs »neues Den-
ken«. Bd 1. Freiburg: Alber 2006, S. 504–515, besonders S. 512–514.
38 Vgl. Miething, Franz Rosenzweigs »Messianische Politik« (wie Anm. 3), S. 77.
39 Vgl. Franz Rosenzweig an Rudolf Ehrenberg, 31.10.1913. In: Ders.: Der Mensch
und sein Werk (wie Anm. 19), Bd I/1, S. 135: »[E]s kommt niemand zum Vater
denn durch ihn [Christus; Anm. E. D.]. Es kommt niemand zum Vater – anders aber,
wenn einer nicht mehr zum Vater zu kommen braucht, weil er schon bei ihm ist.
Und dies ist nun der Fall des Volkes Israel. […] Das Volk Israel, erwählt von sei-
nem Vater, blickt starr über die Welt und die Geschichte hinüber auf jenen letzten
fernsten Punkt, wo dieser sein Vater, dieser selbe, der Eine und Einzige – ›Alles in
Allem!‹ – sein wird.«
334 Teil II

dentum befinde sich außerhalb der »kriegerischen Zeitlichkeit« (SdE 368) der
Staaten und Nationen, indem es in der Zeit des Kults, der »alltäglich-allwö-
chentlich-alljährlichen Wiederholung des kultischen Gebets« (SdE 324), d. h.
im liturgischen Jahr des Festkalenders, die Ewigkeit symbolisch vorwegneh-
me. Statt die Ewigkeit im Kampf gegen die Zeit immer wieder gewaltsam zu
behaupten wie der Staat, positioniert sich das Judentum bei Rosenzweig au-
ßerhalb der Zeit. Dieses Außerhalb der Zeit macht Rosenzweig zum einen an
der Zeiterfahrung des »geistlichen Jahrs« (SdE 355), des sich wiederholenden,
»alljährlichen Kreislaufes« (SdE 368) des Festkalenders, fest.40 In diesem
haben Land, Sprache und Gesetz nur als liturgische Zeichen Realität, worauf
weiter unten noch näher einzugehen sein wird. Zum anderen sieht Rosenzweig
die Ewigkeit des jüdischen Volkes in der »Gemeinschaft des Blutes« (SdE
331) garantiert. Einzig das Blut erkennt Rosenzweig als natürliches41 (nicht-
liturgisches) identitätsstiftendes Merkmal des Judentums an, das dieses mit den
Völkern der Welt teile. Das Judentum verkörpert die Blutsgemeinschaft in
Rosenzweigs Darstellung exemplarisch, weil es sich, seiner Konstruktion nach,
von allen anderen natürlichen identitätsstiftenden Merkmalen losgesagt habe.
Die »volle Wucht des Willens zum Volke« sei in dem einen Punkt gesammelt,
»der bei den Völkern der Welt nur einer unter anderen ist, dem eigentlichen
und reinen Lebenspunkt, der Blutsgemeinschaft« (SdE 333).
Rosenzweigs Metaphysik des Bluts folgt letztlich der von Buber in den Drei
Reden über das Judentum (1911) gewiesenen Richtung (vgl. Kap. II.2.2): Das
Blut erscheint als Medium eines transgenerationalen, ahistorischen Gedächt-
nisses, einer »ewig gegenwärtige[n] Erinnerung« (SdE 337), die die Erzväter
mit dem »spätesten Sproß« (SdE 331) teilen. Recht besehen ist das Blut aber
das einzige Merkmal, das das Judentum in Rosenzweigs Darstellung überhaupt
zum Volk macht. Würde Rosenzweig nicht am Blut als identitätsstiftendem
Merkmal festhalten, dann wäre das von ihm konstruierte Judentum kein Volk,
sondern – Kirche im Sinne einer liturgisch gestalteten, religiösen Existenz.
Dies hat Gershom Scholem schon früh bemerkt, spricht er doch »vom seltsam
kirchlichen Aspekt, unter dem hier [im Stern der Erlösung; Anm. E. D.]
manchmal unversehens das Judentum erscheint«.42 Die Metaphysik des Bluts
begründet bei Rosenzweig eine Metaphysik des jüdischen nationalen Selbst,
eines Selbst »jenseits des äußeren Lebens« (SdE 336). Mit der Vorstellung
einer »Verwurzelung im eigenen Selbst« (SdE 339) evoziert Rosenzweig die
»absolute Identität«43 des jüdischen Volkes mit sich selbst.
40 Vgl. SdE 369: »Ein Kreislauf, der Kreislauf des Jahres, versichert das ewige Volk
seiner Ewigkeit.«
41 Vgl. SdE 332: »[I]n der natürlichen Fortpflanzung des Leibes hat sie [die Blutsge-
meinschaft; Anm. E. D.] die Gewähr ihrer Ewigkeit.«
42 Gershom Scholem: Zur Neuauflage des »Stern der Erlösung«. In: Ders.: Judaica 1.
Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1963 (Bibliothek Suhrkamp: 106), S. 226–234, hier:
S. 232.
43 Miething, Franz Rosenzweigs »Messianische Politik« (wie Anm. 3), S. 73.
5 ›Sub specie aeternitatis‹: Politik und Religion bei Franz Rosenzweig 335

Rosenzweigs spekulative Geste zielt darauf, das Judentum als Anderes ge-
genüber den totalitären Ansprüchen von Staat und Nation einerseits, dem mis-
sionierenden Christentum andererseits zu behaupten.44 Die »absolute Identität«
mit sich selbst, die Rosenzweig dem jüdischen Volk als Blutsgemeinschaft
attestiert,45 ist nun aber selbst eine Figur geschlossener Totalität, die das Ju-
dentum nicht von den Völkern der Welt unterscheidet, sondern es geradezu zu
ihrem exemplarischen Typus macht.46 So schreibt Rosenzweig selbst: »Was
vom Volk überhaupt als der Vereinigung der Blutsfamilien gegenüber allen
Gemeinschaften des Geistes gilt, das gilt nun in besonderer Weise von dem
unsern. Das jüdische Volk ist unter den Völkern der Erde, wie es sich selbst
auf der allsabbatlichen Höhe seines Lebens nennt: das eine Volk« (SdE 332
[Hervorhebung E. D.]).
Auch in Rosenzweigs Beschreibung der liturgischen Existenz des jüdischen
Volkes kehrt die Figur geschlossener Totalität wieder. Wenn für Rosenzweig
gilt, dass das Judentum das »Bild der wahren Gemeinschaft unversehrt […]
erhalte[]« (SdE 369), dann sollte man sich die Darstellung jenes Festes näher
anschauen, bei dem, so Rosenzweig, das Judentum als »Volksgemeinschaft«
(SdE 359) zugleich die ganze Menschheit vor Gott vertrete (vgl. SdE 361) und
deren Vereinigung antizipiere: an den »gewaltigen Tagen«, Rosch Ha-Schana
und Jom Kippur, die die »Gemeinsamkeit des letzten Schweigens« (SdE 356)
liturgisch umsetzten. Denn die vollendete Vereinigung ereigne sich nicht im
Wort, sondern im gemeinsamen Schweigen:
44 Vgl. Hufnagel, »über Gräber vorwärts« (wie Anm. 37), S. 513.
45 Vgl. SdE 333: »[D]as Volk ist Volk nur durch das Volk.«
46 Den exemplarischen Status, den Rosenzweig der jüdischen »Blutsgemeinschaft«
gibt, hebt Sandra Lehmann zu Recht hervor (vgl. Sandra Lehmann: Zwei Totalitä-
ten. Zu Franz Rosenzweigs Kritik der Hegelschen Staatsphilosophie. In: Brigitta
Keintzel und Burkhard Liebsch [Hg.]: Hegel und Levinas. Kreuzungen, Brüche,
Überschreitungen. Freiburg im Breisgau u. a.: Alber 2010, S. 269–281, besonders
S. 276). Lehmanns Interpretation von Rosenzweigs »Philosophie des Blutes«
(S. 281) ist eine der wenigen, die Rosenzweigs Bezugnahme auf das Blut nicht zur
Metapher verharmlosen. Sie argumentiert, dass der Rekurs auf die jüdische »Bluts-
gemeinschaft« einen systematischen Stellenwert in Rosenzweigs Philosophie habe.
Rosenzweigs Philosophie werde von der Gefahr eines dichotomen Weltbildes be-
droht, insofern »Geschichte als politisch gestalteter Gewaltzusammenhang […] un-
verbunden mit der Ethik als meta-geschichtlicher, transzendent orientierter Lebens-
praxis« erscheint (ebd., S. 277). Um der Gefahr dieser Dichotomie zu begegnen,
konstruiere Rosenzweig das Judentum als Klammer zwischen Weltgeschichte und
Ethik: Das Judentum als »ausgezeichnetes Blut« (ebd., S. 278) habe in Rosenzweigs
System den Rang erlöster Materialität. Es biete damit die Gewähr einer Vollendung,
auf die die Ordnung des Seienden ausgelegt ist. Ich möchte Sandra Lehmann dan-
ken, dass sie mir ihren Vortragstext im Vorfeld von dessen Veröffentlichung über-
lassen hat. Jüngst hat auch Caspar Battegay eine Studie vorgelegt, in der er sich aus-
führlich mit Rosenzweigs Bezugnahme auf das »Blut« befasst und sie in einen bio-
politischen Kontext stellt (vgl. Caspar Battegay: Das andere Blut. Gemeinschaft im
deutsch-jüdischen Schreiben 1830–1930. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2011 [Reihe
Jüdische Moderne; 12], besonders S. 190–236).
336 Teil II

Weil in der Ewigkeit das Wort erlischt im Schweigen des einträchtigen Beisammen-
seins – denn nur im Schweigen ist man vereint, das Wort vereinigt, aber die Verei-
nigten schweigen – darum muß […] die Liturgie […] den Menschen ins Schweigen
einführen (SdE 342).
Daher kommt es, daß das Höchste der Liturgie nicht das gemeinsame Wort ist, son-
dern die gemeinsame Gebärde (SdE 329).

Das Medium der letzten Gemeinsamkeit ist bei Rosenzweig nicht die Sprache,
sondern die gemeinsame Gebärde, die sich »von der Fessel, unbeholfene Die-
nerin der Sprache zu sein« (SdE, 329), gelöst habe und ein »Mehr als Sprache«
(ebd.) sei. Rosenzweig erklärt nun die Gebärde des Grußes zum »höchsten
Zeichen des Schweigens« (SdE 357): »Man schweigt, weil man einander
kennt. […] Erst wenn alles schwiege, wäre das Schweigen vollkommen und
die Gemeinschaft all-gemein« (SdE 357). Um die Möglichkeit des schweigen-
den »Gruß[es] Aller an Alle« (SdE 357) zu demonstrieren, greift Rosenzweig
auf die Analogie mit der Militärparade zurück:
Das Ganze und daß man dazu gehört, erlebt sich nur in der Parade, im Fahnengruß,
im Vorbeimarsch vor dem obersten Kriegsherrn. Hier, wo salutiert wird […], wird
[…] die Gemeinsamkeit aller Angehörigen dieser Armee durch alle Zeiten [zum
Ausdruck gebracht]; denn Fahnentuch und Fürstengeschlecht, so fühlt der Soldat, ist
älter als die Lebenden und wird sie überleben. […] Und nun erkennen wir, wie allein
der Gruß Aller an Alle geschehen kann […]. Das gemeinsame Knien vor dem Herrn
der Dinge in aller Welt und der Geister in allem Fleisch öffnet der Gemeinschaft,
und freilich nur ihr und den Einzelnen nur in ihr, den Heraustritt in die Allgemein-
schaft, wo jeder jeden kennt und ohne Worte ihn grüßt – von Angesicht zu Ange-
sicht (SdE 358f.).
Nicht etwa im Bekenntnis der Schuld, nicht im Gebet um Vergebung der Sün-
de, kniet die Gemeinde an Jom Kippur, sondern beim »Aleinu« des Hauptge-
betes an Rosch Ha-Schana (und auch nur an diesem Tag),47 wenn sie den Tag,
»wo alles Geschaffene in die Knie sinkt und einen einzigen Bund bildet, Got-
tes Willen zu tun« (SdE 360), erbittet. Man würde es sich wohl zu leicht ma-
chen, wollte man Rosenzweigs Analogiebildung von (autoritärer) Politik und
47 Vgl. den Abschnitt »Aleinu« des Mussaf-Gebetes in der Übersetzung von Samson
Raphael Hirsch. In: Israels Gebete. Übers. u. erläutert von Samson Raphael Hirsch.
Frankfurt a. M.: J. Kaufmann 1906, S. 639. In Hirschs Kommentar kann man lesen,
dass das Aleinu »den entschiedenen Gegensatz unseres Gottesbewußtseins und un-
serer Gott huldigenden Stellung und Beziehung zu Gott im Vergleich mit der übri-
gen Menschheit aus[spricht] […] und sodann eben auf Grund dieses Gottesbewußt-
seins […] ebenso entschieden die Zuversicht in die einstige völlige und rückhaltlose
Rückkehr aller Menschen zur Huldigung Gottes« (ebd., S. 639f.). Eine »Rückkehr
der Menschen zu Gott« bedeute, so der orthodoxe Rabbiner Hirsch, »nach jüdischer
Lehre keineswegs den Eintritt aller Menschen ins Judentum, sondern deren Eintritt
ins reine Menschtum, […] daß alle Menschen Gott, den einzig Einen, als alleinigen
Gott im Himmel und auf Erden erkennen und ihm durch ein treugehorsames Pflicht-
leben nach dem in der jüdischen Lehre für alle Menschen niedergeschriebenen Sit-
tengesetze für immer huldigen« (ebd., S. 208f.).
5 ›Sub specie aeternitatis‹: Politik und Religion bei Franz Rosenzweig 337

Theologie nur als Zufall abtun, zumal diese Stelle kein Einzelfall ist.48 Die
Umprägung von theologischen zu politischen Begriffen kann nicht nur in die-
ser Richtung erfolgen, in der sie Carl Schmitt behauptet hat, sondern auch in
umgekehrter Richtung vor sich gehen, worauf Jan Assmann hingewiesen hat.49
Die gemeinsame Gebärde vor Gott als dem »König aller Könige« (SdE 360)
soll eine überzeitliche Gemeinschaft konstituieren wie es im Politischen die
Parade und das Salutieren vor der Fahne und dem obersten Kriegsherrn be-
zweckt. Die Sprache stellt das Medium der Zeitigung von Zeit dar und ist nicht
zur Vorwegnahme der Ewigkeit geeignet (s. Kap. I.2). Was die Gebärde vor
der verbalen Sprache bei Rosenzweig auszeichnet, ist ihre vermeintlich der
Wortsprache überhobene Anschaulichkeit,50 weswegen Rosenzweig die Ge-
bärde, anders als die Sprache, als Medium der »unmittelbare[n] Verständi-
gung« (SdE 328) interpretiert. Die Gebärdensprache als Zeichensystem der
Ewigkeit besteht bei Rosenzweig mithin aus ikonischen Zeichen, die ein »un-
mittelbar Anschauliche[s]« (SdE 328) präsentieren sollen.
Wenn Lefort im Hinblick auf Michelet bemerkt, dass dessen radikale Kritik
des Ancien Régime als theologisch-politischer Formation so geartet sei, dass
sie im Dienste einer Apologie der Modernität die scheinbar diskreditierten
Begriffe wiederverwende,51 so wird man im Hinblick auf Rosenzweig sagen
können, dass dessen Kritik an den Gewalt produzierenden Ewigkeitshyposta-
sen von Staat und Nation so beschaffen ist, dass sie im Dienste einer Apologie
der Religion die scheinbar diskreditierten theologisch-politischen Kategorien
wiederverwendet. Zeigt Lefort, dass bei Michelet eine Verlagerung des Bildes
vom Körper des Königs und seiner Doppeltheit in neue Entitäten stattfindet
(im Zentrum der Vermittlung zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtba-
ren, dem Ewigen und dem Zeitlichen komme das heilige Bild des Volkes, der
Nation, des Geistes zu stehen, worauf die Idee des Einen übertragen werde), so

48 Bereits an vorhergehender Stelle charakterisiert Rosenzweig das gemeinsame Hören


der allwöchentlichen Verlesung des Schriftwortes als ein »Hören ohne Widerrede«
(SdE 343), das nur dort zustande komme, wo der Sprechende hinter einen verlese-
nen Text zurücktrete: »Es ist das Wesen der ›Programmrede‹, daß sie ›gehalten‹,
nicht gesprochen wird; da soll eine Versammlung, koste es, was es wolle, zur ge-
schlossenen Übereinstimmung gebracht werden; notwendig muß sich da der Redner
zum bloßen Vortragenden eines fertigen Programms machen. Das gemeinsame Hö-
ren, das nichts als Hören wäre, das Hören, wo die Menge ›ganz Ohr‹ wird, entsteht
nicht durch den Sprecher, sondern nur durch das Zurücktreten des lebendig spre-
chenden Menschen hinter den bloßen Vorleser, ja noch nicht einmal hinter den vor-
lesenden Menschen, sondern hinter das verlesene Wort« (SdE 343).
49 Vgl. Jan Assmann: Herrschaft und Heil. Politische Theologie in Altägypten, Israel
und Europa. Frankfurt a. M.: Fischer-Taschenbuch-Verlag 2002 (Forum Wissen-
schaft: Bibliothek; 15339), S. 29–31.
50 Vgl. SdE 328: »Was angeschaut werden kann, ist der Sprache überhoben, über sie
hinausgehoben.«
51 Claude Lefort: Fortdauer des Theologisch-Politischen? Übers. von Hans Scheulen.
Wien: Passagen-Verlag 1999, S. 57.
338 Teil II

kann man bei Rosenzweig eine Rückbuchung der theologisch-politischen Ka-


tegorien von der Politik auf die Theologie beobachten. Gesetz und ewiges
Leben als die Ideale von Staat und Nation, die diese in Widersprüche und
Gewalt verstricken, kehren auf der Ebene der Religion wieder, wo sie der Zeit
– und a fortiori der Widersprüche und der Gewalt – enthoben sein sollen. Der
erhoffte Sieg über Zeitlichkeit und Tod, der die Nationen in den Krieg treibt,
wird an Jom Kippur auf symbolische Weise erreicht, indem sich qua Ritus und
Liturgie eine »Menschheit jenseits des Grabes« (SdE 363) konstituiert:52
Wieder macht Rosenzweig ein »vollkommen sichtbares Zeichen« (SdE 361
[Hervorhebung E. D.]) dafür geltend, dass die Erlösung und das Ewige »un-
mittelbar in die Zeit hinein[ge]rück[t]« (SdE, 361) seien: »Der Beter kleidet
sich an diesen Tagen in sein Sterbekleid« (SdE 361). An den Jamim Noarim,
den »gewaltigen Tagen« Rosch HaSchana und Jom Kippur, trete der Einzelne
unmittelbar in seiner Einzelheit und zugleich »in der Sünde des Menschen
schlechtweg« (SdE 361) vor Gott. So vertrete Israel die Menschheit, »eine[]
Menschheit in Sterbekleidern, eine[] Menschheit jenseits des Grabes« (SdE
363).
Die symbolische Prozedur an Jom Kippur, durch die die Gemeinde sich all-
jährlich dem Tod ausliefert und ihn zugleich besiegt, ersetzt in Rosenzweigs
Darstellung den Krieg als existentielle Ewigkeitsprobe der Völker, weswegen
Rosenzweig auch behaupten mag, dass der »Jude […] eigentlich der einzige
Mensch in der christlichen Welt ist, der den Krieg nicht ernst nehmen kann,
und so ist er der einzige echte ›Pazifist‹« (SdE 368). Von hier aus lässt sich
Rosenzweigs Verfahren der Rückbuchung theologisch-politischer Kategorien
von der Politik auf die Theologie genauer beschreiben: Rosenzweig zeigt, dass
Ewigkeit als politische Kategorie zu Widerspruch und Gewalt führt, denn
vergängliche Objekte – Land, Sprache, Gesetz, Fahnentuch und Fürstenge-
schlecht – werden zu Ewigkeitssymbolen erhoben, ohne selbst ewig zu sein.
Ihre Ewigkeit muss daher beständig gewaltsam behauptet werden. Dagegen
würden Land, Sprache und Gesetz im Judentum nicht nur Ewigkeit symboli-
sieren, sondern selbst ewige, jenseits der Geschichte stehende Symbole der
Ewigkeit sein. Eine vollkommene Übereinstimmung von Signifikant und
Signifikat, wie Rosenzweig sie im Hinblick auf die ikonischen Zeichen der
Liturgie und des religiösen Zeremonials geltend macht, lässt sich nur außer-
halb der Zeit denken. Diese Übereinstimmung in der Zeit und Geschichte her-
stellen zu wollen, schließt demgegenüber notwendig Gewalt ein.
Der Ewigkeitsanspruch macht aus Land, Sprache und Gesetz als Konstituti-
onsprinzipien der Nationen und der Nationalstaaten politisch-theologische
52 Jacob Taubes interpretiert die drohende Vernichtung durch Gott als wiederkehren-
des Element in der biblischen Narration, wenn es um die Gründung eines Gottesvol-
kes geht – einer Aufgabe, vor der zuerst Moses und später Paulus gestanden hätten.
In diesem Zusammenhang geht Taubes auch auf Rosenzweig ein (vgl. Jacob Taubes:
Die Politische Theologie des Paulus. Hg. von Aleida Assmann und Jan Assmann.
3. Aufl., München: Fink 2003, S. 50–55).
5 ›Sub specie aeternitatis‹: Politik und Religion bei Franz Rosenzweig 339

Kategorien. Rosenzweigs Konstruktion eines metahistorischen Judentums


bricht nicht mit den politisch-theologischen Kategorien, sondern bucht sie auf
die religiöse Gemeinschaft zurück, indem sie sie in liturgische Zeichen ver-
wandelt. Land, Sprache und Gesetz, die bei den Völkern der Welt dem Wider-
spruch ausgesetzt sind, dass sie als historische Größen Ewigkeit symbolisieren
sollen, werden zu liturgischen Zeichen. Das Land wird zum ewigen Land der
Sehnsucht transformiert, als das es einen festen Platz in den gemeinsamen
Gebeten hat. Die Sprache wird zur Sprache der Liturgie, das Gesetz zum Ze-
remonialgesetz. Folgt man Rosenzweig und nimmt man Jom Kippur als Mo-
dell einer ultimativen menschlichen Gemeinschaft, religiös gesprochen: als
Modell einer erlösten Menschheit,53 dann zeichnet sich ein schwerwiegendes
Paradox ab: Die hypostasierte »Gemeinsamkeit des letzten Schweigens« (SdE
356) bedeutet für den Einzelnen eine äußerste Einsamkeit und Ferne von zwi-
schenmenschlicher Kommunikation, denn die »gemeinsam-einsame[] […]
Menschheit in Sterbekleidern« (SdE 363) kommuniziert nur noch mit Gott.
Die Übereinstimmung von Signifikant und Signifikat, die Rosenzweig im Hin-
blick auf die liturgischen Zeichen behauptet, macht diese vollkommen untaug-
lich zur zwischenmenschlichen Kommunikation.54
Rosenzweigs Konstruktion im dritten Teil des Sterns der Erlösung beruht
auf einer gewaltsamen Verkürzung des Lebens wie des Judentums auf die
Liturgie und das Zeremonial. Bezeichnenderweise behandelt Rosenzweig die
Thematik des Gesetzes im dritten Teil des Sterns der Erlösung nur unter dem
Aspekt des Zeremonial- bzw. des liturgischen Ritualgesetzes und vernachläs-
sigt die vielfältigen extraliturgischen jüdischen Ritualgesetze (z. B. Essens-
und Kleidervorschriften),55 ganz zu schweigen von der Problematik der religi-
ösen Gerichtsbarkeit. Indem Rosenzweig sich auf das Zeremonialgesetz kon-
zentriert, fällt es ihm leichter, die Spannung, die zwischen Einzelnem und

53 Vgl. SdE 360: »So stellen die gewaltigen Tage, der Neujahrstag und der Tag der
Versöhnung, die ewige Erlösung mitten in die Zeit.«
54 Vgl. auch SdE 335 (Hervorhebung E. D.): »Die Heiligkeit der eigenen Sprache […]
hindert das ewige Volk […], eben durch jene Einzäunung des letzten, höchsten Le-
bens, des Gebets, in einen heiligen Sprachbezirk, jemals ganz frei und unbefangen
zu leben. Denn alle Freiheit und Unbefangenheit des Lebens beruht darauf, daß der
Mensch alles sagen kann, was er meint, und daß er weiß, daß er es kann; wo er dies
verliert, […] da ist nicht bloß die Sprachkraft eines Volks gebrochen, sondern auch
seine Unbefangenheit hoffnungslos gestört. Eben diese letzte und selbstverständli-
che Unbefangenheit des Lebens ist nun dem Juden versagt, weil er mit Gott eine an-
dere Sprache spricht als mit seinem Bruder. Mit seinem Bruder kann er deshalb
überhaupt nicht sprechen, mit ihm verständigt ihn der Blick besser als das Wort,
und es gibt nichts im tieferen Sinne Jüdisches als ein letztes Mißtrauen gegen die
Macht des Worts und ein inniges Zutrauen zur Macht des Schweigens.«
55 Vgl. Paul Mendes-Flohr: Rosenzweig and Kant. Two Views of Ritual and Religion.
In: Ders.: Divided Passions. Jewish Intellectuals and the Experience of Modernity.
Detroit: Wayne State Univ. Press 1991 (The culture of Jewish modernity), S. 283–
310, hier: S. 297.
340 Teil II

Gemeinschaft, Zeitlichkeit und Ewigkeit, Endlichem und Unendlichem liegt,


zu übergehen. Im Hinblick auf das extraliturgische Ritualgesetz kann man sich
nicht so einfach auf den Standpunkt der Ewigkeit stellen. Es erfordert eine
andere Herangehensweise, zu der Rosenzweig erst in seiner Auseinanderset-
zung mit Buber über das Gesetz gelangt, in der er ein nicht-normatives Ver-
ständnis des Gesetzes vertritt (s. o., Kap. I.2.3).
Rekapitulieren wir: Rosenzweig beginnt den Stern der Erlösung mit der
Kritik an dem Denken geschlossener Totalität, die den »Mensche[n] in der
schlechthinnigen Einzelheit« (SdE 10) nicht begreifen kann. In der Einleitung
»Vom All« zerfällt Rosenzweig die »logisch-physische Einheit des Kosmos«
(SdE 17), d. h. die »auf der Einheit des Logos begründet[e] […] Einheit der
Welt als einer Allheit« (SdE 12). Dieser Einsatz stellt eine Kampfansage an die
Systemphilosophie dar, welche »nach Hegel als Gleichheit von Wissen und
Sein definiert ist«.56 Mit der Perspektive, »das All, das wir zerstückeln muß-
ten, wiederzufinden« (SdE 24), schließt Rosenzweig wiederum die Einleitung,
also mit der Perspektive auf ein neues Denken des Allgemeinen. Im zweiten
Teil des Stern der Erlösung entwickelt Rosenzweig, am Leitfaden einer Analy-
se der biblischen Sprache, eine Hermeneutik der Existenz, die ethisch orien-
tiert ist und das »singulare Individuum« (SdE 143) in seiner unvertretbaren
Verantwortlichkeit exponiert (s. Kap. I.2.2). Auf der Grundlage dieser Ethik
konzipiert Rosenzweig im zweiten Teil des Sterns eine werdende Gemein-
schaft, die man mit Eric Santner »a universality-in-becoming« nennen kann:
»the possibility of a shared opening to the agitation and turbulence immanent
to any construction of identity«,57 »strangeness itself […] the locus of new
possibilities of neighborliness and community«.58 Offenbar traut Rosenzweig
jedoch dieser Gemeinschaftsethik nicht zu, die Weltgeschichte und die Politik
der Staaten in Frage zu stellen, geschweige denn sie zu verändern. Ein Gegen-
gewicht zur Politik der Staaten liefert allein die kollektive religiöse Existenz,
die Rosenzweig im dritten Teil des Sterns beschreibt. Diese wiederholt aber
nur das Modell einer geschlossenen Totalität auf anderer Ebene, nämlich der
Religion. Die systemphilosophisch reklamierte Einheit von Wissen und Sein
wird durch die Einheit von Glauben und Sein ersetzt. Die kollektive religiöse
Existenz nimmt die Konstitutionsprinzipien der nationalen politischen Kollek-
tive wieder auf, indem sie sie in den Bereich des Zeremonials verschiebt und
sie zu liturgischen Zeichen transformiert. Sie distanziert sich dadurch zwar von
der politischen Gewalt im historisch-politisch Realen, von Krieg und staatli-
cher Rechtsprechung. Dies geschieht aber nur um den Preis der Bildung einer
neuen geschlossenen Totalität, die dem Einzelnen seine Ausdrucksmöglichkei-
ten nimmt und ihn in ein liturgisches Zeichensystem eingliedert.

56 Mosès, Der Engel der Geschichte (wie Anm. 6), S. 59.


57 Santner, On the Psychotheology of Everyday Life (wie Anm. 28), S. 5.
58 Ebd., S. 6.
5 ›Sub specie aeternitatis‹: Politik und Religion bei Franz Rosenzweig 341

Rosenzweig bewegt sich letztlich in einem Zirkel, in dem die Öffnung der
von ihm im Ersten Weltkrieg als katastrophal erlebten politischen Totalität zu
einer neuen Schließung im Rahmen einer religiösen Totalität führt. Dieser
Zirkel beherrscht nicht nur das Verhältnis von Politik und Theologie, sondern
holt auch die Alteritätsphilosophie Rosenzweigs im dritten Teil des Sterns der
Erlösung ein. Das Recht auf Andersheit, das die Alteritätsphilosophie gegen-
über der kulturellen und religiösen Dominanz der Mehrheitsgesellschaft ein-
fordert, macht Rosenzweig im Hinblick auf das sich dem Christentum gegen-
über behauptende Judentum geltend. Hierfür hebt er auf die Figur des »Rest[s]
Israels« (SdE 449) ab, eine Figur, der wir auch bei Buber begegnen (s. Kap.
II.2.3; III.2.3). Rosenzweig deutet die Figur freilich ganz anders als Buber. Er
schreibt: »Von Israel zum Messias, vom Volk, das unterm Sinai stand, zu
jenem Tag, da das Haus in Jerusalem ein Bethaus heißen wird allen Völkern,
führt ein Begriff, der bei den Propheten auftauchte und seitdem unsere innere
Geschichte beherrscht hat: der Rest« (SdE 449). Handele alle weltliche Ge-
schichte von Ausdehnung und Macht, so erhalte sich das Judentum durch
»Subtraktion, durch Verengung, durch Bildung immer neuer Reste« (SdE
450). Der Rest ist nicht nur die Figur eines Bleibens gegenüber einem äußeren
Abfall (Apostasie), sondern zugleich die Figur einer inneren Vertiefung: Das
»Judentum scheidet immer wieder Unjüdisches von sich ab, um immer wieder
neue Reste von Urjüdischem in sich hervorzustellen« (SdE 450).
Diesem Rest spricht Rosenzweig nun eine universelle Bedeutung zu. Denn
das Judentum erhalte nicht nur das »Bild der wahren Gemeinschaft« (SdE
369), sondern trage zur Einigung Gottes bei. Rosenzweig greift hier auf die
Kabbala und die Lehre von der Schechina zurück, »des in die Welt Verstreut-
seins der Funken des göttlichen Urlichts« (SdE 456). Wie die konservative
lurianische Kabbala argumentiert Rosenzweig, dass »der jüdische Mensch […]
die unendlichen Bräuche und Vorschriften ›zur Einigung des heiligen Gottes
und seiner Schechina‹ [erfüllt]« (SdE 456). Das Leben im Gesetz bekommt so
bei Rosenzweig einen umfassenden »welterlösenden Sinn« (SdE 457).
Mit der Theorie vom »Rest Israels« soll das Judentum den vereinnahmen-
den Ansprüchen des Christentums, das »siegreich durch die Welt seinen Weg
nimmt« (SdE 459), standhalten. Auch hier bewegt sich Rosenzweig in einem
Zirkel, von dem Alteritätsphilosophie überhaupt bedroht ist. Dieser Zirkel lässt
sich mit Ulrich Wergin wie folgt begreifen:
Gemeint ist die Verlockung, der besonderen Welt, die den Rahmen der Auseinan-
dersetzung und den Ausgangspunkt des Öffnungsgeschehens bildet, […] eine
Exemplarik […] in der Übernahme der Verantwortung für eine universelle Botschaft
der Alterität zuzuschreiben. Eben das birgt wiederum die Gefahr der blinden Ver-
strickung in einen neuen Zirkel, den einer Öffnung, die der Anfang einer neuen
342 Teil II

Schließung des Horizonts ist, eines Aufbruchs, der den Rückgang in einen anderen
Ursprung bedeutet.59

Diese Gefahr zeichnet sich bereits in Rosenzweigs Hermeneutik der Existenz


ab, insofern Rosenzweig die sprachlich fundierte Erfahrungsstruktur, die er in
biblischen Konzepten »Schöpfung«, »Offenbarung« und »Erlösung« reflektiert
findet, in den Horizont der historischen Sinai-Offenbarung zurückstellt. Die
»Botschaft der Alterität«, die um das »singulare Individuum« (SdE 143) in
seiner unvertretbaren Verantwortlichkeit sowie um den zu-nächst Nächsten in
seiner kategorialen Unbestimmtheit kreist, wird damit an die Überlieferung
einer bestimmten, nämlich der jüdischen Kultur und Religion zurückgebunden.
Im dritten Teil des Sterns der Erlösung ist die Botschaft der Alterität weniger
im Sinne des genitivus obiectivus (als Botschaft, die die Alterität zum Gegen-
stand hat) zu verstehen, sondern im Sinne des genitivus subiectivus, als Bot-
schaft, deren Urheberschaft dem Judentum als »Fremdling« (SdE 333) in der
auf dem Christentum begründeten »gegenwärtigen Kultur«60 zugeschrieben
wird. Letztlich ist dieser Übergang vom genitivus obiectivus zum genitivus
subiectivus nichts anderes als der Zirkel, den Wergin beschreibt und der bereits
im zweiten Teil des Sterns der Erlösung angelegt ist, um im dritten Teil ge-
schlossen zu werden: Die universale Botschaft der Alterität wird einem beson-
deren Kollektiv, dem Judentum, zugeschrieben, das hierauf seine Identität
gründet und in die Hypostase einer »Verwurzelung ins Selbst« (SdE 453),
einer »absolute Identität«61 mit sich selbst zurückfällt.
Thematisiert Rosenzweig die Problematik des Zirkels nicht selbst, so muss
ihm eine andere Gefahr seines Ansatzes bewusst gewesen sein: die einer Di-
chotomie von Politik und Religion, wodurch am Ende nicht eine neue Ganz-
heit, das »All« wiedergefunden – wie in der Einleitung des Sterns der Erlö-
sung versprochen –, sondern die Welt auseinandergefallen wäre. Auf der einen
Seite stünde die in einen unlösbaren Gewaltzusammenhang verstrickte Politik,
auf der anderen Seite ein metahistorisches Judentum, das die Erlösung antizi-
piert, ohne dass abzusehen wäre, wie diese je in die Geschichte eindringen
sollte. Rosenzweig versucht die Gefahr dieser Dichotomie geschichtsphiloso-
phisch zu bannen. Dieser geschichtsphilosophische Versuch einer Rettung der
Einheit des Seins wird im letzten Kapitel dieser Arbeit aufgegriffen und analy-
siert werden.

59 Ulrich Wergin: Die Spur des Anderen. Levinas’ Erfahrungstheologie und die Lyrik
im Zeichen von ›Auschwitz‹. In: Karol Sauerland und Ulrich Wergin (Hg.): Litera-
tur und Theologie. Schreibprozesse zwischen biblischer Überlieferung und ge-
schichtlicher Erfahrung. Würzburg: Königshausen & Neumann 2005, S. 215–244,
hier: S. 224.
60 Franz Rosenzweig an Eugen Rosenstock, Oktober 1916. In: Ders.: Der Mensch und
sein Werk (wie Anm. 19), Bd I/1, S. 252.
61 Miething, Franz Rosenzweigs »Messianische Politik« (wie Anm. 3), S. 73.
Teil III

Zur Rhetorik der Figuren des Messianischen


und ihrer geschichtsphilosophischen Logik
1 Messianismus und Geschichte – rhetorisch
betrachtet

Das Verhältnis von Messianismus und Geschichte fächert sich, rhetorisch


betrachtet, in drei Aspekte von grundsätzlicher Bedeutung auf: 1. die rhetori-
sche Struktur der messianisch konnotierten Geschichtsphilosophie, 2. das rhe-
torische Modell, nach dem der jüdische Messianismus säkularisiert wird, und
3. der rhetorische Status, der der religiösen Sprache zuerkannt wird. Insofern
alle drei Aspekte ineinanderspielen, lässt sich die dominante Figur, die das
messianische Geschichtsdenken der einzelnen Autoren bestimmt, auch in den
beiden anderen Punkten wiederfinden.
Der Gedanke, die Struktur der messianischen Geschichtsphilosophien rheto-
risch zu fassen, ist von Hayden Whites Geschichtstheorie inspiriert. White
argumentiert, dass der Historiker das historische Feld in einem poetischen Akt
vorstrukturieren müsse, um die Daten der Geschichte als Erkenntnisobjekt zu
konstituieren. Die erkenntnistheoretisch fundamentale Operation, die das histo-
rische Erkenntnisobjekt als solches allererst hervorbringe, gehorche der vorbe-
grifflichen Logik der poetischen Tropen.1 Die Ermittlung der rhetorischen
Struktur, die den messianischen Geschichtsphilosophien der deutsch-jüdischen
Intellektuellen zugrunde liegt, gibt nun in unserem Fall zugleich Aufschluss
über das rhetorische Modell, nach dem die Autoren den jüdischen Messianis-
mus säkularisieren. Denn die messianischen Geschichtsphilosophien implizie-
ren unterschiedliche Spielarten der Säkularisierung des jüdischen Messianis-
mus. Mit der »Rhetorik der Geschichte« kommt im Zusammenhang unserer
Fragestellung die »Rhetorik der Säkularisierung« ins Blickfeld, deren methodi-
schen Aufriss Daniel Weidner vorgelegt hat.2
Die Frage nach dem rhetorischen Status schließlich, den die Autoren der re-
ligiösen Sprache zuerkennen, berührt die lange Geschichte der rhetorischen
Deutung religiöser Texte. Erich Auerbach zufolge sind besonders drei rhetori-
sche Interpretationsweisen religiöser Texte historisch wirksam geworden: die
allegorische, die symbolische und die figurale im Sinne der christlichen Figu-
ralinterpretation.3 Traditionell wird die allegorische Auffassung mit einer phi-
1 Vgl. Hayden White: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhun-
dert. Übers. von Peter Kohlhaas. Frankfurt a. M.: Fischer 1991, S. 49f.
2 Vgl. Daniel Weidner: Zur Rhetorik der Säkularisierung. In: Deutsche Vierteljahrs-
schrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 78/1 (2004), S. 95–132.
3 Vgl. Erich Auerbach: Figura. In: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur romanischen
Philologie. Bern, München: Francke 1967, S. 55–92, besonders S. 77–82.
346 Teil III

losophischen Auslegung religiöser Texte verbunden, die als verhüllte Darstel-


lungsform philosophischer Wahrheiten aufgefasst werden. Nach traditionellem
Verständnis erscheint in der Allegorie der religiöse Ausdruck vom Ausge-
drückten ablösbar, wohingegen das Symbol, auf das eine mystische Deutung
setzt, ihre Einheit ausdrücken soll.
Diese traditionelle Gegenüberstellung von Symbol und Allegorie ist natür-
lich viel zu schematisch, um die Facetten, aber auch Kombinationsmöglichkei-
ten von allegorischen und symbolischen Deutungen zu erfassen. Gleichwohl
bleibt diese hergebrachte Unterscheidung zwischen Symbol und Allegorie in
Texten Gershom Scholems und insbesondere Ernst Blochs virulent. Messiani-
sche Symbole zielen bei Bloch auf eine utopische, zukünftige Einheit von
Zeichen und Bezeichnetem. Wenn Bloch auch den messianischen Symbolen
dieses utopische Ziel zuweist, geht doch aus seinen Texten hervor, dass das
utopische Ziel der Menschheit nicht zwingend in der Symbolsprache des jüdi-
schen Messianismus ausgedrückt werden muss, sondern sich auch anders, in
anderen Symbolen sagen ließe. Dementsprechend vermengt er die religiösen
Bildsprachen. Bloch gebraucht wie Landauer die Sprache des jüdischen Mes-
sianismus als dominant metaphorisch motivierte Symbolsprache – bei meta-
phorisch motivierten Symbolen erscheint aber der Zusammenhang zwischen
Symbol und Symbolisiertem als kontingent.4
Im Folgenden werden wir uns nicht nur mit unterschiedlichen Spielarten des
Symbols beschäftigen, sondern auch mit der Metonymie, der Inversion und
dem dialektischen Bild, in dem Benjamin Momente des Symbols und der Al-
legorie verbindet. Die Ordnung richtet sich nach der dominanten Figur, in der
die Autoren messianische Geschichte strukturell denken und nach deren Mo-
dell sie den jüdischen Messianismus säkularisieren. Diese dominante Figur
lässt sich in der Regel auch auf den rhetorischen Status beziehen, der der reli-
giösen Sprache bei den Autoren zukommt. Bei Scholem liegt der Fall beson-
ders. Die Inversion regiert sein messianisches Geschichtsdenken. Sprachphilo-
sophisch spielt die Inversion zwar auch eine wichtige Rolle, insofern Scholem
in ihr eine messianische Figur der hebräischen Sprache erblickt (vgl. Kap.
I.4.2). Grundsätzlich hängt er aber einer symbolischen Auffassung der religiö-
sen Sprache an.5 Diese kennt allerdings auch ein Moment der Inversion, inso-
fern Scholem annimmt, dass in der symbolischen Deutung der Thora eine
Inversion des Bedeutungslosen – dessen, was jenseits der Welt des Ausdrucks
und der Mitteilung steht – in Bedeutung erfolgt. Was am Schluss dieses Teils
als Scholems Messianismus der Inversion behandelt wird, schließt diese sym-
bolische Inversion ein, die grundlegend für Scholems Auffassung der religiö-
sen Sprache ist.
4 Vgl. Gerhard Kurz: Metapher, Allegorie, Symbol. 4. Aufl., Göttingen: Vandenhoeck
& Ruprecht 1997, S. 81.
5 Vgl. Gershom Scholem: Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen. 4. Aufl.,
Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft; 330),
S. 29f.
2 Messianismus der Metonymie: Franz Rosenzweig

Für Rosenzweigs »System der Philosophie« besteht die Gefahr, in zwei Teile
auseinanderzufallen, wie wir am Ende von Kap. II.5 gesehen haben. Der Poli-
tik, die in einen unlösbaren Gewaltzusammenhang verstrickt erscheint, stellt
Rosenzweig ein metahistorisches Judentum gegenüber, das die Erlösung litur-
gisch antizipiert, ohne dass abzusehen wäre, wie diese je in die Geschichte
eindringen sollte. Rosenzweig verurteilt nun aber die Säkularisierung der Erlö-
sung keineswegs so grundsätzlich, wie es seine Kritik am messianischen Nati-
onalismus der Moderne glauben machen könnte. Rosenzweig erkennt wohl
deutlich die totalitäre Gefahr der politischen Versuche, Erlösung in die Ge-
schichte und die Immanenz des Weltlichen hineinzuholen. Gleichwohl würdigt
er im Stern der Erlösung auch die »großen Befreiungswerke« der Politik seit
dem 18. Jahrhundert, die sich der modernen Tendenz verdankten, »Forderun-
gen des Gottesreichs zu Zeitforderungen zu machen« (SdE 319). Rosenzweig
erklärt die politischen Befreiungswerke zu »notwendigen Vorbedingungen«
(SdE 319) für das Kommen des »Gottesreichs«, so wenig sie mit diesem auch
identisch seien.
Die Verendlichung der Erlösung droht zur Bildung geschlossener politi-
scher Totalitäten (Staat, politische Nation) zu führen. Daher darf die Verendli-
chung der Erlösung nicht den Horizont schließen, sondern es muss die meta-
historische Perspektive auf Erlösung gewahrt bleiben. Die metahistorische
Perspektive erinnert daran, dass keine endliche Bedeutung von Erlösung den
Zwiespalt zwischen Ich und Welt, Gegenwart und Vergangenheit auflösen
kann. Will die Politik diese Widersprüche aufheben, führt sie zu Gewalt. Statt
den Zwiespalt auflösen zu wollen, muss die Politik einsehen, dass alle ihre
Lösungen nur vorläufig sind und keine Erlösungen. Rosenzweigs Text liegt der
Gedanke zugrunde, dass der Gewalt der politischen Ewigkeitshypostasen Staat
und Nation nur so zu begegnen sei, dass diese von jedem transzendenten An-
spruch abgelöst und in diesem Sinne radikal verendlicht, verzeitlicht werden.
Rosenzweigs messianische Geschichtsphilosophie beruht, rhetorisch be-
trachtet, auf einer metonymischen Bewegung, die eine dynamische Verschie-
bung des Bedeutungsumfangs von »Erlösung« beschreibt. Das jüdische und
das christliche Erlösungsstreben verhalten sich bei Rosenzweig metonymisch
zur Erlösung im vollen Sinne. Beide verstehen sich als deren Ursache, doch
keines kann es allein sein. Die Verunendlichung der Erlösung, die Rosenzweig
348 Teil III

dem Judentum zuweist, bedarf als Gegentendenz der Verendlichung, die er


dem Christentum zuschreibt, das wiederum auf das Judentum als kritisches
Gegengewicht angewiesen ist. In ihrer Wechselwirkung bringen Judentum und
Christentum eine dynamische Umfangsverschiebung von »Erlösung« hervor,
die sich aus einer metonymischen Logik herleitet.
Bereits im Zusammenhang mit Rosenzweigs ethisch pointierter Hermeneu-
tik der Existenz sind wir auf eine metonymische Struktur gestoßen. In Kapitel
I.2 haben wir die ethisch existentielle Bedeutung analysiert, die Rosenzweig
den Kategorien »Schöpfung«, »Offenbarung« und »Erlösung« gibt. Rosen-
zweig verwendet diese religiösen Ausdrücke metonymisch. Der klassischen
Rhetorik zufolge liegt eine Metonymie vor, wenn »für das verbum proprium
ein anderes Wort gesetzt wird, dessen eigentliche Bedeutung mit dem okkasio-
nell gemeinten Bedeutungsinhalt in einer realen Beziehung […], also nicht in
einer Vergleichsbeziehung […] wie bei der Metapher […] steht.«1 Im Bereich
der Rhetorik meint dabei eine »reale Beziehung« nur so viel, dass zwischen
der ›eigentlichen‹ und der übertragenen Bedeutung ein argumentativer, sachlo-
gischer Zusammenhang besteht.2 Ein klassisches Beispiel für eine metonymi-
sche Beziehung zwischen tropischem und ›eigentlichem‹ Ausdruck stellt der
Zusammenhang von Ursache und Wirkung bzw. Grund und Folge dar. In eben
diesem Sinne steht bei Rosenzweig die übertragene, ethisch existentielle Be-
deutung der Kategorien »Schöpfung«, »Offenbarung« und »Erlösung« in ei-
nem metonymischen Verhältnis zu ihrer eigentlichen religiösen Bedeutung:
Der argumentative Zusammenhang ist der von Grund und Folge.
So haben wir gesehen, dass Rosenzweig die Sinaioffenbarung als Grund der
»Offenbarkeit«, der allgemeinen Erfahrungsstruktur, die seine Hermeneutik
der Existenz thematisiert, auffasst (vgl. Kap. I.2.2). Wenn Rosenzweig das
dialogische Präsenzereignis, das im Zentrum seiner Hermeneutik der Existenz
steht, mit Ausdrücken aus dem Wortfeld von »Offenbarung« beschreibt, dann
hat man es mit einer metonymischen Verwendung dieser religiösen Ausdrücke
zu tun. In diesem abschließenden Kapitel werden wir uns auf Rosenzweigs
metonymischen Gebrauch des religiösen Begriffs der »Erlösung« konzentrie-
ren, an dem sich sein geschichtsphilosophisches Denken orientiert. Rosen-
zweig gebraucht nicht nur die religiöse Sprache metonymisch, sondern baut
auch seine messianische Geschichtsphilosophie auf der Struktur der Metony-
mie auf. Das heißt, die Metonymie regiert bei ihm die Beziehung von Erlösung
und Geschichte, mit der wir uns auf den folgenden Seiten beschäftigen werden.
In einem Entwurf für die erste Vorlesungsreihe im Freien Jüdischen Lehr-
haus schreibt Rosenzweig 1920, dass es durch die metahistorische Perspektive,
die das Judentum der Welt erhalte, möglich sein soll, den Staat zu überwinden,

1 Heinrich Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der


Literaturwissenschaft. 3. Aufl., Stuttgart: Steiner 1990, S. 292.
2 Wolfram Groddek: Reden über Rhetorik. Zu einer Stilistik des Lesens. Basel, Frank-
furt a. M.: Stroemfeld 1995 (Nexus; 7), S. 234.
2 Messianismus der Metonymie: Franz Rosenzweig 349

ohne ihn zu zerstören.3 Rosenzweig hat weder die weltliche Geschichte noch
die neuzeitliche Säkularisierung von Christentum und Judentum in Bausch und
Bogen verworfen. Dies zeigt sich vor allem in kleineren Texten und Briefen
jenseits des Sterns der Erlösung. Für Rosenzweig gilt es, die Spannung zwi-
schen dem Historischen und dem Metahistorischen, dem Zeitlichen und dem
Ewigen zu halten, die in seinen Augen zum theistischen Glauben überhaupt
gehört.4 Diese Spannung zeichnet auch Rosenzweigs Umgang mit dem Kon-
zept der »Erlösung« aus. Rosenzweig erkennt die politischen Befreiungswerke
seit dem 18. Jahrhundert als Ansätze, »Erlösung« zu säkularisieren, an, zeigt
aber auch auch, dass die Absicht, Erlösung vollständig zu säkularisieren, in
politische Gewalt mündet. Davor soll wiederum der Sinn für wahre Transzen-
denz, für die eschatologische Bedeutung von Erlösung, schützen, die Rosen-
zweig zufolge das Judentum bewahrt. Das ist Rosenzweigs geschichtsphiloso-
phische Intuition, die sich einer metonymische Logik bedient.
Rosenzweig konstruiert Judentum und Christentum als spekulative Größen,
die das Feld der Geschichte abstecken. So unterschiedlich Rosenzweig die
messianischen Zeitkonzepte, das Verständnis von Erlösung im Judentum und
im Christentum, interpretiert, so verschieden konzipiert er ihr Verhältnis zu
Geschichte und Politik. Rosenzweig denkt Judentum und Christentum nicht
einfach als entgegengesetzt, sondern als »korrelativ entgegengesetzt«:5 Beide
gelten ihm als »letzte Einsätze um die Wahrheit«.6 Ohne aufeinander reduziert
werden zu können – Rosenzweig postuliert, sie seien »Endtatsachen«7 –, stel-
len sie ihr wechselseitiges Korrektiv dar. Denn wenn Rosenzweig die Gefahr
des Christentums darin sieht, sich in der »Weltgeschichte« zu verlieren und
»substanzlos«8 zu werden, so droht das Judentum, sich in eine »weltabgekehrte
Innerlichkeit« (SdE 453) zu verschließen. Weder Judentum noch Christentum
sind die ganze Wahrheit, »Nur vor Gott selber ist die Wahrheit Eine. Irdische
Wahrheit bleibt […] gespalten«, denn sie kann nicht hinausführen »über die

3 Franz Rosenzweig: Der jüdische Mensch. In: Ders.: Der Mensch und sein Werk.
Gesammelte Schriften. Bd 3. Hg. von Annemarie Mayer und Reinhold Mayer.
Dordrecht, Boston, Lancaster: Martinus Nijhoff 1984, S. 559–575, hier: S. 575.
4 Vgl. Paul Mendes-Flohr: Säkularisierung im modernen Judentum oder zur Dialektik
von Judentum und Atheismus. In: Jens Mattern (Hg.): EinBruch der Wirklichkeit.
Die Realität der Moderne zwischen Säkularisierung und Entsäkularisierung. Berlin:
Vorwerk 8 2002, S. 129–149, besonders S. 133.
5 Franz Rosenzweig an Eugen Rosenstock (undatiert, wahrscheinlich im Dezember
1916). In: Ders.: Der Mensch und sein Werk. Gesammelte Schriften. Bd I/1 (Briefe
und Tagebücher). Hg. von Rachel Rosenzweig und Edith Rosenzweig-Scheinmann.
Den Haag: Nijhoff 1979, S. 316.
6 Franz Rosenzweig: Das neue Denken. Einige nachträgliche Bemerkungen zum
»Stern der Erlösung«. In: Ders.: Zweistromland. Kleinere Schriften zur Religion und
Philosophie. Berlin, Wien: Philo 2001, S. 210–234, hier: S. 232.
7 Ebd.
8 Franz Rosenzweig an Eugen Rosenstock, 30.11.1916. In: Ders., Der Mensch und
sein Werk (wie Anm. 5), Bd I/1, S. 303.
350 Teil III

beiden in aller Zeit unversöhnlichen Messiaserwartungen selber: die des kom-


menden und die des wiederkommenden, – über das Und dieser beiden letzten
Einsätze um die Wahrheit«.9 Jüdischer und christlicher Messianismus werden
als Metonymien für »Erlösung« präsentiert, zu der sie in einer metonymischen
Ursache-Wirkung-Beziehung stehen. Beide messianische Strebungen wollen
»Erlösung« bewirken, die von keiner allein im vollen Umfang verwirklicht
werden kann. Indem Rosenzweig das »Und« dieser beiden messianischen
Bestrebungen hervorhebt, die zugleich irreduzibel aufeinander sein sollen, gibt
er eine metonymische Verschiebungsdynamik zu denken, die darauf beruht,
dass Judentum und Christentum der Erlösung einen unterschiedlichen Bedeu-
tungsumfang verleihen: Letzteres versuche, so Rosenzweig, das Ewige im
Historischen zu realisieren, ersteres das Ewige jenseits des Historischen. In
dem Zusammenwirken, dem »Und« der beiden messianischen Bestrebungen,
verschiebt sich beständig der Bedeutungsumfang von »Erlösung« zwischen
dem Historischen und dem Metahistorischen, dem Immanenten und dem
Transzendenten. Das »Und« von Judentum und Christentum meint keine Syn-
these, sondern indiziert eine metonymische Verschiebungslogik, die funda-
mental für Rosenzweigs messianische Geschichtsphilosophie ist.
Um Rosenzweigs messianische Geschichtsphilosophie im Ganzen zu erfas-
sen, ist es notwendig, sich noch einmal sein geschichtsphilosophisches Grund-
schema zu veranschaulichen, zumal wir bisher in erster Linie über das Juden-
tum und den Staat in der »christlichen Weltzeit« (SdE 367), weniger aber über
Rosenzweigs Darstellung des Christentums gehandelt haben. Erinnern wir uns:
Rosenzweig behauptet im Hinblick auf das Judentum ein bewusstes Paradox.
Das Judentum sei in seiner metahistorischen Bestimmung bereits am Ziel, das
historisch gleichwohl noch unerreicht ist. Eine rein metahistorische Existenz
zu leben, abgeschlossen von der historischen Umwelt, ist jedoch weder das,
was Rosenzweig anstrebt, noch etwas, was er für möglich hält.10 Vom metahis-
torischen Standpunkt kann sich allenfalls eine gleichgültige Haltung gegenüber
der Dimension der historischen Zeitlichkeit ergeben: Dem Judentum »gilt
seine Zeitlichkeit, dies daß die Jahre sich wiederholen, nur als ein Warten,
allenfalls als ein Wandern, nicht als ein Wachsen. Wachsen – das würde ja

9 Rosenzweig, Das neue Denken (wie Anm. 6), S. 232.


10 Bereits im Oktober 1916 schreibt Rosenzweig an Rosenstock: »Sie entsinnen sich
der Stelle, wo der johanneische Christus seinen Jüngern erklärt, daß sie die Welt
nicht lassen sollen, sondern in der Welt bleiben. Ebenso könnte das Volk Israel, das
ja überhaupt alle Reden dieses Evangeliums auch sprechen könnte, zu seinen Glie-
dern sagen (und sagt es tatsächlich – ›den Namen Gottes zu heiligen in der Welt‹ ist
eine vielgebrauchte Wendung). Daraus ergibt sich alle Zweideutigkeit des jüdischen
Lebens (so wie sich alle Bewegtheit des christlichen Lebens daraus ergibt); der Jude,
insofern er ›in der Welt‹ ist, steht unter diesen Gesetzen, und es kann ihm keiner sa-
gen, so und so weit darfst du und dies ist deine Grenze« (Franz Rosenzweig an Eu-
gen Rosenstock [Oktober 1916]. In: Ders., Der Mensch und sein Werk [wie Anm.
5], Bd I/1, S. 253f.).
2 Messianismus der Metonymie: Franz Rosenzweig 351

bedeuten, dass die Vollendung ihm in der Zeit noch unerreicht bliebe, und
wäre also eine Leugnung seiner Ewigkeit« (SdE 364f.). Die Zeit des Wartens
auf den Messias hat für das Judentum, wie es Rosenzweig konstruiert, keinen
Sinn in sich, da es das Gottesreich schon symbolisch-rituell verwirklicht hat.
Bezüglich der messianischen Erwartung stellt Rosenzweig in einem Brief an
Hans Ehrenberg von 1918 Christentum und Judentum einander chiastisch
gegenüber. Das Judentum lebe hin auf das Ende der historischen Zeit, die
Rosenzweig mit dem Kirchenvater Augustinus das »Zwischenreich« nennt, das
Christentum aus dem Anfang:
Das christliche Verhältnis zum Zwischenreich ist bejahend, das jüdische verneinend.
[…] Wie bejaht man ein Zwischen? indem man einen Anfang positiv, als gewesen,
ein Ende negativ, als noch nicht gewesen setzt. Das ist […] das christliche Verhält-
nis [zum Zwischenreich; Anm. E.D.] überhaupt. […] Wie verneint man ein Zwi-
schen? Schärfer noch: wie drückt man in der Form des Zwischen aus, daß etwas
nicht zwischen ist? […] Indem man den Anfang negativ, also noch nicht gewesen,
das Ende positiv, als schon gewesen, setzt – also Anfang und Ende zwar nicht ver-
tauscht, aber umwertet. Dies ist das Judentum. Der Anfang des Zwischenreichs, die
Ankunft des Messias, ist noch nicht gewesen; das Ende, das Gottesreich, hat schon
angefangen.11

Die Umwertung von Anfang und Ende, die Rosenzweig dem Judentum zu-
schreibt, gibt sich so zu lesen, dass »das Gottesreich« historisch noch nicht
angefangen hat – der Messias ist noch nicht gekommen –, aber doch schon
›wirklich‹ sein soll. Durch die Erfüllung des Gesetzes erfahre der Jude bereits
ein unmittelbares endgültiges Verhältnis zu Gott.12 Einerseits antizipiert das
Judentum bei Rosenzweig auf diese Weise die Erlösung auf metahistorischer,
ritueller Ebene, andererseits bewahrt es aber das Bewusstsein für die Unerlöst-
heit auf historischer Ebene. So behauptet Rosenzweig wohl im Stern, dass »die
gewaltigen Tage, der Neujahrstag und der Tag der Versöhnung, die ewige
Erlösung mitten in die Zeit stellen« (SdE 360). Er beeilt sich aber hinzuzufü-
gen, dass »die Feste der unmittelbaren Erlösung den Festmonat der Erlösung
[…] nicht ab[schließen]; vielmehr folgt das Hüttenfest als das Fest der Erlö-
sung auf dem Boden der unerlösten Zeit und des geschichtlichen Volks ihnen
noch nach« (SdE 364). So bricht »dann das Bewußtsein der noch unerreichten
Erlösung wieder hervor […] und dadurch [schäumt] der Gedanke der Ewigkeit
über den Becher des Augenblicks, in den er schon abgefüllt schien, wieder
über« (SdE 364).
Trotz der symbolisch-rituellen Vorwegnahme der Erlösung erhalte sich im
Judentum also das »Bewußtsein der [historisch; Anm. E.D.] noch unerreichten
11 Franz Rosenzweig an Hans Ehrenberg, 11.05.1918. In: Ders., Der Mensch und sein
Werk (wie Anm. 5), Bd I/1, S. 560f.
12 Diese Erfüllung des Gesetzes beschreibt Rosenzweig im Stern zwar nur in litur-
gisch-ritueller Hinsicht. Der Brief an Ehrenberg und andere Zeugnisse dokumentie-
ren jedoch, dass Rosenzweigs Verständnis von einem Leben im Gesetz nicht auf
diesen Aspekt beschränkt ist.
352 Teil III

Erlösung« – im Gegensatz zum Christentum, für das die Erlösung historisch


schon begonnen habe. Rosenzweigs Blick auf das Christentum ist nicht nur
durch Hegel, sondern ebenso stark durch seine Augustinus-Lektüre während
des Kriegs geprägt. Der von ihm konstatierte Unterschied zwischen den »bei-
den in aller Zeit unversöhnlichen Messiaserwartungen […], d[er] des kom-
menden und d[er] des wiederkommenden«,13 weist auf seine Augustinus-
Lektüre zurück. Rosenzweig hatte entdeckt, dass Augustinus in seiner Polemik
gegen den Chiliasmus (und damit gegen apokalyptische Tendenzen des Chris-
tentums) das »tausendjährige Reich« schon mit dem Kreuzestod Jesu anfangen
ließ. In seiner Deutung der Johannes-Apokalypse im 20. Buch von De Civitate
Dei habe Augustinus das traditionelle geschichtlich-eschatologische Schema,
das über die spätjüdische Apokalyptik auf das Urchristentum gekommen war,
radikal verändert:
Kreuzestod, Erhöhung Christi als des ›Erstlings derer die schlafen‹, […] dann Paru-
sie, Erweckung der Toten, tausendjähriges Reich, bestehend in Herrschaft Christi
wieder auf Erden mit den Seinen, dann Weltgericht mit ewiger Seligkeit und Ver-
dammnis […]. Dieses Schema also wird da von Augustin in gewaltigster Interpreta-
tion der Johannesapokalypse so beseitigt: der Kreuzestod ist die Parusie, von da ab
unmittelbar beginnt die Herrschaft Christi mit den Seinen, die Kirche, sie ist das tau-
sendjährige Reich!!!14

Auf Augustinus’ Polemik gegen den Chiliasmus geht Rosenzweigs Verständ-


nis des Christentums als »der Zeit Herr« zurück.15 Der »wiederkommende«
13 Rosenzweig, Das neue Denken (wie Anm. 6), S. 232.
14 Franz Rosenzweig an Hans Ehrenberg, 02.03.1917. In: Ders., Der Mensch und sein
Werk (wie Anm. 5), Bd I/1, S. 358f.
15 Vgl. Francesco Paolo Ciglia: Der gordische Knoten der Zeit. Aspekte des Dialogs
zwischen Rosenzweig und Augustin. In: Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg.):
Franz Rosenzweigs »neues Denken«. Bd 1. Freiburg: Alber 2006, S. 323–345, vor
allem: S. 341ff. Damit setzt Ciglia einen neuen Akzent bezüglich Rosenzweigs Au-
gustinus-Rezeption. Funkenstein z. B. geht noch von parallelen Konstruktionen bei
Augustinus und Rosenzweig aus (vgl. Amos Funkenstein: Jüdische Geschichte und
ihre Deutungen. Übers. von Christian Wiese. Frankfurt a. M.: Jüdischer Verlag
1995, S. 218f.). Dies stimmt insofern, als Augustinus wie Rosenzweig die Geschich-
te der Reiche der Welt von der Geschichte des »Gottesstaates« bzw. des »Reichs
Gottes« trennt, was ja überhaupt der Einsatzpunkt seiner Argumentation in De Civi-
tate Dei ist: Der drohende Untergang Roms sei nicht gleichbedeutend mit dem Ende
der Geschichte geschweige mit dem Ende des Christentums, wie es einige von Au-
gustinus’ Zeitgenossen wähnten, die die Geschicke des Christentums an die Geschi-
cke des Römischen Reiches geknüpft sahen. Rosenzweig meint jedoch, dass in Au-
gustinus’ Umdeutung der Johannes-Apokalypse die Eschatologie einkassiert werde.
Für Augustinus hat Christus bereits im »Zwischenreich« die Herrschaft in Gestalt
der Kirche angetreten, weswegen zwischen der Geschichte und dem Jüngsten Ge-
richt mit keinem apokalyptischen Bruch zu rechnen sei, auf den bei Johannes erst
das tausendjährige Reich Christi mit seinen Getreuen folge, bevor am Ende der Ge-
schichte das Jüngste Gericht einsetzt. In Augustinus’ Interpretation erkennt Rosen-
zweig den Grund dafür, dass das »Kommen des Reiches […] eine welt- und kir-
2 Messianismus der Metonymie: Franz Rosenzweig 353

Messias vollendet nur mehr die Geschichte, das »Zwischenreich«, das eine
einzige lange Parusie ist, eine einzige ausgedehnte Gegenwart. Denn das
Christentum habe, so Rosenzweig,
die Gegenwart zur Epoche gemacht […]. Vergangenheit ist nur noch die Zeit vor
Christi Geburt. Alle folgende Zeit von Christi Erdenwandel an bis zu seiner Wieder-
kunft ist nun eine einzige große Gegenwart, jene Epoche, jener Stillstand, jene Stun-
dung der Zeiten, jenes Zwischen, worüber die Zeit ihre Macht verloren hat (SdE
375).

Indem das Christentum die Gegenwart zu einer einzigen »großen Gegenwart«,


zur »Epoche« gemacht habe, halte es die Zeit an (gr. epoché: »Haltepunkt«)
und behandele die Gegenwart, als wäre sie schon vergangen.16 Denn die Ge-
genwart, verstanden als Augenblick, »verfliegt pfeilschnell« und ist infolge-
dessen »nie ›zwischen‹ seiner Vergangenheit und Zukunft […]. Ein Zwischen
kennt der Weltlauf nur in der Vergangenheit; nur der vergangene Zeitpunkt ist
Zeit-punkt, Ep-oche [sic], Haltestelle« (SdE 374). Das Christentum werde »der
Zeit Herr« (SdE 374), indem es die »lebendige Zeit« des gegenwärtigen Au-
genblicks arretiere, den Augenblick stillstelle zum Punkt auf einem Weg, des-
sen Anfang und Ende jenseits der Zeit liegen. So mache sich das Christentum
in der Zeit immun gegen die Zeit, gegen die amorphe Zeit der verfliegenden
Augenblicke. Der Augenblick werde vielmehr »zum Mittelpunkt der christli-
chen Weltzeit; und diese Weltzeit besteht, da sie nicht vergeht sondern steht,
aus lauter solchen ›Mittelpunkten‹; jedes Ereignis steht mitten zwischen An-
fang und Ende des ewigen Wegs und ist durch diese Mittelstellung im zeitli-
chen Zwischenreich der Ewigkeit selber ewig« (SdE 377).
Anders als das Judentum, das Gott der »lebendigen Zeit« entzogen habe und
das – symbolisch – in der Ewigkeit lebe, sieht Rosenzweig das Christentum
»den Wettkampf mit dem Strom« der ziellos vergehenden Zeit aufnehmen. Sei
das Judentum dem »ewigen Leben« verschrieben, so schreite das Christentum
auf dem »ewigen Weg«, seiner »ewigen Gegenwart sicher, immer in der Mitte
des Geschehens, immer im Ereignis, immer auf dem Laufenden, immer mit
dem Herrscherblick des Bewußtseins, daß es der ewige Weg ist« (SdE 378).
Dem Judentum bleibe die radikale Alterität zwischen historischer Zeit und
Ewigkeit bewusst, da es »nie ganz einig mit der Zeit« (SdE 335) sei und im

chenpolitische Angelegenheit« (SdE 409) werden konnte. Demgegenüber erinnere


das Judentum das Christentum beharrlich an die eschatologische Dimension der Er-
lösung: »[I]hr, die ihr in einer ecclesia triumphans lebt, habt einen stummen Diener
nötig, der euch allemal, wenn ihr in Brot und Wein Gott genossen zu haben glaubt,
erinnert: ›įȑıʌȠIJĮ ȝȑȝȞȘıȠ IJ‫ޒ‬Ȟ ‫ۂ‬ıȤȐIJȦȞ‹« (Franz Rosenzweig an Eugen Rosen-
stock, 08.11.1916. In: Ders., Der Mensch und sein Werk [wie Anm. 5], Bd I/1,
S. 285).
16 Vgl. Stéphane Mosès: System und Offenbarung. Die Philosophie Franz Rosen-
zweigs. München: Fink 1985, S. 182.
354 Teil III

Zwiespalt zwischen symbolischer Vorwegnahme der Erlösung und deren his-


torischer Unerfülltheit lebe. Dagegen verwische sich dem Christentum der
klare Unterschied, der für uns zwischen Offenbarung und Erlösung besteht. In
Christi Erdenwallen, allermindest in seinem Kreuzestod und eigentlich schon in sei-
ner Geburt ist die Erlösung bereits geschehen. […] Der Rückblick zu Kreuz und
Krippe, die Ereignung der Ereignisse von Bethlehem und Golgatha ins eigne Herz
wird wichtiger als der Ausblick auf die Zukunft des Herrn. Das Kommen des Reichs
wird eine welt- und kirchenpolitische Angelegenheit (SdE 409).

Das Christentum gebe der Erlösung mit Christi Geburt einen Anfang, zu dem
sich das »christliche Bewußtsein« hindränge – »zum ersten Christen, zum
Gekreuzigten« – wogegen das jüdische an dem »Manne der Endzeit« (SdE
385f.) orientiert sei.17 Insofern das Christentum Offenbarung und Erlösung
einander annähere, erfahre es die Erlösung als Teil der historischen Gegen-
wart. Das Judentum denke dagegen die Erlösung historisch als Ende – dieser
postulierte Unterschied zwischen den »beiden in aller Zeit unversöhnlichen
Messiaserwartungen […], d[er] des kommenden und d[er] des wiederkom-
menden«, skandiert Rosenzweigs gesamte chiastisch angeordnete Darstellung
von Judentum und Christentum.
Eben weil der Gedanke einer historischen Dynamik dem Christentum ein-
geschrieben sei,18 könne das »Kommen des Reichs« immer auch als »welt-
und kirchenpolitische Angelegenheit« interpretiert werden. An diesem Punkt
bewegt sich Rosenzweig, streng genommen, jenseits von Augustinus, der ja
gerade nicht die Geschicke des Christentums an die des römischen Reiches
gebunden gesehen hat. Der Protagonist von Augustinus’ Heilsgeschichte, der
»Gottesstaat«, fällt noch nicht einmal mit der sichtbaren Kirche zusammen,
sondern stellt ein mystisches Prinzip dar, dessen weltliche Repräsentation die
Kirche ist. Augustinus’ Interpretation von Geschichte als Heilsgeschichte ist
eindeutig gegen die Indienstnahme der Religion für die Politik ausgerichtet,
gegen eine politische Theologie.19 Nichtsdestotrotz hat sich Rosenzweig gera-
de für seine Interpretation der »messianischen Politik«,20 die neben der Einlei-
tung am meisten auf den Ersten Weltkrieg als Hintergrund der Entstehung des

17 Vgl. auch SdE 399: »Das Kreuz ist immer Anfang, immer Ausgangspunkt der Ko-
ordinaten der Welt. Wie die christliche Zeitrechnung dort anfängt, so nimmt auch
der Glaube von dort immer neuen Anlauf. Der Christ ist ewiger Anfänger; das Voll-
enden ist nicht seine Sache – Anfang gut, alles gut.«
18 Vgl. Stéphane Mosès: Der Engel der Geschichte. Franz Rosenzweig, Walter Benja-
min, Gershom Scholem. Frankfurt a. M.: Jüdischer Verlag 1994, S. 76.
19 Vgl. Karl Löwith: Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Zur Kritik der Geschichts-
philosophie. In: Ders.: Sämtliche Schriften. Bd 2. Hg. von Klaus Stichweh. Stutt-
gart: Metzler 1984, S. 182: »Er [Augustinus; Anm. E. D.] lehnte die traditionelle
Auffassung von Rom als dem vierten Reich der Prophezeiung Daniels ab, weil er im
Prinzip jede weltgeschichtliche, d. h. politische Eschatologie verwarf.«
20 Rosenzweig, Das neue Denken (wie Anm. 6), S. 229.
2 Messianismus der Metonymie: Franz Rosenzweig 355

Sterns hindeutet, auf Augustinus’ Lehre von »salus« und »fides« gestützt, wie
wir oben gesehen haben (vgl. Kap. II.5).
Der Staat versuche, den Widerspruch zwischen Vergangenheit und Zukunft
im Gesetz und im politischen Begriff der Nation aufzuheben, das Christentum
dadurch, dass es die Zukunft bis zum Wiedererscheinen Christi »zur Epoche
gemacht hat«. Diese Zeitvorstellung verführe dazu, das Kommen des Reiches
als »eine welt- und kirchenpolitische Angelegenheit« (SdE 409) zu behandeln,
insofern Erlösung als historisch schon begonnen begriffen werde. Dagegen
lässt Rosenzweig das Judentum im bewussten Zwiespalt leben: Es sei nie
»ganz einig mit der Zeit« (SdE 335) und stehe »immer zwischen einem Weltli-
chen und einem Heiligen« (SdE 338). Aus der Spannung zwischen dem
»Schon« und dem »Noch-Nicht«, zwischen der verweltlichenden Tendenz des
Christentums und der eschatologischen Ausrichtung des Judentums, ergibt sich
bei Rosenzweig eine dynamische Bedeutungsverschiebung von »Erlösung«.
Keine Säkularisierung von Erlösung ist endgültig, denn im Rahmen der Politik
sind allenfalls vorläufige Lösungen, aber keine Erlösung möglich. Aus dieser
Einsicht resultiert idealiter eine Verendlichung der Politik, die mit einer Ent-
säkularisierung des Erlösungsbegriffs einhergeht, den sie wieder in die Religi-
on verweist. Jede Säkularisierung von Erlösung treibt bei Rosenzweig so eine
Entsäkularisierung hervor, und umgekehrt. Rosenzweig gibt auf diese Weise
sowohl einem historischen Begriff von Erlösung als auch einem symbolisch-
rituellen Konzept von Erlösung den Status von Metonymien im Verhältnis
zum vollen Sinn von Erlösung. Denn »Erlösung« im vollen, religiösen Sinne
ist bei Rosenzweig der Punkt, wo Gott »[a]lles in Allem«21 sein wird, das heißt
der Punkt, an dem der Unterschied zwischen Profanem und Sakralem, aber
auch zwischen dem Judentum und den Völkern der Welt in einer »messiani-
schen Menschheit«22 aufgehoben wäre. Jede säkulare, aber auch jede sakrale
Bedeutung von »Erlösung« ist nur metonymisch zu verstehen, insofern hier ein
Säkulares, dort ein Sakrales für etwas – Erlösung im vollen Sinn – steht, was
letztlich über diesen Unterschied hinausführen soll.
Die Spannung zwischen Säkularisierung und Entsäkularisierung, die sich im
Stern der Erlösung aus dem Widerspiel der messianischen Zeitkonzeptionen
des Judentums und des Christentums ergibt, erkennt Rosenzweig an anderen
Stellen seines Werks auch als konstitutive Spannung des Judentums und seiner
Geschichte selbst an. Rosenzweig relativiert später den dezidiert antizionisti-
schen Standpunkt, den er noch im Stern der Erlösung vertreten hat, zu einem
nicht-zionistischen. Das bedeutet, dass Rosenzweig seinen eigenen Standpunkt
zwar als nicht-zionistisch versteht, den Zionismus aber nicht mehr grundsätz-
lich als Option der jüdischen Geschichte verwirft. Insofern der Zionismus als

21 Franz Rosenzweig an Rudolf Ehrenberg, 31.10.1913. In: Ders., Der Mensch und
sein Werk (wie Anm. 5), Bd I/1, S. 135.
22 Franz Rosenzweig: Atheistische Theologie. In: Ders., Der Mensch und sein Werk
(wie Anm. 3), Bd 3, S. 687–697, hier: S. 697.
356 Teil III

säkularisierte messianische Bewegung zu verstehen sei,23 bleibe er an eine


religiöse Auffassung des Judentums gebunden. Gerade aus diesem religiösen
Gesichtspunkt könne das Judentum aber nicht zu einem »normalen Volk, ei-
nem Volk wie die Völker«24 werden. Als Gottesvolk sei es »Träger der über-
völkischen, der Weltgeschichte«25 und könne nicht zu einer normalen politi-
schen Nation, auf die sich ein Nationalstaat gründe, säkularisiert werden. In
Rosenzweigs Augen soll gerade der religiöse Gesichtspunkt das Judentum
davor schützen, sich in Palästina im »Sinne eines hemmungslos entwicklungs-
lustigen Nationalismus [zu] entwickeln«.26 Steht Rosenzweig einem jüdischen
Nationalstaatsprojekt weiterhin kritisch gegenüber, so zeigt er sich doch aufge-
schlossen gegenüber dem kulturzionistischen Programm, in Palästina ein jüdi-
sches »geistiges Zentrum«27 aufzubauen.
Für Rosenzweig ist der Jude auch in seinen »›klassischen‹ Zeiten, auch im
eigenen Lande, auch vor der ersten Zerstörung, nie Polismensch oder Staats-
sklave gewesen […]. […] Daher wird aus Palästina entweder nichts oder etwas
ganz andres als Herzl meinte.«28 Ein jüdischer Nationalstaat kann für Rosen-
zweig nicht das Ziel sein, sieht er es doch gerade als Aufgabe des jüdischen
Menschen an, »[d]en Staat [zu] missionieren«, d. h. »wo und wann immer […]
den Staat [zu] überwinde[n] (ohne ihn zu zerstören)«.29 Wie immer man sich
dies im Einzelnen vorstellen soll, so ist doch festzuhalten, dass für Rosenzweig
der religiöse Aspekt des Judentums weniger politische Ansprüche legitimiert
als diese zum Gegenstand kritischer Befragung macht.30 Rosenzweigs Darstel-
lung zufolge distanziert der Bezug auf die jüdische Religion von politischen
Machtansprüchen, statt diese zu rechtfertigen. Für Rosenzweig gilt dies im
23 Vgl. Franz Rosenzweig an Eugen Rosenstock, 30.11.1916. In: Ders., Der Mensch
und sein Werk (wie Anm. 5), Bd I/1, S. 304.
24 Franz Rosenzweig: Geist und Epochen der jüdischen Geschichte. In: Ders., Der
Mensch und sein Werk (wie Anm. 3), Bd 3, S. 527–538, hier: S. 537.
25 Franz Rosenzweig: Jüdische Geschichte im Rahmen der Weltgeschichte. In: Ders.,
Der Mensch und sein Werk (wie Anm. 3), Bd 3, S. 539–552, hier: S. 543.
26 Franz Rosenzweig: Neuhebräisch? Anläßlich der Übersetzung von Spinozas Ethik.
In: Ders.: Zweistromland. Kleinere Schriften zur Religion und Philosophie. Berlin,
Wien: Philo 2001, S. 99–106, S. 104.
27 Ebd.
28 Franz Rosenzweig: Der Jude im Staat. In: Ders., Der Mensch und sein Werk (wie
Anm. 3), Bd 3, S. 553–555, hier: S. 554.
29 Rosenzweig, Der jüdische Mensch (wie Anm. 3), S. 575.
30 Mosès beschreibt das Verhältnis von religiöser, metahistorischer »Bestimmung des
Judentums« und Politik bei Rosenzweig wie folgt: »[D]ie konkrete religiöse Be-
stimmung des jüdischen Volkes [wäre] nicht so sehr als Abwendung von der Ge-
schichte zu verstehen, sondern als Distanznahme der Geschichte gegenüber, keines-
wegs also als Ablehnung des Politischen, sondern als Kritik der jeweils betriebenen
Politik. Seine Aufgabe bestünde nicht, wie bei Hegel, darin, sich der Weltgeschichte
zu unterwerfen, sondern im Gegenteil darin, diese in jedem ihrer Momente einem
ethischen Urteil zu unterwerfen« (Mosès, Der Engel der Geschichte [wie Anm. 18],
S. 62).
2 Messianismus der Metonymie: Franz Rosenzweig 357

Übrigen auch im Hinblick auf das Land. Selbst wenn das jüdische Volk im
›eigenen‹ Land ist, bleibt es für Rosenzweig im Exil. Denn das jüdische Volk
sei kein »erdgboren[es]«31 Volk, sondern habe im Exil seinen Ursprung. Der
»Geist des Exils, die Erdfremdheit, der Kampf des höheren Lebens gegen das
Versinken in die Bedingtheiten des Bodens und der Zeit, [ist] von Anfang an
in diese [jüdische; Anm. E. D.] Geschichte hineingepflanzt«.32 Aus religiösen
Gründen leitet sich für Rosenzweig also kein Besitzanspruch auf das Land ab.
Selbst im ›eigenen‹ Land könne der Bezug des jüdischen Volkes zum Bo-
den/Territorium kein Besitzverhältnis darstellen, wie es bei anderen Völkern
der Fall sei.33
Bemerkenswert ist es, wie Rosenzweig mit seiner Vorstellung, das Juden-
tum erhalte das »Bild der wahren Gemeinschaft« (SdE 369), einen zentralen
Gedanken der Emanzipationsphilosophie des 19. Jahrhunderts zugleich über-
nimmt und verändert. In seinem Aufsatz »Atheistische Theologie« beschreibt
Rosenzweig das Dilemma der am Emanzipationsideal orientierten jüdischen
Religionsphilosophie des 19. Jahrhunderts, die den Begriff des »ausgewählten
Volkes« zur »idealen Menschengemeinde« umgedeutet habe, wodurch das
Judentum »zum zufälligen Träger eines an sein Dasein nicht gebundenen Ge-
dankens« zu werden drohte.34 Im Gegenzug habe die »Judenvolks-Theologie«,
die Rosenzweig als jüdisches Pendant zur Leben-Jesu-Theologie begreift, ein
jüdisches »›völkisches Wesen‹« hypostasiert und das Volk als menschliche
Wirklichkeit einem »positivistisch gewissenhaften Geschlecht zum Glaubens-
inhalt empfohlen«.35 Rosenzweig distanziert sich von beiden Positionen.
Gleichwohl bleibt er dabei, dass das Judentum »das Bild der wahren Gemein-
schaft unversehrt erhalte« (SdE 369) – allerdings in seiner Eigenschaft als
liturgisch-rituelles Gottesvolk und nicht als abstraktes Gebilde oder als natürli-
ches Volk. Als »Bild der wahren Gemeinschaft« gibt Rosenzweig, wie die
jüdische Emanzipationsphilosophie des 19. Jahrhunderts, dem Judentum den
Status eines Symbols, das er allerdings metonymisch motiviert. Zwischen
Symbol und Symbolisiertem, dem Judentum und der idealen Menschenge-
meinde soll kein zufälliges, sondern ein historisch unlösbares Verhältnis be-
stehen. Das Judentum erscheint bei Rosenzweig nicht als metaphorisches, auf

31 Rosenzweig, Geist und Epochen der jüdischen Geschichte (wie Anm. 24), S. 533.
32 Ebd., S. 537.
33 Vgl. Stéphane Mosès: Politik und Religion. Zur Aktualität Franz Rosenzweigs. In:
Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg.): Der Philosoph Franz Rosenzweig. Bd 2.
Freiburg, München: Alber 1988, S. 855–875, hier: S. 866f.
34 Franz Rosenzweig: Atheistische Theologie. In: Ders.: Der Mensch und sein Werk.
Gesammelte Schriften. Bd 3. Hg. von Annemarie Mayer und Reinhold Mayer.
Dordrecht, Boston, Lancaster: Martinus Nijhoff 1984, S. 687–697, hier: S. 690f.
Vgl. zu diesem Aufsatz auch Dana Hollander: Exemplarity and Chosenness.
Rosenzweig and Derrida on the Nation of Philosophy. Stanford: Stanford Univ.
Press 2008 (Cultural memory in the present), besonders S. 170–176.
35 Rosenzweig, Atheistische Theologie (wie Anm. 34), S. 692.
358 Teil III

einem bloßen Vergleich beruhendes Symbol der idealen Menschheit. Wäre das
Verhältnis derart kontingent, dann ließen sich genauso gut andere Symbole
denken – und man müsste nicht Jude bleiben, um ein Bild der idealen Men-
schengemeinde zu bewahren. Genau diesen existentiellen, historisch gegründe-
ten und unlösbaren Zusammenhang zwischen Judentum und Menschheit ver-
sucht jedoch Rosenzweig metonymisch herzustellen: Das Judentum ist der
historische Grund und der Garant der idealen Menschengemeinde.
Rosenzweigs Geschichtsphilosophie kennt deutlich einen Ausgangs- und
einen Endpunkt: das »Volk das am Sinai steht« und die »messianische[]
Menschheit«.36 Die Sinaioffenbarung bleibt der Orientierungspunkt von Ro-
senzweigs Philosophie. Rosenzweig verschiebt den Umfang religiöser Begriffe
dergestalt, dass sie auch zur Analyse der nicht-religiösen Lebenswirklichkeit
dienen können, die er in seiner »Hermeneutik der Existenz« in den Blick
nimmt. Das Vorgehen Rosenzweigs gehorcht dabei der Logik der Metonymie,
die ein »Grenzverschiebungstropus«37 par excellence ist. Seine »Hermeneutik
der Existenz« erweitert den Bedeutungsumfang von religiösen Konzepten wie
»Schöpfung«, »Offenbarung« und »Erlösung«, ohne dass diese zu bloßen
Metaphern würden. Die Struktur der metonymischen Bedeutungsverschiebung
liegt auch Rosenzweigs Geschichtsphilosophie zugrunde. Die Bewegung der
Geschichte versteht Rosenzweig als metonymische Dynamik, die auf einer
dynamischen Umfangsverschiebung der Bedeutung von »Erlösung« beruht.
Die Spannung zwischen einem historischen und einem eschatologischen Sinn
von Erlösung hält Geschichte bei Rosenzweig in metonymischer Bewegung.

36 Ebd., S. 697.
37 Wolfram Groddek: Reden über Rhetorik. Zu einer Stilistik des Lesens. Basel, Frank-
furt a. M.: Stroemfeld 1995 (Nexus; 7), S. 234.
3 Messianismus des Symbols

Anders als bei Rosenzweig erscheint bei Bloch und Landauer der jüdische
Messianismus als dominant metaphorisches Symbol. Beide interpretieren die
messianische Sprache als symbolische »Bildersprache« (AS 96) für die sozia-
listische Revolution, die sich genauso gut auch in anderen Symbolen ausdrü-
cken kann, was in ihren eigenen Texten ja auch zu beobachten ist. Landauer
und Bloch verstehen nicht nur die messianische, sondern die tradierte religiöse
Sprache überhaupt als symbolische Bildersprache. Ein Messianismus des
Symbols lässt sich nicht nur im Hinblick auf Landauers und Blochs Interpreta-
tion der überkommenen messianischen Sprache ausmachen, sondern auch in
Bezug auf ihre Geschichtsphilosophie. Landauer und Bloch legen der Ge-
schichte ein dynamisches Prinzip des Werdens unter, das in messianischem
Licht erscheint. Beide vertreten eine symbolische Geschichtsauffassung, inso-
fern sie die Ereignisse der Geschichte als symbolischen Ausdruck eben dieses
dynamischen Prinzips des Werdens begreifen. Wenn Landauer und Bloch
schließlich das Judentum mit seinen messianischen Potenzen als Symbol der
werdenden Menschheit auffassen, so geht die metaphorische mit der klassi-
schen synekdochischen Symbolverwendung zusammen, insofern ein Teil für
das Ganze steht.1
Von allen inhaltlichen Differenzen abgesehen, lässt sich der Unterschied
zwischen Rosenzweigs, Landauers und Blochs symbolischer Auffassung des
Judentums auch rhetorisch verdeutlichen als Unterschied zwischen einem eher
metonymisch und einem eher synekdochisch motivierten Symbol. Denn der
Metonymie wird nachgesagt, dass sie einen Zusammenhang in seine Teile
zerspaltet und äußerliche Teil-Teil-Verhältnisse konstruiert, wohingegen die
Synekdoche einen integrativen Effekt hat: Der Teil, der für das Ganze steht,
reduziert dieses nicht auf seine Bestandteile, sondern deutet auf eine Qualität
des über seine Teile hinausreichenden Ganzen, die es symbolisiert.2 Bei Ro-
senzweig sind Judentum und Christentum die beiden konstitutiven, einander
1 Zum Übergang zwischen den drei Grundtypen der Motivierung von Symbolen, dem
synekdochischen, metonymischen und metaphorischen Typ, vgl. Gerhard Kurz: Me-
tapher, Allegorie, Symbol. 4. Aufl., Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1997,
S. 80f.
2 Vgl. Hayden White: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhun-
dert. Übers. von Peter Kohlhaas. Frankfurt a. M.: Fischer 1991, S. 50–57 (»Die The-
orie der Tropen«).
360 Teil III

äußerlich bleibenden Größen des Erlösungsprozesses, die als Teile einen un-
aufhebbaren Eigenwert haben. Dem Judentum kommt dabei die Funktion zu,
die ideale Menschengemeinde zu symbolisieren, wofür es seinen Teilcharakter
bewahren und sich als liturgische Gemeinde erhalten muss. Bei Landauer und
Bloch symbolisiert das Judentum hingegen eine Qualität der Menschheit, ihr
dynamisches Werden, an dem alle Nationen teilhaben. Dieser Logik entspre-
chend, partizipieren bei Landauer alle, die »durch das Band des Geistes ver-
bunden«3 sind, am jüdischen Geist und am jüdischen Amt an der Menschheit,
auch wenn sie keine Juden sind (vgl. Kap. II.3).
Zwischen Landauers und Blochs Verständnis des jüdischen Messianismus
als metaphorisches bzw. metaphorisch-synekdochisch motiviertes Symbol gibt
es nun noch einmal Unterschiede, wie wir im Folgenden noch genauer sehen
werden. Landauer interpretiert den jüdischen Messianismus als symbolische
»Bildersprache« für die soziale Revolution und einen neuen »Gemeingeist«.
Das Diaspora-Judentum mit seiner pluralen nationalen Identität symbolisiert
für Landauer die erhoffte Einheit der Menschheit, in der nationale Grenzen
und einfache nationale Identitäten überschritten werden, ohne dass die Plurali-
tät der Nationen aufgegeben würde. Auch Bloch verwendet messianische
Symbole, um ein revolutionäres, utopisches Totum auszudrücken, das bei ihm
allerdings, anders als bei Landauer, mit einem phantasmatischen Begehren
nach einem absoluten Selbst einhergeht. Dementsprechend zielt Blochs Sym-
bolverständnis, anders als dasjenige Landauers, auf die utopische Identität von
Zeichen und Bezeichnetem. Wie sich zeigen wird, hat dies damit zu tun, dass
Landauers Symbolverständnis allegorische Momente integriert, wohingegen
Bloch das symbolische Streben nach Identität der allegorischen Sinnzerstreu-
ung gegenüberstellt.

3.1 Gustav Landauer

Im Zusammenhang mit Landauers Vorstellung vom »Gemeingeist«, den er als


natürlichen »Trieb zum Ganzen, zum Bunde, zur Gemeinde« (AS 99) und als
natürlichen Grund der Religion vor aller besonderen Religion postuliert, hatten
wir bereits das Symbol als sprachlichen Ausdruck des Gemeingeistes gestreift
(vgl. Kap. II.3). Landauer spricht oft allgemeiner von poetischer »Bilderspra-
che« (AS 96), in der allein sich die »unnennbare Einheit« (AS 96) des verbin-
denden Geistes ausdrücken lasse. In dieser Beziehung redet er aber auch kon-
kret vom »Symbol« (AS 6) oder vom »Sinnbild« (AS 99f.). Auch die Sprache
der Religionen betrachtet Landauer als eine poetische Bildersprache, sofern sie
sich nicht zum Dogma verhärte.

3 Gustav Landauer: Sind das Ketzergedanken? In: Ders.: Werkausgabe. Hg. von Gert
Mattenklott und Hanna Delf. Bd 3. Hg. von Hanna Delf. Berlin: Akademie-Verlag
1997, S. 170–174, hier: S. 172.
3 Messianismus des Symbols 361

Landauer steht in der Tradition des goethezeitlichen Symbolverständnisses,


das man von seiner konservativen Rezeption, die die Literaturwissenschaft in
der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dominierte und die Benjamin als »vulgä-
ren Sprachgebrauch« (GS I/1 336) schmähte, unterscheiden muss. Diese hat im
Symbol den unmittelbaren Ausdruck der Idee, einen Zusammenfall von Spra-
che und Sein gefeiert.4 Landauer hält dagegen an der unhintergehbaren Diffe-
renz zwischen dem Symbol, der konstruktiven »Bildersprache«, und dem
Symbolisierten fest. Die Beziehung zwischen Symbol und Symbolisiertem
erscheint bei Landauer mithin als kontingent – der »Gemeingeist« kann sich in
unterschiedlichen Symbolen ausdrücken –, soll aber auf einer Analogie und
nicht auf bloßer Konvention oder einem rein äußerlich bleibenden Vergleich
beruhen. Nach Maßgabe statischer Repräsentation lässt sich diese Analogie
allerdings nicht begreifen. Ähnlich sind sich der »Gemeingeist« als natürliche
Größe und die symbolische »Bildersprache« vielmehr im schöpferischen Prin-
zip, in der Produktion eines Ganzen, die unabschließbar ist. Den jüdischen
Geist interpretiert Landauer als eine Form des Gemeingeistes, der sich u. a. in
der messianischen Sprache symbolisiert. Der Messianismus drückt für Lan-
dauer die Hoffnung auf die Einheit der Menschheit aus, in der nationale Gren-
zen und einfache nationale Identitäten überschritten werden, ohne dass die
Pluralität der Nationen aufgegeben würde. Die messianische Aufgabe, einfa-
che nationale Identitäten zu dekonstruieren und die Nationen im Zeichen einer
»werdenden Menschheit«5 in vielfältige Beziehungen zu bringen, fällt bei
Landauer dem Diaspora-Judentum zu, so dass es für ihn »ein und dasselbe ist:
auf den Messias in Verbannung zu harren und der Messias der Völker zu
sein.«6
Auch Landauers Geschichtsschreibung und Geschichtsphilosophie sind am
Symbol orientiert, wie es Landauers großer Essay Die Revolution (1907) zeigt.
Auf den ersten 20 Seiten des Essays bemüht sich Landauer, eine wissenschaft-
lich begriffliche Behandlung des Themas »Revolution« ad absurdum zu füh-
ren, wie ich im Folgenden noch genauer darlegen werde. Begrifflich verstan-
den bedeute »Revolution« eine Zeitspanne bzw. eine Grenze zwischen zwei
gesellschaftlichen Ordnungen (vgl. R 14). Diesem Begriff hält Landauer die
Revolution als »Prinzip« entgegen, das über weite Zeiträume hinweg in die
Zukunft schreite (vgl. R 18). Im engeren Sinn ist dieses Prinzip »Revolution«
für Landauer mit der Reformation entstanden, mit der die Neuzeit als Zeitalter
des Individualismus und der atomisierten Massen begonnen habe (R 50). Seit-
her sei die Revolution »unser Weg« (R 36). Dieser Weg führe vom dahinge-
henden Gemeingeist, den Landauer dem christlichen Mittelalter zuschreibt, zu
4 Vgl. zur älteren und neueren literaturwissenschaftlichen Rezeption des goethezeitli-
chen Symbols: Frauke Berndt: Symbol/Theorie. In: Frauke Berndt und Christoph
Brecht (Hg.): Zur Aktualität des Symbols. Freiburg i. Breisgau: Rombach 2005
(Rombach Wissenschaften, Reihe Litterae; 121), S. 7–30.
5 Landauer, Sind das Ketzergedanken? (wie Anm. 3), S. 173.
6 Ebd.
362 Teil III

neuem Gemeingeist (vgl. R 53). In der Verklärung des Mittelalters, dessen


Ordnung eine »Synthese aus Freiheit und Gebundenheit« (R 35) gewesen sei,
offenbart sich Landauer als Erbe der Romantik, genauer: der Frühromantik.7
Denn wie bei den Frühromantikern geht es in Landauers ästhetischem und
geschichtsphilosophischem Denken darum, die Entzweiungen und ›Entfrem-
dungen‹ der Moderne zu bewältigen, ohne das positiv Neue der Moderne auf-
zugeben: ihre Dynamik und beständige Selbstüberschreitung.8 Revolution als
Prinzip der Überschreitung ist bei Landauer auf das Ideal eines neu zu finden-
den Gemeingeistes ausgerichtet, der die Gesellschaft zusammenzuhalten ver-
mag und zugleich dem Prinzip der Überschreitung die Treue hält. In Landauers
Geschichtsschreibung verweisen alle Revolutionen der Neuzeit symbolisch auf
die Revolution als Prinzip der Überschreitung und Versprechen eines neuen
Gemeingeistes, ohne dass dieses bisher erfüllt worden wäre.
Landauer entwirft ein anarchoromantisches Bild vom Mittelalter, in dem
nicht das Prinzip des Zentralismus und der Staatsgewalt geherrscht habe, son-
dern das Prinzip der Schichtung: Mannigfaltige, selbstständige Gesellschafts-
gebilde hätten nebeneinander bestanden, sich durchdrungen und durcheinander
geschichtet, ohne dass daraus eine »Pyramide oder irgendwelche Gesamtge-
walt« (R 43) geworden wäre. Die Form des Mittelalters sei nicht der Staat
gewesen, sondern »die Gesellschaft, die Gesellschaft von Gesellschaften« (R
43). Landauer verklärt das Mittelalter zum Ideal einer dezentrierten, pluralen
Gesellschaft von Gesellschaften, die selbständig verfasst und doch durchlässig
gewesen sein sollen, da sie von einem einheitlichen Geist durchdrungen gewe-
sen seien. Die Vorstellung einer »in Freiheit sich zusammenschließende Ge-
samtheit vieler Selbständigkeiten« (R 42) kann man wohl nicht anders verste-
hen denn als Rückprojektion des Ideals, das Landauer von einer kommenden
anarchosozialistischen Gesellschaft hat. Grundsätzlich gilt Landauers Kritik
dem Staat, dem Zentralismus, der Hierarchie und dem Gesetz. Die europäi-
schen Staatsrevolutionen und ihre Vordenker, die Landauer im großen Bogen
vom 16. Jahrhundert bis zur russischen Revolution von 1905 verfolgt, hätten
sich gegen die absolute Fürstengewalt gerichtet und versucht, feste Staaten zu
bauen als Rahmen für »ein freies und gedeihliches, verfassungs- und gesetz-
mäßig gesichertes Mitleben der Menschen« (R 69). Die politischen Revolutio-
nen beschreiben für Landauer aber nur ein Hin und Her von staatlicher Macht
und revolutionärer Gewalt, das solange währe, bis wieder ein verbindender
Geist aus den Individuen herausbreche, die neue Formen des Mitlebens schü-
fen (vgl. R 52). Dies wäre der Ausdruck einer »soziale[n] Revolution«, in der
7 Man kann Landauers Revolutionsessay als eine anarchistische Adaption von Nova-
lis’ Fragment »Die Christenheit oder Europa« betrachten. In seinem romantischen
Bild des Mittelalters beruft sich Landauer auch einmal direkt auf Novalis (vgl.
R 40); an anderer Stelle spielt Landauer auf den Titel von Novalis’ Fragment »Die
Christenheit oder Europa« an (vgl. R 32).
8 Vgl. Jürgen Fohrmann: Schiffbruch mit Standrecht. Der ästhetische Imperativ in der
»Kunstperiode«. München: Fink 1998, S. 8f.
3 Messianismus des Symbols 363

es um »ein[en] friedliche[n] Aufbau, ein Organisieren aus neuem Geiste und


zu neuem Geiste« (R 114) gehe. Landauers Programm der kleinen Bünde,
Siedlungen und Genossenschaften (vgl. R 116) versteht sich als Vorbereitung
und Beginn dieser sozialen Revolution.
Landauers Geschichtsschreibung der Revolution ist eine symbolische Ge-
schichtserzählung, mit der er sich bewusst von einer streng wissenschaftlichen
Behandlung des Themas abgrenzt. Im Ganzen symbolisch ist Landauers Ge-
schichtsschreibung der europäischen Neuzeit als Revolutionsgeschichte. Das
heißt, die Struktur des Symbols prägt Landauers Geschichtsverständnis, denn
seine geschichtsphilosophische Grundoperation besteht darin, der Geschichte
der europäischen Neuzeit eine Idee bzw. ein »Prinzip« zu unterlegen, auf das
alle konkreten historischen Ereignisse verweisen sollen: nämlich die Revoluti-
on als das Prinzip der Neuzeit seit der Reformation. Das historisch Konkrete
verweist auf dieses Prinzip, ohne dass der Sinn dessen, was Revolution gewe-
sen sein wird, im Konkreten erschöpft werden könnte. Indem die historischen
Ereignisse alle auf ein Prinzip bezogen werden, wird es Landauer möglich,
totalisierend von der Geschichte zu sprechen, ohne dass die Bedeutung dieser
Geschichte schon ausgemacht wäre. Denn das symbolische Verweisen kommt
an kein Ende und ist zugleich von der Idee einer überbegrifflichen Einheit
getragen. Als Prinzip verstanden entzieht sich die Revolution damit einer be-
grifflichen Definition. Diese sei unmöglich, weil die Revolution als das neu-
zeitliche Prinzip schlechthin die Gegenwart noch einbegreife. Ein wissen-
schaftlicher Standpunkt außerhalb des betrachteten Gegenstandes könne daher
nicht eingenommen werden (vgl. R 25). Mit der Zukunft, in die die Revolution
schreite, komme ein Unberechenbares ins Spiel, das sich begrifflicher Feststel-
lung, aber auch der Prognose widersetze. Denn aus der Vergangenheit ließen
sich keine Gesetzmäßigkeiten als Basis einer Prognose ableiten, müsse sie
doch selbst noch als unabgeschlossen gelten (vgl. R 18).
Was Landauer »Revolution« nennt, stellt zugleich eine (Teil-)Revolution
des Geschichtsmodells dar, das sich in der Aufklärung etabliert hatte und an
den Ideen von Totalität, Kontinuität und Irreversibilität orientiert war.9 Lan-
dauer widerruft die Irreversibilität der Geschichte. Für ihn ist die »Vergangen-
heit nicht ein Fertiges, sondern ein Werdendes. […] [A]uch die Vergangenheit
ist Zukunft, die mit unserm Weiterschreiten wird, sich verändert, anders gewe-
sen ist« (R 26). Mit dieser Formulierung schreibt Landauer der Vergangenheit
die Qualität des »Werdens« zu, wodurch sie nicht mehr als abgeschlossenes
Faktisches, sondern unter dem Aspekt des Möglichen erscheint. Diesen Ge-
danken greifen sowohl Bloch als auch Benjamin in ihrer Theorie des »Einge-
denkens« auf, die bei beiden messianisch konnotiert ist. Landauer interpretiert
9 Vgl. Daniel Fulda: Goethezeitliche Ästhetik und die Ermöglichung einer textuellen
Repräsentation von ›Geschichte‹. Zur Genese einer symbolischen Form. In: Daniel
Fulda und Silvia Serena Tschopp (Hg.): Literatur und Geschichte. Ein Kompendium
zu ihrem Verhältnis von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Berlin, New York: de
Gruyter 2002, S. 299–320, besonders S. 302f.
364 Teil III

dagegen in seinem Revolutionsessay die Geschichte wohl unter dem Gesichts-


punkt des Möglichen und des Utopischen, greift aber noch nicht zu messiani-
schem Vokabular. Wie wir bereits oben gesehen haben, findet sich ein Bezug
auf die messianische Tradition des Judentums nur in Landauers späteren
Schriften, als er sich überhaupt erst mit Fragen der jüdischen Geschichte und
der jüdischen Identität intensiver zu beschäftigen beginnt. Dies gilt auch für
seine Geschichtsphilosophie, die er erst in späteren Schriften in eine messiani-
sche Perspektive stellt, wobei er allerdings das Grundgerüst des Revolutions-
essays übernimmt. Das symbolische Geschichtsverständnis, das sich im Revo-
lutionsessay manifestiert, wird Landauer später um die Rolle des Judentums in
der Geschichte erweitern. Er wird den jüdischen Messianismus symbolisch
deuten und die messianische Sprache als Symbolsprache, die nichts anderes als
das Prinzip der Revolution ausdrückt, das er in seinem früheren Essay entwi-
ckelt hat. Dieser soll im Folgenden genauer im Hinblick auf Revolution als
Prinzip, das eine symbolische Darstellungsform erfordert, untersucht werden.
Von hier aus lässt sich dann Landauers symbolische Auffassung der histori-
schen Rolle des Judentums und des Messianismus in Augenschein nehmen.
Landauer lobt einmal an dem von ihm hoch geschätzten französischen Sozi-
alisten Pierre Joseph Proudhon, gelehrt zu haben, dass »geschlossene Be-
griffsworte nur Symbole für die unaufhaltsame Bewegung« (AS 107) seien.
Proudhon habe »an die Stelle geschlossener Dinge Bewegungen, Beziehungen,
an die Stelle des scheinhaften Seins das Werden« (AS 107) gesetzt. In diesen
Worten beschreibt Landauer zugleich auch sein eigenes Vorgehen im Revolu-
tionsessay. Um zu zeigen, dass die Revolution nicht streng wissenschaftlich
behandelt werden könne, simuliert er eine wissenschaftliche Untersuchung und
führt parodistisch vor, wie sie bei diesem Thema an ihre Grenzen stoßen müs-
se. Landauers parodistische Wissenschaftssimulation geht wie folgt: Eine
wissenschaftliche Darstellung der Revolution müsste eine allgemeine Begriff-
lichkeit entwickeln, die alle konkreten Einzelfälle zu fassen vermöchte. Be-
grifflich verstanden sei die Revolution der über Chaos und Aufruhr führende
Weg von einer Topie, womit eine relativ stabile gesellschaftlichen Ordnung
bezeichnet werden soll, zu einer neuen Topie. Der Gegenbegriff zur Topie, die
Utopie, sei durch ein Gemenge individueller Bestrebungen und Willenstenden-
zen zu definieren, die in einem Moment der Krise sich vereinigten, um eine
neue Topie zu gestalten. Aus dieser begrifflichen Terminologie abgeleitet,
würde das Grundgesetz der Revolution lauten: Auf jede Topie folgt eine Uto-
pie, auf diese wieder eine Topie und so weiter, woraus zu schließen sei, dass
die Utopie in keinem Fall zu ihrem Ziel führe, sondern immer nur zu einer
neuen Topie. Landauer lässt die wissenschaftliche Behandlung der Revolution
somit in eine tragische Ironie münden: »Die neue Topie tritt ins Leben zur
Rettung der Utopie, bedeutet aber deren Untergang« (R 16).
Nach Landauers Ansicht trifft sich die wissenschaftliche Thematisierung
der Revolution, die deduktiv von einer allgemeinen Begrifflichkeit und Ge-
setzmäßigkeit ausgeht, mit einer bestimmten ästhetischen Modellierung von
3 Messianismus des Symbols 365

Handlungen, nämlich mit der Fabelstruktur der Tragödie. Die wissenschaftli-


che Behandlung operiere mit der Vorstellung, dass die Menschheit auf dem
»Kothurn der Revolution von Topie zu Topie«10 (R 16) schreite und dem ei-
sernen Gesetz der Wiederholung nicht entgehen könne. Landauer insinuiert,
dass jemand, der eine solche Darstellung der Revolution lese, sich wie ein
Zuschauer einer Tragödie fühle: Hier wie dort zeige sich ein Gesetz des
menschlichen Daseins, das die Handlungen der Protagonisten gegen ihre eige-
nen Absichten zur Geltung gebracht haben. Nach wissenschaftlich-tragischer
Gesetzmäßigkeit müsse die Utopie notwendig scheitern und in der Topie un-
tergehen. Indem Landauer nun die von ihm als tragisch markierte Wissenschaft
parodiert, versucht er, deren Wiederholungsstruktur von innen aufzubrechen.
Er argumentiert, dass sich die Geschichte nicht nur insofern wiederhole, als
sie von einer Topie zur nächsten führe. Vielmehr bewahre sie auch die Erinne-
rung an alle vergangenen Utopien auf: »Jede Utopie [birgt] sehr stark das
Moment der begeisterten Erinnerung an sämtliche frühere Utopien in sich
[…].[…] So lebt sie auch in der Zeit relativ stabiler Topien unterirdisch wei-
ter« (R 17). Hier liegt Landauers Hebel, mit dem er das tragische Revolutions-
gesetz aufbricht, dem zufolge jede Utopie sich in ihren Gegensatz, die Topie,
verwandeln muss und die Utopie als Grenze zwischen zwei Topien überhaupt
nicht zur äußeren Wirklichkeit werden kann (vgl. R 17). Denn wenn die Uto-
pie unterirdisch weiterlebt, dann ist sie nicht nur Grenze zwischen zwei To-
pien, sondern als Grenzzustand auch in der Topie vorhanden. Die Möglichkeit
zur Überschreitung der Topie ist also jederzeit gegeben. Dies stimmt mit Lan-
dauers Credo des »Beginnens«, mit seinem Sozialismus der kleinen Siedlun-
gen und Bünde überein, die »gleich jetzt«11 realisiert werden sollen. Wie wir
gesehen haben, versteht sich Landauers Sozialismus der kleinen Siedlungen
und Bünde als Gegenmodell zum Marxismus. Diesem wirft Landauer »Wis-
senschaftsaberglauben« (AS 32) vor, durch den der Sozialismus zum Endpunkt
einer vermeintlich notwendigen historischen Entwicklung depotenziert werde,
was den Blick auf die Handlungsmöglichkeiten in der Gegenwart verstelle. Als
»Wissenschaftsaberglauben« möchte Landauer auch eine Geschichtsschrei-
bung der Revolution more geometrico entlarven, die meint, allgemeine histori-
sche Gesetzmäßigkeiten über die Revolution aufstellen zu können.12
10 Der »Kothurn« ist ein deutlicher Verweis auf die Tragödie. Der Kothurn ist »ein von
Aischylos für die Schauspieler der griech. Tragödie eingeführter hochgeschnürter
Halbstiefel mit bes. dicken Sohlen […]; [er] gab den Schauspielern e. den großen
Räumen des Theaters und ihrer erhabenen Rolle entsprechende größere Erscheinung
und Monumentalität; dann auf den erhaben-pathet. Stil der Aufführung übertragen«
(Art.: »Kothurn«. In: Gero von Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur. Stuttgart:
Kröner 1989, S. 479).
11 Gustav Landauer: Durch Absonderung zur Gemeinschaft. In: Ders.: Zeit und Geist.
Kulturkritische Schriften 1890–1919. Hg. von Rolf Kauffeldt und Michael Matzig-
keit. Regensburg: Boer 1997, S. 80–99, hier: S. 83.
12 In seiner Wissenschaftsparodie zitiert Landauer indirekt die mathematische Vorge-
hensweise, die Spinoza in seiner more geometrico geschriebenen Ethik wählt. Spi-
366 Teil III

Mit dem Postulat, dass die Revolution als Ausdruck der Utopie nicht nur ei-
ne Grenze zwischen zwei Topien darstelle, sondern als »Prinzip« (R 18) eines
Grenz- und Überschreitungszustandes auch in der Topie weiterlebe, stellt Lan-
dauer die starre Opposition von Topie und Utopie in Frage. Man kann sich
Landauers Verständnis von Revolution als utopischem Prinzip mit Hilfe von
Victor Turners Konzept der Liminalität vergegenwärtigen. Turner hat den
Begriff der Liminalität mit Blick auf die Übergangsrituale in Stammesgesell-
schaften entwickelt, ihn aber dann auch für die Analyse moderner kultureller
und gesellschaftlicher Phänomene fruchtbar gemacht. Liminalität kennzeichnet
die Schwellenphase bei Übergangsritualen, in der »das rituelle Subjekt eine
Zeit oder einen Bereich der Ambiguität, eine Art sozialen Zwischenstadiums
[durchläuft]«13 und sich außerhalb der normativen Sozialstruktur befinde.
Turner schreibt: »In der Liminalität ›spielen‹ die Menschen mit den Elementen
des Vertrauten und verfremden sie. Und aus den unvorhergesehenen Kombina-
tionen vertrauter Elemente entsteht Neues.«14 Die Liminalität kehre den Status
quo in rituellen Stammesgesellschaften allerdings nur für eine bestimmte Zeit
um, ohne ihn zu untergraben. Sie bestärke vielmehr die Bedeutung der herge-
brachten kulturellen Ordnung gegenüber dem Chaos.15 In rituellen Stammes-
gesellschaften steht das Liminale somit im Dienst der normativen Sozialstruk-
tur, das Innovationspotential der liminalen Phase wird beschränkt und kontrol-
liert. In gewissen modernen Phänomenen kehre sich das Verhältnis zwischen
dem Normativen und dem Liminalen dagegen um, so Turner:
Meines Erachtens stellen, historisch gesprochen, relativ spät auftretende soziale Pro-
zesse wie ›Revolutionen‹ oder ›Rebellionen‹, ja selbst die durch formale und geisti-
ge Freiheit, Betonung des Gefühls und Originalität gekennzeichnete ›Romantik‹ in
der Kunst eine Umwertung der in ›tribalen‹ und anderen, im wesentlichen konserva-
tiven Gesellschaften zwischen dem Normativen und dem Liminalen bestehenden
Beziehung dar. Denn der im vorindustriell Liminalen immer implizit enthaltene
Keim kultureller Transformation, der Keim der Unzufriedenheit mit dem kulturell
Gegebenen und der sozialen Kritik hat in diesen modernen Prozessen und Bewe-
gungen einen zentralen Stellenwert erhalten. Er ist nicht länger auf die Nahtstelle
zwischen ›fixierten Strukturen‹ beschränkt, sondern liegt der Entwicklung insgesamt
zugrunde. […] Revolutionen mögen die totalisierenden liminalen Phasen sein, für
die die Schwellenphasen der rites de passage bloß Vorboten oder Vorwarnungen
waren.16

noza beginnt mit Definitionen von Begriffen, und schreitet über Axiome zu Lehrsät-
zen fort, denen er »Corollarien«, Zusätze, anfügt. Auf diese Methode spielt Landau-
er an, indem er mit »Gesetz« und »Corollarium« (R 13, 16) operiert.
13 Victor Turner: Das Liminale und das Liminoide in Spiel, ›Fluß‹ und Ritual. Ein
Essay zur vergleichenden Symbologie. In: Ders.: Vom Ritual zum Theater. Der
Ernst des menschlichen Spiels. Übers. von Sylvia M. Schomburg-Scherff. Frankfurt
a. M., New York: Campus 2009, S. 28–94, hier: S. 35.
14 Ebd., S. 40.
15 Vgl. ebd., S. 62.
16 Ebd., S. 69f.
3 Messianismus des Symbols 367

Neben Revolution, Rebellion und der Kunst der Romantik zählt Turner noch
ein weiteres Phänomen zu den Erscheinungen, die das Verhältnis von normati-
ver Sozialstruktur und Liminalität umkehren: die Communitas, die Turner als
die Gemeinschaftsform begreift, die mit der Liminalität korrespondiert. Bei all
diesen Phänomenen spricht Turner weiterhin vom Liminalen, auch wenn sie in
modernen Gesellschaften nach der industriellen Revolution auftreten, in denen
Liminalität ansonsten die Gestalt des privat-individuellen, freiwillig-freizeit-
lichen »Liminoiden« angenommen habe.17 Die Communitas als liminale Ge-
meinschaftsform bezeichnet für Turner eine unmittelbare und spontane Ge-
meinschaftserfahrung, die die individuellen Unterschiede nicht in einem reg-
ressiven Einswerdens auflöse. In der Communitas beziehen wir uns vielmehr
»im Hier und Jetzt direkt auf den anderen […], frei von den kulturell definier-
ten Lasten seiner Rolle, seines Status, seines Rufs, seiner Klasse, seiner Kaste,
seines Geschlechts oder anderer Strukturnischen«.18 Die Communitaserfah-
rung suspendiert mithin die normative Sozialstruktur, so dass ein spielerischer
und kritischer Umgang mit deren Kategorien möglich wird. Der Liminalisie-
rungsprozess bahnt den Weg in die Communitas; er löst das Individuum aus
den sozialen Einbindungen heraus, um ein Menschliches jenseits der normati-
ven Sozialstrukturen freizulegen.19 Turner nennt dieses Menschliche jenseits
der normativen, politisch-rechtlichen Strukturierung auch »prima materia«.20
Für Turner kann sich Communitas immer und überall spontan ereignen,21 sie
kann aber keine dauerhafte Sozialform werden. Der Versuch, Communitas zu
institutionalisieren und zu reproduzieren, verkehre die »anfänglich freie[n] und
innovativen Beziehungen zwischen Individuen in normgeleitete Beziehungen
zwischen Personen«.22 Turner nimmt die Unmöglichkeit, Communitas auf
Dauer zu stellen, nun nicht, wie z. B. Helmuth Plessner, zum Anlass, diese zu
dekonstruieren, sondern er spricht der Communitaserfahrung eine wichtige

17 Das Liminoide gehört dem Bereich der modernen »Mußegattungen« (ebd., S. 49)
vom Sport bis zur Kunst an. Liminoide Handlungen sind im Gegensatz zu liminalen
rituellen Praktiken durch Freiwilligkeit gekennzeichnet (vgl. ebd., S. 66): Sie fallen
in den Bereich der privat-individuellen Freizeit, der Muße im Gegensatz zur Arbeit.
In den liminoiden Mußegattungen treten das Ludische und das Experimentelle in
den Vordergrund. Die liminoiden Mußegattungen eröffnen einen Raum für Kritik
und für das Experimentieren mit Alternativen, aus dem Neues entstehen kann (vgl.
ebd., S. 82). Hierfür ist im rituell liminalen Bereich, der grundsätzlich auf Stärkung
der kulturellen Ordnung ausgerichtet ist, allenfalls der Keim gelegt.
18 Ebd., S. 75.
19 Vgl. Andreas Kraft: Jüdische Identität im Liminalen: Die Dichterin Nelly Sachs und
der Holocaust, S. 19f. (http://www.ub.uni-konstanz.de/kops/volltexte/2007/2630/
[Datum des letzten Zugriffs: 15.02.2011]).
20 Victor Turner: Variations on a Thema of Liminality. In: Ders.: Blazing the Trail.
Way Marks in the Exploration of Symbols. Ed. by Edith Turner. Tuscon, London:
Univ. of Arizona Press 1992, S. 48–65, hier: S. 95.
21 Vgl. Turner, Das Liminale und das Liminoide (wie Anm. 13), S. 70.
22 Ebd., S. 73.
368 Teil III

Funktion auch für größere, strukturierte Gesellschaften zu, da sie Raum biete,
die Strukturen der Gesellschaft kritisch zu bewerten bzw. Alternativen zu
entwickeln.23
Bei Landauer ist Revolution ein liminales Prinzip, das nicht nur den Über-
gang zwischen zwei relativ stabilen Gesellschaftsordnungen darstellt, sondern
auf eine liminale Gesellschaft selbst zielt, eben auf die Communitas. Dement-
sprechend plädiert Landauer dafür, dass die »Revolution […] ein Zubehör
unserer Gesellschaftsordnung, […] die Grundregel unsrer Verfassung werden«
(AS 137) müsse. Anders als Turner, für den die Communitas per definitionem
flüchtig ist, erhebt Landauer die Communitas zum Prinzip seiner anarchosozia-
listischen Gesellschaftsutopie der kleinen Siedlungen und Bünde. Für Turner
kann die Communitas gar kein Gesellschaftsprinzip werden, da sie sich als
solches notwendig in ihr Gegenteil verkehren müsse: in die normative Com-
munitas, die sich zu einem der strengsten Regime entwickeln könne.24 Com-
munitas kann bei Turner nur zusammen mit einer normativen Sozialstruktur
bestehen, die gleichwohl Nischen für diese bereitstellen kann. Für Landauer
bleibt die Communitas dagegen gesamtgesellschaftliche Utopie.
Revolution als utopisch liminales Prinzip kann nicht begrifflich eingefan-
gen, sondern nur symbolisch dargestellt werden. So erläutert Landauer die
Vorstellung, dass die Utopie Erinnerungen an sämtliche bekannte frühere Uto-
pien in sich berge und auch in der Zeit relativ stabiler Topien unterirdisch
weiterlebe, mit der Symbolik der Weinhefe. Jeder Wein erhalte seine Gärung
durch Weinhefe, die selbst aus Wein gewonnen werde. Wie jede Hefe neu ist
und doch die »Wirklichkeit oder die Kraft oder die Erinnerung (das ist alles
eins) jeder früheren Hefe« (R 17) enthalte, so erwache auch die Utopie immer
wieder alt und neu. Die Revolution gäre in der Neuzeit wie die Weinhefe.
Indem Landauer der neuzeitlichen Geschichte ein Prinzip zugrunde legt, das
sich nur symbolisch, nicht begrifflich darstellen lässt, ist es ihm möglich, Ge-
schichte als Ganzheit zu denken und ihr trotzdem die Offenheit zu bewahren.
Das Einzelne, das heißt die einzelne historische Revolution, wird nicht als
Beispiel eines allgemeinen Begriffs »Revolution« aufgefasst. Dieses Allge-
meine, das dynamisch liminale Prinzip Revolution, entzieht sich vielmehr der
begrifflichen Festlegung, ohne dass damit das Versprechen auf eine überbe-
griffliche Ganzheit aufgegeben würde, das im Einzelnen aufscheint. »Symboli-
sches Denken ist Ausdruck des Vertrauens in die bestimmte Aussagekraft von
Formen gerade dort, wo positive Inhalte sich im Unendlichen verlaufen.«25 In
einem symbolischen Verweisungszusammenhang steht die Bedeutung des
Einzelnen nicht fest, sondern dieses ist unendlich deutbar, ohne sich ins Dispa-
rate zu zerstreuen.

23 Vgl. ebd., S. 79–82.


24 Vgl. ebd., S. 77.
25 Barbara Naumann: Philosophie und Poetik des Symbols. Cassirer und Goethe. Mün-
chen: Fink 1998, S. 175.
3 Messianismus des Symbols 369

Aus der symbolischen Deutbarkeit der Vergangenheit bezieht Landauer sein


alternatives, dynamisches Geschichtsdenken. Indem Landauer die Revolution
nicht mehr nur als Ereignis des Aufruhrs und des Übergangs deutet, sondern
als Prinzip über diese hinausgehen lässt, stellt er zugleich die feste, in sich
abgeschlossene Identität historischer Ereignisse in Frage. Landauer präsentiert
seine Vorstellung von Revolution als Prinzip eines auch in der Topie verbor-
genen Grenz- und Überschreitungszustands als Gegenentwurf zu einer mecha-
nischen Abfolge von Revolution und Topie. Zugleich gibt sich Landauers
Revolutionsessay als Gegenentwurf zu einem mechanischen Geschichtsdenken
überhaupt zu verstehen. Hier käme Geschichte nur als sukzessive Verkettung
mit sich identischer und auseinander in irreversibler Folge hervorgehender
Ereignisse und Handlungen in Betracht. Landauer begreift die Vergangenheit
demgegenüber nicht als »etwas Fertiges, sondern [als] etwas Werdendes«
(R 26). Die Vergangenheit stellt er nicht als abgeschlossenen, der Gegenwart
vorangehenden Zeitraum vor, sondern als eine mit der Gegenwart koexistente
Zeitdimension, die sich mit der Gegenwart beständig verändere. Landauer gibt
dabei das Konzept einer ›werdenden Vergangenheit‹ nicht nur in einem er-
kenntniskritischen, sondern in einem starken, ontologischen Sinn zu denken:
Es gibt für uns nur Weg, nur Zukunft; auch die Vergangenheit ist Zukunft, die mit
unserem Weiterschreiten wird, sich verändert, anders gewesen ist. Damit ist nicht
bloß gemeint, daß wir sie je nach unserm Weiterschreiten anders betrachten. Das
wäre zu wenig gesagt. Ich behaupte vielmehr aller Paradoxie zum Trotz, daß die
Vergangenheit sich verändert. Indem nämlich in der Kette der Kausalität nicht eine
starre Ursache eine feste Wirkung hervorbringt, die wieder ein Ei legt usw. Nach
dieser Vorstellung wäre die Kausalität eine Kette hintereinander folgender Posten,
die alle außer dem Letzten still und angewurzelt feststünden. Nur der Letzte geht ei-
nen Schritt vorwärts, aus ihm entspringt dann ein Neuer, der wieder vorgeht und so
fort. Ich sage dagegen, daß es die ganze Kette ist, die vorwärts geht, nicht bloß das
äußerste Glied. Die sogenannten Ursachen verändern sich mit jeder Wirkung (R 27).

Die Vorstellung einer Vergangenheit, die mit der Gegenwart koexistiert und
sich mit dieser ständig modifiziert, schließt an romantische Ideen an. Man
findet sie aber auch bei einem philosophischen Zeitgenossen Landauers, Henri
Bergson, dessen Begriff der »durée« mit Landauers Vorstellung strukturell
verwandt ist. Bergsons »durée« stellt ein riesenhaftes »ontologisches Gedächt-
nis«26 dar, »wo alles […] miteinander koexistiert.«27 Die »durée« ist virtuell,

26 Gilles Deleuze: Henri Bergson zur Einführung. Übers. von Martin Weinmann. Ham-
burg: Junius 2001, S. 76. Hatte die Vorstellung der »durée« in Bergsons frühen
Schriften noch einen spezifisch subjektiven Seinsbezug vor dem Horizont der Frei-
heitsproblematik bezeichnet, so überwindet Bergson seinen subjektiven Ansatz mit
Materie und Gedächtnis (1896): »Die Idee einer virtuellen Koexistenz aller Vergan-
genheits- und Spannungsebenen wird damit auf das ganze Universum fortgeschrie-
ben. […] Das Universum […] ist gleichsam ein ungeheures Gedächtnis.« (ebd.,
S. 100) In Bergsons Abhandlung Schöpferische Entwicklung wird »das Leben selbst
mit einem Gedächtnis verglichen […] und die biologischen Gattungen und Arten
370 Teil III

aber wirklich – es ist dieser Begriff eines wirklichen Virtuellen, den Bergson
von dem Begriff des Möglichen, wie ihn die aristotelische Tradition geprägt
hat, abhebt. Virtuell ist die Vergangenheit, die »reine« Erinnerung, sofern sie
in keinem pragmatischen Kontext mehr steht: das Virtuelle ist in dem Sinne
das wesentlich Machtlose.28 Das Aktuelle ist dagegen die »reine« Wahrneh-
mung, das Gegenwärtige, das, was mich zur Tätigkeit reizt. Was Bergson aus
heuristischen Gründen »rein« trennt, wirkt in der Wirklichkeit aufeinander:
Die Virtualität aktualisiert sich, indem sie »divergenten Linien folgt […]. Dort
haben wir kein koexistierendes Ganzes mehr, lediglich Aktualisierungslinien,
die teilweise aufeinander folgen, teilweise gleichzeitig sind, aber jedes Mal
eine Aktualisierung des Ganzen in einer bestimmten Richtung verkörpern.«29
Gilles Deleuze hebt hervor, dass in Bergsons Konzeption das Aktuelle nicht
durch das Virtuelle strukturell vorgezeichnet ist, wie es bei Aristoteles’ Paar
des Wirklichen und des Möglichen der Fall ist. Die Aktualisierung des Virtuel-
len bewirkt vielmehr eine kreative Differenzierung. Das Zusammenspiel von
Aktualität und Virtualität führt zu einem sich ständig modifizierenden Ge-
dächtnis, das sich situativ anpasst und ausdifferenziert, indem es sich neu zu-
sammenzieht, sich neu ausrichtet und übersetzt. Die Erfindung des »Neuen«30
bricht bei Bergson nicht mit dem Vergangenen, sondern aktualisiert die Ver-
gangenheit entlang von immer neuen Differenzierungslinien. Die Aktualisie-
rung des Virtuellen erfolgt dabei nicht chaotisch, sondern beschreibt eine dy-
namische Kausalität, derzufolge sich die Ursachen in einer Art Rückkoppe-
lungseffekt mit den Wirkungen, die sie zeitigen, verändern und damit einen
identisch wiederholbaren Ursache-Wirkung-Mechanismus unterlaufen – ganz
so, wie es auch Landauer beschreibt.31

[entsprechen] den koexistierenden Graden dieses lebendigen Gedächtnisses. […]


Hier haben wir eine Ontologie, die von einem uneingeschränkten Pluralismus ge-
prägt zu sein scheint.« (ebd.)
27 Ebd., S. 126.
28 Vgl. Henri Bergson: Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung
zwischen Körper und Geist. Übers. von Julius Frankenberger. Hamburg: Meiner
1991 (Philosophische Bibliothek; 441), S. 132.
29 Deleuze, Henri Bergson (wie Anm. 26), S. 126.
30 Ebd., S. 27.
31 Bereits in Zeit und Freiheit (1889) hat Bergson eine »dynamische Auffassung der
Kausalitätsbeziehungen« für das subjektive Bewusstsein geltend gemacht (vgl. Hen-
ri Bergson: Zeit und Freiheit. Mit einem Nachwort »Anmerkungen zu Henri Berg-
son« von Konstantinos P. Romanòs. Hamburg: Europ. Verl.-Anst. 1994 [Eva-
Taschenbuch; 213], S. 159). In der Einleitung zur ersten deutschsprachigen Überset-
zung von Bergsons Matière et Mémoire aus dem Jahr 1908 hebt der Neukantianer
Wilhelm Windelband Bergsons Differenzierung zwischen mechanischer und »be-
weglicher Kontinuität« hervor, und würdigt ihre Bedeutung für die strukturelle
Möglichkeit des »Neuen« in der Geschichte, das es zufolge einer mechanischen
Kausalität und der ihr zugrunde liegenden Voraussetzung der Identität der Elemente
der Welt mit sich selbst nicht geben könne (vgl. Wilhelm Windelband: Zur Einfüh-
3 Messianismus des Symbols 371

Die dynamische Kausalität ist ein wichtiger Bestandteil von Landauers re-
volutionärem Geschichtsdenken, in dem Kontinuität und Ganzheit mit Offen-
heit und der Möglichkeit des unberechenbar Neuen einhergehen sollen. Lan-
dauer führt diese Elemente zusammen im Symbol des »Wegs«, der »über Un-
bekanntes, Tiefbegrabenes und Plötzliches« (R 119) führe. In diesem Bild wird
eine horizontale Vorwärtsbewegung mit einem Vorstoß in eine vertikale Tie-
fendimension verbunden. Hier macht sich eine typisch frühromantische Ge-
dankenfigur bemerkbar: Jeder Schritt vorwärts in die Zukunft gibt sich als
Rückgang in die Tiefendimension der Geschichte zu verstehen, wie man es
von Friedrich Schlegel und Novalis kennt. Wie in der Frühromantik imaginiert
Landauer Geschichte als eine progredient rückbezügliche Bewegung, die sich
mit jedem Zug regeneriert und modifiziert. Die Betonung des in die Zukunft
gerichteten, offenen »Werdens« der Geschichte geht mit einer Vertiefung des
Sinns der Vergangenheit einher, der als »[t]iefbegrabene[r]« Sinn »Unbekann-
tes« und Neues enthält. Das Symbol des über »Tiefbegrabenes« führenden
Weges lässt sich zugleich als Symbol für eine frühromantische Poetik lesen,
die die offene Reihe zum poetischen Strukturprinzip erklärt. Dieses poetische
Strukturprinzip verbindet eine exzentrische oder allegorische mit einer zykli-
schen oder konzentrischen symbolischen Funktion.32 In Landauers revolutio-
närer Geschichtspoetik kehren diese Elemente der frühromantischen Poetik,
der unendliche Ausgriff und die zyklische Rückbezüglichkeit bzw. Selbstbear-
beitung, wieder.
Im Zuge seiner späteren Beschäftigung mit dem Judentum deutet Landauer
den jüdischen Messianismus als symbolischen Ausdruck für dieses revolutio-
näre Geschichtsverständnis. In einem 1917 in der Zeitschrift Der Jude erschie-
nenen Artikel interpretiert Landauer ironischerweise gerade August Strind-
bergs Historische Miniaturen (1905) als messianische Geschichtsdichtung, die
von jüdischem Geist ausgehe und in diesen münde. Landauer liest die Erzäh-
lungen Strindbergs, den er selbst als »Geschichts-Christen«33 bezeichnet, ab-
sichtlich gegen den Strich. In Landauers Lektüre stimmt wohl die manifeste
Botschaft der Historischen Miniaturen mit Hegels »Geschichtsreligion«34
überein. Landauer macht aber noch eine andere Stimme in Strindbergs Erzäh-
lungen aus, die Stimme des »ewigen Juden«,35 in der sich eine alternative
messianische Geschichtsdeutung artikuliere. Diese steht im Widerspruch zu

rung. In: Henri Bergson: Materie und Gedächtnis. Essays zur Beziehung zwischen
Körper und Geist. Jena: Diederichs 1908, S. III–IVX).
32 Vgl. Waltraud Wiethölter: Ursprünglicher Gedanken Refrain – Wiederholung. Zum
Phänomen frühromantischer Zyklik. In: DVjs 75/4 (2001), S. 587–656.
33 Gustav Landauer: Strindbergs Historische Miniaturen. In: Ders.: Werkausgabe. Hg.
von Gert Mattenklott und Hanna Delf. Bd 3. Hg. von Hanna Delf. Berlin: Akade-
mie-Verlag 1997, S. 139–151, hier: S. 148.
34 Ebd., S. 145.
35 Ebd., S. 139.
372 Teil III

Strindbergs manifester Geschichtsauffassung, die dem historischen Geschehen


eine objektive Teleologie unterschiebt.
Strindbergs manifester, teleologischer Geschichtsauffassung zufolge gibt es
eine »geheime Lenkung«,36 eine »Absicht in der Weltgeschichte«,37 die über
die bewussten Absichten der Menschen hinausreiche. Diese können die größ-
ten Verbrechen begehen und dienen doch einem Zweck, der sich über ihre
Köpfe hinweg durchsetzt. Ob es sich nun um den ägyptischen Pharao handelt,
der alle erstgeborenen jüdischen Kinder töten lassen will und dadurch unge-
wollt Moses »nach oben«38 bringt, oder um den französischen Monarchen
Ludwig XI., dem der Priester auf dem Sterbebett Absolution für all seine
Verbrechen erteilt, da sie die Einigung Frankreichs herbeigeführt hätten, auch
wenn das nicht unbedingt seine Intention war –39 immer laufe es bei dem »Ge-
schichts-Christ[en]« Strindberg auf eine Heilsökonomie des Leides hinaus. In
dem historischen Bogen, den Strindberg in seinen Erzählungen von der Ge-
schichte Moses’ in Ägypten bis hin zur Französischen Revolution schlägt,
kehre stets die Geschichte vom Leid, das sich lohnt, wieder, auch wenn es den
Einzelnen oder ganze Menschengruppen vernichte. Strindbergs höherer, welt-
geschichtlicher Ironie entspreche es, »die Absicht der einzelnen wie der Völker
ja nicht zu deutlich gewahren zu wollen«,40 denn die partikularen Absichten
arbeiten, bewusst oder unbewusst, der metaphysisch abgesicherten, universa-
len »Absicht in der Weltgeschichte« zu.
Landauer richtet Strindbergs weltgeschichtliche Ironie gewissermaßen ge-
gen sich selbst. Er erkennt das produktive Potential der Einsicht, dass die Men-
schen nicht Herren ihrer Absichten sind, die sich in der Geschichte verkehren
können. Landauer hebt allerdings nicht auf eine vermeintlich höhere »Absicht
in der Weltgeschichte« ab. Dass die Absicht, mit der eine Handlung ausgeführt
wurde, nicht deren Bedeutung determiniert, führt Landauer in seiner produkti-
ven Fehllektüre Strindbergs nicht auf eine transzendente Absicht in der Welt-
geschichte zurück, sondern auf die prinzipielle Unabschließbarkeit des histori-
schen Kontextes. Dieser ist dafür verantwortlich, dass Ursachen und Wirkun-
gen einer Handlung, mit Nietzsche gesprochen, »toto coelo auseinander lie-
gen«, so »dass Vorhandenes […] immer wieder […] auf neue Ansichten aus-
gelegt« werden kann.41 Für Landauer gilt dies auch im Hinblick auf das Fakti-
sche der Vergangenheit, das sich sogar mit jeder Folge, die es zeitigt, selbst

36 Ebd., S. 140.
37 Ebd.
38 Ebd., S. 141.
39 Vgl. ebd., S. 148: »Absolution an den Mann des Absolutismus, an den Verbrecher,
im Namen des Absoluten, das sich in die Relation und Bewegung begeben hat, im
Namen des Gottes der Geschichte«.
40 Ebd., S. 147.
41 Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral. In: Ders.: Kritische Studienausgabe.
Hg. von Mazzino Montinari und Giorgio Colli. Bd 5. 3. Aufl., München u. a.: Dt.
Taschenbuch-Verlag 1993 (dtv; 2225), S. 245–412, hier: S. 313.
3 Messianismus des Symbols 373

ändern soll. So ergibt sich bei Landauer das Bild einer dynamisch offenen statt
einer teleologischen Geschichte.
Als Symbolfigur für die grundsätzliche Unabschließbarkeit des historischen
Kontextes und für die damit einhergehende Dynamik des historischen Gesche-
hens deutet Landauer die Figur des »ewige[n] Jude[n]«42 aus Strindbergs Er-
zählungen. Diese Figur legt Landauer als den Dritten aus, der Strindbergs
prästabilierte Harmonie zwischen bewusster und unbewusster Absicht in der
Weltgeschichte durchkreuzt. Landauer schreibt:

Zweie gehen als Gleiche in doch ewig neuen Situationen und Offenbarungen durch
dieses Werk hindurch: der Mensch und die geheime, nicht auszusprechende, nur an
den Spuren sichtbare Lenkung seines Geschicks […].
Und noch einer geht überall mit hindurch und taucht in den meisten Kapiteln auf:
der Jude, der ewige Jude in immer neuen Gestalten.
Wie kommt das? Am Schluß des Werkes spricht es einer, im Anschluß an die fran-
zösische Revolution, die sich gerade vollendet, aus: ›Sehen Sie, jetzt‹, sagt er, –
jetzt, wo die Menschheit auf dem Wege ist, eine tatsächliche Wirklichkeit zu werden
– ›jetzt ist die Verheißung an Abraham: ›In deinem Namen sollen alle Geschlechter
gesegnet werden!‹ auf dem Wege, sich zu erfüllen; auf dem Wege, sage ich.‹43

Dreimal wird das Adverb »jetzt« wiederholt, und in der Art, wie Landauer
zitiert, changiert die Betonung des historischen Augenblicks, des »Jetzt«, zwi-
schen der Referenz auf die Vergangenheit und der Referenz auf die Gegen-
wart: »›Sehen Sie, jetzt‹, sagt er – jetzt […] – ›jetzt ist die Verheißung an Ab-
raham: ›In deinem Namen sollen alle Geschlechter gesegnet werden!‹ auf dem
Wege, sich zu erfüllen; auf dem Wege, sage ich.‹«44 Jetzt sagt er, auf dem
Wege, sage ich: Nicht nur durch das doppeldeutige »jetzt« setzt Landauer, mit
Paul Celan gesprochen, den »Akut des Heutigen«,45 sondern auch, indem er
mit den Sprecherinstanzen spielt, wobei die Ich-Origo im schriftlichen Aufsatz
wohl noch zuzuordnen ist, im Vortrag aber, auf dem die Publikation beruht,
unentscheidbar zwischen der literarischen und der eigenen Person schwanken
muss.
Landauers »Jetzt«-Fuge hebt die revolutionären Chancen des jeweiligen
Augenblicks hervor, der zugleich ein vergangenes »Jetzt« aktualisiert und auf
ein zukünftiges »Jetzt« verweist. Die Geschichtsvorstellung, die das »Jetzt«,
den Augenblick, mit dem »Weg« (»auf dem Wege, sich zu erfüllen«), mit der
42 Landauer, Strindbergs Historische Miniaturen (wie Anm. 33), S. 139.
43 Ebd., S. 139 (Hervorhebungen E. D.).
44 Ebd. In Strindbergs Original erscheint demgegenüber das Adverb »jetzt« nur ein-
mal: »Sehen Sie, jetzt ist die Verheißung an Abraham: ›In deinem Namen sollen alle
Geschlechter gesegnet werden!‹ auf dem Wege, sich zu erfüllen; auf dem Wege, sa-
ge ich.« (August Strindberg: Historische Miniaturen. Übers. von Emil Schering.
München: Müller 1926).
45 Paul Celan: Der Meridian. In: Ders: Gesammelte Werke. Hg. von Beda Allemann
und Stefan Reichert. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1986, Bd 3, S. 187–202, hier:
S. 190.
374 Teil III

Bewegung, dem »Werden« der Geschichte verbindet, nennt Landauer am Ende


seines Strindberg-Essays »[m]essianisch«.46 Hiermit greift Landauer aber nur
die Zeitvorstellung seines Revolutionsessays wieder auf, in dem Kontinuität
und ereignishafter Augenblick keine Gegensätze bilden, sondern in einem
dynamischen Geschichtsverständnis zusammengehen können. Im Strindberg-
Essay identifiziert Landauer mithin seine revolutionäre mit einer messiani-
schen Geschichtsauffassung. Die Abraham-Verheißung »In deinem Namen
sollen alle Geschlechter gesegnet werden« nimmt Landauer als Ausdruck
dafür, dass die Menschheitsidee dem Judentum anvertraut wurde.47 Die messi-
anische Verheißung wird in Landauers Geschichtsinterpretation nie vollständig
erfüllt, sondern im messianischen »Jetzt« ist zugleich der Keim des Aufschubs
gelegt, ist es doch immer erst »auf dem Wege, sich zu erfüllen«. Landauer
überschreitet damit das einfache Schema von Verheißung und Erfüllung, denn
jede Erfüllung verwandelt sich wieder zur Verheißung, wenn sie als erst auf
dem Wege, also (noch) unerfüllt, begriffen wird. Indem sich jede Erfüllung
wieder in Verheißung wandelt, wandelt sich Sinn in (An-)Zeichen. Traditionel-
lerweise würde man diese Struktur eher mit der Allegorie als mit dem Symbol
verbinden. Das allegorisch Bezeichnete ist selbst nur Zeichen, das wieder auf
anderes verweist, statt die Fülle eines einheitlichen Sinns zu bergen. Auch gilt
die Allegorie als »narratologisch prädestinierte Figur einer sich zeitlich entfal-
tenden Poiesis, die an kein Ende gelangen kann«.48 Ist die Zeitlichkeit der
Allegorie die Sequenz, eine Reihe von Momenten, so die Zeitlichkeit des
Symbols der Moment.49 Damit soll nicht gesagt sein, dass in Landauers Ge-
schichtsschreibung letztendlich das Symbol zugunsten der Allegorie abdankt.
Vielmehr zeigt sich Landauer wieder als Erbe der Frühromantik, in der eine
»aneinanderreihende Verwendung des Symbols«50 begegnet, die das allegori-
sche »Immer-wieder-anders-Sagen« einer symbolischen Darstellung integriert.
Landauer hat die Sprache der Religionen als »Bildersprache« (AS 96) ver-
standen, die, wenn sie nicht zum Dogma erstarrt, symbolischer Ausdruck des
Gemeingeistes sei. Dieser gilt Landauer als natürlicher »Trieb zum Ganzen,
zum Bunde, zur Gemeinde, zur Gerechtigkeit« (AS 99), der vor aller Religion
liegt und zugleich deren anthropologische Grundlage bildet. Die Revolution
als Prinzip der Neuzeit interpretiert Landauer als Versprechen eines neuen
Gemeingeistes, der dem Liminalen der Revolution zugleich die Treue halten
soll. Bei allen Vorbehalten, die Landauer gegenüber der messianischen Tradi-
tion wegen möglicher apokalyptischer Kurzschlüsse hat, verwendet er im
Strindberg-Essay die jüdisch messianische Sprache als »Bildersprache« für die
Revolution und das Versprechen eines neuen Gemeingeistes. Die Erfüllung
46 Landauer, Strindbergs Historische Miniaturen (wie Anm. 33), S. 151.
47 Vgl. ebd., S. 144.
48 Wiethölter, Ursprünglicher Gedanken Refrain (wie Anm. 32), S. 655.
49 Vgl. Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels. In: GS I/1 340–344.
50 Vgl. Ernst Behler: Studien zur Romantik und zur idealistischen Philosophie. Pader-
born, München, Wien, Zürich: Schöningh 1993, Bd 2, S. 257f.
3 Messianismus des Symbols 375

dieses Versprechens potenziert sich, in kritischer frühromantischer Manier, zu


neuem Versprechen, da nie eine endgültige Erfüllung erreicht werden kann.
Statt »Sicherheitsvorkehrungen fürs tausendjährige Reich« zu treffen, geht es
Landauer programmatisch um »eine große und umfassende Ausgleichung und
die Schaffung des Willens, diesen Ausgleich periodisch zu wiederholen« (AS
136). Dass Landauer gerade die Figur des »ewigen Juden«, die als antisemiti-
sches Stereotyp im Mittelalter entstanden ist, zu einer messianischen Symbol-
figur umdeutet, spiegelt nicht nur seine Aufwertung des Diaspora-Judentums
wider, sondern bringt auch zum Ausdruck, dass es für Landauer keine endgül-
tige Erfüllung des messianischen Versprechens gibt, sondern dieses sich im-
mer wieder aktualisieren und kritisch potenzieren muss.

3.2 Ernst Bloch

Auch Ernst Bloch interpretiert die religiöse Sprache als Symbolsprache, die er
auf einen anthropologischen Ursprung der Religion bezieht. Denn was die
religiöse Tradition »Gott« nenne, sei als symbolischer »Tropus unserer selbst,
[…] als das, was in uns zuletzt verborgen treibt« (GU 383), zu verstehen. Die
Besonderheit von Blochs anthropologischer Interpretation des Glaubens be-
steht darin, dass sie nicht einfach die Position des transzendenten Subjekts
(Gott) streicht, sondern sie umbestimmt: »Deus absconditus wird […] zum
homo absconditus säkularisiert«,51 »zur Transzendenz in der Immanenz«.52
Bloch entlehnt die Idee des noch verborgenen Gottes, den er zum noch verbor-
genen Menschenwesen säkularisiert, der Gnosis, die den Erlösergott vom Gott
der Schöpfung unterscheidet. Dabei weiß Bloch, dass diese Idee einen »meta-
physische[n] Antisemitismus« (GU 330) bei den christlichen Gnostikern be-
günstigt hat, die auf dieser metaphysischen Basis das Neue Testament gegen
das Alte Testament ausspielen konnten. Demgegenüber schreibt Bloch dem
Judentum selbst einen »latenten Gnostizismus« (GU 330) zu und sieht eine
Verwandtschaft besonders zwischen der gnostischen Lehre, der zufolge das
Ende des Weltprozesses erst den Anfang, die Genesis, entschlüssle, mit dem
jüdischen Messianismus. Mit diesem sei ein »ebensowohl motorische[s] als
prägnant historische[s], unbildliches, unnaturhaftes Gerichtetsein auf ein noch
nicht daseiendes messianisches Ziel über der Welt« (GU 322) gemeint.
Bloch holt das messianische Ziel über der Welt in die Welt hinein, die er
zugleich über ihren gegenwärtigen Begriff hinaustreibt. Auch wenn er im Zuge
dessen das messianische Ziel als nicht absolut definierbar deklariert, gibt es

51 Wolfram Malte Fues: Unio inquantem spes: Meister Eckhart bei Ernst Bloch. In:
Alois M. Haas und Heinrich Stirnmann (Hg.): Das »Einig Ein«. Studien zu Theorie
und Sprache der deutschen Mystik. Freiburg (Schweiz): Univ.-Verlag 1980, S. 109–
166, hier: S. 139.
52 Ebd., S. 146.
376 Teil III

doch einige Eckpunkte für sein messianisches Telos: Das messianische Reich
steht für eine zukünftige messianische Gemeinschaft, in der eine umfassende
Einheit erreicht werden soll, die über die marxistische Forderung nach dem
Ende der Entfremdung durch unfreie Arbeit und Herrschaft durch die besit-
zenden Klassen signifikant hinausgeht, insofern die Einheit des Subjekts mit
sich selbst als erlebendem und erkennenden Ich, mit der Natur und der Welt
der Dinge angestrebt wird. Das subjektive Identitätsstreben stellt sogar, wie
wir gesehen haben, den wesentlichen Antrieb von Blochs frühem Geist der
Utopie dar.53 Vom Subjektiven aus denkt Bloch das messianische Telos als
»mystische Selbsterfüllung in Totalität« (GU 294). Diese kann nicht zuletzt
deswegen nicht definiert werden, weil sich in ihr das Phantasma einer überbe-
grifflichen absoluten Identität des Subjekts mit sich selbst und mit der Welt
ausdrückt.
Wie oben bemerkt (vgl. Kap. I.5), wertet Bloch die messianische Sprache
des Judentums und des Christentums als symbolischen Ausdruck eines noch
nicht realisierten und der Erfüllung harrenden utopischen Totums, das in der –
freilich überpositivistischen – Welt liegt. Umgekehrt deutet Bloch aber auch
die ästhetische Symbolintention messianisch. Was er als Merkmal religiöser
Symbole erkennt, nämlich »Zielbestimmungen, also Bilder geglückter Identi-
tät«54 darzustellen, macht er zum quasi religiösen Kennzeichen von Symbolen
überhaupt. So richtet sich die ästhetische »Symbolintention« (GU 365) bei
Bloch selbst auf ein utopisches Ganzes. Bloch beabsichtigt nicht, die religiöse
Sprache als Trug zu desavouieren, indem er sie als ›bloß‹ symbolisch begreift.
Die symbolische, religiöse Sprache ist für Bloch in ihrer Funktion unersetzlich,
da das utopische Ganze nicht anders als symbolisch auszudrücken sei. In die-
ser Hinsicht ist es erhellend, zu verfolgen, wie Bloch im Geist der Utopie
Kants Lehre von den der unmittelbaren Anschauung entzogenen »Vernunft-
ideen« aufgreift, um deren symbolischer Darstellung eine stärkere Wertigkeit
zu verleihen, als Kant es vorsieht.
Bloch gibt die vom »messianischen Reich« bedeutete utopische Wirklich-
keit im Licht von Kants Vernunftideen (Seele, Freiheit, Gott) zu denken, die
nur »gewollt und gedacht, aber nicht erkannt werden können, weil sie zwar
unmittelbar praktisch zu ›erleben‹ aber nicht ›anzuschauen‹ sind« (GU 273).
Anders als Kant, für den diese Ideen auf eine Sphäre des moralischen Geltens
bezogen sind, das über ihr Sein keine Aussage macht, meint Bloch, dass es
»kein Gelten ohne ein wenn auch noch so bedrohtes Sein [gibt], wie es auch
kein Symbol ohne Realität gibt, und wenn es auch nur die Realität der objekti-
ven Hoffnung der Essenz wäre« (GU 276). Bloch interpretiert Kants Gelten als
53 Vgl. Arno Münster: Utopie, Messianismus und Apokalypse im Frühwerk von Ernst
Bloch. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1982 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft;
372), S. 98.
54 Heinz Paetzold: Symbolik als Konstitution von Gattungsbewußtsein und als utopi-
sche Subversion. Zu Georg Lukács’ und Ernst Blochs Theorie des Symbolischen. In:
Études Germaniques 41 (1986), S. 363–376, hier: S. 371.
3 Messianismus des Symbols 377

ein Noch-Nicht-Sein, und es drängt ihn, im Unterschied zu Kant, aus dem


Gelten ins Sein und aus dem Prozess einer unendlichen Annäherung an die
Idee als Ziel zur unmittelbaren Verwirklichung der Idee zu schreiten. Wie für
Kant gibt es für Bloch keine direkte Anschauung der Idee, sondern nur deren
symbolische Darstellung. Kant stellt nun klar, dass sich die objektive Realität
der Vernunftideen nicht erweisen lässt und ihre indirekte symbolische Darstel-
lung eine inhaltliche Übereinstimmung zwischen Symbol und Symbolisierten
kategorisch ausschließt.55 Bloch überschreitet die von Kant gesetzten Grenzen
der Erkenntnis und der indirekten, symbolischen Darstellung, insofern es für
ihn »kein Symbol ohne Realität gibt« (GU 276). Bei Bloch kommt dem Sym-
bol ein antizipierender Realitätsgrad zu: Es verweist auf das Noch-Nicht-Sein
der utopischen Wirklichkeit, das sich nur symbolisch ausdrücken lasse. Bloch
deutet wohl den Inhalt der von ihm bemühten messianischen Symbolsprache
um, indem er diese auf den noch verborgenen Menschen und ein umfassendes
utopisches Totum bezieht. Die messianische Sprache des Judentums und des
Christentums, die Bloch eigenwillig mischt, bleibt für ihn aber ein gültiger
symbolischer Ausdruck für dieses utopische Ganze.
Landauer hat an Blochs Geist der Utopie bemängelt, dass hier »Gewortetes
als volle Realität«56 präsentiert werde. Für Landauer kann der Versuch, zur
unaussprechlichen mystischen Sinnfülle jenseits der Sprache vorzustoßen, nie
endgültig gelingen. Gerade das mystische Sprechen ist ein Sprechen, das stets
von neuem ansetzen muss und nie sein transzendentes Signifikat erreicht.
Auch in seiner Geschichtsphilosophie ist Bloch sehr viel stärker auf ein End-
ziel hin ausgerichtet als Landauer, aus dessen Essay Die Revolution Bloch eine
Reihe von Denkmotiven und Themenkomplexen entliehen hat, etwa die Kritik
an der obrigkeitsstaatlichen Ideologie des lutherischen Protestantismus sowie
die hohe Bewertung der sozialrevolutionären Rolle Thomas Münzers und
allgemein verketzerter Bewegungen.57 Wichtiger als diese motivischen Anlei-
hen ist allerdings Blochs Übernahme von Landauers geschichtsphilosophi-
schem Axiom einer werdenden statt einer in sich abgeschlossenen Vergangen-
heit. Bloch nennt eine solche geschichtsphilosophische Einstellung, die in der
Vergangenheit ein Element des Zukünftigen, des Noch-Nicht-Gewordenen
erkennt, »Eingedenken« (GU 333, 338f.).
Das »Eingedenken« geht bei Bloch vom »Jetzt« aus, womit Bloch die Be-
deutung des Subjekts für die Geschichtsschreibung hervorhebt. Denn das
»Jetzt« ist die Zeit des »erlebenden, auffassenden und utopischen Ich« (GU
334). Von diesem subjektiven »Jetzt« wähne sich ein einfaches Aufschreiben
55 Vgl. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. Hg. von Wilhelm Weischedel. Frank-
furt a. M.: Suhrkamp 1974, S. 294–299 (»§ 59. Von der Schönheit als Symbol der
Sittlichkeit«).
56 Gustav Landauer an Margarete Susman, 31.01.1919. In: Martin Buber (Hg.): Gustav
Landauer. Sein Lebensgang in Briefen. Frankfurt a. M.: Rütten & Loening 1929,
Bd 2, S. 372.
57 Vgl. Münster, Utopie, Messianismus und Apokalypse (wie Anm. 53), S. 125f.
378 Teil III

der Vergangenheit unabhängig, das Geschichte lediglich als »Stufenfolge toter


Gegenwarten« (GU 334) repräsentiere. Blochs geschichtsphilosophische Pro-
grammatik lautet demgegenüber wie folgt:
Es ist immer nur halb geschehen, was geschehen ist, und die Kraft, die es geschehen
ließ, die sich in ihm ungenügend heraussetzte, treibt in uns fort und wirft auch noch
weiter ihren Schein auf all das Halbe, Weghafte, Zukünftige hinter uns. […] Was
niemals vergehen konnte, muß zerschlagen werden, was niemals zu sich kam, muß
gelöst und das nie ganz Geschehene in neuen Atemzügen vollendet werden. Freilich
scheint das Vergangene fest geworden, eingeschlafen zu sein […]. Aber das alles
kann wieder erwachen, […] es hat nichts Unveränderliches an sich wie Grabstätten
oder bloße Unwiederbringlichkeiten oder auch wie irgend ein fertig Logisches […].
Es besitzt als Vergehendes trotz der scheinbaren Fixierung zur Vergangenheit noch
ein Heimliches, ein Element des Zukünftigen in sich […]. Dieses weiter zu treiben,
das Pochende, Unterdrückte, Zukünftige, das nicht werden konnte in all dem zähen
Teig des Gewordenen, […] ist die denkerische, geschichtsphilosophische Arbeit
(GU 335).

Blochs Lehre vom Zukünftigen im Vergangenen begehrt gegen deterministi-


sche Geschichtsvorstellungen auf und stellt die utopischen Potentialitäten eines
als unfertig begriffenen Weltprozesses in den Vordergrund. Bei allem Antide-
terminismus ist Blochs Geschichtskonzeption jedoch absolut teleologisch auf
Vollendung hin ausgerichtet, auf einen Zustand utopischer Identität, in dem die
Welt wie die Menschheit zu sich gekommen sein sollen. Nach Blochs anthro-
pozentrischer Fiktion soll die Welt sogar auf den Menschen warten, um durch
ihn »zur Heimkehr zu gelangen« (GU 338). Mit dieser Konstruktion will
Bloch einerseits die Notwendigkeit der revolutionären Tat herausstreichen,
wofür er charakteristischerweise wieder einen apokalyptischen Ton anschlägt:
»Fast alles ist zu uns geflohen, es zu schließen und wesentlich zu machen;
denn das fahle Roß ist losgebunden, und was gegeben ist, beginnt stetig un-
wirtlicher zu werden« (GU 340). Andererseits versucht Bloch mit der anthro-
pozentrischen Fiktion der Gefahr eines bloß subjektiv träumerischen Welt- und
Geschichtsverhältnisses zu begegnen, um den »kanonischen Träumer« (GU
333) als geschichtsphilosophisches Subjekt einzusetzen. Bloch unterstellt der
Welt bzw. der Materie ein objektives Noch-Nicht, das auf Vollendung durch
den Menschen angelegt sei. Die Ontologie des Noch-Nicht-Seins, die Bloch
später entwickeln wird, kündigt sich somit bereits im Geist der Utopie an, wo
Bloch sich freilich noch im Hinblick auf die Materie in Widersprüche verwi-
ckelt. Denn dem gnostischen Narrativ nach ist die Materie das Feindliche, das
zerstört werden muss, was sich mit der Vorstellung, dass die Dinge durch den
Menschen vollendet werden wollen, schlecht verträgt.
Landauer und Bloch vertreten beide eine symbolische Geschichtsauffas-
sung. Für beide besteht die geschichtsphilosophische Aufgabe darin, Geschich-
te nicht als Aneinanderreihung von unveränderlichen Fakten zu begreifen,
sondern die Vergangenheit als Dimension des Möglichen bzw. des Werdenden
wahrzunehmen. Geschichte erscheint als symbolischer Ausdruck eines dyna-
3 Messianismus des Symbols 379

mischen Prinzips des Werdens, das die Festigkeit der Vergangenheit in Frage
stellt. Bei Landauer heißt dieses dynamische Prinzip »Revolution«, bei Bloch
»Noch-Nicht«. Geschichte im Zeichen des »Noch-Nicht« wird zum Raum der
utopischen »Selbstbegegnung« des Menschen, der sich Blochs Geist der Uto-
pie verschrieben hat. Anders als Landauer ist Bloch sprach- und geschichtsphi-
losophisch an Endzielvorstellungen orientiert. Das historische Telos fällt bei
Bloch mit dem Ende der zerstreuenden allegorischen Bedeutung zugunsten
letzter und höchster symbolischer Identität zusammen. Die enge Verbindung
zwischen Blochs Geschichts- und Sprachphilosophie zeigt sich besonders
eindringlich in dem kurzen Text »Rokoko des Geschicks« aus den Spuren von
1930.
Man kann »Rokoko des Geschicks« autoreflexiv als Text über Blochs Poe-
tik der kleinen Form in den Spuren lesen. In den Spuren hat Bloch kurze Pro-
satexte versammelt, in denen sich Erzählung und philosophische Reflexion die
Hand reichen.58 Es geht in »Rokoko des Geschicks« um »Zeichen des ›Klei-
nen‹«.59 Bloch unterscheidet verschiedene Zeichen des Kleinen, die einen
Umschlag von einem Extrem ins andere, etwa von Unglück in Glück, ankün-
digen. Da gibt es einmal Zeichen des Kleinen mit mechanischer Funktion, die
anzeigen, dass ein Maß voll ist, und die der bürgerlichen Moral des Maßhal-
tens entsprechen. Sodann die Zeichen des Kleinen mit qualitativer Funktion,
die ein Zu-Ende-Gehen indizieren: Rokoko als »Zeichen des Auslaufens«.60
Beide Funktionen erläutert Bloch mit einem arabischen Märchen von einem
Vezier, der jahrelang in der Gunst eines Kalifen gestanden hat, in Ungnade
fällt, lange Zeit im Gefängnis sitzt und schließlich wieder in seine alte Position
eingesetzt wird. Beide Male kündigen Zeichen des Kleinen das Umschlagen
des Geschicks an. Von den mechanischen und den qualitativen Zeichen des
Kleinen will Bloch die Kleinzeichen des »echten ›Endes‹«, das am Unschein-
baren aufblitzen kann, unterschieden wissen. Die Kleinheit sage dann keinen
Wechsel einer Serie in die andere an, sondern führe aus den Serien überhaupt
heraus. Die »staunenden Kleinzeichen« verweisen auf den »Ausweg«, die
»letzte Tür«, die »Rettung«, den »Eintritt in das möglich Schicksallose, min-

58 Es ist verschiedentlich darauf hingewiesen worden, dass Bloch sich in den Spuren
an Johann Peter Hebels Erzählweise der Kalendergeschichten orientiert. Am Anfang
steht in den Spuren häufig eine Sentenz, der eine Geschichte – oftmals eine Nacher-
zählung europäischer und orientalischer Märchen oder chassidischer Geschichten –
folgt, um schließlich mit allgemeiner, lehrhafter Betrachtung zu enden. Bereits Lu-
kács hat bezüglich Blochs Stil von einer Mischung aus Hebel und Hegel gesprochen
(vgl. Francesca Vidal: Hebel bei Bloch. Zur Bedeutung von rhetorischer Geschichts-
schreibung und inszenierter Mündlichkeit. In: Richard Faber [Hg.]: Lebendige Tra-
dition und antizipierte Moderne. Über Johann Peter Hebel. Würzburg: Königshausen
& Neumann 2004, S. 97–110).
59 Ernst Bloch: Spuren. In: Ders.: Gesamtausgabe. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1977,
Bd 1, S. 60.
60 Ebd., S. 59.
380 Teil III

destens das formbare Schicksal«.61 Man darf wohl davon ausgehen, dass Bloch
seine Kurzprosa als letztere »Zeichen des Kleinen« verstanden hat, die darauf
ausgerichtet sind, im »Jetzt« die Serie – geschichtsphilosophisch gesprochen:
die Chronologie – hin zu einer neuen Zeit der Freiheit zu durchbrechen.
Die Kleinzeichen des »echten ›Endes‹« wirkten, so Bloch, vorerst nur indi-
viduell. In der Zukunft würden sie aber auch wieder einen kollektiven Wir-
kungskreis haben wie früher »etwa als Zeichen des Christkinds, der seelischen
Freiheit gegen den dummen Riesen der Notwendigkeit«.62 Bloch assoziiert das
kollektive Kleinzeichen mit messianischer Symbolik, sinnigerweise mit dem
Christkind als messianischem Kleinzeichen. Die Kleinzeichen, die einen
Wechsel der Serie ankündigen, und die ›richtigen‹, die letzten Kleinzeichen,
nach denen der Wechsel nicht mehr weitergehe, lassen sich nun als allegori-
sche und als symbolische Zeichen lesen. Hat Bloch doch später den Unter-
schied zwischen Symbol und Allegorie eben so beschrieben, dass das »Allego-
rische […] immer wieder metaphorisch herum[schickt]«, wohingegen das
»Symbolische versucht, metaphorisch zu landen«.63 Die kritische Frage, ob die
Unterscheidung zwischen den allegorischen und den symbolischen Kleinzei-
chen überhaupt so klar zu treffen ist, blendet Bloch charakteristischerweise
aus. Bloch liefert aber in den Spuren selbst nur Fragmente von Kleinzeichen,
mit denen er Fragmente des ›echten‹ Kleinzeichens, des Symbols, gemeint
haben dürfte, die sich aber eben auch als allegorische Fragmentierung und
Sinnzerstreuung lesen lassen.
Bloch hat die messianische Sprache als symbolische Zielsprache aufgefasst.
In seiner religiöser Sprache schwingt immer wieder ein apokalyptischer Ton
mit, in dem sich die Orientierung an historischen Endzielvorstellungen aus-
drückt. Er lässt keinen Zweifel daran, dass das echte Ende kein »umschlagen-
de[s]«, sondern ein »einschlagende[s]« sei,64 mag es sich auch in unscheinba-
ren Kleinzeichen verbergen. Die Apokalypse wird vom jungen Bloch als Para-
digma eines notwendig gewaltsamen, revolutionären Umbruchs bemüht, durch
den allein das historische Telos erreicht werden könne. Auch bei Landauer hat
die messianische Sprache einen innerweltlichen, universalen, revolutionären
Gehalt. Allerdings geht Landauer sehr vorsichtig mit der messianischen Spra-
che um, da er apokalyptische Kurzschlüsse fürchtet, die Bloch bewusst provo-
ziert. Landauer ist ein dezidiert antiapokalyptischer Denker, ein pazifistischer
Anarchist und sezessionistischer Kulturrevolutionär, der Endzielvorstellungen
ablehnt. Dementsprechend kennt Landauer keine endgültige Erfüllung des
messianischen Versprechens, das sich vielmehr immer wieder kritisch zu neu-
em Versprechen potenzieren soll. Damit korrespondiert sprachphilosophisch,

61 Vgl. ebd., S. 60f.


62 Ebd., S. 61.
63 Ernst Bloch: Tübinger Einleitung in die Philosophie. In: Ders.: Gesamtausgabe.
Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1977, Bd 13, S. 339.
64 Bloch, Spuren (wie Anm. 59), S. 61.
3 Messianismus des Symbols 381

dass sich in Landauers messianischer Sprache Symbol und Allegorie verbin-


den. Für Bloch ist die messianische Sprache im eminenten Sinn symbolisch,
Ausdruck eines utopischen Totums und utopischer Identität, in der das Bedeu-
ten »endlos in Alteritas« aufhören würde. Blochs Hochschätzung des Indivi-
duums hat seinem Marxismus einen entschieden humanistischen Zug verlie-
hen, der ihn vor materialistischen Reduktionen bewahrt hat. Die Kehrseite
davon ist, dass Blochs Identitätsphilosophie Gefahr läuft, in narzisstische All-
machtsphantasien abzugleiten, die nicht zuletzt die differenzphilosophischen
Voraussetzungen seiner Philosophie des Noch-Nicht selbst bedrohen.
4 Messianismus zwischen Metapher und
prophetischem Symbol: Martin Buber

In Martin Bubers messianischer Geschichtsphilosophie ist der Gedanke zent-


ral, dass das jüdische Volk in Palästina eine neuartige menschliche Gemein-
schaft aus Freiwilligkeit realisieren soll, die der ganzen Welt Exempel und
Initial bedeutet. Dieses kulturzionistische Ziel lässt Buber sich aus dem »Ur-
messianismus« speisen, aus dem Glauben an die Erfüllung des Königtums
Gottes, den Buber als Antriebskraft der jüdischen Geschichte seit dem Auszug
aus Ägypten begreift. Der »Urmessianismus« nimmt in Bubers Geschichtsphi-
losophie eine inhaltlich wie strukturell vergleichbare Stelle ein wie die »Revo-
lution« bei Landauer. Denn Bubers »Urmessianismus« strebt wie Landauers
»Revolution« nach einer herrschaftsfreien Gemeinschaft. Den »Urmessianis-
mus« gibt Buber ferner als historische Idee zu verstehen, die sich in unter-
schiedlichen Formen geschichtlich konkretisiert haben soll, ohne darin aufzu-
gehen. Auch Buber legt der (jüdischen) Geschichte mithin eine grundsätzlich
symbolische Struktur zugrunde, insofern er sie als symbolischen Ausdruck
einer unerschöpflichen Idee präsentiert. Die verschiedenen historischen Etap-
pen bzw. Ausprägungen des jüdischen Messianismus stellt Buber in seiner
Vorlesungsreihe über »Jüdischen und christlichen Messianismus« vor, die er in
deuterojesanische Vorstellung von Israel als »Rest«, der das Ende der Herr-
schaft von Menschen über Menschen ankündigt, als messianischem Ge-
schichtssymbol münden lässt.
Rekapitulieren wir kurz die historischen Stationen des jüdischen Messia-
nismus, wie Buber sie beschreibt: Das erste Stadium in der Geschichte des
jüdischen Messianismus stelle die »primitive Theokratie« (JCMZ 28) dar, die
das aus Ägypten ausgezogene Volk zu realisieren versucht habe. Das Volk
Israel konstituiere sich als Volk, indem es keinen anderen König anerkenne
außer Gott. Das Königtum Gottes sei nicht spirituell, sondern als politisch
reale Absicht zu verstehen, sich unmittelbar und ausschließlich der Herrschaft
Gottes zu unterstellen. Charakteristischerweise ignoriert Buber völlig die Prob-
lematik des göttlichen Rechts, um die primitive Theokratie als Versuch zu
werten, »eine Gemeinschaft aus der reinen Freiwilligkeit, von Menschenzwang
unabhängig, aufzubauen: jeweils zwischen diesen Menschen da« (JCMZ 9).
Dieser erste Versuch, das Königtum Gottes zu verwirklichen, scheitert, das
Volk fällt von Gott und damit zugleich von seiner Einheit ab. Es liefert sich
Angriffen von außen aus. In dieser Situation treten die »Richter« auf, charis-
384 Teil III

matische Rechtschaffer und politische Führer, deren Herrschaft nicht instituti-


onalisiert ist, sondern durch ihren bestimmten Auftrag zeitlich begrenzt wird.
So begrenzt wie die Herrschaft der Richter ist die Einheit des Volkes, die sich
nur im Krieg nach außen erhält.
Eine Institutionalisierung der Herrschaft sei im »primitive[n] Messianismus
[erfolgt], der nichts anderes bedeutet als eine statthalterische Theokratie, wo an
die Stelle der unmittelbaren Herrschaft Gottes die Herrschaft Gottes durch
statthalterische Vertretung tritt« (JCMZ 28), nämlich durch den Messias-
König. Der primitive Messianismus sei zur Machtherrschaft entartet, gegen die
sich der Kampf der Propheten richtet, die den kommenden, den erfüllenden
Messias-König schauen. Die prophetische, messianische Hoffnung wird durch
das babylonische Exil zerschlagen. Im Exil wandelt sich die messianische
Konzeption. Das statthalterische messianische Königtum wird negiert, die
Frage nach der Unmittelbarkeit der Herrschaft Gottes erwacht neu. Der »heili-
ge Rest« und der leidende Gottesknecht werden zum Träger des messianischen
Auftrags. Herrschaft sei nicht mehr das Amt Israels, sondern der messianische
Auftrag bestehe darin, »als Volk eine königstreue [d. h. dem Königtum Gottes
getreue; Anm. E.D.] Gemeinschaft zu realisieren, die die Weltgemeinschaft als
erfülltes Königtum [Gottes] werden soll« (JCMZ 28).
Buber greift nach dem Ersten Weltkrieg den »Rest« als Symbol für die jüdi-
sche Nation auf, die er vor dem Ersten Weltkrieg noch in Analogie zu einem
ästhetischen Werk in zu vollendender Ganzheit und Einheit imaginiert hat.
Buber versucht, in der Figur des Restes der Gewalt zu begegnen, die in der
Vorstellung von der Nation als Werk und geschlossener Einheit liegt. Der
»Rest« ist ein prophetisches Symbol. Genaueren Aufschluss über Bubers Auf-
fassung des prophetischen Symbols im Allgemeinen gibt ein Aufsatz von 1934
mit dem Titel »Sinnbildliche und sakramentale Existenz im Judentum«.
In diesem Aufsatz definiert Buber das Symbol »als Erscheinung des Sinns,
Erscheinen, Scheinendwerden des Sinns in der Gestalt der Leiblichkeit«.1 Für
Buber sind nicht nur einzelne Handlungen des Propheten symbolische Zei-
chen, sondern das Dasein des Propheten ist selber sinnbildliche Existenz. Der
Prophet ist der Mittler des göttlichen Wortes, er laute »eine heimliche, im
Menschensinn vorwortliche, im Gottessinn urwortliche [Rede] aus«.2 Anders
als die griechische Antike, die zwischen dem Weissagenden (ȝȐȞIJȚȢ), der un-
mittelbar vom Gotteswort ergriffen werde und unartikuliert lalle, und dem in
verständlicher Rede Verkündenden (ʌȡȠijȒIJȘȢ) unterscheide, teile die bibli-
sche Glaubenswelt die prophetisch Redenden nicht in unmittelbare und mittel-
bare auf. Vielmehr seien biblisch die entstehende und die fertige Rede iden-
tisch und bilden eine »aus der stürzenden Fülle des Augenblicks durchflutete

1 Martin Buber: Sinnbildliche und sakramentale Existenz im Judentum. In: Eranos-


Jahrbuch (1934), Zürich 1935, S. 339–367, hier: S. 351.
2 Ebd., S. 342.
4 Messianismus zwischen Metapher und prophetischem Symbol: Martin Buber 385

Rede«.3 Das gesprochene prophetische Wort verleibliche sich nun in symboli-


schen Zeichen. Buber betont immer wieder, dass Prophetie nicht Vorhersage
einer unabänderlichen Zukunft sei, sondern auf die konkrete historische Situa-
tion und ihre Alternativen verweise. Der Prophet stehe in seiner Rede »immer
in dem Punkte der Zeit, wo sich das Schicksal entscheidet, an welcher Ent-
scheidung die Menschen da vor ihm durch ihre Entscheidung teilhaben.«4 Die
Entscheidungsmächtigkeit des Augenblicks vermöge das gesprochene prophe-
tische Wort allein nicht darzustellen und aufzurufen, sondern hierzu bedürfe es
des symbolischen Zeichens, der leiblichen Darstellung und der sinnbildlichen
Handlung. Einen symbolischen Namen habe der Prophet Jesaja seinem Sohn
gegeben, indem er ihn »Rest-kehrt-um« nannte. Jesaja habe in der Zeit großer
Verwirrung prophezeit, in der sich die künftige Katastrophe – das erste Exil –
des Volkes angemeldet habe. Zusammen mit seinen Schülern habe Jesaja auf
die Zeit geharrt, da Gott sich, mitten in der Katastrophe, des »Restes« erbar-
men würde, der zu ihm umkehrt. Jesaja, seine Kinder und seine Schüler, »der
Kern jenes ›heiligen Restes‹, sind als Zeichen da, sie leben ihr Leben als Zei-
chen dar. Dieser ganze zeichenhafte Mensch ist ›Mund Gottes‹. Durch sein
sinnbildliches Dasein wird gesagt, was jetzt zu sagen ist.«5
Ab den 1920er Jahren rekurriert Buber auf das Symbol des »Restes« im zio-
nistischen Zusammenhang. Er schließt hierfür an Deuterojesaja an, der nicht wie
der erste Jesaja vor dem babylonischen Exil lebte, sondern die Rückkehr unter
dem persischen Herrscher Kyros II. ankündigte. Buber meint, der »Rest« als
messianisches Symbol für Israel zeige an, dass »Herrschaft […] nicht mehr das
Amt Israels« (JCM 8, 8–9) sei. Hier geht es in der Figur des »Restes« weniger
um eine theologische Rechtfertigung von Unheil und Leid, als um die Realisie-
rung einer politischen Ordnung, die weder im Inneren noch im Äußeren auf
Herrschaft beruht. Der Rest soll eine gerechte Volksordnung als Beginn einer
gerechten Weltordnung symbolisieren. Dementsprechend hält Buber Deutero-
jesaja für den eigentlichen Begründer einer »Theologie der Weltgeschichte«.6
Im Kontext des Nationalsozialismus und der Shoah erhält Bubers Bezug auf
den »heiligen Rest« und den leidenden Gottesknecht allerdings etwas Be-
klemmendes. Buber hat seine Beschäftigung mit den prophetischen Schriften
auch nach seiner Emigration nach Palästina 1938 fortgesetzt. Hier erarbeitete
Buber einen Beitrag für das holländische Sammelwerk Die Religionen der
Welt, in dem er über den »Glauben Israels« schrieb. In einer hebräischen Ver-
sion (1942) dieses Textes konzentrierte sich Buber auf den prophetischen
Glauben bis zum Ende des babylonischen Exils. Diese hebräische Version liegt
der deutschen Übersetzung zugrunde, die als Monographie unter dem Titel Der

3 Ebd., S. 344.
4 Martin Buber: Der Glaube der Propheten. In: Ders.: Werke. Bd 2. Heidelberg, Mün-
chen 1964: Kösel, S. 231–484, hier: S. 236.
5 Buber, Sinnbildliche und sakramentale Existenz (wie Anm. 1), S. 351.
6 Buber, Der Glaube der Propheten (wie Anm. 4), S. 456.
386 Teil III

Glaube der Propheten erst 1950 veröffentlicht wurde. Im letzten Kapitel geht
Buber hier wieder auf Deuterojesaja ein. Neben dem »Rest« ist es die Figur
des leidenden Gottesknechts, in der Buber Israels Wirken für eine gerechte
Völkerordnung bei Deuterojesaja symbolisiert findet. Der Gottesknecht leide
nicht wegen der Verfehlungen Israels, sondern trage die »schmerzlichen Übel
der Völkersünden«.7 Dem Gottesknecht obliege es, für die Befreiung der ver-
sklavten Völker der Welt zu leiden; er symbolisiere hierin die Aufgabe Israels,
für eine gerechte Weltordnung zu wirken.8 Diese messianische Konzeption
birgt eine metaphysische Sinngebung des Unheils, die vor dem zeithistorischen
Hintergrund verstörend ist.9
Das messianische Symbol des »Restes« hat aber auch einen dialogischen
Sinn, den ich in Kapitel II.2.3 stark zu machen versucht habe. Der »Rest«, der
umkehrt, kehrt bei Buber nicht zu bestimmten jüdischen Glaubenssätzen oder
Praktiken um. Nicht ein »Was« der Umkehr, sondern die Umkehr selbst macht
Bubers existentielles Glaubensverständnis aus. Denn »Umkehr« heißt auf
Hebräisch ʤʡʥʹʺ (Tschuva) und meint zugleich »Antwort«. Bubers dialogi-
sches Glaubensverständnis besagt, dass die einzige Weise, wesentlich mit Gott
zu kommunizieren, darin besteht, auf die je singuläre innerweltliche Situation
zu antworten. Der Einzelne entspreche nicht Gott, wenn er sich von der Welt
abwende, sondern wenn er »zu den ihn umlebenden Wesen mit seinem Wesen
Du sagt«.10 Das Sinnbild des »Restes«, der umkehrt, symbolisiert ein Leben
im dialogischen Glauben, der sich für Buber in keinem Regelnbuch abbilden
lässt. Der messianische »Rest« symbolisiert also eine Gemeinschaft, die in
einem Glaubensverhältnis lebt, das sich selbst nicht symbolisieren lässt, son-
dern sich je und je ereignet.
In dem Aufsatz über »Sinnbildliche und sakramentale Existenz im Juden-
tum« schreibt Buber, dass im – vergänglichen, leiblich-stofflichen – Symbol
der Sinn erscheine, im Sakrament aber der Sinn vollzogen werde.11 Was sak-
ramentale Existenz bedeutet, legt Buber an den Chassidim dar. Für Buber
meint sakramentale Existenz einen »Pansakramentalismus«,12 der nicht zwi-
schen dem heiligen und dem profanen Bereich unterscheidet, sondern dem
alles Weltliche geheiligt werden will. Hierfür gebe der Chassidismus keine

7 Ebd., S. 476.
8 Vgl. ebd., S. 478, 483.
9 Nitzan Lebovic bemerkt in Bubers Der Glaube der Propheten weniger eine Lei-
densmetaphysik als eine häretische Stimme gegen einen Gott, der durch Tod und
Vernichtung zum Leben führen will. So plausibel diese Interpretation wäre, habe ich
doch Schwierigkeiten, sie an Bubers Text nachzuvollziehen (vgl. Nitzan Lebovic:
The Jerusalem School: The Theopolitical Hour. In: New German Critique 35/105
[Fall 2008], S. 97–120, hier besonders S. 100–102).
10 Martin Buber: Die Frage an den Einzelnen. In: Ders.: Werke. Bd 1. Heidelberg,
München: Kösel 1962, S. 215–265, hier: S. 235.
11 Vgl. Buber, Sinnbildliche und sakramentale Existenz (wie Anm. 1), S. 351f.
12 Ebd., S. 356.
4 Messianismus zwischen Metapher und prophetischem Symbol: Martin Buber 387

Methoden und Mittel an. Anders als in seiner frühen Schaffensphase interpre-
tiert Buber den Chassidismus nicht mehr nach dem Paradigma des mystischen
Einheitserlebnisses. Vielmehr gibt er die sakramentale Existenz im Chassidi-
mus als dialogische Existenz zu lesen: »Dem Menschen der sakramentalen
Existenz frommen keinerlei erworbene Regeln und Rhythmen, keine überlie-
ferten Methoden der Wirkung, nichts ›Gewußtes‹, nichts ›Gekonntes‹; er hat
immer wieder den heranflutenden Augenblick zu bestehen, immer wieder im
heranflutenden Augenblick einem begegnenden Ding oder Wesen Erlösung,
Erfüllung zu reichen.«13
Eine symbolische Existenz zu führen, ist bei Buber eine paradoxe Angele-
genheit. Denn der Sinn, den die symbolische Existenz erscheinen lässt, stellt
keine feste Bedeutung dar, sondern bezieht sich auf einen je einmaligen Sinn-
vollzug. Formelhaft ausgedrückt: Buber aktualisiert messianische Symbole, die
auf einen dialogischen Messianismus verweisen, in dem sich ein je einmaliger
Sinnvollzug ereignen soll. Der »Rest«, der umkehrt (lies: der antwortet), als
messianisches Symbol für die jüdische Gemeinschaft, legt keine Identität für
diese Gemeinschaft fest, sondern bringt eine dialogische Existenz zum Aus-
druck, von der sich auch das politische Leben dieser Gemeinschaft ableiten
soll. Bubers Eintreten für einen binationalen, jüdisch-arabischen Staat in Paläs-
tina nach dem Ersten Weltkrieg muss in diesem Zusammenhang gesehen wer-
den.
Bubers dialogischer Messianismus ist nun keineswegs auf das Judentum be-
schränkt. Seine messianische dialogische Ethik ist nicht nur universal ausge-
richtet, sondern basiert auf einer dialogischen Erfahrungsstruktur, die ur-
sprünglicher als alle bestimmte Religion ist. Wir hatten dies als Unterschied
zwischen Rosenzweig und Buber erkannt: Die Dialogphilosophien beider
bauen auf einem Offenbarungsverständnis auf, das Offenbarung nicht als Aus-
sage, sondern als dialogisches Präsenzereignis interpretiert. Auf dieser Grund-
lage entwickeln beide ein neues dialogisches Seinsverständnis. Bei Buber liest
sich dieses neue Seinsverständnis als Vorstoß zu den ontologischen Ursprün-
gen von Religion überhaupt, zu dem »Bereich von Offenbarung vor jeder be-
stimmten Offenbarung«.14 Anders bei Rosenzweig: Hier ist es eine bestimmte
Offenbarung, welche Sein als dialogisches Sprachgeschehen überhaupt erst
denkbar macht. Bei Rosenzweig stehen religiöse und allgemeine philosophi-
sche Bedeutung in einem metonymischen Verhältnis zueinander: Rosenzweigs
»Hermeneutik der Existenz« erweitert den Bedeutungsumfang von religiösen
Konzepten wie »Schöpfung«, »Offenbarung« und »Erlösung«, so dass sie zur
Analyse allgemeiner Erfahrungsstrukturen dienen können, ohne darüber zu
Metaphern zu werden. Anders bei Buber. Im Kontext seiner Dialogphilosophie
hat der jüdische Messianismus in der Tat nur noch den Status einer Metapher:

13 Ebd., S. 357.
14 Bernhard Casper: Das dialogische Denken. Franz Rosenzweig, Ferdinand Ebner und
Martin Buber. 2. Aufl., Freiburg, München: Alber 2002, S. 345.
388 Teil III

Der jüdische Messianismus erscheint als Metapher einer universalen dialogi-


schen Seinsstruktur, die aller besonderen Religion vorausliegt.
In Bubers bibelexegetischen Schriften über den jüdischen Messianismus,
die in engem Zusammenhang mit seinen zionistischen Vorstellungen stehen,
ist das messianisch figurierte Judentum allerdings mehr als ein bloß metapho-
risches Symbol. Buber denkt Israel mit Deuterojesaja im Symbol des »Restes«,
der eine gerechte Volksordnung als Beginn einer gerechten Weltordnung reali-
sieren soll. Buber evoziert die »Erlösung« Israels als Symbol für die »Erlö-
sung« der Welt, das er metonymisch motiviert, indem er ein Verhältnis von
Grund und Folge im zeitlichen Sinne von Vorausgehendem und Nachfolgen-
dem konstruiert: Das »von der Fremdherrschaft erlöste Israel […] wird die
Herrschaft Gottes über sich erfüllen und […] der Anfang seines Weltreichs
sein«.15 Der »Rest« Israels, der um einer »Gemeinschaft aus Freiwilligkeit« –
gleichbedeutend mit »Herrschaft Gottes« bei Buber – willen umkehrt, ist Bu-
bers zentrales prophetisches Geschichtssymbol, das als solches metonymisch
funktioniert.
Bubers Vorstellungen zufolge soll das jüdische Volk eine neue menschliche
Gemeinschaft exemplarisch verwirklichen, die für die gesamte Welt von Be-
deutung ist. Auch wenn die messianische Aufgabe eine transnationale ist und
sich dies auch in Bubers Plädoyer für einen binationalen Staat in Palästina
ausdrückt, konstituiert diese messianische Aufgabe doch das jüdische Volk als
Nation bei Buber. Es ist dies zwar eine paradoxe nationale Identität, beruht sie
doch auf dem den Identitätszwang suspendierenden dialogischen Prinzip, ver-
sinnbildlicht im »Rest« Israels, der umkehrt (antwortet). Ganz grundsätzlich
wirft aber auch dieses paradoxe Identitätssymbol die Frage auf, wer denn
überhaupt zum »Rest« Israels als Nation zu zählen ist. Wer kann sich berufen
fühlen, zum »Rest« dazuzugehören? Buber reflektiert nicht, dass auch parado-
xe Identitätssymbole Ausschlüsse produzieren können oder stillschweigend
voraussetzen. Wie Bubers Dialogphilosophie geht auch Bubers dialogisch
messianisches Politikverständnis von Voraussetzungen aus, die eigentlich
durch das dialogische Prinzip überwunden werden sollen: im engeren Sinn
seiner Dialogphilosophie ist es die intentionale Subjektivität (vgl. Kap. I.3.2),
im Politischen das Volk als selbstverständliche, aus sich selbst verständliche
Größe.
Buber begründet mit der messianischen Aufgabe auch den »großen ewigen
Zusammenhang[] zwischen Israel und Erez Israel«,16 zwischen Volk und
Land. Dabei versteht Buber das Recht auf das Land nicht als historisches, das
sich daraus ableite, dass ein Territorium zu einer bestimmten Zeit von diesem
oder jenem Volk besessen worden sei. Mit dem historischen Argument sei der

15 Buber, Der Glaube der Propheten (wie Anm. 4), S. 482.


16 Martin Buber: Jüdisches Nationalheim und nationale Politik in Palästina. In: Ders.:
Ein Land und zwei Völker. Zur jüdisch-arabischen Frage. Hg. von Paul Mendes-
Flohr. Zürich: Exlibris-Verlag 1985, S. 111–126, hier: S. 114.
4 Messianismus zwischen Metapher und prophetischem Symbol: Martin Buber 389

zionistische Anspruch nicht zu begründen, denn die Weltgeschichte sei unbe-


ständig und ein Land habe einmal diesem, dann jenem Volk gehört. Vielmehr
gehe es darum, dass es innerhalb der Verschiedenheit des territorialen Besitzes
den geschichtlichen Moment gegeben habe, in dem
das Volk Israel etwas Ungeheures, Beispielloses begonnen hat. Und von diesem Be-
ginnen lebt das Abendland in seinen Hoffnungen. Wenn es Hoffnungen im Abend-
land von einer vollkommenen Anschauung von Menschenleben gibt, dann lebt die-
ses Gefühl, dieser Glaube an die Zukunft von dem, was damals angehoben hat und
unterbrochen worden ist durch das Ende des jüdischen Gemeinwesens. Die Hoff-
nung der Jahrtausende des Exils ging ausgesprochen oder unausgesprochen auf den
Wiederbeginn der Verwirklichung dieses Urglaubens, dieser Urverbundenheit zwi-
schen Volk und Land im Bau der wahren Gemeinschaft.17

Buber konstruiert die Verbundenheit von Land und Volk nicht als natürliche
oder historische, sondern als geschichtsphilosophische. Er leitet sie aus einer
messianischen Aufgabe her, die er auf Gott, nämlich auf Gottes Erwählung
von Volk und Land, zurückführt.18 Auch wenn Buber aus der messianischen
Aufgabe keinen alleinigen Anspruch des jüdischen Volkes auf das biblische
Land Israel folgert, sondern dem transnationalen messianischen Ziel gemäß
von traditionellen Vorstellungen nationalstaatlicher Souveränität abrückt,
bleibt seine messianische Konstruktion doch prekär. Denn Buber behandelt
nationalen Egoismus und ein messianisches Sendungsbewusstsein als selbst-
verständliche Gegensätze. Dabei verkennt er völlig deren mögliche machtpoli-
tische Allianz. Ein messianischer Anspruch auf das Land öffnet die Tür für
eine aggressive Politik, die Buber gerade schließen möchte.
In Bubers Geschichtsphilosophie bilden Religion und Politik in der ur-
sprünglichen Form des Messianismus, der »primitiven Theokratie«, eine un-
mittelbare Einheit. Diese wird im statthalterischen Königtum durch das Ver-
hältnis der Repräsentation zwischen Religion und Politik in einem mittelbaren
Gotteskönigtum abgelöst. In dem statthalterischen Königtum droht die sakra-
mentale Verbindung zwischen Profanem und Heiligem, die die Präsenz des
Heiligen in der Repräsentation sichern soll, in ›leere‹ Repräsentation und damit
in Machtherrschaft zu verfallen. Bei den Propheten geschieht sodann die für
Buber entscheidende Wendung des Messianismus von der Gegenwart zur
Zukunft. Die messianische Zukunftserwartung verdichtet sich in messiani-
schen Symbolen wie z. B. dem »Rest«, der umkehrt (antwortet und zurück-
kehrt), dem prophetischen Sinnbild für das jüdische Volk, das Buber für seinen
Zionismus aktualisiert. In Bubers messianischer Geschichtsphilosophie werden
in der einstigen »großen Polis Gottes […] Religion und Politik zu einem Leben

17 Ebd., S. 116f.
18 Vgl. hierzu Manuel Duarte de Oliveira: Passion for Land and Volk. Martin Buber
and Neo-Romanticism. In: Leo Baeck Institute Yearbook 41/1 (1996), S. 239–260,
besonders S. 252–254.
390 Teil III

verschmelzen, darin weder Religion noch Politik mehr besteht«.19 Auf dem
Wege zu dieser messianischen Zielvorstellung hält es Buber nichtsdestotrotz
für essentiell, zwischen Religion und Politik zu unterscheiden. Das heißt für
Buber allerdings nicht, die Religion von der Politik zu isolieren. Auf der Basis
ihrer Unterscheidung führt Buber vielmehr die Religion wieder in die Politik
ein, und zwar in Form einer dialogischen, messianischen Ethik.
Für Buber gibt es zwei Gefahren für die Religion in der Moderne: sich als
Spezialbereich vom Leben, einschließlich des politischen Lebens, abzusondern
oder sich zu politischen Zwecken einspannen zu lassen.20
Religion meint Ziel und Weg, Politik Zweck und Mittel. Der politische Zweck ist
dadurch gekennzeichnet, daß er – eben im ›Erfolg‹ – erreicht und sein Erreichtsein
historisch verbucht wird. Das religiöse Ziel bleibt auch in den höchsten Erfahrungen
dem sterblichen Weg das schlechthin Richtungverleihende; es geht nie in geschicht-
lich Gewordenes ein. […] ›Das Wort‹ siegt, aber anders, als seine Träger es erhoff-
ten. Nicht in seiner Reinheit siegt das Wort, sondern in der Zersetzung; seine
Fruchtbarkeit vollzieht sich in der corruptio seminis.21

Religion ist für Buber wesentlich etwas Nicht-Institutionalisierbares, das


zugleich die gesellschaftlichen Institutionen verwandeln soll, indem es sich im
ethischen, dialogischen Handeln realisiert. Buber schreibt der Religion im
Politischen keine affirmative, sondern eine kritische Rolle zu.22 Er rekurriert
auf die Religion, um die Formen der Repräsentation und der Identitätsbildung,
mit denen politische Institutionen operieren, immanent zu transzendieren. Die
von Religion gewiesene Richtung hält den Blick offen für die dialogische
Verantwortung in der konkreten, unvorhersehbaren Situation und ›zersetzt‹ auf
diese Weise das Imaginäre politischer Zwecke und Gebilde. Zwei Jahre vor
seiner Emigration nach Palästina macht Buber in einem mutigen Artikel von
1936 die Ethik des dialogischen Prinzips stark, die Ethik der persönlichen
Verantwortung des Einzelnen, die diesem durch keine politische Gruppe und
kein politisches Kollektiv abgenommen werden könnte. Entgegen der »mäch-
tigen Anschauung unserer Zeit«,23 für die nur Kollektiva wirklich seien, stellt
er die Grenze der Zugehörigkeit des Einzelnen gegenüber der Gemeinschaft
heraus. Eine ethische Entscheidung könne immer nur durch den Einzelnen
getroffen werden. Kein Programm, kein taktischer Beschluss und kein Befehl,
sondern nur die persönliche Verantwortung gegenüber der Situation, deren
Frage die Frage Gottes sei, könne den letzten Grund der ethischen Entschei-
dung bilden. In dieser ethischen Entscheidungsstruktur gibt es weder eine

19 Martin Buber: Gandhi, die Politik und wir. In: Ders.: Werke. Bd 1. Heidelberg,
München: Kösel 1962, S. 1079–1087, hier: S. 1086.
20 Vgl. ebd.
21 Ebd., S. 1083.
22 Hierin stimme ich mit Lebovic überein (vgl. Lebovic, The Theopolitical Hour [wie
Anm. 9], S. 99).
23 Buber, Die Frage an den Einzelnen (wie Anm. 10), S. 252.
4 Messianismus zwischen Metapher und prophetischem Symbol: Martin Buber 391

immanente noch eine transzendente Gewissheit, sondern nur eine »ungewisse


Gewißheit«,24 denn das Ungewisse gehört für Buber zum persönlichen Gewis-
sen untrennbar dazu. Absolute statt ungewisser Entscheidungen strebe dagegen
Carl Schmitt an, den Buber neben Oswald Spengler und Friedrich Gogarten
offen kritisiert. Schmitt übertrage mit der Freund-Feind-Unterscheidung, auf
der das Politische beruhen soll, eine Situation des privaten Lebens in das öf-
fentliche, nämlich die klassische Duell-Situation. Jedes klassische Duell sei
aber ein »verkapptes Gottesgericht; in jedem wirkt der Glaube nach, Menschen
könnten ein Gottesgericht betreiben.«25
Auch Buber überträgt eine Situation des privaten Lebens in das öffentliche,
nur ist es im Unterschied zu Schmitt nicht das Duell, sondern der Dialog. Wie
weit Bubers Ansatz, die dialogische Ethik in die Politik einzuführen, trägt,
mag dahingestellt sein. Es sollte jedoch klar geworden sein, dass Buber mit
dem »religiösen Ethos«26 in der Politik den kritischen Impuls verbindet, die
Grenzen politischer, institutioneller, aber auch kollektiver Identitätsbildungen
bewusst zu machen, anders gesagt: die »Menge zu entmengen«27 und die »vi-
tale[] Anerkennung der vielgesichtigen Anderheit«28 im öffentlichen Wesen zu
befördern. Freilich: Kaum bedenkt Buber, dass auch eine kritisch gemeinte
Einführung von Religion in Politik sich in ihr Gegenteil verkehren kann.

24 Ebd., S. 249.
25 Ebd., S. 255.
26 Ebd., S. 241.
27 Ebd., S. 244.
28 Ebd., S. 240.
5 Messianismus des dialektischen Bildes:
Walter Benjamin

Bereits im »Theologisch-politischen Fragment«, das Anfang der 1920er ent-


standen ist, hat Benjamin seine Geschichtsphilosophie mit einem bildlichen
Denken verbunden, das auch in seinen späteren geschichtsphilosophischen
Arbeiten eine zentrale Rolle spielt. Wie wir in Kapitel II.4 gesehen haben,
konzipiert Benjamin im »Theologisch-politischen Fragment« eine paradoxe
geschichtsphilosophische Beziehung zwischen der profanen Ordnung und dem
Messianischen und legt sie in einem »Bilde« (GS II/1 203) dar. In diesem Bild
zeigen zwei Pfeilrichtungen die einander entgegengesetzten Bewegungsrich-
tungen der Dynamis des Profanen und des Messianischen an. Das Bild soll
zum Ausdruck bringen, dass die profane und die messianische Dynamik zwar
einander entgegengesetzt sind, sich aber zugleich auch befördern. Diese Be-
förderung bei gleichzeitiger Entgegensetzung lässt sich nun aber kaum noch in
dem Bild der Pfeilrichtungen wiederfinden. Vielmehr stellt die paradoxe Kräf-
telehre die bildliche Gestaltung in Frage, was wir mit Benjamins zeitgenössi-
schen Reflexionen über Malerei, Farbe und Phantasie in Zusammenhang ge-
bracht haben. Als Ausdruck für die »Entstaltung des Gestalteten« (GS VI 114),
die Benjamin der Phantasie zuschreibt, lässt sich in Benjamins »Theologisch-
politischem Fragment« der Gedankenstrich am Schluss der Ausführungen zum
geschichtsphilosophischen Bild lesen. Er markiert die Leerstelle der Gestalt.
Das Fehlen der Gestalt kennzeichnet Benjamins Vorstellung eines kollektiven
politischen Subjekts, das sich nicht in der Figur eines identischen Selbst ab-
schließt. Die Dynamiken des Profanen und des Messianischen entsprechen
sich bei Benjamin darin, dass sie das Gestaltete aufzulösen trachten, einmal in
Richtung eines Glücks der Vergängnis (Dynamik des Profanen, des kollekti-
ven politischen Subjekts in der »Entstaltung«), das andere Mal in Richtung der
Unsterblichkeit.
Die Unterscheidung zwischen dem Profanen und dem Messianischen, um
die sich Benjamin im »Theologisch-politischen Fragment« bemüht, kollabiert
nun in dem Moment, in dem er die Verfassung des Profanen, die Vergängnis,
selbst messianisch nennt. Man kann dies als Zeichen für die Labilität von Ben-
jamins Konstruktion ansehen, in der die auflösende Dynamis des Profanen das
Nahen des messianischen Reiches ermöglichen und zugleich, in der Figur der
ewigen Ankunft, aufhalten soll. Die Konstruktion droht, von theologischen
Kräften überrannt zu werden, die die Auflösung als Mittel zu theologischen
394 Teil III

Zwecken begreifen statt als genuinen Ausdruck der »profanen Ordnung des
Profanen«, deren anarchisches Aufbauprinzip für Benjamin gerade die De-
struktion ist. Aber auch von der anderen Seite kann das prekäre Kräftegleich-
gewicht zwischen der profanen und der messianischen Dynamik erschüttert
werden: Die profane Ordnung kann für sich religiöse Dignität beanspruchen.
Benjamin kann dieser Verführung selbst nicht widerstehen. Messianisches und
Profanes finden bei ihm in der Figur einer messianischen Vergängnis zueinan-
der. Im vollendet Profanen, der Vergängnis, scheint wieder etwas Religiöses
auf. Dies ist mit keiner überlieferten Gestalt der Mystik zu erklären und dient
auch keiner Rehabilitation der (jüdischen oder christlichen) Offenbarungsreli-
gion oder der Bibel, sondern muss als Benjamins eigene mystische Konstrukti-
on gelten.
Benjamins profane Figur des Messianischen ist ein Messianismus der Ver-
gängnis. In seinen späteren geschichtsphilosophischen Arbeiten bleibt der
Messianismus der Vergängnis in einem auf die Vergangenheit bezogenen
Messianismus enthalten. In den Paralipomena zu den Thesen Ȇber den Beg-
riff der Geschichte« (1939/40 niedergeschrieben) erklärt Benjamin, dass der
historische Materialist eine »messianische Kraft in der Geschichte« (GS I/3
1232) feststelle. Benjamin schreibt nicht der Hoffnung auf die Zukunft, son-
dern der Erinnerung eine messianische Kraft zu. Die Geschichtsschreibung
gewinne (politische) Aktualität durch die Vergegenwärtigung der Vergangen-
heit, mit der Benjamin keine Einfühlung ins Gewesene meint. Vielmehr soll
die Vergegenwärtigung ein Bild der Vergangenheit zeigen, das bisher noch
nicht bekannt war. Die Bilder der Vergangenheit seien photographischen Bil-
dern auf einer lichtempfindlichen Platte vergleichbar, die erst in einer späteren
Zeit zum Vorschein kommen können. In diesem Sinne gelte es mit Hofmanns-
thal, »was nie geschrieben wurde, [zu] lesen« (GS I/3 1238). Das Bild der
Vergangenheit stellt für Benjamin ein unwillkürliches Erinnerungsbild dar, das
dem historischen Subjekt zustößt, statt von ihm beherrscht zu werden. Es blitzt
im »Jetzt seiner Erkennbarkeit« (GS I/3 1243) auf. Im »Jetzt der Erkennbar-
keit« konstellieren sich für Benjamin Gegenwart und Vergangenheit zum »dia-
lektischen Bild«. Das »dialektische Bild« ist eine Erfindung Benjamins.1 Er
beschreibt die Konstellation von Vergangenheit und Gegenwart im »dialekti-
schen Bild« wie folgt:
Nicht so ist es, daß das Vergangene sein Licht auf das Gegenwärtige oder das Ge-
genwärtige sein Licht auf das Vergangene wirft, sondern Bild ist dasjenige, worin
die Vergangenheit mit der Gegenwart zu einer Konstellation zusammentritt. Wäh-
rend die Beziehung des Einst zum Jetzt eine (kontinuierliche) rein zeitliche ist, ist
die der Vergangenheit zur Gegenwart eine dialektische, sprunghafte (GS I/3 1243).

1 Vgl. zu den Etappen der Entwicklung des dialektischen Bildes in Benjamins Schrif-
ten: Ansgar Hillach: Dialektisches Bild. In: Michael Opitz und Erdmut Wizisla
(Hg.): Benjamins Begriffe. Bd 2. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2000 (Edition Suhr-
kamp; 2048), S. 186–229.
5 Messianismus des dialektischen Bildes: Walter Benjamin 395

Das »dialektische Bild« bricht mit dem Gedanken historischer Kontinuität. Es


gibt keine dialektische Entwicklung zwischen Vergangenheit und Gegenwart
zu denken, sondern verdankt sich im Gegenteil einer »Zäsur in der Denkbewe-
gung« (GS V 595). Indem das Denken einhalte, wo die Spannung zwischen
den dialektischen Gegensätzen am größten sei, bringe es das dialektische Bild
hervor. Die sprunghafte Beziehung zwischen Gegenwart und Vergangenheit
meint eine Aufsprengung des historischen Kontinuums. Immer wieder greift
Benjamin auf die Metaphorik des Sprengens zurück, um das Aufbrechen der
historischen Kontinuität zu beschreiben, aus der der historische Gegenstand
herausgesprengt werde (vgl. u. a. GS V 592, 594f.). Dadurch zerfällt Geschich-
te in Bilder, was eine »Liquidierung des epischen Elements« (GS I/3 1241) in
der Geschichtsschreibung nach sich zieht. Statt einer erzählenden Geschichts-
schreibung visiert Benjamin eine Geschichtsdarstellung an, die mit den Mitteln
der »literarischen Montage« (GS V 574) und des Zitats arbeitet. Benjamins
Zitattheorie, der wir in Kapitel I.4 nachgegangen sind, ist auch für seine Ge-
schichtstheorie von großer Bedeutung. Geschichte zu zitieren, heißt für Ben-
jamin eben, den Gegenstand aus dem historischen Zusammenhang zu reißen
(vgl. GS V 595).
Dialektisches Bild und »Jetztzeit« werden von Benjamin messianisch ge-
deutet. Benjamin versteht die »Jetztzeit […] als Modell der messianischen«
(GS I/2 703) und definiert das dialektische Bild »als die unwillkürliche Erinne-
rung der erlösten Menschheit« (GS I/3 1233). Sind dialektisches Bild und
Jetztzeit Modell der messianischen Zeit, so wäre in der messianischen Zeit
die Vergangenheit ›gerettet‹, indem sie zu einem gigantischen Reservoir
dialektischer Bilder geworden wäre. Dementsprechend notiert Benjamin,
dass die »messianische Welt […] die Welt allseitiger und integraler Aktuali-
tät« (GS I/3 1238, 1239) sei, womit er eine Formulierung aus seinem Sürrea-
lismus-Aufsatz aufgreift, in dem er mit diesen Worten den surrealistischen,
politisch gewendeten »Bildraum« (GS II/1 309) beschrieben hat. Der Spei-
cher dialektischer Bilder ist aber selbst dynamisch zu denken, will er die
Bestimmung dialektischer Bilder, Ausdruck von Aktualität, »Jetztzeit«, zu
sein, bewahren und die dialektischen Bilder nicht in ihr Gegenteil, nämlich
in sich gleich bleibende, ewige Bilder verkehren. Eben die Fixierung auf
ewige Bilder der Vergangenheit macht Benjamin der historistischen Ge-
schichtsbetrachtung zum Vorwurf (vgl. GS I/2 702). Im Gegensatz dazu gilt
für Benjamin: »Die Ewigkeit der geschichtlichen Vorfälle festhalten, heißt
eigentlich: sich an die Ewigkeit ihrer Vergängnis zu halten« (GS I/3 1246). Die
Ewigkeit der Vergängnis hatte Benjamin aber schon zwanzig Jahre vorher im
»Theologisch-politischen Fragment« als Charakteristikum einer messianischen
Natur veranschlagt. Ein profaner Messianismus der Vergängnis informiert
auch Benjamins geschichtsphilosophische Thesen. Das vollendet Profane ist
das Messianische: Die dialektischen Bilder ›erlösen‹ die Vergangenheit, indem
sie ihre Vergängnis freisetzen und verewigen.
396 Teil III

Benjamin denkt nicht nur das dialektische Bild als »Vorbote und Ausblick
auf die messianische Erfüllung«,2 sondern ebenso den Messianismus nach dem
Vorbild des dialektischen Bildes. Diese Umkehrung ist wichtig, denn sie zeigt
den profanen Gehalt von Benjamins Messianismus an. Die Funktion, die bei
Bloch das Symbol hat, fällt bei Benjamin dem dialektischen Bild zu. Bloch
interpretiert das Symbol messianisch und den Messianismus symbolisch. Ana-
log dazu interpretiert Benjamin nicht nur das dialektische Bild messianisch,
sondern den tradierten Messianismus als dialektisches Bild. Das heißt, die
Figur, nach deren Logik Benjamin den überlieferten Messianismus säkulari-
siert, ist das dialektische Bild, so wie die Logik des Symbols Blochs Säkulari-
sierung des Messianismus prägt. Dass das dialektische Bild nicht nur Benja-
mins Modell des Messianismus ist, sondern auch die Figur, nach deren Logik
er den tradierten Messianismus säkularisiert, ist bisher von der Forschung so
noch nicht erkannt worden. Am Anhang A und B der Thesen Ȇber den Beg-
riff der Geschichte« lässt sich diese These nachvollziehen.
Im Anhang A beschreibt Benjamin noch einmal den Unterschied zwischen
seiner Geschichtsauffassung und dem Historismus. Statt von einem Kausalne-
xus und einem Kontinuum in der Geschichte auszugehen wie der Historismus,
habe der materialistische Historiker die »Konstellation zu erfassen, in die seine
eigene Epoche mit einer ganz bestimmten früheren getreten ist. Er begründet
so einen Begriff der Gegenwart als ›Jetztzeit‹, in welcher Splitter der messiani-
schen eingesprengt sind« (GS I/2 704). Eine solche Konstellation liefert Ben-
jamin aber selbst mit der Konstellation des Anhangs A und B der geschichts-
philosophischen Thesen. Fasst Anhang A Benjamins Geschichtstheorie zu-
sammen, so konstelliert sie Anhang B mit dem tradierten jüdischen Messia-
nismus, den Benjamin signifikanterweise in der Vergangenheitsform referiert:
[…] Bekanntlich war es den Juden untersagt, der Zukunft nachzuforschen. Die Tho-
ra und das Gebet unterweisen sie dagegen im Eingedenken. Dieses entzauberte ih-
nen die Zukunft, der die verfallen sind, die sich bei den Wahrsagern Auskunft holen.
Den Juden wurde die Zukunft darum doch nicht zur homogenen und leeren Zeit.
Denn in ihr war jede Sekunde die kleine Pforte, durch die der Messias treten konnte
(GS I/2 704).

Im Anhang A und B der Thesen »Über den Begriff der Geschichte« treten
Benjamins Geschichtstheorie und der überlieferte jüdische Messianismus zu
einem dialektischen Bild zusammen. Die »Splitter der messianischen [Zeit]«,
die in die »Jetztzeit« »eingesprengt« sind, lassen sich nicht nur als Verweis auf
eine messianische Zukunft lesen, sondern ebenso ist die Lesart möglich, dass
in der »Jetztzeit« Splitter des überlieferten jüdischen Messianismus einge-
sprengt sind. Benjamin historisiert den jüdischen Messianismus, indem er ihn
in der Vergangenheitsform darstellt. Und gleichzeitig aktualisiert er ihn in
2 Rita Bischof: Plädoyer für eine Theorie des dialektischen Bildes. In: Klaus Garber
und Ludger Rehm (Hg.): global benjamin. Internationaler Walter-Benjamin–
Kongreß 1992. München: Fink 1999, S. 92–123, hier: S. 119.
5 Messianismus des dialektischen Bildes: Walter Benjamin 397

Form eines dialektischen Bildes, das, wir erinnern uns, einen historischen
Gegenstand aus dem geschichtlichen Kontinuum sprengt. So sprengt Benjamin
auch den Messianismus aus der religiösen Tradition. Nicht mehr »Thora und
Gebet« bilden die Grundlage des messianischen »Eingedenkens«, sondern die
Geschichte als das »Buch des Lebens« (GS I/3 1238) bzw. das »Buch des
Geschehenen« (GS V/1 580).
Benjamin kehrt die traditionelle Vorstellung, die Thora ins Leben zu über-
führen,3 um, indem er der Verwandlung des Daseins in Schrift ein messiani-
sches Moment zuerkennt. Liegt nach traditioneller Vorstellung die Thora aller
Geschichte voran, so erscheint bei Benjamin der Text, der aus der Geschichte
zu lesen ist, als Ergebnis heuristischer Anstrengung.4 Erst am Ende der Ge-
schichte ist der »erlösten Menschheit […] ihre Vergangenheit in jedem ihrer
Momente zitierbar geworden« (GS I/3 694), also zu einem zitierbaren Text
geworden. Dieser ist mit dem erfüllten Archiv dialektischer Bilder identisch,
deren Medium für Benjamin die Sprache bleibt (vgl. GS V/1 577). In der
abendländischen Tradition ist die »Lesbarkeit der Welt« auf drei große Bücher
zurückgeführt worden, die im Laufe der Geschichte latent oder offen in Kon-
kurrenz miteinander getreten sind: das Buch der Offenbarung, das Buch der
Natur und das Buch der Geschichte.5 Benjamin geht es um das Buch der Ge-
schichte.6 Seine Vorstellung eines Universalarchivs dialektischer, sprachlicher
Bilder schließt an barocke Vorstellungen einer Universalbibliothek an. Solche
Vorstellungen haben beispielsweise Leibniz bewegt, auf dessen Monadenlehre
sich Benjamin in der 17. geschichtsphilosophischen These bezieht. Monadolo-
gie und Universalbibliothek stehen bei Leibniz allerdings im Widerspruch: Der
Unendlichkeitsmetaphysik der Monade steht die Wiederkehr des Gleichen
gegenüber, auf die Leibniz’ Universalbibliothek der Geschichte hinausläuft.7
Leibniz’ Idee einer Universalbibliothek, die alle faktischen wie alle mögli-
chen historischen Ereignisabläufe enthält, beruht auf der Ars combinatoria, die
mit einer endlichen Anzahl von Elementen operiert, auf denen Geschichte als
Komplex von Ereignissen und Handlungen unverkennbarer Typik beruhen
soll. Unter diesen Prämissen erscheint die Ereignisabfolge in der Geschichte
3 Vgl. Dtn 31–34.
4 Vgl. Bischof, Plädoyer für eine Theorie des dialektischen Bildes (wie Anm. 2),
S. 99.
5 Vgl. Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt. 4. Aufl., Frankfurt a. M.: Suhr-
kamp 1999.
6 Im Hinblick auf sein historiographisches Projekt über die Pariser Passagen schreibt
Benjamin: »Die Rede vom Buch der Natur weist darauf hin, daß man das Wirkliche
wie einen Text lesen kann. So soll es hier mit der Wirklichkeit des neunzehnten
Jahrhunderts gehalten werden. Wir schlagen das Buch des Geschehenen auf« (GS
V/1 580).
7 Ich orientiere mich im Folgenden an Blumenbergs Darstellung von Leibniz’ Idee
einer Universalbibliothek, die sich in dem erst 1921 veröffentlichten Fragment
»Apokatastasis« findet (vgl. Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt [wie Anm. 5],
S. 121–149).
398 Teil III

erschöpfbar, was zu einer Wiederholung gleicher Ereignisabfolgen nach belie-


big langen Zeiträumen führen muss. Leibniz’ kombinatorische Erörterung über
Geschichtsschreibung führt zu der Unterscheidung zwischen der wirklichen
und der darstellbaren Geschichte. Denn die Geschichtsschreibung ›idealisiert‹
ihre Gegenstände, indem sie die Geschichte unter dem Aspekt von Handlung
betrachtet, für die sie bestimmte eidetische Komplexe sinnstrukturierter Zu-
sammenhänge schafft. Aus der Typik bestimmter Ereignis- und Handlungsfol-
gen ergeben sich die endlichen Bausteine für die Kombinatorik, die in Leibniz’
Gedankenexperiment die Universalbibliothek generiert. Die reale Geschichte
entschlüpft aber bei Leibniz der Darstellung des Historikers. Denn unterhalb
der Erscheinungsebene, auf die die entdifferenzierende Geschichtsschreibung
zugreift, erstreckt sich der Untergrund unendlicher Realität und unmerklicher
Unterschiede, der der Kombinatorik und der Rede von der Wiederkehr des
Gleichen die Grundlage entzieht. Mathematisch gesprochen tritt an die Stelle
endlicher Elemente das unendlich teilbare Kontinuum – die unendliche Welt
der Monaden. Für Leibniz enthält diese Mikrogeschichte den Vorrat an Ab-
weichungen und Veränderungen, die wiederum die Veränderungen in der
Makrogeschichte subkutan vorbereiten: »Das menschlich Sensible kann durch-
aus das historisch Unmerkliche sein; die Seufzer, von denen in keinem Buch
die Rede ist, mögen ihren Ausdruck in Ereignissen finden, für die nach Moti-
ven anderer Größenordnung gesucht wird«.8 Die Universalbibliothek steht nun
bei Leibniz gerade für die Differenz zwischen beschreibbarer und wirklicher
Geschichte. Denn diese entgeht der typisierenden Geschichtsbetrachtung.
Leibniz’ reale Geschichte, basierend auf der aktualen Unendlichkeit des un-
endlich teilbaren Kontinuums, verweist auf die absolut individuelle Monade,
deren aktual unendliche Individualität jede Wiederholbarkeit ihrer Geschichte
ausschließt. Leibniz hält zwar die reale Geschichte für sprachlich nicht be-
schreibbar, spekuliert jedoch, ob es einmal eine Weltformel für sie geben
könnte.
Benjamin macht zur Basis seiner Geschichtsschreibung, was für Leibniz in
keinem noch so großen Buch und in keiner noch so großen Bibliothek Platz
hätte: die Geschichte der Monadenwelt in ihrer Unendlichkeit. Denn Benjamin
identifiziert das dialektische Bild mit Leibniz’ Monade:9 »Wo das Denken in
einer von Spannung gesättigten Konstellation plötzlich einhält, da erteilt es
derselben einen Chock, durch den es sich als Monade kristallisiert« (GS I/2
702f.), heißt es in der 17. These aus »Über den Begriff der Geschichte«. Die
dialektischen Bilder als Monaden, zu denen sich die von Spannung gesättigte
Konstellation kristallisiert, beschreiben eine Mikrogeschichte, die sich der
Typik entwindet: Benjamins historischer Materialist bricht den homogenen

8 Ebd., S. 141f.
9 Vgl. Andreas Pangritz: Vom Kleiner- und Unsichtbarwerden der Theologie. Ein
Versuch über das Projekt einer »impliziten Theologie« bei Barth, Tillich, Bonhoef-
fer, Benjamin, Horkheimer und Adorno. Tübingen: Theol. Verlag 1996, S. 202.
5 Messianismus des dialektischen Bildes: Walter Benjamin 399

Verlauf der Geschichte auf, indem er ein bestimmtes Lebenswerk aus seiner
Epoche, ein bestimmtes Werk aus dem Lebenswerk heraussprengt. Er findet
»im Werk das Lebenswerk, im Lebenswerk die Epoche und in der Epoche
de[n] gesamte[n] Geschichtsverlauf aufbewahrt […]. Die nahrhafte Frucht des
historisch Begriffenen hat die Zeit als den kostbaren, aber des Geschmacks
entratenden Samen in ihrem Innern« (GS I/2 703). Das Enthaltensein des Grö-
ßeren im Kleineren zielt bei Benjamin auf die Zeit als das »Inner[e]« der Ge-
schichte, deren Bilder sich einmaligen, nicht wiederholbaren Konstellationen
aus Gegenwart und Vergangenheit verdanken. Das Universalarchiv dialekti-
scher Bilder, als welches Benjamin die messianische Zeit imaginiert, konser-
viert keine ewigen, sich gleich bleibenden Bilder, sondern unendlich mit-
teilbare, zitierbare Bilder. Deren Zitation stellt keine identische Reproduktion
dar, sondern eine je einmalige Aktualisierung. Benjamins messianisches Uni-
versalarchiv ist, was nach Leibniz keine Universalbibliothek sein kann: unend-
lich, nämlich unendlich mit-teilbar.
Bei Benjamin wird die Lesbarkeit der Welt, verstanden mit Blumenberg als
Metapher für das Ganze ihrer Erfahrbarkeit,10 zur Frage des »Buchs des Le-
bens« bzw. des Buchs der Geschichte.11 Die Technik des »Eingedenkens«, in
der die Thora und die Gebete die Juden unterwiesen, wird von Benjamin auf
die Geschichte bezogen, deren Text allererst herzustellen ist. Benjamin führt
die Technik des Eingedenkens, die das Glück und das Leid der Vergangenheit
zu modifizieren trachtet, zwar auf das religiöse Eingedenken zurück (vgl. GS
I/3 588f.). Das heißt aber nicht, dass die Thora bei Benjamin noch Grundlage
für das Verständnis des Buchs der Geschichte wäre. Bei Benjamin erscheint
das Buch der Geschichte nicht mehr als eine Interpretation des Buchs der Of-
fenbarung. Wenn Benjamin auch überkommene religiöse Motive und Techni-
ken aufgreift, so lassen diese doch zugleich den biblischen Text zurück, indem
sie einen »neuen Text[]« (GS II/1 363) konstituieren. Wenn man Benjamin
noch in der Auslegungstradition der Bibel verorten wollte,12 dann ist zu be-
rücksichtigen, dass Benjamins Auslegung zugleich eine Überschreibung des
biblischen Textes darstellt, wodurch dieser die Qualität des heiligen Textes
verliert: Gehört doch zum heiligen Text nicht nur seine Kommentier- und
Interpretierbarkeit, sondern auch seine unveränderliche Kodifikation.13
Gershom Scholem hat meines Erachtens genau gemerkt, dass Benjamin sich
mit seinen späten Texten über die Grenzen der jüdischen Tradition hinausbe-

10 Vgl. Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt (wie Anm. 5), S. 9–16.
11 Vgl. GS I/3 1238: »Die historische Methode ist eine philologische, der das Buch des
Lebens zugrunde liegt. ›Was nie geschrieben wurde, lesen‹ heißt es bei Hofmanns-
thal. Der Leser, an den hier zu denken ist, ist der wahre Historiker.«
12 Wie dies zum Beispiel in avancierter Weise Brian Britt unternimmt, der ein herme-
neutisches Modell religiöser Tradition für Benjamins Texte fruchtbar zu machen
versucht (vgl. Brian Britt: Walter Benjamin and the Bible. 2nd Ed., Lewiston,
Queenston, Lampeter: Mellen 2003).
13 Vgl. ebd., S. 24. Auf dieses Paradox geht Britt freilich nicht ein.
400 Teil III

wegt. Die Debatte, die Benjamin und Scholem in ihrem Briefwechsel Mitte der
30er Jahre um eine angemessene Interpretation des Werkes Kafkas führen,
kreist um eben die Frage, ob die Schrift, das heißt, ob die Thora noch Voraus-
setzung für Kafkas Werk ist oder nicht. In dem Essay »Franz Kafka« (1934),
den Benjamin im Vorfeld der Publikation an Scholem sandte, begegnet bereits
das Motiv der »Umkehr« als »Richtung des Studiums, die das Dasein in
Schrift verwandelt« (GS II/2 437). Für Benjamin stellt die »Umkehr« oder das
»Studium« Kafkas »messianische Kategorie« dar, wie er Scholem schreibt.14
Im Engeren entzündet sich der Streit zwischen Scholem und Benjamin an
Benjamins Deutung, dass Kafkas Gehilfen »Gemeindediener [sind], denen das
Bethaus, seine Studenten Schüler, denen die Schrift abhanden kam« (GS II/2
437). Die Gehilfen, die Studenten und die Narren, die »Unfertigen und Unge-
schickten« (GS II/2 415), sind aber für Benjamin die einzigen Gestalten Kaf-
kas, für die Hoffnung da sei. In Scholems Augen ist den Studenten nicht die
Schrift abhanden gekommen, sondern es soll sich um Schüler handeln, die sie
nicht enträtseln können. Dies verbindet Scholem mit seiner Theorie von der
Unvollziehbarkeit der Offenbarung, die er schon früh formuliert hat (vgl. Kap.
I.4.2). In nihilistischer Zuspitzung findet Scholem die Offenbarung bei Kafka
auf ein Nichts zurückgeführt, worunter Scholem einen Stand verstanden wis-
sen möchte, in dem die Offenbarung bedeutungsleer erscheint, »in dem sie
zwar noch sich behauptet, in dem sie gilt, aber nicht bedeutet«.15 Benjamin
vertritt demgegenüber die Ansicht:
Ob sie [die Schrift; Anm. E.D.] den Schülern abhanden gekommen ist oder ob sie
sie nicht enträtseln können, kommt darum auf das gleiche hinaus, weil die Schrift
ohne den zu ihr gehörigen Schlüssel eben nicht Schrift ist, sondern Leben. Leben
wie es im Dorf am Schloßberg geführt wird. In dem Versuch der Verwandlung des
Daseins in Schrift sehe ich den Sinn der ›Umkehr‹, auf welche zahlreiche Gleichnis-
se Kafkas […] hindrängen.16

Für Benjamin sind die messianischen Potenzen bei Kafka im Leben selbst und
nicht mehr in der Thora zu verorten. In Kafkas Texten liegt für Benjamin die
messianische Potenz darin, das unverstandene, »entstellte[] Leben« (GS II/2
432), das von einer unübersehbaren Beamtenapparatur beherrscht wird, in
Schrift zu verwandeln. Damit löst sich für Benjamin das Messianische in Kaf-
kas Texten von den Verheißungen der Thora ab (vgl. GS II/2 437). Als Ort der
Erlösung erkennt Benjamin bei Kafka das Theater, in dem die Schauspieler ihr
eigenes früheres Leben als Rolle studieren und re-zitieren: Es handelt sich um

14 Walter Benjamin an Gershom Scholem, o. D. [11.08.1934]. In: Hermann Schwep-


penhäuser (Hg.): Benjamin über Kafka. Texte, Briefzeugnisse, Aufzeichnungen.
Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1981 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft; 341),
S. 78.
15 Gershom Scholem an Walter Benjamin, 20.09.1934. In: ebd., S. 82. Mit dieser
Vorstellung werden wir uns weiter unten noch einmal beschäftigen.
16 Walter Benjamin an Gershom Scholem, o. D. [11.08.1934]. In: ebd., S. 78.
5 Messianismus des dialektischen Bildes: Walter Benjamin 401

das »Naturtheater von Oklahoma« (GS II/2 417) aus Kafkas Roman Der Ver-
schollene. Mit der »Umkehr« als »messianischer Kategorie« Kafkas verbindet
sich für Benjamin das Studium der Vergangenheit. Statt sich ein Zukunftsziel
vorzusetzen, nimmt das Studium, das umkehrt, den Weg zurück und verwan-
delt das, was nie geschrieben wurde, nämlich das Leben und die Geschichte, in
Schrift. Mit der »Umkehr« greift Benjamin eine zentrale Kategorie des Juden-
tums auf, nämlich die »Tschuva«, die traditionellerweise eine »Umkehr« bzw.
»Rückkehr« zum Glauben bedeutet. Bei Benjamin bezieht sich die »Tschuva«
nicht mehr auf den religiösen Glauben, sondern auf das Leben selbst, das um-
gekehrt wird, indem es erinnert und in Schrift verwandelt wird, die auf einem
Naturtheater zu re-zitieren ist. Damit löst sich für Benjamin der Zwang der
Identität, denn die Bewerber des Naturtheaters sollen sich nur spielen. »Daß
sie im Ernstfall sein könnten, was sie angeben, schaltet aus dem Bereich der
Möglichkeiten aus« (GS II/2 422f.).
Das Theater als profaner Ort, in dem ein profaner Text – das in Schrift ver-
wandelte Dasein – rezitiert wird, tritt bei Benjamin an die Stelle des Bethauses,
in dem die Thora und die Gebete rezitiert werden. Auch in den Paralipomena
zu den Thesen »Über den Begriff der Geschichte« imaginiert Benjamin die
messianische Welt als Sprachwelt, nämlich als »festlich begangene Universal-
geschichte« (I/3 1238). Dieses Fest sei gereinigt von aller Feier und kenne
keinerlei Festgesänge. »Seine Sprache ist die integrale Prosa, die die Fesseln
der Schrift gesprengt hat und von allen Menschen verstanden wird« (I/3 1238).
Erklärt Benjamin die »Umkehr« zu Kafkas messianischer Kategorie, so betrifft
diese Umkehr den jüdischen Messianismus selbst: Er ist nicht buchstäblich zu
nehmen, als wie auch immer zu interpretierende Verheißung der Thora, son-
dern im Modus der »Umkehr«, man könnte auch sagen: im Modus der »Wen-
dung«, in der sich der rhetorische Tropus verbirgt. Denn der Tropus leitet sich
ab vom griechischen Verb »trépesthai«, das »sich drehen«, »wenden«, »sich
ab- oder zuwenden«, aber eben auch »umkehren« bedeuten kann.17 Bei Ben-
jamin regelt kein klassischer Tropus das Verhältnis von eigentlichem, religiö-
sem und übertragenem, profanem Messianismus, sondern die Logik ist die des
»dialektischen Bildes«, das zwischen Allegorie und Symbol anzusiedeln ist.
Benjamins Messianismus des dialektischen Bildes ist sowohl im Sinne des
Genitivus subiectivus als auch im Sinne des Genitivus qualitatis zu verstehen:
Denn Benjamin schreibt dem dialektischen Bild eine messianische Wirkung
zu, insofern es die Vergangenheit ›erlösen‹ soll. Zugleich hat der Messianis-
mus bei Benjamin die Qualität eines dialektischen Bildes, nach dessen Logik
Benjamin den jüdischen Messianismus säkularisiert. Der Anhang A und B der
geschichtsphilosophischen Thesen belegen dies besonders eindrücklich, wie
ich oben zu zeigen versucht habe. Um die Logik der Säkularisierung noch
genauer zu fassen, die Benjamin am jüdischen Messianismus vollzieht, sind

17 Wolfram Groddek: Reden über Rhetorik. Zu einer Stilistik des Lesens. Basel, Frank-
furt a. M.: Stroemfeld 1995 (Nexus; 7), S. 205.
402 Teil III

die allegorischen und die symbolischen Momente des dialektischen Bildes zu


explizieren, das Benjamins Logik der Säkularisierung strukturiert.
Denn Benjamins »dialektisches Bild« vereinigt Momente der Allegorie und
des Symbols, mit deren Theorie er sich im Rahmen seines Trauerspielbuches
auseinandergesetzt hat. Über Benjamins berühmter Kritik am plastischen
Symbol des Klassizismus und seinen Auswirkungen auf die Romantik sollte
nicht vergessen werden, dass Benjamin einen theologischen Symbolbegriff,
den er den »echten« (GS I/1 336) nennt, von der Kritik ausnimmt. Er attackiert
die Vorstellung symbolischer, »organische[r] Totalität« (GS I/1 351), die das
Sinnliche, Endliche als Erscheinung einer übersinnlichen Idee feiert. Paradig-
matisch für das plastische Symbol des Klassizismus sei die vollendet schöne,
menschliche Gestalt geworden, die »›Menschliches‹ als die höchste ›Fülle des
Wesens‹« (GS I/1 341) verehrt. Damit sei der theosophischen Ästhetik der
Romantik der Boden bereitet worden, für die das Schöne als symbolisches
Gebilde »bruchlos ins Göttliche übergehen [soll]« (GS I/1 337). Die »Einheit
von sinnlichem und übersinnlichen Gegenstand« (GS I/1 336) stelle im echten,
theologischen Symbol hingegen eine »Paradoxie« (ebd.) dar. So lückenhaft
Benjamins Theorie des Symbols im Trauerspielbuch und in anderen verstreu-
ten Texten bleibt,18 so dürfte die Paradoxie des theologischen Symbols doch
im Erscheinen und gleichzeitigen Verbergen von Sinn liegen. Benjamin be-
schreibt dies wie folgt: »Das Zeitmaß der Symbolerfahrung ist das mystische
Nu, in welchem das Symbol den Sinn in sein verborgenes und, wenn man so
sagen darf, waldiges Inneres aufnimmt« (GS I/1 342). Das echte Symbol
zeichnet sich durch eine momentane Sinnpräsenz aus, die nicht auf Dauer
gestellt werden kann, wie es sich die romantischen Mythologen gedacht hätten
(vgl. GS I/1 359).
Das »dialektische Bild« teilt mit dem Symbol das Zeitmaß: Dem »Nu« des
echten Symbols entspricht das »Jetzt der Erkennbarkeit«, das Benjamin als das
Zeitmaß des dialektischen Bildes ausweist. Im dialektischen Bild zeigt sich
sprunghaft, blitzhaft eine Bedeutung des Vergangenen, die sich nicht dem
subjektiven Zugriff des Historikers verdankt. Das dialektische Bild ist aber
nicht nur die Folgekategorie des echten Symbols bei Benjamin,19 sondern

18 Vgl. Cornelia Zumbusch: Wissenschaft in Bildern. Symbol und dialektisches Bild in


Aby Warburgs Mnemosyne-Atlas und Walter Benjamins Passagen-Werk. Berlin:
Akademie-Verlag 2004 (Studien aus dem Warburg-Haus; 8), S. 285.
19 Vgl. ebd., S. 291–294. Zumbusch arbeitet die Bedeutung des echten Symbols für
Benjamins Wahrnehmungs- und Erkenntnistheorie heraus, die von der vorangehen-
den Forschung marginalisiert wurde. Sie erkennt das dialektische Bild als Benjamins
Folgekategorie für das echte Symbol. Zu wenig berücksichtigt Zumbusch die origi-
när allegorischen Momente des dialektischen Bildes, was daran liegen mag, dass sie
dem echten Symbol selbst ein allegorisches Moment zuschlägt. Denn Zumbusch
meint, dass das echte Symbol wie die Allegorie eine klare Demarkationslinie zwi-
schen Zeichen und Bezeichnetem kenne (vgl. ebd., S. 289). Meines Erachtens geht
5 Messianismus des dialektischen Bildes: Walter Benjamin 403

weist auch allegorische Züge auf. Einerseits stellt sich das dialektische Bild
zwar spontan ein, macht es eine Bedeutung des Vergangenen flüchtig sichtbar,
die unabhängig von der Intention des Subjekts ist (vgl. GS V 578). Anderer-
seits geht das dialektische Bild aber aus einer aktiv-destruktiven Operation des
Historikers hervor.20 Diese Operation, die den historischen Gegenstand aus
dem kontinuierlichen Zusammenhang sprengt, ist aber dem allegorischen Ver-
fahren verwandt, das Benjamin im Trauerspielbuch beschreibt.
Im Unterschied zum Symbol versenke sich, so Benjamin, die Allegorie »in
den Abgrund zwischen bildlichem Sein und Bedeuten« (GS I/1 342). In der
Allegorie behaupte sich die »Demarkationslinie« (GS I/1 343) zwischen Zei-
chen und Bezeichnetem, zugleich aber besteht Benjamin darauf, dass die Alle-
gorie mehr als ein bloßes, konventionelles Zeichen sei. Denn für Benjamin ist
die Allegorie Konvention und Ausdruck zugleich, nämlich »Ausdruck der
Konvention« (GS I/1 351). Es drückt sich in der Allegorie eine »Willkürherr-
schaft über die Dinge« (GS I/1 407) aus, denn jeder Gegenstand kann einen
beliebigen anderen bedeuten (vgl. GS I/1 350). An Bedeutung kommt den
Dingen nur das zu, was der Allegoriker ihnen verleiht (vgl. GS I/1 359). Die
allegorischen Dinge sind Bruchstücke, die der Allegoriker um einer Bedeutung
willen zusammenträgt, ohne dass diese einen Anteil am Dasein der Dinge hätte
(GS I/1 364). Im Gegensatz zur Totalität des Symbols charakterisieren das
»Bruchstückhafte, Ungeordnete, Überhäufte« (GS I/1 363) die barocke Allego-
rie. In der Allegorie strahlen die Dinge keinen Sinn aus, sondern ihre Bedeu-
tung kommt durch einen konstruktiven wie destruktiven Zugriff zustande,
durch Zerstückelung und Anhäufung um ein figurales Zentrum (vgl. GS I/1
363).21
Die Absprengung des historischen Gegenstandes aus dem Kontinuum des
Geschichtsverlaufs, Konstitutionsbedingung des dialektischen Bildes, ist der
allegorischen Zerstückelung verwandt.22 Demgegenüber ähnelt die blitzhafte
Erkenntnis, die im dialektischen Bild aufscheint, der symbolischen Erfahrung,
der sich momentan ein Sinn an einem Gegenstand zeigt und im gleichen Au-
genblick verbirgt. Man könnte das dialektische Bild ein allegorisches Verfah-

das aber an Benjamins echtem Symbolbegriff vorbei, der eine paradoxe Einheit zwi-
schen Zeichen und Bezeichnetem, Sinnlichem und Übersinnlichem umschreibt.
20 Vgl. Sven Kramer: Walter Benjamin zur Einführung. Hamburg: Junius 2003, S. 119.
21 Benjamins Allegorie-Konzept kann an dieser Stelle, an der es nur um die Über-
schneidungen von Allegorie und dialektischem Bild geht, nicht erschöpfend behan-
delt werden. Vgl. zu Benjamins Konzeption der Allegorie Bettine Menke: Sprachfi-
guren. Name – Allegorie – Bild nach Benjamin. Weimar: Verlag und Datenbank für
Geisteswiss. 2001 (Medien i; 6), S. 207–310, sowie dies.: Das Trauerspiel-Buch.
Der Souverän – das Trauerspiel – Konstellationen – Ruinen. Bielefeld: transcript-
Verlag 2010 (Theater; 5), S. 169–230.
22 Einseitig betont Bischof die Nähe von Allegorie und dialektischem Bild bei Benja-
min, die sie sogar als eine Form unter zwei unterschiedlichen Aspekten begreift (vgl.
Bischof, Plädoyer für eine Theorie des dialektischen Bildes [wie Anm. 2], S. 96).
404 Teil III

ren mit symbolischem Effekt nennen – allegorische Trümmer erscheinen


flüchtig als »Tors[i] eines Symbols« (GS I/1 181). Was heißt dies nun im Hin-
blick auf den Messianismus, den Benjamin als dialektisches Bild interpretiert?
Zum einen reißt Benjamin den jüdischen Messianismus aus der religiösen
Tradition heraus, indem er die messianischen Potenzen nicht mehr im Buch
der Offenbarung, sondern im Buch der Geschichte verortet. Zum anderen rettet
Benjamin den tradierten Messianismus als dialektisches Bild, das einen bisher
verborgenen Sinn am Messianismus aufzeigt. Das dialektische Bild hat einen
historischen Index, es ist ein »Bild der Vergangenheit […], wie es sich im
Augenblick der Gefahr dem historischen Subjekt unversehens einstellt« (GS
I/2 695). Im Augenblick der eminenten nationalsozialistischen Gefahr, in dem
die geschichtsphilosophischen Thesen geschrieben sind, erinnert sich Benja-
min des jüdischen Messianismus in Form eines dialektischen Bildes, in dem
das revolutionäre Moment am Messianismus hervorsticht. In diesem Augen-
blick der Gefahr wird Benjamin der Messianismus zum Symbol für die Revo-
lution und die »klassenlose Gesellschaft« (GS I/3 1231f.), als das Bloch den
Messianismus immer schon verstanden hat.
Es trennt nun aber Benjamin von Bloch nicht nur dessen identitätsphiloso-
phische Ausrichtung. Darüber hinaus bleibt für Benjamin das echte Symbol
nicht beharrlich dasselbe. Als ein solches überdauerndes Symbol deutet Bloch
aber den Messianismus, der für ihn auf ein revolutionäres, utopisches Totum
verweist. So wenig das echte Symbol bei Benjamin eine konstante Bedeutung
hat, hat es der Messianismus. Der Messianismus nimmt für Benjamin im Au-
genblick der höchsten nationalsozialistischen Gefahr eine unmittelbar politi-
sche, revolutionäre Bedeutung an. Eine solche legitimatorische Aneignung der
Theologie für die Politik hatte Benjamin noch im »Theologisch-politischen
Fragment« – mit Blick auf Bloch – kritisiert. In der verzweifelten Situation
von 1940 wird Benjamin der Messianismus zum Bild für die revolutionäre
Aktion – kein ewiges Bild, sondern ein dialektisches, dem der historische
Index eingeschrieben ist.
6 Messianismus der Inversion: Gershom Scholem

Gershom Scholem hat sich sein Leben lang mit Fragen des jüdischen Messia-
nismus beschäftigt. Seine späten Texte zum jüdischen Messianismus, der be-
rühmte Aufsatz »Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum«
(1959) sowie »Die Krise der Tradition im jüdischen Messianismus« (1968)
und »Die Metamorphose des häretischen Messianismus der Sabbatianer in
religiösen Nihilismus im 18. Jahrhundert« (1963), werden oftmals »als die
Auskunftsquelle für ›den‹ jüdischen Messianismus«1 zitiert. Dass es jedoch
keine einheitliche Idee ›des‹ jüdischen Messianismus gibt, demonstrieren
Scholems Texte ironischerweise selbst: Der frühe Scholem konzipiert den
jüdischen Messianismus anders als der späte Scholem. Dies zeigt sich etwa
darin, wie er den messianischen Aufschub auffasst, noch grundsätzlicher aber
darin, wie er das Verhältnis von Messianismus und Tradition beurteilt. Der
späte Scholem spitzt den Messianismus auf eine »Katastrophentheorie«2 zu,
mit der er den revolutionären Aspekt des Messianismus würdigt, der für eine
»anarchische Lüftung im Hause des Gesetzes«3 sorge. Mit dem revolutionären
Aspekt hebt Scholem aber zugleich auch immer das destruktive Potential des
Messianismus hervor. Dieses destruktive Moment richtet sich nicht zuletzt
gegen die jüdische Tradition selbst, die im historischen Vollzug der messiani-
schen Idee, dem Beginn einer ganz neuen Zeit, liquidiert zu werden droht.
Verschiedene Gründe dürften dazu geführt haben, dass Scholem im Laufe
der Zeit mit dem revolutionären Moment des jüdischen Messianismus zugleich
auch immer dessen katastrophalen Aspekt hervorhebt: Zum einen hat hierbei
sicherlich Scholems Ende der 1920er Jahre einsetzende Beschäftigung mit den
häretischen, messianischen Bewegungen des Judentums, dem Sabbatianismus
und dem Frankismus, eine Rolle gespielt. Zum anderen haben historische Er-
fahrungen ihre Spuren in Scholems Auffassung des Messianismus hinterlassen.
Die Auseinandersetzung mit dem aggressiven messianischen Zionismus der
Revisionisten hat Scholem gewiss sensibler gemacht für das zerstörerische
Potential des Messianismus. Der katastrophale Aspekt des Messianismus ist
1 Daniel Weidner: Gershom Scholem. Politisches, esoterisches und historiographi-
sches Schreiben. München: Fink 2003, S. 369.
2 Gershom Scholem: Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum. In:
Ders.: Über einige Grundbegriffe des Judentums. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1970
(Edition Suhrkamp; 414), S. 121–167, hier: S. 130.
3 Ebd., S. 147.
406 Teil III

aber doppeldeutig: Er kann sich auf das revolutionär zerstörerische Potential


des Messianismus selbst beziehen, aber auch auf die von der Umwelt drohende
Katastrophe, aus der der Messianismus die Rettung verspricht. Vor dem Hin-
tergrund von »Grauen und Untergang«, mit dem das europäische Judentum im
20. Jahrhundert konfrontiert wurde, ist es für Scholem »kein Wunder, daß […]
de[r] utopische[] Rückzug auf Zion […] von Obertönen des Messianismus
begleitet ist«.4
Von Anfang an verbindet und trennt Scholem zugleich Messianismus und
Zionismus. Die Gründe hierfür treten in den frühen Texten Scholems viel
deutlicher zu Tage als in den späteren (vgl. Kap. I.4.2). Scholem bemüht sich,
den Zionismus aus der jüdischen Tradition heraus zu verstehen. Diese Traditi-
on als traditio, als bestimmte Form der Auslegung und der Überlieferung,
interpretiert der junge Scholem nun unter messianischem Vorzeichen.5 Hierbei
spielt der Aufschub eine wichtige Rolle. Wenn der junge Scholem den messia-
nischen Aufschub positiv wertet, so meint dies keinesfalls, dass er dem Leben
im Exil einen positiven Wert beimisst. Beim jungen Scholem bedeutet der
messianische Aufschub etwas anderes als ein quietistisches Warten, das Scho-
lem später als den »Preis des Messianismus«6 bezeichnet. Gegen das Leben im
Aufschub, in der abstrakten Hoffnung, haben sich die unterschiedlichen messi-
anischen Bewegungen gerichtet, die sich an dem historischen Vollzug der
messianischen Idee versuchten. Dieser müsse selbst wiederum in Widersprü-
che führen – auch der aktivistische Messianismus hat seinen Preis bei Scho-
lem.7 Der positive Begriff des Aufschubs betrifft beim jungen Scholem das
4 Ebd., S. 167.
5 In dieser Arbeit wurden nur die Texte des jungen Scholem berücksichtigt, die vom
Versuch zeugen, den jüdischen Messianismus auf der Grundlage des Studiums der
jüdischen Tradition und ihrer Quellen zu konzipieren. Scholems ganz frühe Tage-
buchaufzeichnungen vor 1916, dem Beginn seines intensiveren Studiums der jüdi-
schen Mystik, sind nicht herangezogen worden. Elisabeth Hamacher ist Scholems
apokalyptisch-messianischen Visionen vor 1916 nachgegangen. So sieht sich Scho-
lem in einer Vision von 1915 selbst in der Rolle des Messias, der mit den Waffen
des Wissens die jüdische Volksseele wieder mit ihrem Körper zusammenführen
wird (vgl. Elisabeth Hamacher: Von der Apokalypse zur Theologie im Aufschub.
Überlegungen zu Gershom Scholems Verhältnis zur Geschichte. In: Jürgen Brokoff
und Joachim Jacob [Hg.]: Apokalypse und Erinnerung in der deutsch-jüdischen Kul-
tur des frühen 20. Jahrhunderts. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 2002, S. 59–
74, besonders S. 66–68).
6 Scholem, Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum (wie Anm. 2), S. 166.
7 Vgl. zum »Preis des Messianismus« bei Scholem im Vergleich zu Jacob Taubes
auch Thomas Macho: Zur Frage nach dem Preis des Messianismus. Der intellektuel-
le Bruch zwischen Gershom Scholem und Jacob Taubes als Erinnerung ungelöster
Probleme des Messianismus. In: Stéphane Mosès und Sigrid Weigel (Hg.): Gershom
Scholem. Literatur und Rhetorik. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2000 (Literatur, Kul-
tur, Geschlecht/Kleine Reihe; 15), S. 133–152. Jacob Taubes hat im Unterschied zu
Scholem der Verinnerlichung der messianischen Idee konsequent das Wort geredet.
Habe Scholem sich geweigert, die Verinnerlichung als legitime Konsequenz der
6 Messianismus der Inversion: Gershom Scholem 407

Verhältnis zwischen Offenbarung und Tradition, geschriebener und mündli-


cher Thora, Recht und Gerechtigkeit. In dem Aufsatz »Jona und der Begriff
der Gerechtigkeit« (1918) begründet der »Aufschub der Exekutive« (T II 526)
für Scholem die jüdische Tradition, die er als Tradition der Auslegung der
schriftlichen Thora bestimmt. Im »unendlichen Aufschub der Tradition« (T II
529) verwandle sich das Recht der schriftlichen Thora in Gerechtigkeit. Der
junge Scholem bezieht den messianischen Aufschub nicht so sehr auf eine
noch ausstehende Zukunft, sondern korreliert ihn mit der Vorstellung einer
messianischen »ewige[n] Gegenwart« (T II 529), in der sich die Zeiten ver-
wandeln: Vergangenheit in Zukunft, Zukunft in Vergangenheit, das Abge-
schlossene in das Unabgeschlossene, das Unabgeschlossene in das Abge-
schlossene, Aussagen in Fragen, Fragen in Aussagen. In der »ewigen Gegen-
wart« sind Thora und Auslegungstradition gleichursprünglich, gibt es den
Aufschub von Anfang an.
1918 definiert Scholem die messianische Zeit als »ewige Gegenwart« oder
als »Zeit des ʪʥʴʤʤ-'ʥ [waw ha-hippukh]« (T II 253). Die grammatische Funkti-
on des ʪʥʴʤʤ-'ʥ besteht in der Inversion der Zeiten: Ein Verb, das in der Ver-
gangenheitsform gebraucht wird, erhält durch die Kopula ʥ einen Zukunftssinn,
wie umgekehrt ein Verb, das in der Zukunftsform verwendet wird, durch die
Kopula ʥ den Vergangenheitssinn annehmen kann. Mit den Zeiten verwandelt
sich das Abgeschlossene in das Unabgeschlossene, das Faktische in das Mög-

messianischen Idee selbst zu sehen, da sie ihm zum Wesen des Christentums zu ge-
hören schien, so argumentiert Taubes, dass »jeder Versuch, die Erlösung ohne Ver-
wandlung der messianischen Idee auf der Ebene der Geschichte zustande zu bringen,
[…] direkt in den Abgrund [führt]« (Jacob Taubes: Der Messianismus und sein
Preis. In: Ders.: Vom Kult zur Kultur. Hg. von Aleida Assmann, Jan Assmann und
Wolf-Daniel Hartwich. München: Fink 1996, S. 43–49, hier: S. 49). Es habe in der
Geschichte verschiedene Formen der Verinnerlichung gegeben, nicht nur die christ-
liche Version, sondern auch den Chassidismus, den Taubes gegenüber Scholems
ambivalenter Auffassung ganz positiv als »lebensfähige mythische Antwort« ver-
steht, »mit deren Hilfe die lurianische Kabbala die verhängnisvollen apokalypti-
schen Folgen überwinden konnte, die in der sabbatianischen Komödie der Gemeinde
des abtrünnigen Messias […] manifest geworden w[a]ren« (ebd., S. 48). Grundsätz-
lich geht Taubes von Scholems Erkenntnissen aus, wertet sie aber um. Dies betrifft
nicht zuletzt ein »grandios unterschiedliches Verständnis jüdischer Dissidenz«, wie
Macho schreibt: »Scholem hielt die Frage nach jüdischer Dissidenz für ein innerjüdi-
sches Problem […]. Taubes dagegen verstand dieselbe Frage stets als Ausdruck einer
jüdischen Thematisierung der Grenzen des Judentums, samt ihrer experimentellen
Überschreitungen – in Richtung der Stiftung einer neuen Religion (wie im Falle des
Paulus und seines Schülers Marcion), in Richtung der Konversion zu einer anderen
Religion (wie im Falle der Marranen, aber auch des Sabbatai Zwi), in Richtung der
Aufklärung und einer Säkularisierung des Messianismus zur Geschichtsphilosophie
(von Maimonides bis Spinoza, und von Marx bis zu den ›mystischen Marxisten‹ Bloch
und Benjamin)« (Macho, Zur Frage nach dem Preis des Messianismus [wie Anm. 7],
S. 147f.). Während Scholem die experimentellen Überschreitungen des Judentums
perhorreszierte, ging Taubes recht gelassen mit ihnen um.
408 Teil III

liche, Urteile in Fragen. Die messianische Zeit referiert beim frühen Scholem
nicht auf die Zukunft, sondern in ihr transformieren sich die Zeiten. Als Zeit
der Inversion ist sie die »ewige Gegenwart«. Dieser Zeitbegriff kennzeichnet
die jüdische Auslegungstradition selbst, in der entfernte Zeiten miteinander in
Beziehung gebracht werden können und Moses sich in einer berühmten Episo-
de des Talmuds von Rabbi Akiba erklären lassen muss, was seine Lehre gewe-
sen ist oder besser gewesen sein wird. Indem Scholem die messianische Zeit
als »ewige Gegenwart« interpretiert, die die Zeiten verwandelt, erscheint die
jüdische Auslegungstradition selbst, in ihrer Form als traditio, messianisch. Es
handelt sich dabei um eine Tradition pluraler, auch widersprüchlicher Deu-
tungsmöglichkeiten. Die Inversion von Urteilen in Fragen macht für Scholem
1918 den jüdischen Begriff der Gerechtigkeit wie der Tradition aus. Sie be-
gründet auch Scholems religiösen Anarchismus, den »anarchischen Suspens«8
des Gesetzes, der ihn von der orthodoxen Lebensführung fernhält, wie er Ben-
jamin 1918 zu erklären versucht.9
Der ›verwandelnde‹ Messianismus, den Scholem in der jüdischen Mystik
entdeckt und den er vom apokalyptischen, revolutionären Messianismus unter-
scheidet (vgl. Kap. II.4.2), bedroht nicht die jüdische Tradition, sondern macht
in Scholems Aufzeichnungen um 1918 geradezu ihren Begriff aus. Die Um-
kehrung der Zeiten in der messianischen Zeit, die beim frühen Scholem mit
einer anarchomystisch verstandenen jüdischen Tradition zusammenfällt, ist nur
eine der Figuren der Inversion,10 in denen Scholem den jüdischen Messianis-
mus geschichtsphilosophisch aufbereitet. Eine andere Inversionsfigur stellt die
dialektische Umkehrung von messianischer Mystik in messianische Apokalyp-
tik dar, die ab den späten 1920er Jahren das geschichtsphilosophische Narrativ
formiert, in dem Scholem die jüdische Geschichte seit der Vertreibung aus
Spanien im Jahre 1492 zu lesen gibt. Die kollektive Erfahrung des Exils habe
sich in die Kabbala des Isaak Luria eingeschrieben, der gnostische Mythologie
und jüdische Mystik zu einem vielschichtigen Mythos des Exils und der Rück-
8 Gershom Scholem: Walter Benjamin – die Geschichte einer Freundschaft. 4. Aufl.,
Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1997 (Bibliothek Suhrkamp; 467), S. 93.
9 Vgl. zur Vorstellung des »theokratischen Anarchismus« beim jungen Scholem auch
Gabriele Guerra: Judentum zwischen Anarchie und Theokratie. Eine religionspoliti-
sche Diskussion am Beispiel der Begegnung zwischen Walter Benjamin und Ger-
shom Scholem. Bielefeld: Aisthesis 2007.
10 Im engeren rhetorischen Sinn meint die Inversion die Umstellung zweier Wörter im
Satz (vgl. Wolfram Groddeck: Reden über Rhetorik. Zu einer Stilistik des Lesens.
Basel, Frankfurt a. M.: Stroemfeld 1995 [Nexus; 7], S. 181). Als Denkfigur spielt
die Inversion darüber hinaus in der Philosophie der Moderne eine tragende Rolle, als
kantische Revolution der Denkungsart, als hegelscher dialektischer Umschlag usw.
Dem Zusammenhang von philosophischen und poetischen Umkehrungen von Kant
bis Celan ist Werner Hamacher nachgegangen (vgl. Werner Hamacher: Die Sekunde
der Inversion. Bewegungen einer Figur durch Celans Gedichte. In: Ders.: Entferntes
Verstehen. Studien zu Philosophie und Literatur von Kant bis Celan. Frankfurt
a. M.: Suhrkamp 1998 [Edition Suhrkamp; 2026], S. 324–368).
6 Messianismus der Inversion: Gershom Scholem 409

kehr verdichtete. Im 17. Jahrhundert sei die messianisch aufgeladene Mystik in


die antinomische Apokalyptik der sabbatianischen Bewegung umgeschlagen,
deren Nachbeben der polnische Frankismus war. Ist die sabbatianische Bewe-
gung auch gescheitert, so gehöre doch zu ihrer Nachgeschichte eine sabbatia-
nische Theologie, die die Gültigkeit des Gesetzes und des bestehenden Moral-
systems von innen aufgelöst und so die jüdische Aufklärung und Reform mit
auf den Weg gebracht habe. Scholem hat die Gefahren des Sabbatianismus
deutlich gesehen: Er trägt die Keime des Zerfalls der »religiösen Substanz des
Judentums«11 in sich. Damit aber bedroht er die »Substanz« des Judentums
überhaupt, welches Scholem immer von seiner religiösen Tradition her denkt,
mag er sie noch so undogmatisch auslegen und sie so ausweiten, dass sie selbst
säkulare Positionen noch umfassen kann. Auf der anderen Seite drückt sich
aber für Scholem im Sabbatianismus ein Drängen des jüdischen Volkes nach
Erneuerung seiner Existenz durch drastische Umformung seiner Grundlagen
aus, so dass er historisch nicht nur auf Aufklärung und Emanzipation, sondern
auch auf den Zionismus verweist.12 Die Gefahr des sabbatianischen Erbes, das
zum Zionismus dazugehört, wird für Scholem an den Revisionisten offenbar
(vgl. Kap. II.4.5): Sie lassen der apokalyptischen Energie freien Lauf und
gefährden dadurch den Zionismus innerlich (durch die Auflösung der Traditi-
on) wie äußerlich (durch den aggressiven Kurs gegen die Araber).
Bildet ein ›verwandelnder‹, mystischer Messianismus beim frühen Scholem
die Grundlage für die Tradition, so wird Scholem immer sensibler dafür, dass
der mystische Messianismus mit dem apokalyptischen Messianismus, der die
Tradition aufzulösen droht, dialektisch zusammenhängt. So wird der Messia-
nismus bei Scholem beides: integraler Bestandteil der Tradition und deren
Gefahr, damit aber auch integraler Bestandteil des Zionismus wie dessen Ge-
fährdung. Der Messianismus gehört zur Tradition, zum Messianismus gehört
aber auch die Apokalyptik, die die Tradition gefährdet. Der apokalyptische
Stachel des Messianismus erscheint bei Scholem dabei in eigentümlicher Dop-
pelbeleuchtung: Einerseits verbindet ihn Scholem besonders mit antinomi-
schen Bewegungen wie Sabbatianismus und Frankismus, die die religiöse
Tradition aufzulösen drohen und dabei moderne, säkulare Bewegungen präfi-
gurieren. Andererseits meint Scholem, dass sich der apokalyptische Stachel

11 Gershom Scholem: Die Theologie des Sabbatianismus im Lichte Abraham Cardo-


sos. In: Ders.: Judaica 1. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1986 (Bibliothek Suhrkamp;
106), S. 119–146, hier: S. 123.
12 Für Robert Alter zeigt sich in der Mischung aus Faszination und Entsetzen, mit der
Scholem den Sabbatianismus beschreibt, wie sehr Scholems Geschichtsschreibung
von der Moderne und ihrer Ästhetik geprägt ist. Man fühlt sich an Nietzsche erin-
nert, nicht zuletzt an das dionysische Prinzip aus der Geburt der Tragödie, mag
Scholem selbst auch geleugnet haben, von Nietzsche beeinflusst zu sein (vgl. Robert
Alter: Scholem und die Moderne. In: Peter Schäfer und Gary Smith [Hg.]: Gershom
Scholem. Zwischen den Disziplinen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1995, S. 157–175,
hier besonders S. 165f.).
410 Teil III

gegen die säkularen Protagonisten richten kann, die ihn rhetorisch einsetzen
wie die Revisionisten. So kann sich etwa die religiöse Gewalt der Sprache
eines Tages gegen ihre säkularen Sprecher wenden, welches apokalyptische
Szenario Scholem in dem an Rosenzweig gerichteten »Bekenntnis über unsere
Sprache« entwirft (vgl. Kap. I.4.3). Scholems Begriff von religiöser Tradition,
die plurale Deutungen zulässt und selbst noch den säkularen Standpunkt integ-
riert, wird von zwei Seiten bedroht: von religionsfeindlicher, säkularer Seite,
aber auch von religiöser, theokratischer Seite, die den Spielraum der Tradition
zugunsten einer neuen, verbindlichen religiösen Gesetzesherrschaft aufhebt.
Scholem ist nun kein Gegner der Säkularisierung, sondern es kommt ihm
auf die Qualität der Säkularisierung an.13 Für Scholem gilt es, Säkularisierung
und Religion ins rechte Verhältnis zu setzen. Hiervon hängt für Scholem die
Qualität der Säkularisierung wie des Zionismus ab. Um dieses Verhältnis dar-
zustellen, spielt Scholem ab 1930 mit einer Inversionsfigur, die es ihm erlaubt,
noch das Nichtsein Gottes in der profanen Moderne als eine Form seiner Of-
fenbarung aufzufassen. Scholem greift auf die mystische Inversionsfigur des
»Zimzum« Gottes zurück, die aus der lurianischen Kabbala stammt und deren
geistesgeschichtliche Wirkungsgeschichte von Jacob Böhme über den deut-
schen Idealismus bis hin zum historischen Materialismus reicht.14 Der »Zim-
zum« Gottes beschreibt auf originelle Art die Schöpfung aus dem Nichts. Die-
ses Nichts, aus dem die Welt hervorgeht, ist keine Gott äußerliche Leere, son-
dern aus der Selbstverschränkung Gottes entstanden, der sich in sich selbst
zurückgezogen hat und so den Raum für ein von ihm Unterschiedenes, die
Welt, geschaffen hat. In diesem Schöpfungsmythos gibt es die Säkularisierung
schon von Anfang an, ist der Rückzug Gottes aus der Welt nicht erst eine mo-
derne Erscheinung, sondern schon bei ihrer Schöpfung geschehen. Scholem
hat im »Faszinosum eines sich in sich selber zurücknehmenden Gottes einen
theologischen Glaubenssatz gefunden […], der der entzauberten Moderne
Rechnung trägt, ohne ihr zu verfallen.«15 In der Figur des »Zimzum« begegnet
dem Nihilismus der Moderne, der die Religion überwunden zu haben meint,
ein religiöser Nihilismus. Hat sich Gott schon vor der Erschaffung der Welt in
sich selbst zurückgezogen, so hat sich in der Moderne ein nochmaliger Rück-
zug Gottes ereignet. Dieser Rückzug lässt sich nicht nur als Verschwinden
Gottes, sondern auch als eine besondere Form seiner Offenbarung interpretie-
13 Vgl. Irving Wohlfarth: »Haarscharf auf der Grenze zwischen Religion und Nihilis-
mus«. Zum Motiv des Zimzum bei Gershom Scholem. In: Schäfer und Smith (Hg.),
Gershom Scholem (wie Anm. 12), S. 176–256, besonders S. 196.
14 Ebd., S. 184. Vgl. zum Motiv des »Zimzum« Gottes bei Scholem im Vergleich zu
Molitor auch Christoph Schulte: »Die Buchstaben haben... ihre Wurzeln oben.«
Scholem und Molitor. In: Eveline Goodman-Thau, Gert Mattenklott und Christoph
Schulte (Hg.): Kabbala und Romantik. Tübingen: Niemeyer 1994 (Conditio Judaica;
7), S. 143–164, besonders S. 159–164.
15 Wohlfarth, »Haarscharf auf der Grenze zwischen Religion und Nihilismus« (wie
Anm. 13), S. 185.
6 Messianismus der Inversion: Gershom Scholem 411

ren.16 So wird es nicht nur möglich, noch in der gottverlassenen Welt Spuren
des Göttlichen zu finden, sondern die theologische Fundierung der von Gott
verlassenen Welt schließt die Möglichkeit seiner einstigen Rückkehr ein.17
Diese beiden Aspekte des »Zimzum« bzw. der Selbstverschränkung Gottes in
der Moderne bringt Scholem in seiner Gedenkrede auf Franz Rosenzweig aus
dem Jahr 1930 zum Ausdruck:
Offensichtlich ist also, daß die Themen der Theologie in unserer Generation un-
sichtbar wurden, verborgen sind, Lichter, die ihr Licht nach innen sandten und drau-
ßen nicht wahrgenommen wurden. Der Gott, der in der Psychologie vom Menschen
und in der Soziologie von der Welt vertrieben wurde, wollte nicht länger ausgerech-
net in den Himmeln wohnen, übergab den Thron des strengen Gerichts dem dialekti-
schen Materialismus und den Thron des liebenden Erbarmens der Psychoanalyse,
verschränkt sich ins Geheimnis und offenbart sich nicht. Offenbart er sich wirklich
nicht? Liegt vielleicht gerade in dieser seiner letzten Selbstverschränkung seine Of-
fenbarung? Vielleicht war das Verschwinden Gottes bis zum Punkt des Nicht von
höherer Notwendigkeit und wird sich nur einer Welt, die entleert ist, sein Königtum
offenbaren.18

Der Rückzug Gottes eröffnet säkularen Wissenschaften wie dem dialektischen


Materialismus und der Psychoanalyse den Zugang zu den göttlichen Bezirken
des »strengen Gerichts« und des »liebenden Erbarmens«. Eine Säkularisie-
rung, die auf dem Rückzug Gottes beruht, so wie Scholem sie erzählt, verleiht
noch den profanen Wissenschaften eine theologische Vorgeschichte. Zugleich
stellt Scholem die Möglichkeit in Aussicht, dass das »Nicht« Gottes der Punkt
des Umschlages sein könnte, der zu einer neuerlichen Offenbarung von Gottes
»Königtum« führt. Der »Zimzum« Gottes ist eine Inversionsfigur, die unter-
schiedliche Interpretationen der säkularen Moderne zulässt, die sich alle darin
treffen, dass das »Nicht« Gottes noch auf Gott zurückgeführt wird. Die Um-
kehrung des »Nicht(s)« zu einem Etwas Gottes begegnet auch in Scholems
Briefwechsel mit Benjamin über Kafka.
Scholem macht gegen Benjamin geltend, dass in Kafkas Welt nicht die Ab-
wesenheit, sondern die Unvollziehbarkeit der Offenbarung das Problem sei.
Die Rede von der Unvollziehbarkeit der Offenbarung gibt Scholem unter-
schiedlich zu verstehen. Zum einen verweist er hiermit auf seine früheren

16 Vgl. Christoph Schmidt: Der häretische Imperativ. Überlegungen zur theologischen


Dialektik der Kulturwissenschaft in Deutschland. Tübingen: Niemeyer 2000
(Conditio Judaica; 31), S. 155.
17 Vgl. Wohlfarth, »Haarscharf auf der Grenze zwischen Religion und Nihilismus«
(wie Anm. 13), S. 187, S. 190, sowie Weidner, Gershom Scholem (wie Anm. 1),
S. 260.
18 Gershom Scholem: Franz Rosenzweig und sein Buch »Der Stern der Erlösung«.
Übers. von Michael Brocke. In: Franz Rosenzweig: Der Stern der Erlösung. 5. Aufl.,
Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1996, S. 525–549, hier: S. 533.
412 Teil III

Überlegungen »Über Jona und den Begriff der Gerechtigkeit« zurück,19 die
sich um die Unanwendbarkeit der geschriebenen Thora drehen, deren Recht
sich im Aufschub der Exekutive – gleichbedeutend mit dem Aufschub der
Tradition – zur Gerechtigkeit wandle. Hierauf begründet der junge Scholem
seinen religiösen Anarchismus. Eine etwas andere Lesart der Unvollziehbar-
keit der Offenbarung gibt Scholem in seinem offenen Brief an Schoeps von
1932. Hier schreibt Scholem, dass die »›absolute Konkretheit‹ des Offenba-
rungswortes« notwendig der historischen Konkretisierung bedürfte: »Ist doch
das absolut Konkrete das Unvollziebare schlechthin, dessen Absolutheit eben
seine unendliche Spiegelung in den Kontingenzen des Vollzugs bedingt.«20
Scholem versteht das Offenbarungswort als selbst bedeutungslos und zugleich
allererst Bedeutung gebend. In seiner absoluten Fülle wäre es zerstörend,
weswegen es der Brechung durch die Tradition bedürfe, die dem Bedeutungs-
losen historisch kontingente Deutungen abgewinnt und es mit dem Index der
Anwendbarkeit versieht. Die Inversion des Bedeutungslosen ins Bedeutsame
kennzeichnet also die symbolische Auslegungspraxis der Tradition überhaupt.
Leitet der frühe Scholem aus der Unanwendbarkeit der schriftlichen Thora
seinen religiösen Anarchismus ab, so gibt er in dem offenen Brief an Schoeps
zu bedenken, dass der Inversionsprozess die Tradition schlechthin konstituiert,
die orthodoxe Tradition eingeschlossen, die das Unanwendbare, die schriftli-
che Thora, anwendbar zu machen bestrebt ist.
Eine noch etwas andere Deutung gibt Scholem dem »Nichts der Offenba-
rung« im Rahmen seiner Debatte mit Benjamin über Kafka. Scholem erklärt
Benjamin, er verstehe darunter einen Stand, in dem die Offenbarung »bedeu-
tungsleer erscheint, in dem sie zwar noch sich behauptet, in dem sie gilt, aber
nicht bedeutet.«21 Scholem spricht eine historische Situation an, in der die
Tradition nicht mehr in der Lage ist, dem Bedeutungslosen der Offenbarung
Bedeutung abzugewinnen. In dieser Situation behauptet sich die Offenbarung
dennoch, sie gilt weiterhin, ohne zugänglich oder verständlich zu sein. Giorgio
Agamben sieht hierin eine Analogie zum politischen Ausnahmezustand, in
dem sich das Gesetz selbst suspendiert und zugleich behauptet: Es wendet sich
auf einen Einzelfall an, indem es sich von ihm abwendet.22 Agamben definiert

19 Vgl. Gershom Scholem an Walter Benjamin, 01.08.1931. In: Hermann Schweppen-


häuser (Hg.): Benjamin über Kafka. Texte, Briefzeugnisse, Aufzeichnungen. Frank-
furt a. M.: Suhrkamp 1981 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft; 341), S. 64.
20 Gershom Scholem: Offener Brief an den Verfasser der Schrift »Jüdischer Glaube in
dieser Zeit«. In: Bayerische Israelitische Gemeindezeitung 8/16 (15.08.1932),
S. 241–244, hier: S. 243.
21 Gershom Scholem an Walter Benjamin, 20.09.1934. In: Schweppenhäuser (Hg.),
Benjamin über Kafka (wie Anm. 19), S. 82.
22 Giorgio Agamben: The Messiah and the Sovereign. The Problem of Law in Walter
Benjamin. In: Ders.: Potentialities. Collected Essays in Philosophy. Übers. von Da-
niel Heller-Roazen. Stanford/CA: Stanford Univ. Press 1999, S. 160–174, hier be-
6 Messianismus der Inversion: Gershom Scholem 413

diese historisch-politische Situation – die unsere Gegenwart genauso wie die


Zeit Scholems, Benjamins und Kafkas umfassen soll – als paralysierten Messi-
anismus.23 Das Gesetz werde annulliert, erhalte sich aber trotzdem in seinem
Nichts und schlage das Leben in Bann. Für Agamben kommt es politisch dar-
auf an, die messianische Annullierung des Gesetzes zu Ende zu führen, so dass
das unheimliche Fortleben des Gesetzes, das gilt, obwohl es seine Bedeutung
überlebt hat, überwunden wird.24 Agamben geht mit dieser Deutung über
Scholem hinaus. Anders als für Agamben ist für Scholem das anarchische
Element des Messianismus sowohl belebend als auch eine Gefahr für das Ju-
dentum. Ist es Agamben um das anarchische Potential einer historischen Situa-
tion zu tun, in der das Gesetz gilt, ohne zu bedeuten, so dokumentiert sich für
Scholem hierin eine verschärfte Krise der Tradition, die nicht mehr in der Lage
ist, die Offenbarung bedeutsam auszulegen. Scholems Ansatz besteht nicht
darin, was fällt noch zu stoßen, sondern die Krise noch als Moment der Tradi-
tion zu begreifen, in der sich Bruch und Kontinuität durchdringen.
Die Formen des religiösen Anarchismus, denen wir bei Scholem begegnet
sind, unterscheiden sich vom politischen Anarchismus Agambens darin, dass
in ihnen das religiöse Gesetz wohl suspendiert, aber nicht aufgelöst wird. Ob
der anarchische Suspens durch den Aufschub der Exekutive wie beim frühen
Scholem begründet wird oder durch die Vorstellung einer »noch unvollziehba-
ren Theokratie«,25 die einen vorübergehenden Anarchismus bedingt – die

sonders S. 169f. Vgl. zu Agambens Theorie des Ausnahmezustands auch Eva Geu-
len: Giorgio Agamben zur Einführung. Hamburg: Junius 2005, besonders S. 73–82.
23 Vgl. Agamben, The Messiah and the Sovereign (wie Anm. 22), S. 171.
24 Eva Geulen macht in Agambens weiterer Beschäftigung mit dem Gesetz eine syste-
matische Ambivalenz aus: »Von der Paulus-Interpretation her gesehen scheint es
ihm darauf anzukommen, das Gesetz durch seine Deaktivierung zu bewahren. Aber
von der ersten homo sacer-Studie her gesehen scheint es umgekehrt darum zu ge-
hen, das Gesetz eben durch die Deaktivierung im messianisch gedachten, radikalen
Ausnahmezustand abzuschaffen« (Eva Geulen: Gründung und Gesetzgebung bei
Badiou, Agamben und Arendt. In: Eva Geulen, Kai Kauffmann und Georg Mein
[Hg.]: Hannah Arendt und Giorgio Agamben. Parallelen, Perspektiven, Kontrover-
sen. Paderborn, München: Fink 2008, S. 59–74, hier: S. 74). Auch wenn Agamben
sich in seiner Lektüre von Paulus’ Römerbrief von der Vorstellung abgrenzt, es gehe
Paulus um die Zerstörung des Gesetzes, so hebt die messianische Deaktivierung des
Gesetzes, die Agamben Paulus zuschreibt (vgl. Giorgio Agamben: Die Zeit, die
bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief. Übers. von Davide Giurato. Frankfurt
a. M.: Suhrkamp 2006, S. 111–113), das Gesetz doch auch als Gesetz auf: Es gilt
nicht mehr und bedeutet nur noch – ein kulturelles Erbe, eine Potenz ohne normative
Verbindlichkeit, wie man Scholems Diktum in Bezug auf Agamben umdrehen kann.
Vgl. zu Agambens antinomischem Messianismus auch Vivian Liska: Zur Aktualität
von Benjamins Erbe. Giorgio Agamben und andere Anwärter. In: Daniel Weidner
(Hg.): Profanes Leben. Walter Benjamins Dialektik der Säkularisierung. Berlin:
Suhrkamp 2010, S. 213–238, besonders S. 233–238.
25 Gershom Scholem: Der Zionismus wird seine Katastrophe überleben… Ende 1924,
TS, JNUL, Gershom-Scholem-Archiv, Arc. 40 1599/277 I 52, S. 1.
414 Teil III

Aufhebung des Gesetzes bleibt bei Scholem wohl unterschieden von dessen
Auflösung. Der orthodoxe, halachische Standpunkt erscheint bei Scholem
zwar nur als ein Aspekt, als eine Deutungsmöglichkeit im Rahmen der jüdi-
schen Tradition. Auf diesen Aspekt kann die Tradition in Scholems Augen
aber offenbar nicht verzichten, ohne sich selbst und damit die jüdische Identi-
tät preiszugeben.
Scholem ist nie nur Historiograph des jüdischen Messianismus gewesen,
sondern zwischen seinen zionistischen Überzeugungen und seiner Geschichts-
schreibung des Messianismus besteht genauso ein enger Zusammenhang wie
zwischen seinen zionistischen Ansichten und seinen Kabbala-Studien.26 Der
frühe Scholem macht sich noch recht vorbehaltlos einen mystischen, verwan-
delnden Messianismus zu eigen, als dessen Zeit er die »ewige Gegenwart«, die
Zeit der Inversion der Zeiten, veranschlagt, in der sich das Recht zur Gerech-
tigkeit wandle. Spätestens mit seiner Ankunft in Palästina (1923) wird Scho-
lem immer aufmerksamer für den dialektischen Zusammenhang zwischen
mystischem und apokalyptischem Messianismus. Gegenüber der rationalen,
säkularisierenden Auslegung des Messianismus als Fortschrittstheorie würdigt
Scholem stets den »apokalyptischen Stachel« des Messianismus, mit dem er
auf dessen subversive Seite anspielt. Die apokalyptische Dimension stellt
Scholem in seinem späten Aufsatz »Zum Verständnis der messianischen Idee
im Judentum« gar ins Zentrum, wenn er betont, dass der jüdische Messianis-
mus »in seinem Ursprung und Wesen […] eine Katastrophentheorie« sei. Ei-
nerseits besagt diese Formel, dass die Katastrophe der Erlösung vorangehe.
Historische Unheilserfahrungen des jüdischen Volkes verbinden sich in dieser
Vorstellung mit Bildern aus mythischem Erbe. Andererseits betont Scholem in
dieser Formel den revolutionären, anarchischen Aspekt des Messianismus, den
er für vitalisierend wie für bedrohlich hält. Das zerstörerische Potential des
Messianismus stellt nach innen eine Gefahr für die Tradition dar, nach außen
kann es sich in einem aggressiven messianischen Nationalismus manifestieren,
sei dieser nun religiös oder säkular ausgerichtet. Gerade aus zionistischer Per-
spektive ist Scholems Haltung gegenüber dem Messianismus daher ambiva-
lent. Es gelingt ihm allerdings nie, Zionismus und Messianismus zu trennen, so
sehr er sich auch in seiner Auseinandersetzung mit den Revisionisten Ende der
20er, Anfang der 30er Jahre darum bemüht. Insofern der Messianismus der
Tradition integral zugehört, Scholem seinen Zionismus aber auf der Tradition
begründet, kann ihm prinzipiell keine Scheidung zwischen Zionismus und
Messianismus gelingen.

26 Vgl. Wohlfarth, »Haarscharf auf der Grenze zwischen Religion und Nihilismus«
(wie Anm. 13), S. 193.
Schlussbemerkung

Am Anfang dieser Arbeit stand die Beobachtung, dass sich ein messianischer
Ton in der Philosophie bis heute erhalten hat. Diese Beobachtung hat einmal
den Anstoß für meine Beschäftigung mit dem jüdischen Messianismus gege-
ben. Denn ich habe mich gefragt, welche Hintergründe der Rückgriff auf den
jüdischen Messianismus in der poststrukturalistischen oder mit dem Poststruk-
turalismus verwandten Philosophie hat. Ich wollte nicht von einer poststruktu-
ralistischen Theorie über den jüdischen Messianismus ausgehen, um aus deren
Perspektive die Texte der hier behandelten Autoren zu betrachten. Vielmehr
ging es mir umgekehrt darum, die Konzepte und Positionen zeitgenössischer
Philosophen besser verstehen und einordnen zu können, indem ich mich mit
den deutsch-jüdischen Intellektuellen beschäftigte, als deren Erbe ich das Fort-
leben des messianischen Tons in der poststrukturalistisch geprägten Philoso-
phie begriff. Vor allem drei Philosophen sind zu nennen, die das messianische
Erbe der deutsch-jüdischen Autoren aus dem ersten Drittel des 20. Jahrhun-
derts bis zur Schwelle des 21. Jahrhunderts getragen haben: Derrida, Agamben
und Levinas. Die beiden letzteren berühren sich mit dem Poststrukturalismus
in wichtigen Punkten – der Kritik an der Präsenz einer autonomen Subjektivi-
tät, an stabiler sprachlicher Bedeutung, an essentialistischen Identitätsbildun-
gen und an einer Substanz-Ontologie –, ohne im Poststrukturalismus gänzlich
aufzugehen oder ihm eine eigene Wendung zu geben wie Derrida mit der De-
konstruktion. Wie erklärt und gestaltet sich der Rückgriff auf die religiöse,
messianische Tradition unter diesen poststrukturalistischen Bedingungen? An
welche Positionen schließen Derrida, Levinas und Agamben an, und wie modi-
fizieren sie sie? Am Schluss dieser Arbeit, die durch die Schriften deutsch-
jüdischer Intellektueller des Kaiserreichs und der Weimarer Republik hin-
durchgegangen ist, soll zumindest die Richtung angezeigt werden, in der eine
Antwort auf diese Frage zu suchen ist.
Wie wir gesehen haben, hatte der Rückgriff auf den jüdischen Messianis-
mus bei den deutsch-jüdischen Intellektuellen des ersten Drittels des 20. Jahr-
hunderts zwei Funktionen: Reflexionsfiguren für den jüdischen Identitätsdis-
kurs und Denkfiguren für die allgemeine Theoriebildung (Sprache, Politik,
Geschichte) hervorzubringen. Nur bei Levinas steht der Rekurs auf den jüdi-
schen Messianismus weiterhin im Zeichen dieser Doppelfunktion, wohingegen
Derrida und Agamben ihn von Fragen jüdischer Identität mehr oder minder
416 Schlussbemerkung

lösen. Levinas selbst hat sich in der Nachfolge von Rosenzweig gesehen.
Trennt Levinas von Rosenzweig auch die Erfahrung der Shoah, so nennt er ihn
doch, »trotz den deutschen Landschaften, in denen sich dieses Leben abspielt,
einen Zeitgenossen und einen Bruder«.1 Levinas teilt mit Rosenzweig den
antitotalitären Impuls, der sich gegen die reduzierenden Totalisierungen in der
Philosophie wie in der Politik richtet, die das Irreduzible, das Singuläre nicht
dulden. Dass Rosenzweig dabei zugleich nicht den Verführungen irrationaler
Lebensphilosophie erlag, macht ihn für Levinas interessant. Hier kommt die
Religion ins Spiel, denn für Rosenzweig sei die Religion, so schreibt Levinas,
»die Ordnung, die es erlaubt, sowohl dem Totalitarismus der Philosophie, die
die Beunruhigung des ›Trotzdem-Individuums‹ verkennt, als auch der Anar-
chie der individuellen Begierden zu entrinnen«.2 »Religion« erscheine bei
Rosenzweig als »Art und Weise, in der das Sein ist«,3 und theologische Begrif-
fe werden als ontologische Kategorien interpretiert, die die Zeitlichkeit und
Relationalität der Elemente des Seins explizieren. Dies kommt Levinas eige-
nem philosophischem Interesse an der »Religion« entgegen. Für Levinas be-
steht die erste Bewegung von Rosenzweig Denken darin, eine ontologische
Interpretation von »Religion« schlechthin zu vollziehen (»Religion« als Sein,
als Leben in der Beziehung); erst eine zweite Bewegung führe von der »Reli-
gion« zum Judentum. Die großen Offenbarungsreligionen treten aber nicht erst
in den Bereich von Rosenzweigs Denken, wenn dieser über die Gestaltungen
der religiösen Gemeinschaften reflektiert, wie Levinas annimmt.4 Vielmehr
wird »Religion« als ontologische Seinsstruktur ja bereits durch die zentralen
theologischen Kategorien der Offenbarungsreligionen: Schöpfung, Offenba-
rung und Erlösung begründet. Levinas beschreibt ungewollt eine petitio pri-
nicpii – ein philosophischer Begriff von »Religion« führt zum Judentum, das
in dem philosophischen Begriff aber schon vorausgesetzt ist –, wohingegen
Rosenzweig keinen Hehl daraus macht, dass sein Denken von einer bestimm-
ten Offenbarungsreligion, ja, von der Offenbarung als »historischem« Ereignis,
seinen Ausgang nimmt. Es wäre der Frage weiter nachzugehen, ob diese peti-
tio principii insgesamt für das, was bei Levinas »jüdisches Denken« heißt,
kennzeichnend ist.
Wie Rosenzweig und Buber denkt Levinas die »ethische Beziehung als reli-
giöse Beziehung«.5 Der erlösende Akt ist der ethische Akt. Anders als die
Philosophie, für die das Selbst das Tor zum Reich des Absoluten sei, lehre das

1 Emmanuel Levinas: Zwischen zwei Welten (Der Weg von Franz Rosenzweig). In:
Ders.: Schwierige Freiheit. Versuch über das Judentum. Übers. von Eva Molden-
hauer. Frankfurt a. M.: Jüdischer Verlag 1992, S. 129–154, hier: S. 132.
2 Ebd., S. 135.
3 Ebd., S. 136.
4 Vgl. ebd., S. 142.
5 Emmanuel Levinas: Eine Religion für Erwachsene. In: Ders.: Schwierige Freiheit.
Versuch über das Judentum. Übers. von Eva Moldenhauer. Frankfurt a. M.: Jüdi-
scher Verlag 1992, S. 21–37, hier: S. 27.
Schlussbemerkung 417

Judentum eine »reale Transzendenz«,6 die nicht anders als in der ethischen
Beziehung zum Anderen erfahren werden könne. Rosenzweig näher als Buber
steht Levinas in dem Primat des Anderen in seiner Dialogphilosophie. Mit
beiden gemeinsam hat er eine ethische Auslegung des jüdischen Messianis-
mus, die über die ethische Beziehung zum Anderen hinaus auf das Streben
nach einer gerechten Gesellschaft verweist.7 Anders als Rosenzweig verurteilt
Levinas nun aber nicht den politischen Messianismus, sondern stellt auch den
Staat Israel in eine messianische Perspektive. Hierin manifestiert sich wohl am
stärksten die durch die Shoah gegebene historische Differenz zwischen Rosen-
zweig und Levinas.
Für Levinas zeigt die ethische Auslegung des Messianismus auf ein »Jen-
seits des Messianismus«.8 Auf dieses »Jenseits des Messianismus« deutet für
Levinas der Ausspruch des Rabbi Hillel hin, den der Talmud überliefert: »Is-
rael hat keinen Messias mehr [zu erwarten], denn es hat die messianische Zeit
schon in den Tagen des Königs Hiskia genossen.«9 Die Position des Rabbi
Hillel drücke aus, dass der politische Messianismus nur für ein primitives
Israel tauge. Demgegenüber gehe Hillel über die Erwartung des Messias als
eines individuellen Heilsbringers und Königs hinaus, womit er zugleich den
Messianismus als Politik, als »Heil durch Stellvertretung«,10 hinter sich lasse.
Levinas schließt sich der Meinung der Kommentatoren ein, die in Hillels Aus-
spruch die Überzeugung ausgedrückt finden, dass Israel nicht mehr erwarte,
von einem Messias, sondern von Gott selbst gerettet zu werden: »Was ist ein
Volk, das nur Gott zum König hat, konkret anderes als eine Existenz, in der
nichts stellvertretend geschieht, in der jeder einzelne ganz und gar seiner Wahl
gegenwärtig ist? Unmittelbare Beziehung zwischen Gott und dem Menschen,
ohne politische Vermittlung.«11 Der Messias stelle keine mythische Figur mehr
dar, sondern werde zur »persönlichen Berufung des Menschen«,12 der seine
»universale Verantwortung«13 erkenne. Was Levinas »Jenseits des Messianis-
mus« nennt, steht Bubers Vorstellung des »Urmessianismus« als »Königtum
Gottes« sehr nahe, das ebenfalls ohne die Gestalt des Messias als Gesalbten
auskommt (vgl. JCM VIII 5; JCMZ 26). Man sollte sich den Blick für die
6 Ebd., S. 28.
7 Vgl. ebd., S. 34: »Unterordnung aller möglichen Beziehungen zwischen Gott und
den Menschen […] unter die Schaffung einer Gesellschaft, in der die Gerechtigkeit
nicht nur Wunsch der individuellen Frömmigkeit bleibt, sondern stark genug ist,
sich auf alles zu erstrecken und Wirklichkeit zu werden. Vielleicht ist es diese Geis-
teshaltung, der die Bezeichnung jüdischer Messianismus gebührt.«
8 Emmanuel Levinas: Messianische Texte. In: Ders.: Schwierige Freiheit. Versuch
über das Judentum. Übers. von Eva Moldenhauer. Frankfurt a. M.: Jüdischer Verlag
1992, S. 58–103, hier: S. 84.
9 Ebd., S. 85.
10 Ebd., S. 87.
11 Ebd., S. 88.
12 Ebd., S. 93.
13 Ebd., S. 96.
418 Schlussbemerkung

Nähe Levinas’ zu Buber nicht durch seine Kritik an Bubers Version der Dia-
logphilosophie verstellen lassen und pauschal von »Distanz zu Buber, Nähe zu
Rosenzweig«14 sprechen.
Wie verhalten sich nun ethischer und politischer Messianismus zueinander
bei Levinas? Solange das Judentum ein »Volk außerhalb der Völker«15 gewe-
sen sei, das in der Geschichte und der Politik keinen Sinn gesehen habe, habe
ein rein ethisch-religiöser Messianismus vertreten werden können. Nicht erst
mit der Gründung des Staates Israel, sondern bereits mit der Emanzipation
habe sich die Situation aber verändert, insofern sich das Judentum den politi-
schen Formen und der Geschichte der Völker geöffnet habe. Levinas versucht
nun, das Verhältnis von Ethik und Politik, ethischem und politischem Messia-
nismus, das zu reflektieren für ihn durch die Gründung des Staates Israel zur
unumgänglichen Aufgabe wird, mit der Formel eines »jenseits in« zu fassen,
eines Jenseits des Staates im Staat.16 Die Aufgabe der messianischen Politik
zielt auf ihr eigenes Jenseits, auf ein Jenseits des Staates. Der moderne Staat,
der in Israel gegründet wurde, liefert nur mehr den politischen Rahmen, um
darüber nachzudenken und herauszufinden, was eine monotheistische Politik
sein könnte, die es erst zu (er-)finden gilt: »At the heart of the daily conflicts,
the living experience of the government – and even the painful necessities of
the occupation – allow lessons as yet untaught to be detected in ancient Reve-
lation.«17 Letztlich tun sich auch bei Levinas wieder die Probleme auf, die wir
schon bei Buber feststellen konnten: die messianische Ethik, die zu einer ande-
ren Politik als der Real- und Machtpolitik führen soll, kann selbst wieder zur
Legitimation von Machtpolitik werden, wovon Levinas’ Rede von den »pain-
ful necessities of the occupation« Zeugnis ablegt.
Anders als Levinas, der für sein Konzept des Messianismus zu den jüdi-
schen Quellen zurückgeht und der den jüdischen Messianismus im Zusam-
menhang mit jüdischen Identitätsfragen diskutiert, umkreist Derrida ein »Mes-
sianisches ohne Messianismus«, das sich an keine Tradition gebunden fühlt.
Derrida definiert das »Messianische ohne Messianismus« als »universale
Struktur der Erfahrung«,18 die sich auf keinen religiösen Messianismus redu-
zieren lasse. Das Messianische richte sich auf das »Ereignis dessen, der (das)

14 Bernhard H. F. Taureck: Emmanuel Lévinas zur Einführung. 2. Aufl., Hamburg:


Junius 1997.
15 Levinas, Messianische Texte (wie Anm. 8), S. 98.
16 Vgl. Emmanuel Levinas: Beyond the State in the State. In: Ders.: New Talmudic
Readings. Transl. by Richard A. Cohen. Pittsburgh: Duquesne Univ. Press 1999,
S. 79–107.
17 Emmanuel Levinas: The State of Caesar and the State of David. In: Ders.: Beyond
the Verse. Talmudic Readings and Lectures. Transl. by Gary D. Mole. Bloomington,
Indianapolis: Indiana Univ. Press 1994, S. 177–187, hier: S. 187.
18 Jacques Derrida: Marx & Sons. Übers. von Jürgen Schröder. Frankfurt a. M.: Suhr-
kamp 2004 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft; 1660), S. 78.
Schlussbemerkung 419

kommt«19 in seiner heterogensten, unauflöslichen Andersheit. Dabei bezeichne


es keine passive Grenze der Antizipation, sondern die Offenheit für das Ereig-
nis sei untrennbar mit einer Weisung und einem Versprechen verbunden. Auf
diese Weise verknüpft Derrida das Messianische mit einem Diskurs über Re-
volution und Gerechtigkeit. Die messianische Dringlichkeit versteht Derrida
als eine revolutionäre Dringlichkeit, die im Hier und Jetzt die Unterbrechung
des gewöhnlichen Laufs der Dinge, der Zeit und der Geschichte fordere und
von einer Bestätigung der Andersheit und der Gerechtigkeit nicht zu trennen
sei. Die messianische Dringlichkeit schließt aber eine Analyse der jeweiligen
Situation nicht aus, sondern verlangt nach ihr: »Wie dieses unbedingt Messia-
nische anschließend in dieser oder jener einzigartigen praktischen Situation
seine Bedingungen aushandeln soll, dafür ist eine Analyse und eine Bewer-
tung, d. h. eine Verantwortung gefragt. Diese müssen in jedem Augenblick neu
geprüft werden, vor und im Verlauf jedes Ereignisses.«20
Bei Derrida geht das, was er eine messianische Erfahrungsstruktur nennt,
eingestandenermaßen nicht aus einer Reflexion der religiösen Tradition hervor.
Vielmehr führt Derrida in seiner Problematisierung einer messianischen Erfah-
rungsstruktur Ansätze der Sprechakttheorie und der Existenzphänomenologie
weiter und zusammen. Geht es doch einerseits um die paradoxe Erfahrung des
performativen Charakters des Versprechens, andererseits um eine Erwartung
ohne Erwartungshorizont, die unser Verhältnis zur Zeit, zum Ereignis, zum
Kommenden und zum Anderen neu zu denken gibt.21 Derrida stellt sich nun
selbst die entscheidende Frage, warum man den Bezug zum Messianischen
aufrechterhalten soll, wenn man jeden Messianismus ausschließen und eine
universale Erfahrungsstruktur bezeichnen will. Warum dann noch der Name:
das »Messianische«?
Derrida gibt hierauf eine schwächere und eine stärkere Antwort. Einerseits
sei das Wort relativ willkürlich und äußerlich gewählt, gleichsam eine Kata-
chrese, ein metaphorischer Behelfsausdruck, der in zukünftigen Diskussionen
durch andere Namen ersetzt werden könnte.22 Andererseits ist die Beziehung
zwischen dem »Messianischen ohne Messianismus« und den historischen
Formen des Messianismus doch nicht ganz so äußerlich, wie es die erste Ant-
wort suggeriert. Denn Derrida beschreibt die universale Erfahrungsstruktur des
»Messianischen ohne Messianismus« zugleich als »›quasi transzendentale‹
Voraussetzung«23 aller historischen Figuren des Messianismus. Damit stellt
sich aber zugleich die Frage, ob diese universale Struktur selbst nur denkbar ist
aufgrund der historischen Figuren des Messianismus.24 Diese alternativen
Perspektiven auf das Verhältnis von historischem Messianismus und allgemei-
19 Ebd., S. 79.
20 Ebd., S. 79f.
21 Vgl. ebd., S. 82.
22 Vgl. ebd., S. 89.
23 Ebd., S. 86.
24 Vgl. ebd., S. 89.
420 Schlussbemerkung

ner Erfahrungsstruktur waren in meiner Arbeit von heuristischer Bedeutung.


Sie machen es möglich, einen metaphorischen von einem metonymischen
messianischen Sprachgebrauch zu unterscheiden und auf dieser Grundlage
zwischen verschiedenen Formen der Säkularisierung des jüdischen Messia-
nismus zu differenzieren. Derrida selbst lässt die Frage offen, zu welcher der
beiden Möglichkeiten sein eigener Umgang mit dem Messianischen zu rech-
nen ist. Insofern Derrida aber überhaupt ein Verhältnis zwischen dem Messia-
nismus in seinen traditionellen Formen und einer messianischen Erfahrungs-
struktur zugibt, zerstreut er den Verdacht, den seine erste Antwort erregt: Dass
es sich bei seinem Bezug auf das Messianische um ›bloße‹, willkürliche Rhe-
torik handeln könnte, die philosophischen Konzepten einen sakralen Nimbus
verleiht. In seinem Rekurs auf das Messianische verhandelt Derrida eben doch
auch Fragen der Religion in philosophischer Hinsicht, wie z. B. die Unmög-
lichkeit, auf jeden Bezug zum Glauben zu verzichten, bei noch so radikaler
Religionskritik.25
Bemüht sich Derrida, sein Denken des Messianischen von jeder Tradition
zu lösen – die Benjamin’sche eingeschlossen, in der einige seiner Leser ihn
verorten wollen –,26 so beruft sich Agamben auf Benjamins Thesen »Über den
Begriff der Geschichte« und die Briefe des Apostels Paulus als die »beiden
höchsten messianischen Texte unserer Tradition«,27 die er mit der »westlichen
Kultur«28 identifiziert. Agambens Kommentar zu Paulus’ Römerbrief weist
dem Text des Apostels eine unmittelbare politische Relevanz für die Gegen-
wart zu: »Was bedeutet es, im Messias zu leben, was ist das messianische
Leben? Und welche Struktur besitzt die messianische Zeit? Diese Fragen, die
die Fragen des Apostels Paulus sind, müssen auch die unseren sein.«29 Diese
Fragen charakterisieren Agambens Römerbrief-Kommentar als einen Bot-
schaftstext, der die messianische Dringlichkeit nicht nur zum Thema hat, son-
dern unmittelbar geltend macht, was man bei Derrida so nicht finden wird. Das
Vergessen der eigentümlichen »messianischen Potenz«,30 von der die Briefe
des Apostels Paulus handelten, stellt Agamben als das Problem unserer »west-
lichen Kultur« dar.
Agamben präsentiert Paulus nicht als Begründer einer neuen Religion – der
Ausdruck »christianós« tauche nicht bei ihm auf, wie Agamben betont –,31

25 Vgl. ebd., S. 91. Vgl. grundsätzlich zu diesem Thema ders.: Glaube und Wissen. Die
beiden Quellen der ›Religion‹ an den Grenzen der bloßen Vernunft. Übers. von Ale-
xander García Düttmann. In: Jacques Derrida und Gianni Vattimo (Hg.): Die Religi-
on. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001 (Edition Suhrkamp; 2049), S. 9–106.
26 Vgl. ebd., S. 80.
27 Giorgio Agamben: Die Zeit, die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief. Übers. von
Davide Giurato. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2006, S. 162.
28 Ebd., S. 11.
29 Ebd., S. 29.
30 Ebd., S. 111.
31 Ebd., S. 26.
Schlussbemerkung 421

sondern ordnet ihn der jüdischen Tradition zu, die Paulus zugleich überschrei-
te, ohne eine neue religiöse Identität zu stiften. Überhaupt meint Agamben,
dass Paulus das Leben von einer messianischen Berufung her zu denken gebe,
die kein Recht, keinen Besitz und keine Identität konstituiere: »Messianisch zu
sein, im Messias zu leben, bedeutet die Enteignung jedes juristisch-faktischen
Eigentums in der Form des Als-ob-nicht (beschnitten/unbeschnitten; Frei-
er/Sklave; Mann/Frau). Aber diese Enteignung gründet keine neue Identität:
Die ›neue Schöpfung‹ ist nur der Gebrauch und die messianische Berufung der
alten«.32 Als die paulinische Formel des messianischen Lebens erkennt Agam-
ben das »hǀs mƝ«, das »Als-ob-nicht«, aus 1. Kor 7,29–32: »Dies aber sage
ich, Brüder, die Zeit ist zusammengedrängt. Was bleibt, ist, damit die Frauen
Habende als ob nicht Habende seien und die Weinenden als ob nicht Weinende
und die sich Freuenden als ob nicht sich Freuende und die Kaufenden als ob
nicht Behaltende und die die Welt Nutzenden als ob nicht Nutzende. Es ver-
geht nämlich die Gestalt dieser Welt. Ich will aber, daß ihr ohne Sorge seid.«33
Für Agamben drückt sich im paulinischen »hǀs mƝ« keine »eschatologische
Indifferenz« aus, die sich aus der Naherwartung der ersten christlichen Ge-
meinschaft erklären würde, wie noch Max Weber meinte.34 Das »hǀs mƝ« als
Formel der messianischen Berufung setze vielmehr jedes Wesen und jeden
Ausdruck in ein Spannungsverhältnis zu sich selbst. Solcherart zu sich selbst
in Bezug gebracht, werden juristisch-faktische Zustände widerrufen und in
Frage gestellt, ohne ihre Form zu verändern. Es werden dabei die faktisch-
juristischen Zustände nicht durch andere ersetzt, sondern deaktiviert, unwirk-
sam gemacht, um sie auf ihren wahren Gebrauch hin zu öffnen.35 Agamben
sieht im paulinischen »hǀs mƝ« folglich keine Gleichgültigkeit gegenüber den
weltlichen Verhältnissen, sondern den Hinweis auf eine andere messianische
Lebenspraxis: auf einen spezifischen Gebrauch weltlicher Zustände, deren
Zufälligkeit und Uneigentlichkeit durch das messianische Ereignis zum Vor-
schein gekommen seien. Im paulinischen »hǀs mƝ« gehe es nicht um die An-
eignung des als uneigentlich Erkannten, sondern um dessen freien Gebrauch.
Als Deaktivierung, nicht als Zerstörung des Gesetzes fasst Agamben auch
den paulinischen Glauben auf. Die berühmte paulinische Gegenüberstellung
von Gesetz und Glauben beschreibe keine einfache Antithese, sondern ein
kompliziertes Verhältnis von Deaktivierung und zugleich Erfüllung des Geset-
zes im Glauben. Agamben versucht auf diese Weise, die scheinbaren Wider-

32 Ebd., S. 37.
33 Diese Übersetzung stellt die deutsche Wort-für-Wort-Übersetzung von Agambens
italienischer Interlinearübersetzung des griechischen Originals nach der von Eber-
hard Nestle besorgten kritischen Edition dar (vgl. Novum Testamentum graece et la-
tine. Hg. von Eberhard Nestle und Kurt Aland. Ed. 22. United Bible Societies, Lon-
don. Stuttgart: Priv. Württembergische Bibelanst. 1963). Vgl. Agamben, Die Zeit,
die bleibt (wie Anm. 27), S. 34.
34 Vgl. ebd., S. 33.
35 Vgl. ebd., S. 39.
422 Schlussbemerkung

sprüche der paulinischen Ausführungen zum Verhältnis von Glauben und


Gesetz zu erklären. Schreibt Paulus doch, dass »der Messias einerseits ›alle
Herrschaft und alle Macht und Potenz unwirksam machen wird […]‹ (1. Kor
15,24) und anderseits ›das telos des Gesetzes‹ (Röm 10,4) darstellt.«36 Paulus
zeige, dass es etwas im Gesetz gebe, das dieses konstitutiv überschreite und
irreduzibel für es sei.37 Dies sei die Potenz der Verheißung, die dem Gesetz
zugrunde liege, das es in verbindliche Vorschriften und Werke übertragen
habe. Das Messianische mache sie un-wirksam und gebe sie so der Potenz
zurück: einer paradoxen messianischen Potenz der Schwäche.38 Agamben
deklariert also: »Das Messianische ist nicht die Zerstörung, sondern die Deak-
tivierung und Unausführbarkeit des Gesetzes.«39 Dies interpretiert Agamben
als messianische Wendung des Ausnahmezustands, dessen »Aufhebung« im
»messianischen plƝrǀma des Gesetzes« Paulus anvisiere.40
Wie bereits Jacob Taubes vor ihm versteht Agamben die paulinische Über-
schreitung der jüdischen Identität als eine Möglichkeit, die in der jüdischen
messianischen Tradition selbst angelegt ist, ohne dass diese Überschreitung in
das Christentum als neue Religion münden muss. Letztlich hat bereits Scholem
bemerkt, dass die »paulinische Freiheit der Kinder Gottes« eine historische
Möglichkeit ist, zu der das anarchische Element in der jüdischen messiani-
schen Utopie führen kann – womit es zugleich aus dem Judentum herausfüh-
re.41 Daher hat Scholem bei aller Faszination für die anarchische Dimension
des jüdischen Messianismus diese immer auch für bedrohlich gehalten. Scho-
lem hatte wohl eine undogmatische Vorstellung jüdischer Identität, die sich
nicht definitorisch festschreiben lasse, die aber Grenzen nach außen kennt.
Dies ist nicht der Ort, Levinas’, Derridas oder Agambens messianischen
Diskurs tiefergehend zu analysieren oder zu bewerten. Es sei am Schluss die-
ser Arbeit genug, so viel zu sagen: Auf unterschiedliche Weise setzen alle drei
die Problematisierung des jüdischen Messianismus im Zeichen einer Philoso-
phie der Moderne fort, die ihren Ursprung bei den deutsch-jüdischen Autoren
des Kaiserreichs und der Weimarer Republik hat, die im Zentrum meiner Dis-
sertation standen. Diese waren durchaus sensibel für die grundlegende Ambi-
valenz des messianischen Erbes, das Potential für Kritik und Affirmation von
Herrschaft und Macht bereithält. Diese Ambivalenz manifestiert sich auch in
den Texten von Levinas, Derrida und Agamben, die ihr unterschiedlich zu
begegnen versuchen.
36 Ebd., S. 111.
37 Vgl. ebd., S. 108.
38 Paulus verwandle, so Agamben, das klassisch griechische Verhältnis von dýnamis
und enérgeia, indem sich bei ihm die messianische Potenz in der Schwäche verwirk-
liche und sich damit nicht in einem ergon erschöpfe (vgl. ebd., S. 109–113).
39 Ebd.
40 Ebd., S. 122.
41 Vgl. Gershom Scholem: Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum. In:
Ders.: Über einige Grundbegriffe des Judentums. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1970
(Edition Suhrkamp; 414), S. 121–167, hier: S. 147.
Danksagung

Ich freue mich, an dieser Stelle all denen danken zu können, die mir während
meiner Promotionszeit mit Rat und Tat beigestanden haben. Hartmut Böhme
hat mir durch kritische methodische Reflexion geholfen, das Forschungsvor-
haben konzeptuell zu klären, Problemstellen zu erkennen und zu einer analyti-
schen Schärfe der Argumentation zu finden. Ulrich Wergin hat mich mit auf-
merksamem Verständnis in der Entwicklung der Studie begleitet und mir viele
wertvolle Denkanstöße gegeben, insbesondere im literatur- und sprachtheoreti-
schen Bereich. Ihnen beiden möchte ich danken, dass sie meine Dissertation
akademisch betreut und gefördert haben. Die Dissertation ist im Rahmen des
DFG-Graduiertenkollegs »Codierung von Gewalt im medialen Wandel« (HU
Berlin) entstanden. Von den Präsentationen im Kolleg und den Diskussionen
mit den beteiligten ProfessorInnen und den KollegiatInnen hat meine Arbeit
stark profitiert. Das Jahr, das ich in Jerusalem als Fellow am »Franz Rosen-
zweig Minerva Forschungszentrum für deutsch-jüdische Literatur- und Kultur-
geschichte« unter der Leitung von Steven Aschheim verbringen durfte, hat mir
die Gelegenheit zu einem intensiven Austausch über meine Arbeit und vieles
andere mehr gegeben. Von großem Vorteil war es, die Archivbestände der
Jewish National and University Library in meiner Arbeit berücksichtigen zu
können. Die fachlichen und freundschaftlichen Gespräche mit Leena Petersen
auf dem Balkon unserer Jerusalemer Wohnung ragen in der Erinnerung heraus.
Wichtige sachliche Anregungen hat die Arbeit außerdem in unterschiedlichen
Stadien erhalten von Brian Britt, Ilit Ferber, Jürgen Fohrmann, Nicola Gess,
Johan Hartle, Heike Krajzewicz, Arndt Kremer, Ethel Matala de Mazza, Christi-
an Nilsson, Ashraf Noor, Martin Treml, Joseph Vogl, Sigrid Weigel und Roland
Wicher. Korrektur gelesen und dabei so anregend wie kritisch kommentiert
haben Julia Anspach, Sarah Maria van Dawen, Maren Dubbels, Anna Echterhöl-
ter, Daniel Eschkötter, Claudia Hein, Katja Rothe und Anja Vieths. Sehr ge-
freut habe ich mich über die Aufnahme meiner Dissertation in die Conditio
Judaica Reihe durch Hans Otto Horch. Doris Vogel hat die Arbeit engagiert
und professionell für den Druck eingerichtet sowie lektoriert.

Allen genannten Personen und Institutionen möchte ich meinen herzlichen


Dank aussprechen. Der größte Dank geht aber an Malte Kleinwort und an
meine Eltern Inge und Heinz Dubbels für ihre vielfältige und großmütige Un-
terstützung.
Abkürzungs-, Siglen- und Literaturverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis
JNUL Jewish National and University Library, Jerusalem
MBA Martin-Buber-Archiv in der Jewish National and University Library,
Jerusalem
MS Manuskript
TS Typoskript

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426 Literaturverzeichnis

Literaturverzeichnis

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Buber, Martin: Staat und Gemeinschaft. Februar 1924, TS, JNUL MBA Arc. Ms. Var.
47e/Beth.
Buber, Martin: Stuttgarter Gespräch. 17.02.1929, TS, JNUL MBA Arc. Ms. Var.
43a/Zajin.
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2 Veröffentlichte Texte
Bibelzitate folgen, wenn nicht anders angegeben, unter Angabe von Buch, Kapitel und
Vers der Zunz-Übersetzung: Die vierundzwanzig Bücher der Heiligen Schrift. Nach
dem masoretischen Text. Übers. von Leopold Zunz. Tel Aviv: Sinai 1997.
Adorno, Theodor W.: Henkel, Krug und frühe Erfahrung. In: Ders.: Noten zur Literatur.
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Personenregister

Abulafia, Abraham 127 Bergson, Henri 369–370


Adorno, Theodor W. 83, 128, 154– Biale, David 309, 314, 318
155 Bieman, Asher 94
Agamben, Giorgio 134–135, 301, Bloch, Ernst 1, 3, 13, 18, 21–22,
412–413, 415, 420–422 33, 37, 73, 148, 151–164, 178,
Ahimeir, Abba 308 211, 277–279, 281, 293–296,
Akiba ben Josef (Rabbi) 6, 408 302, 346, 359–360, 363, 375–
Althusser, Louis 105 381, 396, 404, 425
Aristoteles 92, 96 Blumenberg, Hans 205, 210–211,
Assmann, Aleida 25, 199–200 399
Assmann, Jan 25, 199–200, 337 Böhme, Jacob 162, 410
Auerbach, Erich 345 Broch, Hermann 25, 38, 165–167,
Augustinus 172–173, 324, 351– 171, 177, 182, 187, 189, 191,
352, 354–355 193–194
Avineri, Shlomo 307 Brude-Firnau, Gisela 166, 193
Buber, Martin 1, 13, 18, 21–23, 25–
27, 32–35, 37–38, 45–46, 66, 71,
Baalschem Tov (Israel Ben Elieser 73–75, 86–110, 166, 196, 212–
aus Miedzyborz) 98–100, 286 215, 219–240, 242–252, 258,
Bachtin, Michail 25, 56, 166, 193– 265–268, 270, 273–275, 308,
195 320, 331, 334, 340–341, 383–
Balibar, Étienne 241 391, 416–418, 425
Ballanche, Pierre-Simon 206 Butler, Judith 105
Benjamin, Dora 133, 136
Benjamin, Walter 1–3, 18–19, 21–
22, 25, 27, 32, 36–37, 73, 81, Cardoso, Abraham 315–317
111–126, 128–133, 135–136, Casper, Bernhard 34
144, 146, 159, 211, 277–284, Celan, Paul 373
288–290, 292–293, 295–302, Chateaubriand, François-René de
329, 346, 361, 363, 393–404, 206
408, 411–413, 420, 425 Cicero, Marcus Tullius 324
Benveniste, Émile 35, 50–52, 59– Cohen, Hermann 11–12, 165, 167,
60 188–192, 195, 235–236
Bergmann, Shmuel Hugo 312 Cortes, Donoso 205
452 Personenregister

De Maistre, Joseph Marie 205–206 Hess, Moses 12–13, 266


Deleuze, Gilles 370 Hillel, Rabbi 417
Delf, Hanna 262 Hiller, Kurt 297
Derrida, Jacques 23, 34–35, 63, Hirsch, Samson Raphael 69, 138
109, 163–164, 329–330, 415, Hofmannsthal, Hugo von 87
418–420, 422 Hölderlin, Friedrich 83
Diederichs, Eugen 89 Homer 50
Dilthey, Wilhelm 93 Hubert, Henri 176–177
Dinur, Ben-Zion 308 Humboldt, Wilhelm von 31
Dostojewski, Fjodor Michailowitsch
193–195 Idel, Moshe 128
Douglas, Mary 171
Jabotinsky, Zeev 27, 303–308
Ehrenberg, Hans 351 Jakobson, Roman 104
Jünger, Ernst 182–183
Fichte, Johann Gottlieb 326–327
Foucault, Michel 47, 52–53 Kafka, Franz 132, 400–401, 411–
Freud, Sigmund 69, 228–230, 292– 413
293 Kalischer, Rabbi Zwi Hirsch 217
Kant, Immanuel 121, 299, 376–377
Geibel, Emanuel 325 Kantorowicz, Ernst 207
Geiger, Abraham 11 Karo, Josef 312
Girard, René 175, 177 Kierkegaard, Søren 160, 186
Goethe, Johann Wolfgang 90, 256 Klatzkin, Jakob 144–147
Gogarten, Friedrich 391 Klausner, Joseph 308–310, 312
Greenberg, Uri Zvi 308 Kook, Rabbi Avraham Isaac
Grünewald, Matthias 180 HaKohen 217, 291, 312–313
Kraus, Karl 37, 111–120, 122–125,
Haeckel, Ernst 84 128–132
Hamacher, Werner 291, 299 Kristeva, Julia 177
Hamann, Johann Georg 31 Kropotkin, Peter 254
Harsdörffer, Georg Philipp 126 Kyros II. 248–249, 385
Hart, Heinrich 74
Hart, Julius 74 Landauer, Gustav 1, 13, 18, 21–22,
Hartwich, Wolf-Daniel 25, 199– 31–33, 37, 73–87, 89, 94, 96,
200 212, 227–228, 236–237, 251–
Hebel, Johann Peter 115 275, 346, 359–366, 368–375,
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 377–381, 383, 425
248, 326–327, 331, 340, 352, 371 Lefort, Claude 26, 202, 206–210,
Heidegger, Martin 182–183 232, 242, 337
Herder, Johann Gottfried 31 Leibniz, Gottfried Wilhelm 397–
Herzl, Theodor 202, 216–218, 221– 399
223, 304, 356 Leroux, Gaston 206
Personenregister 453

Levinas, Emmanuel 5–6, 10, 65, Quinet, Edgar 206


105, 415–418, 422
Loos, Adolf 116 Rosenzweig, Franz 1, 3, 11, 18, 21,
Löwy, Michael 17–18, 271 24, 27, 34–38, 41–71, 73, 101–
Ludwig XI. (frz. König) 372 102, 105–109, 111, 141–146,
Luria, Isaak 4, 97, 286, 408 148–149, 170, 181–185, 190,
192, 195–196, 210–211, 235,
Maimonides, Moses 139 303, 313, 323–342, 347–359,
Mann, Heinrich 252 387, 410–411, 416–418, 425
Marx, Karl 12, 116, 152
Mattenklott, Gert 78 Santner, Eric 69, 330, 340
Mauss, Marcel 176–177 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph
Mauthner, Fritz 31, 73–75, 79–83, 326
87, 94 Schiller, Friedrich 164
Mayer, Hans 129 Schlegel, Friedrich 126, 371
Meier, Heinrich 203 Schmitt, Carl 25, 200, 202–206,
Meister Eckhart (Eckhart von 210, 302, 337, 391
Hochheim) 32, 75, 85, 269–270 Schoeps, Hans Joachim 318, 412
Mendes-Flohr, Paul 94–95, 320 Scholem, Gershom 1, 10–11, 17–
Michelet, Jules 206–207, 337 18, 21–22, 27, 32, 37–38, 73,
Molitor, Franz Joseph 126–127, 286 102, 111, 126, 130–131, 133–
Montaigne, Michel de 329 149, 160, 212, 216, 225, 274,
Mosès, Stéphane 47, 62, 184, 326, 277–279, 284–290, 293, 303,
331 306–308, 310–321, 334, 346,
Mosse, George L. 2, 267–268, 271 399–400, 405–414, 422, 425
Mowinckel, Sigmund 9 Schöne, Albrecht 39
Müller, Adam 85 Schulte, Christoph 14, 21
Münzer, Thomas 296, 377 Schwartz, Michal 65
Shakespeare, William 272
Nachman, Rabbi 224 Shavit, Yaakov 308
Nancy, Jean-Luc 221, 237 Simmel, Georg 89, 232
Napoleon Bonaparte 327 Sorel, Georges 296–297
Nestroy, Johann 118 Spengler, Oswald 391
Neusner, Jacob 6, 10–11, 42 Spinoza, Baruch de 13, 203, 240–
Nietzsche, Friedrich 80, 181, 372 243, 245
Nordau, Max 221, 304 Steiner, Uwe 290
Novalis (Friedrich von Hardenberg) Strindberg, August 274–275, 371–
371 374

Pascal, Blaise 329 Tarski, Alfred 124


Peirce, Charles Sanders 35, 48 Taubes, Jacob 2–3, 25–26, 199–
Plessner, Helmuth 264, 367 201, 248, 281, 283, 422
Proudhon, Pierre Joseph 255, 364 Theunissen, Michael 101, 106, 110
454 Personenregister

Tönnies, Ferdinand 201, 254 Werfel, Franz 253


Turner, Victor 366–368 Wergin, Ulrich 341–342
White, Hayden 21, 345
Varro, Marcus Terentius 203 Wilhelm II. 165, 170

Weber, Max 98, 271, 421 Yerushalmi, Yosef Hayim 229–230


Wehler, Hans-Ulrich 235, 328
Weidner, Daniel 320, 345 Zwi, Sabbatai 27, 213–220, 222,
Weizmann, Chaim 304 314–315

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