Dubbels Figuren Des Messianischen
Dubbels Figuren Des Messianischen
Dubbels Figuren Des Messianischen
De Gruyter
Gedruckt mit Hilfe der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften
in Ingelheim am Rhein und der Johanna und Fritz Buch Gedächtnis-Stiftung, Hamburg.
Die Open Access-Stellung dieser Publikation wurde unterstützt durch das Landesdigitalisierungs-
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ISBN 978-3-11-025823-3
e-ISBN 978-3-11-025824-0
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Dubbels, Elke.
Figuren des Messianischen in Schriften deutsch-jüdischer Intellektueller, 1900-
1933 / by Elke Dubbels.
p.cm.-- (Conditio Judaica ; 79)
Includes bibliographical references and index.
ISBN 978-3-11-025823-3 (alk.paper)
1. German literature--Jewish authors--History and criticism. 2. German
literature--20th century--History and criticism. 3. Jewish messianic
movements--Germany. 4. Messianism in literature. I. Title.
PT169.D83 2011
830.9‘8924--dc23
2011035608
www.degruyter.com
Inhalt
Einleitung ..................................................................................................... 1
5 Sub specie aeternitatis: Politik und Religion bei Franz Rosenzweig ..... 323
Inhalt VII
Teil III: Zur Rhetorik der Figuren des Messianischen und ihrer
geschichtsphilosophischen Logik
Anfang des 20. Jahrhunderts wird ein messianischer Ton in der Philosophie
hörbar, der Anfang des 21. Jahrhunderts noch nicht ganz verklungen ist. Die-
ses messianische Echo gehört zur Rezeptionsgeschichte deutsch-jüdischer
Autoren des Kaiserreichs und der Weimarer Republik: Autoren wie Gustav
Landauer, Ernst Bloch, Martin Buber, Walter Benjamin, Gershom Scholem
und Franz Rosenzweig, die im Zentrum dieser Studie stehen. Das nachhaltige
Interesse, das diese Autoren erfahren, überrascht insofern nicht, als sie zur
Elite deutsch-jüdischer Kultur zählen, die in der Weimarer Republik einen
großartigen, viel bewunderten und nicht selten nostalgisch verklärten Höhe-
punkt gefunden hat, bevor die nationalsozialistische Verfolgung und Vernich-
tung jüdischen Lebens einsetzte.1 Damit ist freilich noch nicht erklärt, warum
speziell der messianische Ton und das philosophische Interesse am jüdischen
Messianismus, das diese Autoren teilen, bis heute nachwirken. Was reizt an
dem Rückgriff auf die Theologie unter dem Stichwort des jüdischen Messia-
nismus?
Ein wichtiger Aspekt ist hierbei, dass der Rekurs auf theologische Diskurse,
der sich bei den genannten Autoren findet, einer Phase der Säkularisierung
zuzurechen ist, in der nicht einfach religiöse Konzepte und Funktionen in die
profane Welt übernommen werden, sondern der Rückgriff aus dem Abstand
zur religiösen Tradition heraus erfolgt. Das heißt, dass »aus einer profanen
Welt heraus auf religiöses Erbe zurückgegriffen wird (etwa die Säkularisierung
von Gnosis und Messianismus zu einer Philosophie der Moderne in der Zwi-
schenkriegszeit)«.2 In diesem Sinne gilt für alle von mir behandelten Autoren,
dass sie jenseits der religiösen Tradition des Judentums stehen – »jews beyond
judaism«3 hat George L. Mosse sie genannt – und aus diesem »Jenseits der
Tradition« auf Elemente der jüdischen Tradition für eine Philosophie der Mo-
derne rekurrieren. Selbst wenn dies mit einer existentiellen Rückkehr zur jüdi-
schen Tradition einhergeht, so geschieht dies nicht, ohne neu zu definieren,
was Tradition und ein Leben im jüdischen Gesetz überhaupt heißen sollen.
Grundsätzlich gilt, dass der messianischen Philosophie der Moderne alle Glau-
benssätze problematisch geworden sind, ohne dass sich ihr damit die Reflexion
über das Verhältnis von Glauben und Wissen erledigt hätte.
Zur nachhaltigen Resonanz der messianischen Philosophie der Moderne
dürfte entscheidend beitragen, dass sie im Zeichen der Kritik erfolgt. Damit ist
erstens und ganz grundsätzlich Kritik im philosophischen Sinn der Erkenntnis-
kritik gemeint: Viele der genannten Autoren verhandeln alternative Erkennt-
nismodelle, für die der Rückgriff auf theologische (Sprach-)Konzepte konstitu-
tiv ist (»messianische Erkenntnistheorie«). Zweitens ist damit moralische und
politische Kritik gemeint. Auch diese Kritik hat wieder eine philosophische
Bedeutung, insofern sie den Primat des Praktischen in der Philosophie anzei-
gen soll. Sie hat aber auch die Bedeutung der kritischen Stellungnahme im
politischen und gesellschaftlichen Bereich. Konkret heißt dies, dass sich bei
allen Autoren eine Staatskritik findet, die bei den meisten mit einer Kapitalis-
muskritik einhergeht. Auch der bürgerliche Liberalismus, auf den die Emanzi-
pationshoffnungen der Eltern- und Großelterngeneration gerichtet waren, ist
Zielscheibe – allerdings dialektischer – Kritik. Positiv steht der Kritik ein mes-
sianisches Gemeinschaftsdenken gegenüber, sei es anarchistisch, sozialistisch,
zionistisch oder religiös ausgerichtet.
Die Rezeption vor allem der Texte Walter Benjamins hat es mit sich ge-
bracht, dass in den letzten zwei Jahrzehnten »messianisch« zu einer Vokabel in
der allgemeinen intellektuellen Debatte werden konnte. Diffus und unkritisch
verwendet soll diese Vokabel irgendwie das ›ganz Andere‹ gegenüber der
politischen Gewalt- und Machtgeschichte bedeuten. Eine diffuse Verwendung
des »Messianischen« hat bereits Jacob Taubes verärgert. Im Hinblick auf Wal-
ter Benjamins »Theologisch-politisches Fragment«, das mit dem Paukenschlag
»Erst der Messias selbst vollendet das historische Geschehen« (GS II/1 203)
beginnt, stellt Taubes mit Genugtuung fest: »Also, erstens mal ist klar: Es gibt
einen Messias. Keinen Schmonzes, ›das Messianische‹, ›das Politische‹, keine
Neutralisierung, sondern der Messias. […] Keine aufklärungswolkige oder
rung« entlasse die Religion etwas Weltliches aus sich heraus und markiere es als
profan, wie bei der Säkularisierung des Königscharismas in der altisraelischen Pro-
phetie.
3 Vgl. George L. Mosse: German Jews Beyond Judaism. Bloomington: Indiana Univ.
Press 1985. Mosses Studie ist auf Deutsch erschienen unter dem Titel: Jüdische In-
tellektuelle in Deutschland. Zwischen Religion und Nationalismus. Übers. von
Christiane Spelsberg. Frankfurt a. M., New York: Campus 1992.
Einleitung 3
4 Jacob Taubes: Die Politische Theologie des Paulus. Hg. von Aleida Assmann und
Jan Assmann. 3. Aufl., München: Fink 2003, S. 98.
5 Auf die Figuren des Messianischen als Denkfiguren und rhetorische Figuren bzw.
Tropen komme ich weiter unten in der Einleitung noch ausführlich zu sprechen.
4 Einleitung
schen Messianismus im Singular nicht gibt, sondern man von einer »Mehrzahl
von historischen Messias-Vorstellungen, -Lehren oder Messianismen«6 ausge-
hen muss. Bevor ich die Methodik meiner Arbeit näher vorstelle, möchte ich
daher einen Überblick über die Pluralität der messianischen Tradition in den
religiösen Quellen des Judentums sowie über die drei paradigmatischen Inter-
pretationen des jüdischen Messianismus in der Moderne geben.
6 Christoph Schulte: Der Messias der Utopie. Elemente des Messianismus bei einigen
modernen jüdischen Linksintellektuellen. In: Menora. Jahrbuch für deutsch-jüdische
Geschichte 11 (2000), S. 251–278, hier: S. 256. Vgl. auch Jacob Neusner: Messiah
in Context. Israel’s History and Destiny in Formative Judaism. Philadelphia:
Fortress Press 1984, S. 227.
7 Vgl. Gershom Scholem: Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum. In:
Ders.: Über einige Grundbegriffe des Judentums. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1970
(Edition Suhrkamp; 414), S. 121–167, hier: S. 142f.
8 Vgl. Moshe Idel: Messianic Mystics. New Haven, London: Yale Univ. Press 1998.
9 Vgl. zu diesem mystischen Konzept Andreas Kilcher: Tikkun. In: Historisches
Wörterbuch der Philosophie. Hg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer. Bd 10.
Darmstadt: Wiss. Buchges. 1998, Sp. 1221–1223.
Einleitung 5
So komplex sich die messianische Ideenwelt ausnimmt, wenn man sich ge-
nauer mit den historischen Quellen beschäftigt, so einfach ist die Alltagsvor-
stellung über den Messias, nach der er eine endzeitliche Retterfigur repräsen-
tiert. In einer aufmerksamen Lektüre einschlägiger Passagen des Traktats
»Sanhedrin« des Babylonischen Talmuds (um 600 n. Chr. fertig gestellt), der
die unterschiedlichen rabbinischen Ansichten über den Messias, die Bedingun-
gen seines Kommens und die Verhältnisse der »messianischen Zeit« versam-
melt, befindet Emmanuel Levinas:
Man hat noch nichts über den Messias ausgesagt, wenn man ihn sich als eine Person
vorstellt, die kommt, um auf wundersame Weise den Gewalttätigkeiten, die diese
Welt beherrschen, der Ungerechtigkeit und den Widersprüchen ein Ende zu setzen
[…]. Dennoch begreift die landläufige Meinung die emotionale Kraft der messiani-
schen Idee. Und wir mißbrauchen täglich diesen Terminus und diese emotionale
Kraft.10
unterzogen wurde, ist selbst relativ jungen Datums. Denn die ursprüngliche
Bedeutung von »Messias« hat nichts Endzeitliches an sich, sondern »Messias«
ist im alten Israel der Titel des regierenden Königs. »Messias« stammt vom
hebräischen Verb »ʧʹʮ«: »mit Öl begießen, salben, weihen« und bezeichnet
den »Gesalbten« als Kurzform von »Maschiach JHWH«, »Gesalbter
JHWHs«.18 Der König wurde bei seiner Einsetzung vom Priester – seltener
vom Propheten – gesalbt und durch dieses Ritual zum »Gesalbten JHWHs«.
Den Brauch, den König zu salben, haben die Israeliten von den Kanaanäern
übernommen. Durch die Salbung wurde JHWHs Wahl des Königs bestätigt
und vollzogen;19 erst durch die Salbungsprozedur wurde der König zum König
und göttliche Macht auf ihn übertragen.20 Es sollte dem König durch die Aus-
stattung mit göttlicher Macht/Kraft möglich sein, Gerechtigkeit zu üben, die
Feinde Israels abzuhalten und als ›Segenspender‹ für sein Volk zu fungieren.21
Der menschliche König repräsentiert JHWH,22 ohne als substanzgleich mit
ihm angesehen zu werden: Er wird zu ›Gottes Sohn‹ (vgl. Ps. 2,7) qua Adopti-
on, nicht qua metaphysischer Zeugung.23 Bereits der präsentische Gebrauch
des Titels »JHWHs Gesalbter« enthält eine auf die Zukunft verweisende Kom-
ponente, die allerdings iterativ zu denken ist:
Die Erwartung eines Heilskönigs war in der biblischen Zeit […] eine dynastisch ge-
bundene iterative, sich je und je erneuernde Hoffnung. Das heißt, von Geschlecht zu
Geschlecht erwartete man je im neuen König den gerechten und Frieden stiftenden
König.24
Wenn die Wiederherstellung des Königreiches und die Einsetzung des Königs
sich auch göttlicher Intervention verdanken, so sind König – trotz Belehnung
mit göttlicher Kraft – und Reich doch von dieser Welt. Weder ist der zukünfti-
ge ideale König-Messias ein transzendentes, ›von oben‹ herabsteigendes We-
sen noch ist er unsterblich. Er erneuert die davidische Dynastie, der ewige
Dauer verheißen wird. Wie der Maschiach JHWH der Königspsalmen stellt der
zukünftige Messias kein spezifisches, einmaliges Individuum dar, sondern
einen Idealtypus. »Beyond him we can discern the whole line of ›Messianic‹
successors who have the same ideal character as the first righteous ›Shoot‹
from the stump of Jesse.«26
Die Belehnung des Messias mit göttlicher »ruach« (Geist, Macht) manifes-
tiert sich in übernatürlichen Kräften, die physischer, intellektueller und morali-
scher Natur sind. In der Verteidigung von Land und Leuten zeigt er eine über-
natürliche, heroische Kraft (vgl. Jes 4,5); er sichert den Frieden nach innen und
nach außen (vgl. Jes 9,4; Mi 5,4; Jer 23,6). Die Propheten betonen besonders
den ethischen und sozialen Aspekt der zukünftigen Herrschaft des Maschiach
JHWH.27 Auch eine universale Dimension kommt zum Tragen; so bringt der
Messias bei Sacharja den Völkern der Welt Frieden und vertilgt den »Bogen
des Krieges«28 (Sach 9,10).
Das Bild, das die Propheten vom zukünftigen Messias-König entwerfen, ist
das eines irdischen Herrschers, der zwar von göttlicher Kraft erfüllt, aber nicht
substanzgleich mit Gott ist. Erst im Laufe der Zeit nehmen die mythischen
bettet ist.33 Da beide Retterfiguren sich jedoch beeinflussen und dem Messias-
könig Charakteristika des »Menschensohns« einverleibt werden, kann auch die
Herrschaft des Davidmessias eine universelle Dimension erhalten.34
die Apokalyptik die »notwendig sich bildende Gestalt des akuten Messianis-
mus«36 sei. Die Geschichte des jüdischen Messianismus dreht sich für Scho-
lem nicht nur um Vorstellungen und Ideen, sondern handelt eben auch von den
messianischen Bewegungen.37 Auch der Zionismus hat in der Geschichte der
messianischen Bewegungen bei Scholem seinen Ort, wenn auch zu beobachten
ist, dass Scholem in ambivalenter Weise zugleich messianisch und unmessia-
nisch über seinen Zionismus spricht.38
Die rationale Tendenz im Judentum sei, so Scholem, darauf bedacht gewe-
sen, dem Messianismus seinen apokalyptischen Stachel zu nehmen. In der
Moderne sieht Scholem die rationale, antiapokalyptische Deutung des Messia-
nismus eine Verbindung mit der Idee des ewigen Fortschritts und der unendli-
chen Aufgabe der sich vollendenden Menschheit eingehen, deren berühmtester
Repräsentant Anfang des 20. Jahrhunderts Hermann Cohen war. Eine ableh-
nende Haltung gegenüber der Apokalyptik macht Scholem jedoch auch bei
Franz Rosenzweig aus.39 Rosenzweigs Konstruktion eines metahistorischen,
metapolitischen Judentums im Stern der Erlösung steht nun aber dem Fort-
schrittsparadigma der Aufklärung entgegen; Rosenzweig folgt vielmehr einem
ähnlichen Impuls wie ihn Neusner für die Verfasser von Mischna und den beiden
Talmudim geltend macht: Man wendet sich von der Politik und der Geschichte
der Staaten ab, die heillos in Gewalt verstrickt erscheinen, und einer neuen mes-
sianischen Existenzweise zu. Alles hängt vom Hier und Jetzt des alltäglichen
Lebens ab. Bei Rosenzweig geht es dabei nicht einfach um eine Rückkehr zur
Religion, sondern er entwirft eine allgemeine Hermeneutik der Existenz, die sich
gerade nicht auf das religiöse Leben beschränkt wissen will.
In der Moderne umfassen die Positionen jüdischer Wissenschaftler, Künst-
ler, Politiker und Gelehrter zum jüdischen Messianismus ein weites Spektrum.
Große Unterschiede ergeben sich bereits daraus, welchen Aspekt des jüdischen
Messianismus man hervorhebt. Scholem opponiert mit seiner Akzentuierung
der apokalyptischen Tendenz im jüdischen Messianismus insbesondere gegen
das Bild, das die Wissenschaft des Judentums und jüdische Aufklärer im 19.
Jahrhundert von ihm entworfen haben. Diese stießen sich nicht nur an der
apokalyptischen, ›irrationalen‹ Tendenz des Messianismus, sondern auch an
dessen nationalem Aspekt. So interpretierte etwa Abraham Geiger, Pionier der
Wissenschaft des Judentums, den jüdischen Messianismus als universalistische
36 Ebd., S. 126.
37 Voigts meint sogar, bei Scholem liege der historiographische Akzent auf den messi-
anischen Bewegungen, die die quietistischen Phasen der jüdischen Geschichte un-
terbrächen (vgl. Manfred Voigts: Jüdischer Messianismus und Geschichte. Ein
Grundriß. Berlin: Agora 1994 [Erato-Drucke; 27], S. 65).
38 Vgl. Daniel Weidner: Gershom Scholem. Politisches, esoterisches und historiogra-
phisches Schreiben. München: Fink 2003, S. 99.
39 Gershom Scholem: Zur Neuauflage des »Stern der Erlösung«. In: Ders.: Judaica 1.
Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1963 (Bibliothek Suhrkamp: 106), S. 226–234, hier be-
sonders S. 232.
12 Einleitung
dern hat bereits begonnen: »Die Messiaszeit ist das gegenwärtige Zeitalter,
welches mit Spinoza zu keimen begonnen hat und mit der großen Französi-
schen Revolution ins weltgeschichtliche Dasein getreten ist. Mit der Französi-
schen Revolution begann die Wiedergeburt der Völker, die dem Judentum
ihren nationalen Geschichtskultus verdanken«.46 Hess verkündet sowohl einen
messianischen Nationalismus wie einen messianischen Sozialismus. So ist ihm
der »Geist der Judentums […] ein sozialdemokratischer von Haus aus«,47 der
keinen Kastengeist und keine Klassengesellschaft kenne. Versöhnung der
Klassengegensätze und »Wiedergeburt der Völker« charakterisieren das mes-
sianische Zeitalter bei Hess. Die nationalen Revolutionen sollen der arbeiten-
den Klasse zu ihrem Recht verhelfen. Sein Plädoyer für den Zionismus wie für
den Sozialismus leitet Hess aus dem jüdischen Messianismus her, der in sym-
bolischer, religiöser Sprache das eine Entwicklungsgesetz ausdrücke, das Na-
tur wie Geschichte bestimme. Was das religiöse Genie in unvollkommener,
sinnlicher Sprache bereits verkündet habe, werde eines Tages die Wissenschaft
bestätigen. Fällt doch die Erkenntnis Gottes bei Hess mit der Erkenntnis des
»einzigen, absolute[n] Gesetzes im Natur- und Geschichtsleben«48 zusammen,
womit der transzendente Gottesglaube gut spinozistisch durchgestrichen und
Gott zu einem allgemeinen Weltgesetz erklärt wird. Die Religion erscheint bei
Hess der Wissenschaft einerseits unterlegen, insofern sie die Wahrheit in un-
vollkommener symbolischer Sprache ausdrücke, andererseits aber auch über-
legen, da nur sie und nicht die Wissenschaft einen Anhaltspunkt dafür liefere,
dass das allgemeine, teleologische Entwicklungsgesetz auch für das soziale
Leben gelte.
Die drei klassischen, modernen Interpretationen des jüdischen Messianis-
mus als Universalismus, als Sozialismus und als Zionismus können unter-
schiedliche Kombinationen eingehen. Die sozialistische Deutung kann mit
einer universalistischen Hand in Hand gehen, etwa bei Gustav Landauer oder
Ernst Bloch. Die zionistische Deutung schließt aber auch eine bestimmte uni-
versalistische Auffassung des jüdischen Messianismus nicht aus, was bei Mo-
ses Hess bereits der Fall ist und wir genauer noch bei Martin Buber sehen
werden. Diese klassischen Interpretationen des Messianismus sind nun nicht
als Wahrheit des jüdischen Messianismus aufzufassen, sondern sie sind selber
interpretationsbedürftig.
46 Moses Hess: Rom und Jerusalem, die letzte Nationalitätsfrage. In: Ders.: Ausge-
wählte Schriften. Hg. von Horst Lademacher. Wiesbaden: Fourier o. J., S. 221–320,
hier: S. 272.
47 Moses Hess: Mein Messiasglaube. In: Ders.: Jüdische Schriften. Hg. von Theodor
Zlocisti. New York: Arno Press 1980, S. 1–8, hier: S. 6.
48 Hess, Rom und Jerusalem (wie Anm. 46), S. 272.
14 Einleitung
Hypothesen wie die, dass der Messianismus sich in der Moderne zum Univer-
salismus, Sozialismus oder Zionismus säkularisiere, kann man mit Hans Blu-
menberg als Beispiele für eine substantialistische Säkularisierungstheorie
auffassen.49 Diese unterstellt dem historischen Säkularisierungsprozess eine
gleich bleibende Substanz bei äußerlichem Formwechsel und macht Gleichun-
gen möglich wie die, dass der Messianismus eigentlich ein Universalismus,
Sozialismus oder Zionismus sei. Statt solche substantialistischen Hypothesen
zu übernehmen, sollte man sich besser fragen, welche Funktion die Berufung
auf den jüdischen Messianismus in einer bestimmten historisch-politischen
Situation hatte. Dann zeigt sich, dass wir es hier mit einer Identifikationsprob-
lematik zu tun haben, die Christoph Schulte in dem Rekurs auf die messiani-
sche Tradition speziell der atheistischen Linksintellektuellen des Kaiser-
reichs und der Weimarer Republik virulent sieht.50 Indem sich jüdische Den-
ker bei ihrem Votum für den Sozialismus oder Universalismus auf den jüdi-
schen Messianismus zurückbezogen, konnten sie sich selbst als Juden identi-
fizieren, auch wenn sie nicht fromm oder Zionisten waren. Diese Möglich-
keit der Selbstidentifikation als Jude durch Berufung auf einen signifikanten
Bestandteil der jüdischen Tradition bot eine Möglichkeit, dem Druck der
Mehrheitsgesellschaft zur totalen Assimilation zu entgehen. Schultes These
lässt sich um die zionistische Perspektive ergänzen. Denn wer sich als Zionist
auf den jüdischen Messianismus berief, versuchte zu demonstrieren, dass der
Zionismus keinen Bruch mit der jüdischen Tradition bedeutete, was die Mehr-
heit der dem Zionismus kritisch gegenüberstehenden jüdischen Orthodoxie um
1900 noch behauptete.51
49 Vgl. Hans Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit. Erneuerte Ausgabe. Frankfurt
a. M.: Suhrkamp 1996, S. 20–34.
50 Vgl. Schulte, Messias und Identität (wie Anm. 45), S. 199.
51 Für die Mehrheit der jüdischen Orthodoxie stellte die zionistische Bewegung lange
Zeit ein bedrohliches Paradox dar. Man sah sich mit einer vornehmlich säkularen
Bewegung konfrontiert, die beanspruchte, die alte messianische Hoffnung, die
Rückkehr aus dem Exil, zu erfüllen und sich sakraler Symbole bediente. Die ortho-
doxe Mehrheit verurteilte den Zionismus als falschen Messianismus. Bei den Zionis-
ten handele es sich um »Bedränger des Endes«, das herbeizuführen allein Gott zu-
stehe. Das zweite Gegenargument der Orthodoxie betraf die säkulare Ausrichtung
der zionistischen Wortführer, die kein Gemeinwesen auf der Grundlage der Thora zu
gründen beabsichtigten. Eine Minderheit religiöser Zionisten argumentierte dagegen,
dass die Rückkehr aus dem Exil im Zuge der zionistischen Bewegung Teil eines
graduellen Erlösungsprozesses sei, in dem die säkularen Protagonisten das religiöse
Ziel vorbereiteten, auch wenn sie es nicht unbedingt beabsichtigten. Grundlegend
zum Verhältnis von Orthodoxie und Zionismus in seinen unterschiedlichen Spielar-
ten ist die Studie von Aviezer Ravitzky: Messianism, Zionism, and Jewish Religious
Radicalism. Chicago: Univ. of Chicago Press 1996. Einen Überblick über die klassi-
Einleitung 15
schen theologischen Argumente der Orthodoxie gegen den Zionismus sowie die ex-
egetischen Strategien der religiösen Zionisten, diese zu entkräften, gibt Ravitzky auf
S. 10–39.
52 So Scholem, wenn er behauptet, der jüdische Messianismus sei »in seinem Ursprung
und Wesen […] eine Katastrophentheorie« (ders., Zum Verständnis der messiani-
schen Idee im Judentum [wie Anm. 7], S. 130 [Hervorhebung E. D.]).
53 Vgl. Adam M. Weisberger: The Jewish Ethic and the Spirit of Socialism. New York,
Washington D. C., Baltimore u. a.: Lang 1997 (Studies in German Jewish history;
1), S. 119, 126. Weisbergers Studie kann als Beispiel für eine unkritische Übernah-
me der substantialistischen Säkularisierungshypothese angesehen werden, die den
jüdischen Messianismus sich in der Moderne zum Sozialismus verwandeln sieht.
Weisberger behauptet eine Affinität zwischen Judentum und Sozialismus, die über
den jüdischen Messianismus als kulturelles Schlüsselelement vermittelt worden sei
(vgl. ebd., S. 114). Er macht im Messianismus die vitale Kraft aus, die Juden zum
Sozialismus hingezogen habe (vgl. ebd., S. 115). Weisberger spricht nicht nur von
einer Wahlverwandtschaft zwischen Judentum und Sozialismus (vgl. ebd., S. 118),
sondern auch von einer »Kongruenz« zwischen den normativen Werten des Sozia-
lismus und der messianischen Idee des Judentums (vgl. ebd., S. 129).
54 Michael Löwy: Erlösung und Utopie. Jüdischer Messianismus und libertäres Den-
ken. Eine Wahlverwandtschaft. Übers. von Dieter Kurz und Heidrun Töpfer. Berlin:
Kramer 1997, S. 26.
55 So steht z. B. in der Buber-Cohen-Kontroverse die Frage zur Debatte, ob das »Mes-
sianische« national oder universal zu verstehen sei, ob also Messianismus und Zio-
nismus an einem bestimmten Punkt konvergieren oder nicht (vgl. Martin Buber:
Völker, Staaten und Zion. Ein Brief an Hermann Cohen und Bemerkungen zu seiner
Antwort. Berlin, Wien: Löwit 1917). Darüber hinaus dient die Referenz auf »Messi-
16 Einleitung
anisches« oftmals dazu, das Verhältnis von Judentum und Christentum zu bestim-
men – ein Aspekt, der zur Faszination des Messianischen in der Moderne unbedingt
beiträgt und oft unterschätzt wird (vgl. Voigts, Jüdischer Messianismus und Ge-
schichte [wie Anm. 37], S. 8).
56 Am Beispiel der Texte Martin Bubers und Gustav Landauers wird uns die Mystik-
Renaissance noch näher beschäftigen (vgl. besonders Kap. I.3).
57 Vgl. Claude Lefort: Fortdauer des Theologisch-Politischen? Übers. von Hans Scheu-
len. Wien: Passagen-Verlag 1999, S. 31.
Einleitung 17
dass sowohl von analytischen als auch von pragmatischen Gründen auszuge-
hen ist, was die in dieser Arbeit behandelten Autoren angeht. Denn einerseits
steht hinter dem Rückgriff auf theologische Diskurse die Behauptung, dass
man nicht auf theologische Konzepte zur allgemeinen Analyse von Sprache,
Politik und Geschichte verzichten kann. Andererseits ist der Rückgriff auf die
Theologie, zumal im Medium messianischer Denkfiguren, nicht wertneutral,
sondern zeugt von einem ethischen, politischen und/oder religiösen Engage-
ment. Dieses ist bei den von mir untersuchten Autoren wohl von einem macht-
kritischen Impuls motiviert, der aber leicht in Affirmation umschlagen kann,
wie wir noch sehen werden.
Im Unterschied zu Michael Löwy, der die einzige bislang vorliegende Mo-
nographie über den jüdischen Messianismus bei deutsch-jüdischen Linksintel-
lektuellen um die Jahrhundertwende vorgelegt hat, die in ihrem historisch
systematischen Anspruch über die üblichen Einzelwerkanalysen hinausgeht,
setze ich in meiner Arbeit also keinen Idealtyp des jüdischen Messianismus
voraus.58 Löwy behauptet eine »Wahlverwandtschaft«59 zwischen jüdischem
Messianismus und »libertärer Utopie der Neuzeit«,60 die auf einem »Netz von
Analogien«61 zwischen den beiden Phänomenen beruhe. Löwy muss für die
Behauptung mit einem Idealtyp des jüdischen Messianismus operieren, den er
im Wesentlichen aus Gershom Scholems spätem Aufsatz »Zum Verständnis
der messianischen Idee im Judentum« gewinnt. Der jüdische Messianismus
wird auf einen apokalyptisch-revolutionären Aspekt zugespitzt, in dem sich
utopische und zugleich restaurative Motive bündeln. Auf dieser Grundlage
behauptet Löwy eine »strukturelle Homologie und spirituelle Isomorphie«62
zwischen jüdischem Messianismus und »libertärer Utopie der Neuzeit«, die
63 Ebd., S. 34.
64 Steven Aschheim betont demgegenüber die Rolle, die der Erste Weltkrieg im Hin-
blick auf die Konjunktur messianischen Denkens gespielt hat. Wenn sich auch schon
Spuren einer messianischen Denkweise vor 1914 fänden, so habe diese doch ihren
eigentlichen Ort in der Weimarer Nachkriegskultur, im Kontext von »post-liberal
ruminations, posited on the ruins of a destroyed political and cultural order, that
sought novel – and usually radical answers to the problems of a fundamentally trans-
formed European civilization« (Steven E. Aschheim: Culture and Catastrophe. Ger-
man and Jewish Confrontations with National Socialism and Other Crises. New
York: New York University Press 1996, S. 35). Auch Aschheim interpretiert den
Messianismus letztlich von einem apokalyptischen, utopische und restaurative Ele-
mente vereinigenden Idealtypus her, der von Scholems spätem Aufsatz inspiriert ist.
Einleitung 19
Figuren des Messianischen stellen in den von mir untersuchten Texten sowohl
Denkfiguren dar, »kognitive Figuren, die einen Diskurs des Wissens steu-
ern«,65 als auch rhetorische Figuren. Messianische Denkfiguren wie z. B. Ben-
jamins »Jetztzeit« sind theoretische Figuren, die über das rein Begriffliche
hinausgehen; sie bilden Verstehenskategorien, die eine konstitutive Funktion
für verschiedene Wissensräume (Sprache, Politik, Geschichte) haben. Als
Denkfiguren sind sie oft zu abstrakt, um selbst als Sprachbilder zu gelten.66
Und doch bezeugen und initiieren sie einen übertragenen Gebrauch religiöser
Sprache. Die messianischen Denkfiguren als rhetorische Figuren zu lesen,
heißt in meiner Arbeit vor allem, die Konstellation von Sakralem und Säkula-
rem bzw. die Übertragung von Sakralem auf Säkulares, von der sie als Denkfi-
guren zeugen und die sie zugleich ins Werk setzen, mit Hilfe der rhetorischen
Figurenlehre besser zu verstehen. Denn die rhetorische Figurenlehre vermag
Aufschluss über das Verhältnis zu geben, in das Sakralität und Säkularität in
den mit messianischen Denkfiguren operierenden Texten gebracht werden.
Hier schließt meine Arbeit an den methodischen Ansatz an, Säkularisierung als
Rhetorik zu verstehen, als rhetorisch-literarisches Phänomen in Texten, die
sich thematisch irgend mit Säkularisierungsprozessen befassen. Die Aufmerk-
samkeit für die Rhetorik und literarischen Strategien der Säkularisierung ruft
nicht nur den irreduziblen Anteil der Darstellungsform am Aussagegehalt von
›Säkularisierung‹ in Erinnerung, sondern lässt erkennen, dass sich der Gegen-
stand der Rede, Säkularisierung, in den poetischen und rhetorischen Figuren
reflektiert findet, insofern es hier wie dort um Umstellungen, Konstellationen
und Übertragungen geht.67
65 Michael Cahn: Paralipse und Homöopathie. Denkfiguren als Objekte einer rhetori-
schen Analyse. In: Helmut Schanze und Josef Kopperschmidt (Hg.): Rhetorik und
Philosophie. München: Fink 1989, S. 275–295, hier: S. 293.
66 Daher lässt sich meine Arbeit auch nicht unmittelbar den metaphorologischen Un-
tersuchungen zuordnen, die der »Funktion von Sprachbildern in der Entfaltung des
Denkens und Wissens« nachgehen, wenngleich es hier Überschneidungen gibt (vgl.
Ralf Konersmann: Vorwort: Figuratives Wissen. In: Ders. (Hg.): Wörterbuch der
philosophischen Metaphern. Darmstadt: Wiss. Buchges. 2007, S. 7–21, hier: S. 7;
vgl. exemplarisch den Aufsatz von Hartmut Böhme: Berg. In: ebd., S. 46–61).
67 Vgl. Weidner, Zur Rhetorik der Säkularisierung (wie Anm. 2), besonders S. 106–
108.
20 Einleitung
Die antike Figurenlehre versteht unter der figürlichen Rede eine Abwei-
chung »von dem in der Sprache Gewöhnlichen«.68 Dabei unterscheidet sie vier
verschiedene Änderungsarten figürlicher Rede: Die Veränderung durch Hinzu-
fügung (adiectio), durch Auslassung (detractio), durch Umstellung (transmu-
tatio) und durch Ersetzung (immutatio). Unter die ersten drei Änderungskate-
gorien fallen diverse Wortfiguren wie die Wortverdoppelung, das Asyndeton
oder der Chiasmus. Die letzte Änderungsart betrifft Figuren, die den proprie-
Ausdruck durch immutatio ersetzen, also die Tropen, die in manchen Figuren-
lehren nicht mehr zu den rhetorischen Figuren rechnen, sondern ein eigenes
rhetorisches Genus bilden. Ein weiterer Figurenbegriff schließt demgegenüber
die Tropen ein.69 Diese lassen sich ohnehin nur schwer von der Gruppe der
Gedanken- oder Sinnfiguren lösen,70 so dass rhetorische Lehrbücher bei-
spielsweise die Ironie sowohl als rhetorische Sinnfigur als auch als Tropus
behandeln.
An der Abweichungstheorie der klassischen Figurenlehre ist im Zuge der
poststrukturalistischen Literaturwissenschaft berechtigte Kritik geübt gewor-
den, die die klare Differenzierung zwischen figürlicher und nicht-figürlicher
Sprachverwendung radikal in Frage stellt.71 Diese Infragestellung wird durch
meine Arbeit insofern bestätigt, als sie davon ausgeht, dass es nicht den einen,
buchstäblichen jüdischen Messianismus gibt, der etwa in der personalen Figur
Messias sein Sinnzentrum hätte. Vielmehr hat sich der jüdische Messianismus
bereits in den religiösen Quellentexten in verschiedene Figuren des Messiani-
schen zerstreut, wie oben dargelegt. Nichtsdestotrotz ist die rhetorische Ab-
weichungstheorie in meiner Arbeit von heuristischer Bedeutung, da sie hilft,
die Veränderungen, die alle Autoren an einem ursprünglich religiösen Ver-
ständnis des jüdischen Messianismus vornehmen, zu verstehen und mit Hilfe
rhetorischer Figuren, einschließlich der Tropen, zu beschreiben. Insofern die
religiöse Tradition mehr als ein Verständnis des jüdischen Messianismus
kennt, ist dabei jeweils zu klären, welches religiöse Verständnis die Autoren
annehmen, um es mit einer oder mehreren säkularen Auffassungen des jüdi-
schen Messianismus zu verbinden oder auch zu konfrontieren.
Im dritten und letzten Teil meiner Arbeit führe ich die unterschiedlichen
Spielarten der Säkularisierung des jüdischen Messianismus bei den einzelnen
Autoren auf bestimmte rhetorische Figuren bzw. Tropen zurück. So mache ich
68 Marcus Fabius Quintilianus: Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher. Hg. u. übers.
von Helmut Rahn. 2. Aufl., Darmstadt: Wiss. Buchges. 1988, II 13, 11, Bd 1, S. 225.
69 Vgl. Joachim Knape: Figurenlehre. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg.
von Gert Ueding. Bd 3. Tübingen: Niemeyer 1996, Sp. 289–342, hier besonders
Sp. 302–304.
70 Wolfram Groddeck: Reden über Rhetorik. Zu einer Stilistik des Lesens. Basel,
Frankfurt a. M.: Stroemfeld 1995 (Nexus; 7), S. 120.
71 Vgl. zur Kritik an der Abweichungshypothese Erhard Schüttpelz: Figuren der Rede.
Zur Theorie der rhetorischen Figuren. Berlin: Schmidt 1996 (Philologische Studien
und Quellen; 136), besonders S. 13–66.
Einleitung 21
für Franz Rosenzweig einen Messianismus der Metonymie geltend, für Gustav
Landauer und Ernst Bloch einen Messianismus des Symbols, für Martin Buber
einen zwischen Metapher und Symbol schwankenden Messianismus, für Wal-
ter Benjamin einen Messianismus des dialektischen Bildes und für Gershom
Scholem einen Messianismus der Inversion. Auch ich versuche mich damit am
Schluss meiner Arbeit an einer Typologisierung jüdischer Messianismen, die
ich im Unterschied zu Christoph Schulte nicht nach einem inhaltlichen Kriteri-
um vornehme,72 sondern nach dem rhetorischen Gesichtspunkt.
Die rhetorische Betrachtung der messianischen Konzeptionen gibt nicht nur
Aufschluss über die Art der Säkularisierung, die die Autoren an der messiani-
schen Tradition vornehmen. Darüber hinaus lässt sich auch die Struktur der
messianischen Geschichtsmodelle, die die Autoren skizzieren, rhetorisch be-
greifen, womit ich den tropologischen Ansatz aufgreife, den Hayden White in
die Geschichtstheorie eingeführt hat.73 Viele der Autoren haben nun über eben
jene Figuren, die ich ihnen im letzten Teil der Arbeit zuordne, reflektiert und
sie oftmals sogar selbst in Beziehung zu ihrem Verständnis des jüdischen Mes-
sianismus gebracht: Dies gilt für die Inversion bei Scholem, für das Symbol
bei Bloch und bei Benjamin für das dialektische Bild, das ja ohnehin seine
Erfindung ist und Momente der Allegorie und des Symbols vereinigt. Für
Scholem, Bloch und Benjamin zeigen diese unterschiedlichen Figuren eine
messianische Potenz in der Sprache selbst an.
So fundiert Bloch seine messianische Theorie, sein Prolegomenon zu einem
»System des theoretischen Messianismus« (GU 337) namens »Geist der Uto-
pie«, in der Denkfigur des Noch-Nicht, die er mit der Ästhetik des Symbols
verbindet. Bloch interpretiert das Symbol messianisch, als Vorschein auf ein
noch nicht realisiertes utopisches Totum, und den tradierten Messianismus
symbolisch. Der frühe Scholem operiert demgegenüber mit der Denkfigur der
messianischen Zeit als »ewige[r] Gegenwart«, in der die Zeiten sich gemäß der
grammatischen Funktion des ʪʥʴʤʤ-'ʥ [waw ha-hippukh] im Hebräischen
ineinander invertieren lassen und mit ihnen die Modalitäten des Seins: Aus der
Vergangenheit wird Zukunft, aus dem Abgeschlossenen das Unabgeschlosse-
ne, aus Aussagen Fragen. Die messianische Inversion, die hier weniger eine
rhetorische als eine grammatische Figur darstellt, bildet bei Scholem die
Grundlage für sein Verständnis der jüdischen Tradition, die auf Fragen, nicht
72 Das Kriterium von Schultes »Typologie von Messianismen im Judentum« stellt das
»Geschichtsverständnis der jeweiligen Vorstellungen vom Messias und seinen Akti-
onen, sowie dessen historisch-politische Funktion« dar (Schulte, Messias der Utopie
[wie Anm. 6], S. 257). Auf dieser Grundlage unterscheidet Schulte zwischen einem
präsentischen Messianismus, einem futurischen Messianismus, einem apokalypti-
schen Messianismus, einem enttäuschten Messianismus und einem skeptischen
Messianismus, deren Elemente er bei modernen jüdischen Linksintellektuellen wie-
derentdeckt.
73 Vgl. Hayden White: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhun-
dert. Übers. von Peter Kohlhaas. Frankfurt a. M.: Fischer 1991, besonders S. 49–57.
22 Einleitung
struktur zu bedenken, die, wie wir sehen werden, Franz Rosenzweigs Schriften
beherrscht. Denn in Rosenzweigs Schriften ist die biblische Offenbarung das
gründende Ereignis, das Sein als dialogisches Präsenz-Ereignis überhaupt erst
denkbar macht. Das Denken einer allgemeinen dialogischen Erfahrungsstruk-
tur, die über den religiösen Bereich hinausgeht, bleibt bei Rosenzweig somit
grundsätzlich auf die biblische Offenbarung verwiesen.
Die Untersuchung gliedert sich in die drei Theoriefelder, in denen Figuren des
Messianischen als Denkfiguren produktiv gemacht wurden: im Sprachdenken,
im theologisch-politischen Denken und in der Geschichtsphilosophie. Der
letzte Teil der Arbeit hat zugleich einen summarischen Charakter, denn von
einem geschichtsphilosophischen Horizont sind auch das Sprachdenken und
das theologisch-politische Denken gerahmt. Im letzten Teil expliziere ich die
geschichtsphilosophischen Annahmen der Autoren, die vorher bereits ange-
klungen sind. Dabei führe ich die geschichtsphilosophische Logik der messia-
nischen Denkfiguren mit den rhetorischen Figuren eng, die kennzeichnend für
die Säkularisierung des jüdischen Messianismus bei den unterschiedlichen
Autoren sind.
Den Auftakt der Arbeit bildet die Beschäftigung mit den Figuren des Mes-
sianischen im Sprachdenken. Im Rückgang auf theologische Sprachdiskurse
finden die Autoren sprachliche Strukturen reflektiert, die sie für Sprache über-
haupt als konstitutiv erkennen. Ein analytisches Interesse an Sprache allgemein
ist eines der Motive, das die Autoren dazu bewegt, in theologische Sprachdis-
kurse einzutauchen, von denen sie sich allgemeine Aufschlüsse über die Spra-
che erhoffen. In diesem analytischen Moment liegt die Anschlussfähigkeit der
Autoren an zeitgenössische, aber auch an spätere Sprachtheorien begründet. So
betrachtet beispielsweise Rosenzweig die Kategorien »Schöpfung«, »Offenba-
rung« und »Erlösung« unter sprachphilosophischen Gesichtspunkten und nimmt
Einsichten der Sprechakttheorie vorweg. Das analytische Interesse tritt jedoch
nicht ›rein‹ auf, sondern in einer Gemengelage mit ethischen, politischen
und/oder religiösen Motiven. Die Übersetzung theologischer in sprachphiloso-
phische Kategorien lässt sich als sprachliche Säkularisierung begreifen, die frei-
lich mit einer Retheologisierung der gewonnenen Sprachkonzepte einhergehen
kann, wie dies bei Rosenzweig der Fall ist. Der Aspekt der sprachlichen Säku-
larisierung und gegebenenfalls Resakralisierung verbindet den ersten Teil der
Arbeit mit dem letzten, der nach den rhetorischen Figuren der Säkularisierung
sowie deren Dialektik fragt. Die Autoren unterscheiden sich nun nicht nur in
den sprachphilosophischen Erkenntnissen, die sie aus theologischen Sprach-
diskursen ableiten, sondern auch in ihrem Schreiben über theologische Diskur-
se. So verwendet Rosenzweig ungebrochen die religiöse Sprache, über die er
Einleitung 25
77 Vgl. Anna Woákowicz: Mystiker der Revolution. Der utopische Diskurs um die
Jahrhundertwende. Warschau: WUW 2007, S. 9.
78 Vgl. Wolf-Daniel Hartwich, Aleida Assmann und Jan Assmann: Nachwort. In:
Taubes, Die Politische Theologie des Paulus (wie Anm. 4), S. 143–181, besonders
S. 175–181.
26 Einleitung
79 Vgl. Joseph Vogl: Einleitung. In: Ders. (Hg.): Gemeinschaften. Positionen zu einer
Philosophie des Politischen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1994 (Edition Suhrkamp;
1881 = N.F.; 881), S. 7–27, besonders S. 10.
80 Vgl. Lefort, Fortdauer des Theologisch-Politischen? (wie Anm. 57), S. 65, 85.
81 Auf den Zusammenhang von Messianismus und Kriegsbegeisterung beim frühen
Buber geht auch Martin Treml in seiner kenntnisreichen Einleitung zum ersten Band
der neuen Martin-Buber-Werkausgabe ein (vgl. Martin Treml: Einleitung. In: Martin
Buber: Werkausgabe. Hg. von Paul Mendes-Flohr und Peter Schäfer. Bd 1 [Frühe
kulturkritische und philosophische Schriften 1891–1924], bearb., eingeleitet u.
kommentiert von Martin Treml. Gütersloh: Gütersloher Verl.-Haus 2001, S. 13–91,
besonders S. 75ff.).
Einleitung 27
Identitätsbildung nimmt. Bei Franz Rosenzweig wird uns dieser Zirkel be-
schäftigen.
Im Zusammenhang mit dem theologisch-politischen Diskurs beziehe ich
auch bisher unveröffentlichtes Archivmaterial in meine Untersuchung ein.
Dies betrifft verschiedene Manuskripte und Typoskripte Martin Bubers und
Gershom Scholems, die im Handschriftenarchiv der Jewish National and Uni-
versity Library in Jerusalem aufbewahrt werden. Darunter befindet sich ein
frühes Manuskript Martin Bubers zur »Geschichte des Messianismus«, in dem
er sich mit der messianischen Bewegung um den Messias-Prätendenten Sabba-
tai Zwi (17. Jh.) aus zionistischer Perspektive beschäftigt. Besonders auf-
schlussreich für Bubers spätere Interpretation des jüdischen Messianismus und
ihre politischen Implikationen ist das Typoskript einer Vorlesungsreihe über
»Jüdischen und christlichen Messianismus« aus den 1920er Jahren. Ein Kon-
volut von Aufzeichnungen und Reflexionen Gershom Scholems, die aus seinen
ersten Jahren in Palästina stammen, wohin er 1923 ausgewandert ist, zeugt von
seiner Ambivalenz gegenüber dem jüdischen Messianismus in zionistischer
Hinsicht. Konfrontiert mit dem militanten, nationalistischen Revisionismus
Zeev Jabotinskys, der einen messianischen Zionismus mobilisiert, versucht
Scholem, den Messianismus von seinen eigenen zionistischen Überzeugungen
fernzuhalten, was ihm jedoch nie richtig gelingt.
Im letzten Teil der Arbeit, der sich, wie oben bereits beschrieben, mit der
»Rhetorik der Figuren des Messianischen und ihrer geschichtsphilosophischen
Logik« befasst, laufen viele der Fäden zusammen, die in den vorangegangenen
Kapiteln verschiedene Muster von Figuren des Messianischen in Schriften
deutsch-jüdischer Intellektueller 1900–1933 beschrieben haben. In einigen
Fällen überschreite ich im Schlussteil den Zeitrahmen und bespreche Texte,
die nach der nationalsozialistischen Machtergreifung entstanden sind, wie z. B.
Benjamins Thesen »Über den Begriff der Geschichte«. Allerdings berücksich-
tige ich nur punktuell Texte, die in der Zeit der nationalsozialistischen Juden-
verfolgung und -vernichtung geschrieben wurden. Es würde einer eigenen,
weiteren Studie bedürfen, um dem Thema dieser Arbeit bis in die Zeit des
Nationalsozialismus und darüber hinaus nachzugehen.
Teil I
die man wohl als charakteristisch für die Rezeption der Mystik in der Moderne
überhaupt veranschlagen kann. Landauer rezipiert die Mystik als Wortkunst,
die aus der unaufhebbaren Differenz von Signifikant und Signifikat ihren poe-
tischen Schwung bezieht. Für Landauer hat die mystische Einheitserfahrung
den Status eines lediglich subjektiv notwendigen Postulats, das er als Anreiz
zur sprachlichen Produktivität wertet. Mystik ist bei Landauer Wortkunst, die
aus dem Postulat mystischer Einheit, die immer nur metaphorisch zu um-
schreiben ist, entspringt. Der frühe Buber hingegen versucht, aus dem sprach-
lich metaphorischen Modus der Differenz hinauszugelangen zur mystischen
Einheit jenseits der Sprache. Landauer und Buber politisieren dabei die Mystik
auf je unterschiedliche Weise.
Beim kulturanarchistischen Landauer wird das mystische Einheitserlebnis –
traditionell: die unio mystica als Einheit mit dem Göttlichen – zum Sprach-
wie Gemeinschaftsexperiment. Der atheistische Mystiker Landauer interpre-
tiert die mystische Sprache als poetische, metaphorische Sprache einer kultur-
anarchistischen Gemeinschaft. Mystische Gemeinschaftspoetik bedeutet hier-
bei zweierlei: Landauer denkt die Grundlage der anarchistischen Gemeinschaft
poetisch und konzipiert die Gemeinschaft als Gemeinschaft von schöpferi-
schen Individuen. Landauer hält sich in seinen Schriften zur Mystik um die
Jahrhundertwende von messianischem Vokabular fern. Dieses erscheint erst in
seinen späteren Texten, in denen sich ein Einfluss Martin Bubers bemerkbar
macht. Auch wenn in dem zentralen sprachphilosophischen Werk Landauers,
der Essaysammlung Skepsis und Mystik, eine messianische Interpretation der
Mystik wie überhaupt messianisches Vokabular fehlt, so werde ich die Essay-
sammlung doch im Folgenden berücksichtigen und näher untersuchen. Denn
Landauers sprachmystisches Denken ist von großer Bedeutung für Martin
Buber, der es auf seine Weise umsetzt. Landauers Schriften sind aber auch
wichtig für Ernst Bloch. Buber und Bloch wiederum kennen beide keine Vor-
behalte gegenüber dem Gebrauch messianischer Sprache.
Ernst Bloch ist ein atheistischer Mystiker wie Landauer. Mit seinem frühen
Hauptwerk Geist der Utopie (1918) hat Bloch nichts Geringeres als ein Prole-
gomenon zu einem »System des theoretischen Messianismus« (GU 337) vor-
legen wollen. Bei diesem »System des theoretischen Messianismus« handelt es
sich um eine neue, als messianisch ausgewiesene Erkenntnistheorie. Diese
beruht, so lässt sich zeigen, auf der Ästhetik des Symbols. Bloch interpretiert
das Symbol messianisch, als Figur, die auf ein noch nicht realisiertes Totum
einer universalmenschlichen, mystischen Gemeinschaft unter sozialistischen
Bedingungen verweist. Zugleich deutet Bloch den jüdischen Messianismus
symbolisch und operiert schließlich selbst mit einer wuchernden, synkretisti-
schen messianischen Zielsymbolik, die jüdische und christliche Tradition,
Mystik und Apokalyptik miteinander mischt.
Der frühe Martin Buber wendet das mystische Einheitserlebnis kulturzionis-
tisch um und interpretiert es in messianischen Termini. Für Buber hat sich im
Chassidismus der jüdische Messianismus zum Ethos verwandelt, das nach
34 Teil I
umfassender Einheit strebt: nach der Einheit des Selbst, nach der Einheit des
mystisch erlebten Dinges oder des Gegenübers jenseits seiner empirischen
Erscheinungsform, nach der kulturzionistischen Einheit und schließlich nach
der Einheit des Seins. Sprachlich versucht der frühe Buber, diese Einheit als
Affekt zu evozieren. Da Buber sieht, dass die Sprache immer im Modus der
Differenz zwischen Signifikant und Signifikat sowie zwischen Sprecher und
Zuhörer verbleibt, zielt seine Strategie darauf, mit der Sprache über die Spra-
che hinauszugelangen: zum Affekt als angenommenem Erlebnisgrund der
Einheit.
Der Weg von Bubers Denken führt von der frühen Mystik zum Dialog, den
er nach dem Ersten Weltkrieg zum Thema seiner Philosophie macht. Zugleich
ist dies ein Weg vom messianischen Ethos, das Buber als spezifisches Ethos
dem Judentum zuschreibt, zur allgemeinen messianischen Ethik. Bubers und
Rosenzweigs Dialogphilosophien beruhen, bei allen Unterschieden, auf einer
Rehabilitation der Offenbarung, die nicht einfach einen Rückfall in voraufklä-
rerische Positionen bedeutet. Im Kern meint Offenbarung bei beiden nicht
Offenbarung von Wahrheitssätzen. Es geht also nicht um die Offenbarung als
Ursprung von Wissen oder Vorschriften. Als sprachlichen Modus der Offenba-
rung erkennen beide nicht die Aussage, sondern den Dialog an, genauer: ein
dialogisches Präsenzereignis vor aller semantischen Festlegung.8 Anders als
bei Buber führt dies bei Rosenzweig freilich nicht zu einer Verabschiedung des
jüdischen Gesetzes. Dies deutet aber schon auf einen tiefer liegenden Unter-
schied zwischen beiden hin. Buber und Rosenzweig verbindet ein Seinsver-
ständnis, das Sein als geschehende Sprache zwischen Menschen denkt. Für
Buber bedeutet dieses Seinsverständnis, zu den ontologischen Ursprüngen von
Religion überhaupt vorzustoßen, »zu dem Bereich von Offenbarung vor jeder
bestimmten Offenbarung. Dort wird Offenbarung gesehen als Zeitigung von
Sein zwischen Menschen, in dem zuäußerst je neu das Zueinander von Gott,
Welt und Mensch aufgeht«.9 Bernhard Casper überträgt dieses Verständnis
von Offenbarung, das Derrida später »Offenbarkeit« im Unterschied zu spezi-
fisch religiösen Offenbarungen nennt,10 von Buber auf Rosenzweig. Anders als
Buber bindet Rosenzweig aber das aus der Offenbarung gewonnene Verständ-
nis von Sein als Sprachgeschehen an die Sinaioffenbarung zurück. Bei Rosen-
8 Vgl. Paul Mendes-Flohr: Rosenzweig and Kant. Two Views of Ritual and Religion.
In: Ders.: Divided Passions. Jewish Intellectuals and the Experience of Modernity.
Detroit: Wayne State Univ. Press 1991 (The culture of Jewish modernity), S. 283–
310, hier besonders S. 288.
9 Bernhard Casper: Das dialogische Denken. Franz Rosenzweig, Ferdinand Ebner und
Martin Buber. 2. Aufl., Freiburg, München: Alber 2002, S. 345 (Unterstreichung
E. D.).
10 Vgl. Jacques Derrida: Glaube und Wissen. Die beiden Quellen der ›Religion‹ an den
Grenzen der bloßen Vernunft. Übers. von Alexander García Düttmann. In: Jacques
Derrida und Gianni Vattimo (Hg.): Die Religion. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001
(Edition Suhrkamp; 2049), S. 29f.
1 Sprachdenken und Theologie 35
zweig verhält es sich genau umgekehrt als bei Buber: Es ist eine bestimmte
Offenbarung, welche Sein als zwischenmenschliches Sprachgeschehen über-
haupt erst denkbar macht. Dies scheint mir ein mindestens ebenso großer Un-
terschied zwischen den beiden Denkern zu sein wie der Unterschied, der schon
vielfach bemerkt wurde: Buber tendiert dazu, das dialogische Denken dem
mathematisch-naturwissenschaftlich orientierten Seinsverständnis alternati-
visch entgegenzusetzen, wohingegen Rosenzweig das »alte Denken« in sein
»neues Denken« integriert.
Der Vergleich zwischen Buber und Rosenzweig führt zu der Frage hin, die
von grundsätzlicher Bedeutung für die Thematik der »Figuren des Messiani-
schen« in der Moderne ist: nämlich der Frage, welche Art der sprachlichen
Säkularisierung die Autoren an theologischen Kategorien vornehmen, die eine
Resakralisierung nicht ausschließen muss. Diese erfolgt bei Buber und Rosen-
zweig auf unterschiedliche Weise. Bubers Vorstoß zu der Offenbarung vor
jeder bestimmten Offenbarung hindert ihn nicht daran, die jüdisch-christliche
Sprache beizubehalten, auch wo es um allgemeine Sprach- und Seinsstrukturen
gehen soll. Hierin manifestiert sich eine grundsätzliche sprachliche Problema-
tik: In welchen Worten soll von der Offenbarung vor jeder bestimmten Offen-
barung überhaupt gesprochen werden? Derrida versucht später, diese Proble-
matik zu lösen, indem er von Offenbarkeit im Unterschied zu Offenbarung
oder aber auch von einem »Messianischen ohne Messianismus«11 spricht.
Auch Buber findet in der jüdischen Überlieferung und in der auf dieser auf-
bauenden christlichen Tradition ein Offenbarungsverständnis ausgedrückt, das
auf die Offenbarung vor jeder bestimmten Offenbarung verweist. Man kann
dies so lesen, dass die jüdisch-christliche Tradition ihren exklusiven Offenba-
rungsbegriff selbst in Frage stellt. Buber behält aber nicht nur aus sprachlicher
Verlegenheit die jüdisch-christliche Sprache bei. Vielmehr zeigt diese an, dass
es ihm weiterhin um Identitätsfragen geht.
Rosenzweig verfährt anders als Buber. Sehr viel ausführlicher und genauer
als Buber behandelt er die theologischen Kategorien »Schöpfung«, »Offenba-
rung« und »Erlösung« als Sprachformen. Ganz konkret bedeutet dies, dass er
die sprachliche Form verschiedener Teile der Hebräischen Bibel analysiert.
Rosenzweigs Sprachanalysen und sein Sprachbegriff sind dabei durchaus an-
schlussfähig an linguistische und philosophische Sprachkonzepte anderer Au-
toren des 20. Jahrhunderts (Peirce, Benveniste), wie ich nachweisen werde.
Auf der Sprachanalyse baut Rosenzweig seine philosophische Existenzanalyse
auf, die sich keineswegs als Analyse spezifisch religiöser Existenz versteht.
Hierin kann man eine Form der Säkularisierung religiöser Konzepte zu
Sprach- und Existenzformen sehen. Rosenzweig versteht sein Hauptwerk, den
Stern der Erlösung, dementsprechend auch nicht als Theologie, sondern als
11 Jacques Derrida: Marx & Sons. Übers. von Jürgen Schröder. Frankfurt a. M.: Suhr-
kamp 2004 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft; 1660), S. 81–83.
36 Teil I
»System der Philosophie«.12 Die Klassifikation, die sich Rosenzweig für seine
Philosophie noch am ehesten gefallen lassen wollte, war die eines »absolute[n]
Empirismus«,13 der auf »jüdische Worte«14 zurückgreift, um in diesen sprach-
liche Strukturen reflektiert zu finden, die wirklichkeitskonstitutiv sind. Die
Übertragung der theologischen Kategorien in Kategorien der Sprache und der
Existenz bedeutet bei Rosenzweig aber nicht, dass die Theologie sich in eine
Sprach- und Existenzanalyse aufgelöst hätte. Rosenzweig beschreibt keine
metaphorische Operation, keine »Übertragung in andere Pläne [d. h. Ebenen;
Anm. E. D.]«,15 die mit der ursprünglich religiösen Bedeutung in keinem (ge-
nea-)logischen oder raumzeitlichen Zusammenhang zu stehen braucht. Die
Metapher ist ein »Sprung-Tropus«,16 ihr Weg die »schöpferische Assoziation
nach Ähnlichkeit und Gegensatz«.17 Bei Rosenzweig folgt die Übertragung
nicht der Logik der Metapher, sondern einer metonymischen Logik von Grund
und Folge, insofern der religiöse Offenbarungsbegriff bei ihm Grund für einen
dialogisch-existenzhermeneutischen Offenbarungsbegriff bleibt.
Auch Walter Benjamin interpretiert theologische Begriffe wie »Schöp-
fung«, »Offenbarung«, »Jüngstes Gericht« und »Erlösung« als Sprachformen.
In seinem frühen Sprachaufsatz »Über Sprache überhaupt und über die Spra-
che des Menschen« analysiert er, wie Rosenzweig, die sprachliche Struktur
und den Sprachdiskus der Genesis, um so Aufschlüsse über die »Natur der
Sprache selbst« (GS II/1 147) zu erhalten. Anders als Rosenzweig macht er
aber schon von Anfang an deutlich, dass es ihm nicht darum geht, die Bibel als
offenbarte Wahrheit zu verstehen. In Gottes Wort, also in der Offenbarung, ist
aber das adamitische Sprachkonzept fundiert, das Benjamin im frühen Sprach-
aufsatz skizziert und das sein Sprachverständnis leitet. Das adamitische
Sprachkonzept lässt sich mithin nicht ohne weiteres übertragen in ein allge-
meines Sprachkonzept, das die Offenbarung nicht mehr zu seinem Grund ha-
ben soll. Dass nicht ungebrochen am adamitischen Sprachmodell festzuhalten
12 Rosenzweig, Franz: Das neue Denken. In: Ders.: Zweistromland. Kleinere Schriften
zur Religion und Philosophie. Berlin, Wien: Philo 2001, S. 210–234, hier: S. 211.
13 Ebd., S. 233.
14 Ebd., S. 227.
15 Roman Jakobson: Randbemerkungen zur Dichtung Pasternaks. In: Ders.: Poetik.
Ausgewählte Aufsätze 1921–1971. Hg. von Elmar Holenstein und Schelbert Tarci-
sius. 3. Aufl., Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1993 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissen-
schaft; 262), S. 192–211, hier: S. 198. Es handelt sich hierbei um Jakobsons nachge-
rade klassischen Aufsatz über die Rolle von Metapher und Metonymie in der mo-
dernen Dichtung.
16 Wolfram Groddeck: Reden über Rhetorik. Zu einer Stilistik des Lesens. Basel,
Frankfurt a. M.: Stroemfeld 1995 (Nexus; 7), S. 210.
17 Jakobson, Randbemerkungen zur Dichtung Pasternaks (wie Anm. 15), S. 199. Auch
die Metonymie kann natürlich schöpferisch vorgehen, wenn sie die gewöhnliche
raumzeitliche und kausale Logik, den Operationsgrund der Metonymie, verwandelt.
Dies verfolgt Jakobson eben in der Dichtung Pasternaks.
1 Sprachdenken und Theologie 37
ist, wird in Benjamins späterer Beschäftigung mit Karl Kraus noch deutlicher
als im frühen Sprachaufsatz. Der Kraus-Essay steht daher im Zentrum von Kap.
I.4.1 über »Schöpfung, Gericht und Erlösung als Sprachformen bei Walter Ben-
jamin«. In ästhetischer Adaption kabbalistischer Sprachauffassung gibt Benja-
min im Kraus-Essay Erlösung als Sprache zu denken, als »Engelsprache«
(GS II/1 363), die auf der Basis von Reim und Name operiert. Wenn man Ben-
jamins Verfahren unter dem Gesichtspunkt der Säkularisierung betrachtet, dann
zeigt sich, dass er theologische Sprachmodelle in allgemein sprachliche über-
trägt, nicht ohne ihre radikale Differenz zu betonen.18 Benjamins Verfahren
haftet etwas fundamental Paradoxes, wenn nicht gar etwas Aporetisches an.19
Die Verbindung von Sprachdenken und Theologie, die für alle hier behan-
delten Autoren konstitutiv ist, lässt unterschiedliche Aspekte und Gewichtun-
gen erkennen: Es geht einmal darum, im theologischen Sprachdiskurs der
Bibel und der Mystiker Sprachstrukturen reflektiert zu finden, die für die Spra-
che überhaupt konstitutiv sein sollen und die in anderen Sprachdiskursen, nach
Meinung der Autoren, zu wenig oder gar nicht bedacht werden. Hierin liegt die
Anschlussfähigkeit der vorgestellten Sprachkonzepte an nicht-theologische
Sprachbegriffe begründet, die die Autoren zum Teil vorwegnehmen. Zum ande-
ren kann dies mit theologischen Interpretationen und Absichten Hand in Hand
gehen. Das heißt, es erfolgt eine Retheologisierung der gewonnenen Sprachbeg-
riffe, um Konzepte wie Offenbarung und Erlösung theologisch neu zu denken,
nämlich auf sprachlicher Grundlage. Dieses theologische Interesse bestimmt
weder Landauers, Blochs noch Benjamins Schreiben, wohl aber, je unter-
schiedlich, das Schreiben Bubers, Rosenzweigs und auch Gershom Scholems.
Bei Scholem sind es die Kategorien »Offenbarung«, »Tradition« und »Ge-
rechtigkeit«, die er unter sprachlichem Gesichtspunkt betrachtet. Der junge
Scholem fasst bestimmte sprachliche Strukturen der Hebräischen Bibel als
»messianisch« auf und legt sie seinem Verständnis von Offenbarung, Tradition
und Gerechtigkeit zugrunde. Für Scholem charakterisiert es das jüdische Ver-
ständnis von Gerechtigkeit, dass wohl geurteilt, der Vollzug des Urteils aber
aufgeschoben wird. Scholem macht dieses Verständnis von Gerechtigkeit am
biblischen Jona-Buch fest. Eine so konzipierte Gerechtigkeit, die den Vollzug
des Urteils aufschiebt, fundiert für Scholem die jüdische Tradition als Konti-
18 Daniel Weidner hält es insgesamt für typisch, dass die Sprechweisen über Säkulari-
sierung »gleichzeitig eine Ähnlichkeit und eine Differenz von Religion und Säkula-
rität behaupten« (Daniel Weidner: Kapitalismus als Religion lesen. »Säkularisie-
rung« und die Poetik der Theorie. In: Text+Kritik H. 31/32 (Februar 2009), S. 57–
69, hier: S. 60). Bei Benjamin radikalisiert sich diese Gleichzeitigkeit von Ähnlich-
keit und Differenz, insofern auf dem Grunde der Übertragungen ein Nicht-
Übertragbares liegt.
19 Das Paradox strukturiert auch Benjamins Nachdenken über das Verhältnis von
Politik und Theologie im »Theologisch-politischen Fragment«. Mit dem Fragment
werden wir uns allerdings erst in einem späteren Teil der Arbeit beschäftigen (vgl.
Kap. II.4).
38 Teil I
nuum von Fragen.20 Es macht in Scholems Augen die Qualität der Thora als
Offenbarung aus, dass sie nicht ausgeführt werden kann und eine Tradition
von Fragen begründet. Der Gedanke der Unausführbarkeit der Offenbarung
verbindet sich später bei Scholem mit der Vorstellung der über jeder konkreten
Bedeutung liegenden symbolischen Fülle der Thora, die seine Interpretation
und Aneignung der kabbalistischen Sprachauffassung leitet. Scholems messia-
nische Philosophie der hebräischen Sprache begründet sowohl seine Ausle-
gung der jüdischen Tradition als auch seine Version des Zionismus. In dieser
messianischen Metaphysik des Hebräischen liegt meines Erachtens auch der
Schlüssel zur Beantwortung der Frage, warum Scholem nie in der Lage war,
seinen Zionismus vollständig vom jüdischen Messianismus zu lösen, obwohl
er dessen politische Gefahren nach seiner Auswanderung nach Palästina nicht
nur wahrnahm, sondern auch wiederholt vor ihnen warnte.
Sprachdenken und Theologie haben sich am Anfang des 20. Jahrhunderts
auf vielfältige Weise überkreuzt und bereichert. Die unterschiedlichen Spielar-
ten dieser Verbindung aufzuzeigen, ist ein Ziel der folgenden Kapitel. Dabei
sollte auch deutlich werden, dass man es sich zu einfach macht, wenn man den
zu beobachtenden Rückgriff auf theologische Diskurse lediglich als Abwehr-
bewegung gegenüber der um die Jahrhundertwende notorisch gewordenen
Sprachskepsis interpretiert, d. h. als Abwehrbewegung, die ein transzendentes
Signifikat als semantisches Substrat zu reinstallieren trachtet. Selbst bei den
Autoren, die Theologie nicht schlicht durch Sprachphilosophie ersetzen, son-
dern theologische ›Absichten‹ verfolgen, verhält es sich nicht ganz so einfach,
insofern sich Gott bzw. die Offenbarung Gottes nicht im Modus von Aussage-
sätzen erschließen lassen sollen. Nichtsdestotrotz macht es natürlich einen
großen Unterschied aus, ob theologische Kategorien in allgemein sprachphilo-
sophische übersetzt werden oder sprachphilosophische Kategorien die Grund-
lage theologischer Reinterpretation darstellen. Es ist essentiell, zu beachten,
welches Verhältnis Sakralität und Säkularität im Sprachdenken der Autoren
eingehen. Gerade die Analyse des Sprachdenkens liefert einen wichtigen An-
haltspunkt im Hinblick auf die Frage, welche Art Säkularisierung und Resakra-
lisierung die Autoren im Blick haben.
Das Sprachdenken bringt nicht nur neue Begriffe von Sprache hervor, son-
dern führt auch zu je spezifischen Schreibweisen, die bei den jeweiligen Text-
analysen zu berücksichtigen sind. Die Sprachkonzepte, die die Autoren vorle-
gen, implizieren oft eine Theorie der poetischen Sprache, die sich in den ver-
schiedenen Schreibweisen manifestiert. Die neuen Impulse, die die dialogische
Sprachphilosophie Bubers und Rosenzweigs der Poetik gegeben hat, werde ich
tiefergehend in dem Kapitel zu Hermann Brochs Romantrilogie Die Schlaf-
wandler verfolgen.
Die Enden des Sprachdenkens, das sich auf theologische Sprachdiskurse zu-
rückbezieht, weisen also in folgende Richtungen: Es kann einen Rückfluss in
20 Vgl. Daniel Weidner: Gershom Scholem. Politisches, esoterisches und historiogra-
phisches Schreiben. München: Fink 2003, S. 223.
1 Sprachdenken und Theologie 39
die Theologie geben, aber auch einen Ausfluss in die Poetik. Auch der
»sprachliche[n] Säkularisation«21 ist eine Dialektik eigen, die Albrecht Schöne
in seiner einflussreichen Studie über Säkularisierung als sprachbildende Kraft
nicht berücksichtigt. Schöne hat mit dem Konzept der »sprachlichen Säkulari-
sation« das Phänomen zu erhellen versucht, warum eine so beachtliche Zahl
von Pfarrerssöhnen in Deutschland zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert
Dichter wurden. Für Schöne dokumentiert das Beispiel der Pfarrerssöhne die
»Anregungskraft und Ausstrahlungsenergie des religiösen Sprachbereichs
überhaupt«.22 Mit sprachlicher Säkularisierung meint Schöne die Herauslösung
von »Worten und Wendungen, sprachlichen Formen, Figuren, Bildern und
Motiven«23 aus dem religiösen Sprachbereich in den Kontext der Dichtung.
Schöne hat sich weniger für die Säkularisierung von theologischen Sprachkon-
zepten denn für die Säkularisierung von sprachlichen Beständen interessiert.
Daran liegt es womöglich, dass er »sprachliche Säkularisation« als teleologi-
sche Geschichte, von der Bibel hin zur Dichtung, denkt.24 Demgegenüber
werden wir in den folgenden Kapiteln mit der Dialektik der »sprachlichen
Säkularisation«, verstanden als Säkularisation von Sprachkonzepten, konfron-
tiert. Wir werden sehen, dass die Autoren theologische Kategorien wie Schöp-
fung, Offenbarung und Erlösung unter sprachlichem Gesichtspunkt, als
Sprachformen, betrachten, um allgemeine Aufschlüsse über die Sprache über-
haupt zu erhalten. Einige der Autoren verfolgen dabei zugleich eine theologi-
sche Reinterpretation der Kategorien Schöpfung, Offenbarung und Erlösung
auf sprachlicher Grundlage. Es wird also zu beobachten sein, wie aus Theolo-
gie Sprachphilosophie wird – aber auch, wie aus Sprachphilosophie wieder
Theologie hervorgehen kann.
»[D]ie Erfahrung weiß ja nichts von Gegenständen; sie erinnert sich, sie erlebt,
sie hofft und fürchtet.«1 Die Dimension der Erfahrung ist das zentrale Thema
des zweiten Teils von Franz Rosenzweigs Stern der Erlösung (veröffentlicht
1921). Die Hermeneutik der Existenz, die Rosenzweig aus theologischen Kon-
zepten (»Schöpfung«, »Offenbarung«, »Erlösung«) gewinnt, setzt sich von
einer Substanzontologie ab, die die Frage nach dem gegenständlichen Wesen
(»Was ist?«) zu beantworten trachtet. »Das Wirkliche ›ist‹ nicht«,2 sondern
geht aus Formen der Zeitigung von Zeit hervor, einer Zeit, die nicht als Behäl-
ter gedacht wird, sondern durch bestimmte Einstellungen (im Zitat: Erinne-
rung, Erleben, Hoffnung, Furcht) und Sprachformen gezeitigt wird. Denn
»[n]icht in ihr [der Zeit; Anm. E. D.] geschieht, was geschieht, sondern sie, sie
selber geschieht.«3 Um den zeitlichen Charakter der erfahrenen Wirklichkeit
einsichtig zu machen, muss nach Rosenzweigs Dafürhalten die Sprache analy-
siert werden. Denn das Medium der zeitlichen Wirklichkeit ist für Rosenzweig
die Sprache, wohingegen er die Symbole der Logik als zeitlos einstuft.
Sprechen ist zeitgebunden, zeitgenährt; es kann und will diesen seinen Nährboden
nicht verlassen; es weiß nicht im voraus, wo es herauskommen wird; es lebt über-
haupt nur vom Leben des anderen, mag der nun der Hörer der Erzählung sein oder
der Antwortende des Zwiegesprächs oder der Mitsprecher des Chors […]. Im
wirklichen Gespräch geschieht eben etwas; ich weiß nicht vorher, was mir der an-
dere sagen wird, weil ich nämlich auch noch nicht einmal weiß, was ich selber sa-
gen werde.4
»altem und neuem Denken« liegt für Rosenzweig dementsprechend »im Be-
dürfnis des andern und, was dasselbe ist, im Ernstnehmen der Zeit.«7
Die Zeit, die Sprache und der Andere sind die drei engstens miteinander
verwobenen Momente der Hermeneutik der Existenz, die Rosenzweig im
zweiten Teil des Sterns entwickelt. In dem 1925 nachgereichten Vorwort zum
Stern, dem Aufsatz »Das neue Denken«, versteht Rosenzweig diese Herme-
neutik der Existenz als Teil einer »messianische[n] Erkenntnistheorie«.8 In
diesem Essay erscheint zweimal das Adjektiv »messianisch«: Einer »messiani-
sche[n] Erkenntnistheorie« steht »eine messianische Politik«9 gegenüber, die
Rosenzweig auch »eine Theorie des Krieges«10 nennt. Rosenzweig hat diese
»messianische Politik« als »Theorie des Krieges« im dritten Teil des Sterns
der Erlösung analysiert, in dem er Judentum und Christentum in ihrem Ver-
hältnis zur historischen Zeit und zur Politik beschreibt. Rosenzweig postuliert:
»Der ›Glaubenskrieg‹, der Krieg als selbst religiöse Handlung, blieb der christ-
lichen Weltzeit vorbehalten, nachdem ihn das jüdische Volk entdeckt hatte«
(SdE 367). Die Auffassung des Krieges als »um Gottes willen notwendiger
Handlung« habe zwar den »Glaubenskrieg gegen die sieben Völker Kanaans«
charakterisiert, »durch den sich das Volk Gottes den ihm notwendigen Lebens-
raum« (SdE 367) eroberte. Das jüdische Volk habe jedoch den Glaubenskrieg
»in mythischer Vergangenheit« (SdE 368) lange hinter sich gelassen. In der
»christlichen Weltzeit« habe der Glaubenskrieg sodann ein neues Gesicht
erhalten, das für Rosenzweig gerade auch dem Ersten Weltkrieg sein spezifi-
sches Gepräge verleiht.11
In Rosenzweigs Schreiben zeichnet sich eine Bewegung ab, die bereits für
die Transformation des Messias-Mythos im rabbinischen Judentum nach 70
n. Chr. ausschlaggebend war: eine Abkehr von der Politik der Staaten und
damit verbunden eine Abkehr vom revolutionären, nationalpolitischen Messi-
asmythos hin zu einem neuen existentiellen Selbstverständnis im Hier und
Jetzt, »a new mode of being«,12 wie Neusner im Hinblick auf das rabbinische
Judentum bemerkt – ein Selbstverständnis orientiert am »Alltag des Lebens«,13
wie es bei Rosenzweig heißt. Um den »Alltag des Lebens« geht es für Rosen-
zweig in der Ethik und in der Religion. Auf die Ethik konzentriert sich der
zweite Teil des Sterns, in dem Rosenzweig eine ethisch pointierte Hermeneutik
der Existenz aus theologischen Kategorien entwickelt. Theologische Katego-
rien dienen hier also zur Analyse allgemeiner, nicht spezifisch religiöser oder
7 Ebd.
8 Ebd., S. 232.
9 Ebd., S. 229.
10 Ebd.
11 Zum Ersten Weltkrieg als »totalen Krieg«, den Rosenzweig von einer religiösen
Genealogie her denkt, siehe Kap. II.5.
12 Jacob Neusner: Messiah in Context. Israel’s History and Destiny in Formative Juda-
ism. Philadelphia: Fortress Press 1984, S. 12.
13 Rosenzweig, Das neue Denken (wie Anm. 1), S. 232f.
2 Franz Rosenzweigs »Sprachdenken« im ›Stern der Erlösung‹ 43
spezifisch jüdischer Existenz. Um diese dreht sich erst der dritte Teil des
Sterns. Hier wendet sich Rosenzweig der Religion als sozialem System kollek-
tiver Existenz zu, in dem der »Alltag des Lebens« zum liturgischen All-Tag
geworden ist.
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als zeitliche Dimensionen der Exis-
tenz benennt Rosenzweig mit theologischen Begriffen: »Schöpfung«, »Offen-
barung«, »Erlösung«. Die Schöpfung ist bei Rosenzweig die Dimension des
Gegenständlich-Unpersönlichen, des Allgemeinen, des Gattungshaften. Dieses
Allgemeine ist aber nicht zeitlos, die Schöpfung ist »im Anfang«, es ist die
»Idee eines Seins von Anfang« (SdE 146). Die Schöpfung bezeichnet keine
»fertige«, zeitlose Welt, sondern eine »Welt[, die] wird. Die Welt ist noch
nicht fertig. Es ist noch Lachen und Weinen in ihr« (SdE 244).14 Die gegen-
ständlich-unpersönliche Welt stellt die Faktizität einer Vergangenheit dar,
deren »Schon-da-sein« (SdE 146) dem Subjekt vorangeht. Ihr »Schon-da-sein«
ist Anfang einer Erzählung.
»Bereschit«: »(Das Buch) Im Anfang« heißt das erste Buch Mose auf Heb-
räisch. Am Schöpfungsbericht und seiner literarischen Form, der historischen
Erzählung, verdeutlicht Rosenzweig die Dimension einer gegenständlichen
Vergangenheit als Dimension der Existenz. Die »Welt« erscheint als Welt
dinglicher Faktizität. Sie ist Welt von Gegenständen, über die finite Aussagen
gemacht werden können. Der Mensch erfährt sich in dieser Welt als Ding unter
Dingen. Sobald man aber die Welt als Welt »am Anfang« einer Erzählung
betrachtet, verändert sich der Charakter der finiten Aussagen, die über sie als
Welt von Gegenständen gemacht werden können: Die Aussagen verlieren
ihren zeitlosen Charakter. Rosenzweig erarbeitet im Kapitel »Schöpfung« des
zweiten Teils des Sterns eine Aussagenlogik, die er in einer syntaktisch-
grammatischen Analyse des biblischen Schöpfungsberichts demonstriert.
Der historischen »Erzählung« (SdE 258) als sprachlicher Zeitigungsform
von Vergangenheit stellt Rosenzweig den Dialog als sprachliche Zeitigungs-
form der Gegenwart zur Seite. »[W]as ist Erlösung sonst als dies, daß das Ich
zum Er Du sagen lernt?« (SdE 305) Bei Rosenzweig erscheint der Mensch als
»der notwendige Vermittler der Erlösung der Welt«.15 Wendet man dieses
Theologumenon existenzhermeneutisch, so bedeutet »Erlösung«, dass die
Dinghaftigkeit des »er« zur Singularität des »du« aufbricht. Rosenzweig korre-
liert dies mit der dialogischen Sprachform. Im Vergleich zur historischen Er-
zählung, die keine persönliche Perspektive kennt, werden im Dialog Sprecher-
positionen markiert. Auch diese Struktur demonstriert Rosenzweig an bibli-
schen Texten: am Dialog zwischen Gott und Adam (vgl. Gen 3,9ff.), am Dia-
14 Vgl. auch SdE 133: »In der göttlichen Schöpfung braucht die Welt nicht ein ›fertig‹
Geschaffenes ›geworden‹ zu sein, sondern vorerst noch weiter nichts als – Ge-
schöpf.«
15 Emmanuel Levinas: Zwischen zwei Welten (Der Weg von Franz Rosenzweig). In:
Ders.: Schwierige Freiheit. Versuch über das Judentum. Übers. von Eva Molden-
hauer. Frankfurt a. M.: Jüdischer Verlag 1992, S. 129–154, hier: S. 142.
44 Teil I
log zwischen Gott und Abraham (vgl. Gen 22,1ff.) sowie am Hohelied. Der
Dialog ist bei Rosenzweig die Sprachform der Offenbarung. Er ist aber auch in
der von Rosenzweig eigentlich der Erlösung zugeordneten Sprachform, dem
gemeinschaftlichen Gesang im Chor, noch enthalten, als »Strophe, die nur von
zwei einzelnen Stimmen gesungen wird« (SdE 262).
Im zweiten Teil des Sterns der Erlösung entfaltet Rosenzweig sein
»Sprachdenken« als ein Denken, das die Zeit, den Anderen und die Sprache
ernst nimmt als konstituierende Momente der »erfahrene[n] Wirklichkeit«.16
Hat die »erfahrene Wirklichkeit« ihr Sein in der Beziehung, so setzt dies für
Rosenzweig voneinander unabhängige Substanzen voraus, die miteinander in
Beziehung treten können und die der erste Teil des Sterns thematisiert: den
meta-physischen Gott, der sein Sein in sich hat und nicht logisch bewiesen
noch psychologisch gedeutet werden kann; die meta-logische Welt, die nicht
Gegenstand des Logos ist, sondern ihre Logik in sich trägt; und das meta-
ethische Selbst, das nicht Objekt der Ethik ist, sondern sein Ethos hat. Der
Weg, den Rosenzweigs Denken im Stern der Erlösung nimmt, lässt sich mit
Anna Elisabeth Bauer wie folgt beschreiben: »Zuerst wird ihm [Rosenzweig;
Anm. E. D.] der metaethische Mensch auffällig. Dieser Mensch, der Herr über
sein Ethos ist, sprengt das eine All des Idealismus in die drei Urphänomene
Gott, Welt, Mensch.«17 Um diese drei Elemente zu erfassen, greift Rosenzweig
auf die Sprache der »logisch-mathematischen Symbole« (SdE 29) zurück. Mit
Hilfe von logischen Operationen der Bejahung und Verneinung, die in Glei-
chungen formalisiert werden, versucht Rosenzweig den logischen Gang vom
Nichts zum Etwas, nämlich zum Etwas dieser Elemente, aufzuzeigen.18 Das
alte, logische Denken wird in Rosenzweigs Stern also nicht verworfen, son-
dern bildet die im ersten Teil behandelte, ›stumme‹ Voraussetzung des neuen,
sprechenden Denkens. Bleibt der erste Teil des Sterns diesseits der Schwelle
zur gesprochenen Sprache, so führt der dritte Teil in deren Jenseits: zur liturgi-
schen Sprache, die in der Geste kulminiert (vgl. Kap. II.5).
Rosenzweig läuft gegen den Idealismus Sturm, indem er die »logisch-
physische Einheit des Kosmos« (SdE 17), d. h. die »auf der Einheit des Logos
begründet[e] […] Einheit der Welt als einer Allheit« (SdE 12), zerfällt. Es
bleibt für ihn freilich die Perspektive, »das All, das wir zerstückeln mußten,
wiederzufinden« (SdE 24). Im zweiten Teil des Sterns gibt er das »Wir« als
»die aus dem Dual entwickelte Allheit« (SdE 264) zu denken, eine neue All-
heit, der die unbestimmbare Singularität des Anderen zugrunde liegt. Im drit-
ten Teil des Sterns verfährt Rosenzweig anders: Er analysiert Politik und Reli-
16 Rosenzweig, Das neue Denken (wie Anm. 1), S. 219.
17 Anna Elisabeth Bauer: Rosenzweigs Sprachdenken im »Stern der Erlösung« und in
seiner Korrespondenz mit Martin Buber zur Verdeutschung der Schrift. Frankfurt
a. M.: Lang 1992 (Europäische Hochschulschriften: Reihe 23, Theologie; 466),
S. 125.
18 Rosenzweigs mathematisches Denken lehnt sich an Hermann Cohens Erkenntnis-
theorie an (vgl. ebd., S. 122f.).
2 Franz Rosenzweigs »Sprachdenken« im ›Stern der Erlösung‹ 45
gion als soziale Systeme, als Formen kollektiver Existenz, und schreibt dem
Judentum die Rolle zu, »das Bild der wahren Gemeinschaft unversehrt zu
erhalten« (SdE 369). Die Spannung zwischen der Exemplarik, die dem Juden-
tum im Hinblick auf die »Allheit« im dritten Teil des Sterns zugeschrieben
wird, und der allererst werdenden »Allheit«, um die sich der zweite Teil dreht,
reflektiert die Spannung zwischen einer allgemeinen Hermeneutik der Existenz
und einer religiösen Existenzanalyse, d. h. einer Analyse religiöser Existenz.
Auf diese Spannung, die in sprachlicher Hinsicht mit der Frage verbunden ist,
wie sich die religiöse Sprache des Sterns zu einer allgemeinen Erfahrungsana-
lytik verhält bzw. die »alten jüdischen Worte«19 zu einem »System der Philo-
sophie«,20 werden wir sowohl in den unmittelbar folgenden Abschnitten als
auch in Kapitel II.5 zurückkommen.
»bAj-yKi ~yhil{a/ ar>Y:w« (»Wajar’ elohim ki-tov«): »Gott sah, daß es gut ist«. Buber
und Rosenzweig übersetzen den Nominalsatz »ki-tov«, der sechs Mal im
Schöpfungsbericht vorkommt (vgl. Gen 1,4; 1,10; 1,12; 1,18; 1,21; 1,25) je-
weils mit der Kopula »ist«.21 Den Nominalsatz »daom. bAj-hNEhiw« (»Wehinneh-tov
meod«), der am Schluss des Schöpfungsberichts steht, übersetzen sie jedoch in
der Vergangenheitsform: »Gott sah alles, was er gemacht hatte, und da, es war
sehr gut.« (Gen 1,31; Hervorhebung E. D.) In dieser eigenwilligen Überset-
zung zeigt sich meines Erachtens ein später Reflex von Rosenzweigs Überle-
gungen zum »Wortformenschatz der Schöpfung« (SdE 170), die er im Stern
der Erlösung anstellt. Die »Vergangenheitsform vollendet die Gegenständlich-
keit des Geschehens […]. ›Gut!‹ kann man sich ›zum Meisterlohn‹ nur nach
getaner Arbeit rufen« (SdE 145). Am Schluss des Schöpfungsberichts »rückt
unmerklich die Schöpfung ins Vergangene und macht sie so zur stillen Vor-
aussage des Wunders ihrer Erneuerung« (SdE 173). Die spätere deutsche
Übersetzung macht das Unmerkliche in der Übersetzung merklich.
Im Kapitel »Schöpfung« des zweiten Teils des Sterns der Erlösung bemüht
sich Rosenzweig, zu zeigen, dass die Schöpfung die Dimension einer »Gegen-
ständlichkeit […] des Seins« ausmacht, in der das Geschaffene »ohne Ansehn
der Person in die Dingwelt der Schöpfung gebannt« (SdE 169) bleibt. Die
»Gegenständlichkeit […] des Seins« (SdE 145) ist aber keine zeitlose, sondern
korrespondiert im Schöpfungsbericht mit der Zeitigung von Zeit als Vergan-
genheit – sie ist Welt eines kreatürlichen, zeitlichen Daseins. Im Rahmen einer
historischen Erzählung können die Aussagen über die Dinge der Welt nicht als
absolute Behauptungen über unveränderliche Wesenheiten verstanden werden.
Die Herrschaft des Allgemeinen über das Besondere, die Rosenzweig im
Schöpfungsbericht wiederfindet, ist zeitlich gebunden. Rosenzweig verzeitlicht
den Typus allgemeingültiger Aussagen, indem er behauptet, dass solche Aus-
sagen überhaupt nur im Hinblick auf die Vergangenheit möglich sind:
»[J]edesmal wird die Welt in die Vergangenheit projiziert, um erkennbar zu
werden« (SdE 146), und zwar um erkennbar zu werden in »Begriffen, mit
denen man die Wirklichkeit allgemein umfaßt« (SdE 146).22 Im Hebräischen
ist es eine der Funktionen des Nominalsatzes, allgemeingültige Aussagen im
Sinne von Klassifizierungsaussagen auszudrücken.23 Der Nominalsatz ist zeit-
lich nicht festgelegt: Man kann ihn zeitlos verstehen (als Wesensaussage), aber
auch zeitlich festlegen (als Beschreibung eines zeitlichen Zustands). Der No-
minalsatz »ki-tov«: »Wahrlich, (es ist) gut!« skandiert den Schöpfungsbericht.
Indem Rosenzweig und Buber den Nominalsatz sechsmal mit der Kopula »ist«
übersetzen (»daß es gut ist«), um sie beim siebten Mal durch die Kopula »war«
(»und da, es war sehr gut«) zu ersetzen, temporalisieren sie die Aussage. Kann
man »Gott sah, daß es gut ist« als zeitlose Wesensaussage verstehen, so wird
daraus durch die am Schluss erfolgende Wendung in die Vergangenheit eine
Aussage über das zeitliche Sein eines Zustandes.
Rosenzweigs Analyse der »Wortformen der Schöpfung« kommt einer weit
ausholenden Reflexion über Form und Funktionen des hebräischen Nominal-
satzes gleich, wie wir noch näher sehen werden. Diese strukturelle Bedeutung,
die der hebräische Nominalsatz für das Kapitel »Schöpfung« hat, ist, soweit
ich sehe, in der Forschung noch nicht thematisiert worden. Dabei zielt Rosen-
zweig im Kapitel »Schöpfung« des Sterns der Erlösung argumentativ darauf,
die Temporalisierung von Klassifizierungsaussagen im Rahmen einer Erzäh-
lung aufzuzeigen und so den Anschein ihrer vermeintlichen Zeitlosigkeit zu
zerstreuen. Die Herrschaft des Allgemeinen über das Besondere wird auf diese
Weise hermeneutisch gewendet. Das System von historisch verfügbaren und
möglichen Aussagen über die Welt – der Diskurs im Sinne von Foucault24 –
gehört zur Dimension einer faktischen Vergangenheit, die das Subjekt immer
schon vorfindet, durch die aber seine Gegenwart und Zukunft nicht determi-
niert werden.
Als »Stammwort« (SdE 141) der Schöpfung setzt Rosenzweig das Adjektiv
»gut« an, das prädikativ gebraucht wird als schlechthin bejahende Aussage:
»gut!« (vgl. SdE 168) Die »positive Bewertung« (SdE 141) stellt eine »Beja-
hung« (SdE 168) des »Schon-da-seins« der Welt dar. In existentieller Hinsicht
bedeutet diese ursprüngliche Bejahung »nicht, daß alle Aspekte der Welt not-
wendig als gut wahrgenommen werden, sondern daß die allgemeine Tatsache,
daß es etwas gibt, spontan als gut erlebt wird«,25 so Stéphane Mosès. Sprach-
theoretisch entwickelt Rosenzweig aus der ursprünglichen Bejahung die Logik
der bejahenden, finiten Aussage, die eine Behauptung über die Qualität (»das
So« (SdE 143)) und die Existenz (»das Daß« (SdE 143)) von Gegenständen
aufstellt. Finite Aussagen schaffen nicht nur eine Beziehung zwischen ihren
grammatischen Gliedern, sondern beinhalten eine Realitätsbehauptung – hier
stimmt Rosenzweigs Analyse mit der modernen Linguistik überein.26
24 Vgl. Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses. Übers. von Walter Seitter.
Frankfurt a. M.: Fischer-Taschenbuch-Verlag 1997 (Fischer; 10083: Fischer Wis-
senschaft). Die Diskursanalyse Foucaults kreist um die Frage, wie Wissen in einer
Gesellschaft produziert, eingesetzt, gewertet, verteilt und zugewiesen wird. Foucault
geht davon aus, dass der Diskurs durch interne wie externe Prozeduren kontrolliert
wird. Die internen Kontrollprozeduren wirken als Klassifikations-, Anordnungs- und
Verteilungsprinzipien, die die Dimension des Ereignisses und des Zufalls bändigen
sollen (vgl. ebd., S. 17ff.). Zu diesen internen Kontrollprozeduren gehört die Orga-
nisation des Wissens in »Disziplinen«. »Die Disziplin ist ein Kontrollprinzip der
Produktion des Diskurses. Sie setzt ihr Grenzen durch das Spiel einer Identität, wel-
che die Form einer permanenten Reaktualisierung der Regeln hat« (ebd., S. 25). Die
Disziplin bestimmt die Regeln, nach denen Aussagen konstruiert werden können; sie
konstituiert ein »anonymes System, das jedem zur Verfügung steht, der sich seiner
bedienen will oder kann, ohne daß sein Sinn oder sein Wert von seinem Erfinder ab-
hängen« (ebd., S. 22 [Unterstreichung E. D.]).
25 Stéphane Mosès: System und Offenbarung. Die Philosophie Franz Rosenzweigs.
München: Fink 1985, S. 79 (im Original kursiv).
26 Vgl. Émile Benveniste: Der Nominalsatz. In: Ders.: Probleme der allgemeinen
Sprachwissenschaft. Übers. von Wilhelm Bolle. München: List 1974, S. 169–188,
besonders S. 173. Robert Gibbs hat Rosenzweigs Aussagelogik mit John Austins
Sprechakttheorie in Verbindung gebracht. Rosenzweig habe Austins Selbstkorrektur
im Hinblick auf die starre Unterscheidung von konstativen und performativen Äuße-
rungen gewissermaßen schon vorweggenommen. War Austin am Beginn seiner be-
rühmten Vorlesung How to Do Things with Words noch davon ausgegangen, dass
wir mit konstativen Äußerungen nur etwas sagen, mit performativen Äußerungen
aber etwas tun, so hat er später eine differenziertere Logik entwickelt anhand der
Trias von »Lokution«, »Illokution«, »Perlokution«, die die frühere Dichotomie
»constative«/»performative« ab der achten Vorlesung ersetzt. Auch mit Aussagen
des Typs »constative« tun wir etwas: Wir behaupten die Existenz von etwas.
Rosenzweig habe bereits, so Gibbs, die performative Kraft von Aussagen erkannt:
48 Teil I
Aus dem Stammwort »gut« entwickelt Rosenzweig eine Lehre der »Wort-
formen« der Schöpfung, die er entlang von zwei Reihen anordnet. Die erste
Reihe gibt eine Substanzontologie wieder, die zweite eine Prozessontologie.27
Die erste ist an der Struktur der bejahenden Aussage im zeitlosen Nominalsatz
orientiert, die zweite legt den Nominalsatz zeitlich fest, indem sie ihn zum
Bestandteil einer Erzählung macht. Rosenzweig überführt die Substanzontolo-
gie in eine Prozessontologie, indem er den zeitlosen Nominalsatz temporali-
siert und so den Typus allgemeingültiger, überzeitlicher Aussagen verzeitlicht.
Die substanzontologische Reihe untersteht bei Rosenzweig nicht der Frage
nach dem »Was«, sondern nach dem »Wie«; das »Was«, das (einzelne) Ding,
kommt erst am Ende der Reihe zu stehen, als »Vertreter« seiner »Gattung« –
das »Dasein in seiner Allgemeinheit und allerfassenden Formhaftigkeit
bleibt der unmittelbar geschaffene Grund, der ›Anfang‹« (SdE 148). In der
Schematisierung der Wortarten, die die Reihe der Substanzontologie bilden,
erscheint also am Anfang das prädikativ gebrauchte Adjektiv, das Eigen-
schaftswort (»Die Welt ist lauter Eigenschaft, sie ist es von Anfang« (SdE
142)). Den Weg von der Eigenschaft zum Ding weist das »Zeigen«, das
Demonstrativpronomen.
Das ›Dies‹ zeigt auf das Ding bloß hin und drückt in diesem Zeigen aus, daß hier ein
›Etwas‹ zu suchen ist. […] Es ist noch fraglich, ›was‹ es sei. Erst der unbestimmte
Artikel gibt auf das Was die Antwort, daß es sich um ›einen‹ Vertreter der Gattung
handle, und erst der bestimmte Artikel drückt unter diesen großen Prozeß den Stem-
pel und bezeichnet ihn als vollzogen, ›das‹ Ding als erkannt (SdE 142).
In der Logik, die Rosenzweig hier beschreibt, wird eine Eigenschaft einem
Ding als Vertreter einer Gattung zugeschrieben, wobei die Eigenschaft als der
»Erstling der Schöpfung« gilt, demgegenüber das Ding eine »reine Abstrakti-
on« sei. Die Logik der empirischen Aussagen wird von Rosenzweig aus einer
Wahrnehmungssituation hergeleitet, in der die »Wirklichkeit der Eigenschaf-
ten« ein Anfängliches und »[E]infache[s]« darstellt,28 das über ein Zeigen
(»Dies«) auf ein »Etwas« mit »Dingen« verbunden wird, die als Gattungsenti-
täten verstanden werden. Im Prinzip ist diese Logik der Kategorienlehre von
Charles S. Peirce verwandt, insofern bei Peirce die »Erstheit« ganz allgemein
dasjenige meint, »dessen Sein einfach in sich selbst besteht, das weder auf
»For Rosenzweig the performative force of statements will appear as the difference
between the indicative mood of speech and the unspeakable statements of logic.
»›All ›P‹ is ›X‹‹ is not speech according to Rosenzweig, but ›the box is big‹ is, pre-
cisely because when I say ›the box is big‹ I am asserting the existence of the box and
the world that contains it« (Robert Gibbs: Correlations in Rosenzweig and Levinas.
Princeton [NJ]: Princeton Univ. Press 1992, S. 61).
27 Vgl. ebd., S. 68f.
28 Vgl. SdE 148: »[D]ie Welt ist ganz ursprünglich die Fülle des Dies, die in ihrer
ständig übersprudelnden Neuheit nur durch das reine ungeformte Eigenschaftswort
wie ›blau‹ oder ›kalt‹ ausgesprochen ist.«
2 Franz Rosenzweigs »Sprachdenken« im ›Stern der Erlösung‹ 49
etwas verweist, noch hinter etwas anderem steht«29 – also die Kategorie des
Unmittelbaren, die bei Rosenzweig von den »Eigenschaften« ausgefüllt wird.
Die »Zweitheit« dagegen ist »Sein in Bezug auf ein Zweites«, die Kategorie
des Anderen, des Faktischen, in Raum und Zeit singulär Existierenden – bei
Rosenzweig das Zeigen auf »dies« noch unbestimmte »Etwas«. »Drittheit«
schließlich stellt die Beziehung zwischen einem Ersten und einem Zweiten her
als Kategorie des Allgemeinen, des Gesetzmäßigen, der Gewohnheit, der
Kommunikation und des Zeichenhaften schlechthin – bei Rosenzweig sowohl
die Verbindung von Eigenschaft und Ding als seinem »Träger« als auch die
Ausdeutung des »Dinges« als Wesen einer Gattung.30 Ein – frei erfundenes –
Beispiel wäre: »Grün / dies / ein / der / Frosch«.
Die Wortformen der substanzontologischen Reihe fügen sich also bei Ro-
senzweig wie folgt aneinander: Adjektiv / Demonstrativpronomen / unbe-
stimmter Artikel / bestimmter Artikel / Nomen. Es ist eine Reihe, die vom
Allgemeinen ins Besondere geht, wobei zwei Formen des Allgemeinen von-
einander zu unterscheiden wären, die »allerfassende Formhaftigkeit« der Ei-
genschaftsworte31 und die Allgemeinheit der Gattung. Das Besondere wieder-
um ist kein »singulares Individuum«, das für Rosenzweig im »Eigennamen«
bezeichnet wird, sondern es ist Individuum einer Gattung.
29 Charles Sanders Peirce, zitiert nach: Winfried Nöth: Handbuch der Semiotik. Stutt-
gart: Metzler 1985, S. 35.
30 Gérard Deledalle gibt Peirces Kategorien wie folgt wieder: »Zusammenfassend sind
die drei Kategorien also Erstheit, welche reine Möglichkeit ist [da sich nichts über
sie aussagen läßt; Anm. E. D.], Zweitheit, die ein singuläres oder einmaliges Existie-
rendes ist […], und Drittheit, welche Vermittlung als formale Relation ist« (ders.:
Semiotik als Philosophie. In: Uwe Wirth [Hg.]: Die Welt als Zeichen und Hypothe-
se. Perspektiven des semiotischen Pragmatismus von Charles Sanders Peirce. Frank-
furt a. M.: Suhrkamp 2000 [Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft; 1479], S. 30–43,
hier: S. 33).
31 Interessanterweise berührt sich Rosenzweigs Substanzontologie in der Logik der
»Eigenschaften«, aus denen die Welt »am Anfang« hervorgeht, mit derjenigen Spi-
nozas. Denn die »Eigenschaften«, die »einzeln, unvergleichlich« sind, stimmen mit
Spinozas Attributen überein, den Seinsformen, in denen sich die eine Substanz
(Gott) ausdrückt. Attribute (Spinoza) beschreiben wie die »einfachen Eigenschaf-
ten« (Rosenzweig) eine rein qualitative Vielfalt, eine »rein qualitative, quidditive,
formale Unterscheidung« der Substanz (Gott) (vgl. Gilles Deleuze: Spinoza und das
Problem des Ausdrucks in der Philosophie. Übers. von Ulrich Johannes Schneider.
München: Fink 1993, S. 38). Die quantitative Unterscheidung liegt demgegenüber
nicht auf der Ebene der Substanz, sondern auf der Ebene der »Modi« (Spinoza), die
in einem Attribut enthalten sind, bzw. auf der Ebene der »Dinge« (Rosenzweig). Der
Vergleich zwischen Spinozas und Rosenzweigs Substanzontoloie trägt aber noch
weiter: Bei Rosenzweig sind die »Dinge« wie bei Spinoza die »Modi« keine selb-
ständigen Substanzen, sondern sie existieren nur in Relation zueinander. »Das Ding
besitzt keine Standfestigkeit, solange es alleinsteht. Seiner Einzelheit, seiner Indivi-
dualität ist es nur gewiß in der Vielheit der Dinge. […] Das Ding hat auch kein be-
stimmtes eigenes Wesen, es ist nicht in sich, es ist nur in seinen Beziehungen […],
die es auf seine Gattung hat« (SdE 148).
50 Teil I
Erst die Vielheit gibt allen ihren [der Gattung; Anm. E. D.] Gliedern das Recht, sich
als Individuen zu fühlen; sind sie es nicht an sich, wie das im Eigennamen bezeich-
nete singulare Individuum, so doch gegenüber der Vielheit (SdE 143).
Anders verhalte es sich, so Benveniste, bei dem Verbalsatz mit einer Form von
»sein«, auf den der Nominalsatz in den indogermanischen Sprachen nicht
zurückzuführen sei. Der Verbalsatz mit »sein« beschreibe eine zeitlich be-
stimmte Situation und stelle keine zeitenlose Behauptung auf. Daher gehöre
der Satz mit »sein« zum Register der Erzählung und nicht zu dem Register
allgemeingültiger Aussagen wie der Nominalsatz – diese These entwickelt
Benveniste anhand einer sprachlichen Analyse Homers.33 An dieser Stelle ist
nun zwischen dem Hebräischen und dem Griechischen zu unterscheiden, denn
im Hebräischen ist der Nominalsatz nicht per se »zeitenlos, unpersönlich, nicht
modal« – hier entscheidet alles der Kontext. Der Nominalsatz kann eine Klas-
sifizierung als zeitlose allgemeingültige Aussage ausdrücken wie im Griechi-
schen (und anderen indogermanischen Sprachen), aber auch eine zeitlich durch
den Kontext fixierbare Aussage enthalten. Rosenzweig verzeitlicht die zeitlich
nicht festgelegten Aussagen, die sich entlang der substanzlogischen Reihe der
Wortformen als zeitlose Aussagen konstruieren lassen, indem er mit der pro-
zessontologischen Reihe ins Register der Erzählung wechselt. Die zeitlosen,
allgemeingültigen Nominalsätze, die die substanzontologische Reihe vorder-
hand produziert, werden durch den Kontext der historischen Erzählung, in die
sie Rosenzweig mit der prozessontologischen Reihe stellt, temporal und modal
festgelegt – nur die persönliche Perspektivierung lässt Rosenzweig mit Be-
dacht aus.
»Die Kopula ›sein‹ steckt in jeder bejahten Eigenschaft« (SdE 144), be-
hauptet Rosenzweig – anders als Benveniste im Hinblick auf das Griechische.
»›Gut!‹ bedeutet: ›es ist gut‹.« Mit der Kopula »sein« eröffnet Rosenzweig die
Dimension der Zeit, um die es in den Wortformen entlang der prozessontologi-
schen Reihe geht. Wieder vom Adjektiv »gut« ausgehend, bildet das Partizip
als Form, »die zwischen Adjektivum und Verbum […] mitteninne steht«
(SdE 144), den Auftakt der prozessontologischen Reihe, die über den Infini-
tiv, der das Verb – die »Bewegung« – überhaupt bejahe, hin zur dritten Per-
son34 im Indikativ der Vergangenheit führt: »Objektiv, gegenständlich, in
dinghafter Ruhe, ›ewig still‹ – ›steht die Vergangenheit‹« (SdE 145). Die
Reihe geht also wie folgt: Adjektiv / Partizip (Kopula) / Infinitiv / 3. Person /
Vergangenheit (Indikativ). Die »Gegenständlichkeit des Seins« ist nicht
jenseits der Zeit, sondern ihr entspricht eine Zeitform (Vergangenheit) und ein
Modus (Indikativ):
Unter den Zeiten muß eine sich als spezifisch objektive darbieten. Objektiv, gegen-
ständlich, in dinghafter Ruhe, ›ewig still‹ – ›steht die Vergangenheit‹. Die Vergan-
genheitsform vollendet die Gegenständlichkeit des Geschehens, wie die im Artikel
bestimmte Dinglichkeit die des Seins (SdE 145).
34 »Die Dinge sind ja vermöge ihres Durchgangs durch das Pronomen, der ihnen Ding-
lichkeit gründet, alle von Haus aus in der dritten Person. Und das Verbum drängt
vermöge seines Durchgangs durch die Vorgangsform, sowie auch durch seine Be-
ziehung auf das Partizip, das ja selber einen Teil des Weges vom Adjektiv zum
Ding, nämlich das Stück bis zum unbestimmten Artikel, schon zurückgelegt hat,
ebenfalls von sich aus schon zur dritten Person; sie ist seine ›objektivste‹« (SdE
145).
35 Darauf hat als erster Mosès hingewiesen (vgl. Mosès, System und Offenbarung [wie
Anm. 25], S. 72, 95).
36 Vgl. Émile Benveniste: Die Tempusbeziehungen im französischen Verb. In: Ders.:
Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft. Übers. von Wilhelm Bolle. Mün-
chen: List 1974, S. 264–278 (zur Unterscheidung zwischen »histoire« und »dis-
cours« besonders S. 269). Es bedarf kaum des Kommentars, dass Benvenistes »dis-
cours« und Foucaults Diskurs gänzlich unterschiedliche Phänomene bezeichnen.
52 Teil I
Wenn der menschliche Aspekt und Anteil der messianischen Erlösung darin
liegt, »daß das Ich zum Er Du sagen lernt« (SdE 305), dann hat Rosenzweig in
dem Schöpfungskapitel das »Er« expliziert. Das »Er« ist der Andere »von der
Welt her«, von der Welt der allgemeinen Formen, Konventionen und Gesetz-
mäßigkeiten, die Rosenzweig mit einer bestimmten sprachlichen Zeitigungs-
form von Zeit, der Erzählung einer Vergangenheit ohne hervorgehobene Spre-
cherinstanzen oder Fokalisierung auf eine Figur (Benvenistes »histoire«), ver-
bindet. Das Ge-setzte/Er-zählte ist nur gültig in Bezug auf eine abgeschlossene
Welt, die gleichbedeutend ist mit der abgeschlossenen, unpersönlichen Zeit der
Vergangenheit, wie sie die Erzählung als »histoire« zeitigt. In dem Kapitel
»Offenbarung« thematisiert Rosenzweig nun die sprachlichen Deiktika »ich«,
»du« und »hier«. Die Deiktika markieren im Aussageakt nicht nur Sprecherpo-
sitionen. Durch die Indikatoren ich/du; hier/dort; dieser/jener etc. bezieht sich
die Sprache auf die Präsenz des Aussageaktes selbst, auf ihre eigene Realisie-
rung im Aussageakt.37 Im Fokus steht das Ereignis des Sprechens als solches –
diesseits der Bedeutung –, in dem sich Gegenwart als Ereignis zeitigt.
Hatte das Kapitel »Schöpfung« die Logik von Aussagen, insbesondere von
Klassifizierungsaussagen, untersucht und ihnen den Anschein der Zeitlosigkeit
genommen, indem sie als Teil einer historischen Erzählung lesbar wurden, so
konfrontiert das Kapitel »Offenbarung« die Aussagenlogik mit dem Aussage-
akt, dem Ereignis der Gegenwart, und überwindet damit auch erst die Anony-
mität. Denn trotz der Temporalisierung bleibt die Aussagenlogik im Kapitel
»Schöpfung« noch dem verhaftet, was man mit Foucault »Diskurs« nennen
kann, ein bestimmten Gesetzen und Regeln gehorchendes System von histo-
risch möglichen Aussagen über die Welt, »das jedem zur Verfügung steht, der
sich seiner bedienen will«,38 ohne dass der je konkrete Aussageakt ins Gewicht
fiele oder die Spezifizität des jeweiligen Sprechers markiert würde. Sobald
diese Aussagen jedoch Teil eines Aussageaktes werden, der sich durch den
Personen-Indikator »ich« bzw. »du« (und die mit ihnen verwandten Indikato-
ren »hier« und »dort« etc.) auf die jedes Mal diskrete und einzelne Handlung
seiner eigenen Realisierung bezieht, kontrolliert das geregelte System der
Aussagen nicht mehr die Dimension des Ereignisses, sondern öffnet sich ihr.
37 Mosès hat wohl beiläufig in einer Fußnote bemerkt, dass Rosenzweigs Untersu-
chung der Personalpronomen Ähnlichkeit mit der Analyse Benvenistes hat, jedoch
nur im Hinblick auf die Logik der Sprecherpositionen »ich« und »du« (vgl. Mosès,
System und Offenbarung [wie Anm. 25], S. 95, Fn. 7). Dass die Indikatoren das Er-
eignis des Sprechens selbst reflektieren, berücksichtigt Mosès nicht. Vgl. Émile
Benveniste: Die Natur der Pronomen. In: Ders.: Probleme der allgemeinen Sprach-
wissenschaft. Übers. von Wilhelm Bolle. München: List 1974 (List-Taschenbücher
der Wissenschaft; 1428), S. 279–286, besonders S. 282.
38 Foucault, Die Ordnung des Diskurses (wie Anm. 24), S. 22.
2 Franz Rosenzweigs »Sprachdenken« im ›Stern der Erlösung‹ 53
Denn die Ausübung der Sprache ist ein jedes Mal einzigartiger Akt und das
Zeichen »ich« verweist immer nur auf diese einzelne, diskrete Instanz seiner
aktualen Rede.
Dieses Zeichen ist also mit der Ausübung der Rede verbunden und erklärt den Spre-
cher als solchen. Diese Eigenschaft ist es, die die individuelle Rede begründet, in der
jeder Sprecher auf seine Verantwortung die ganze Sprache übernimmt.39
Im Zentrum des Kapitels »Offenbarung« steht die Szene, in der ein »ich«,
dessen es für die Erlösung, in der »das Ich zum Er Du sagen lernt« (SdE 305)
bedarf, überhaupt erst begründet wird. Rosenzweig denkt Subjektivität ganz
vom Ereignis des Appells an den Eigennamen.40 Das Subjekt im emphatischen
Sinn ist bei Rosenzweig Effekt eines fragenden Anrufes (»Wo bist du?«) und
nicht Effekt eines Diskurses (als Foucault’sches Aussagesystem),41 für den das
Subjekt durch die Belegung mit einem Eigennamen lediglich (a)dressierbar
39 Benveniste, Die Natur der Pronomen (wie Anm. 37), S. 284 (Unterstreichung E. D.).
Benveniste denkt in dieser Formulierung Ereignis und Wiederholung so zusammen,
dass der einzelne Sprecher verantwortlich für die jeweilig von ihm vollzogene Wie-
derholung ist, welche die Sprache als Zeichensystem immer – auch in der je einzig-
artigen Ausübung – darstellt.
40 Gottes Anrufung an Abraham wird von Rosenzweig als Beispiel herangezogen. Vgl.
Gen 22,1: »Und es war nach diesen Begebenheiten, und es prüfte Gott den Abraham
und sprach zu ihm: Abraham! Und er sprach. Hier bin ich.«
41 So z. B. Judith Butler, wenn sie die »Anrufung« kurzerhand zum »Instrument und
Mechanismus von Diskursen« erklärt, »deren Wirksamkeit sich nicht auf den Au-
genblick der Äußerung reduzieren läßt« (Judith Butler: Haß spricht. Zur Politik des
Performativen. Übers. von Katharina Menke. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2006
[Edition Suhrkamp; 2414], S. 52). Gleichwohl ist auch bei Butler das Subjekt nicht
nur Diskurseffekt, sondern das Subjekt des Aussagens und das ausgesagte Subjekt
bleiben inkommensurabel, insofern »[d]ie Zeit des Diskurses nicht die Zeit des Sub-
jekts« (ebd., S. 51) ist. Historische Abhängigkeit vom Diskurs und ontologische (=
unhintergehbare) Abhängigkeit von der Anrede durch den Anderen werden von ihr,
der Lacan’schen Lehre gemäß, an anderer Stelle auch auf unterschiedlichen Ebenen
angesiedelt. Die ontologische Abhängigkeit von der Anrede durch den Anderen,
»um zu sein« (ebd., S. 49), der Mangel des Subjekts, das sein Sein nicht aus sich hat,
gibt bei Lacan diesseits aller historisch-sozialen Determination, die Nichtüberein-
stimmung des Subjekts mit sich selbst zu denken. Was Butler an diesen Stellen mit
Lacan negativ, vor dem Horizont der Endlichkeit formuliert – unsere Endlichkeit
lässt uns »als gleichsam ›angerufene Wesen‹ von der Anrede des Anderen ab-
häng[en], um zu sein« (ebd., S. 44) –, beschreibt Rosenzweig positiv, von der göttli-
chen Anrufung ausgehend. Die historisch-soziale Determination wird bei Rosen-
zweig durch den Anruf an den unvertretbaren Einzelnen relativiert, bei Lacan durch
den ontologischen Mangel, der ein nie zu stillendes Begehren zur Folge hat. Butler
nimmt die Inkongruenz von Subjekt und Diskurs wiederum als Ausgangspunkt für
ihr Konzept der ›abgeleiteten Handlungsmacht‹. Der Diskurs geht zwar dem Subjekt
voraus, das Subjekt soll jedoch die Möglichkeit haben, den Diskurs durch ›fehlan-
eignende‹ Wiederholung zu verschieben (vgl. ebd., S. 61ff.).
54 Teil I
42 Vgl. ebd., S. 48. Die »Einzigartigkeit«, die »im allgemeinen Verständnis« der Ei-
genname verleiht, wird bei Butler allerdings nicht völlig durchgestrichen. Durch den
Eigennamen wird das Subjekt zwar adressierbar für den Diskurs. Der Eigenname
markiert aber zugleich die »räumliche und zeitliche Besonderheit« des endlichen
Subjekts, dessen Zeit eben nicht mit der Zeit des Diskurses zusammenfällt (vgl.
ebd.).
43 »›Wo bist du?‹ Es ist nichts als die Frage nach dem Du. Nicht nach dem Wesen des
Du; […] sondern zunächst nur nach seinem Wo« (SdE 195).
44 Rosenzweig teilt wohl mit Kierkegaard die (theologische) Intuition, daß der Mensch
sich als Einzelner in Beziehung auf das Absolute, Gott, gewinnt. Kierkegaard setzt
dieses wesentliche Einzelnsein in der gültigen »ethisch-religiösen« Beziehung zu ei-
nem anderen, einem menschlichen Du voraus, insofern es »ethisch-religiöses« Han-
deln ermöglicht, das sich dem »einzelnen Menschen« und nicht der »Menge« zu-
wendet (vgl. Sören Kierkegaard: Der Einzelne. In: Ders.: Die Schriften über sich
selbst. Übers. von Emanuel Hirsch. Düsseldorf: Diederichs 1951, S. 96–120, S. 105:
»Und jeden einzelnen Menschen lieben, das ist die Wahrheit und die Gottesfurcht
und ›Nächstenliebe‹; aber ›Menge‹, ethisch-religiös als Instanz in Beziehung auf
Wahrheit anerkennen, heißt Gott leugnen und kann darum unmöglich Nächstenliebe
sein.«). Rosenzweig sieht bei Kierkegaard allerdings die Gefahr gegeben, dass sich
der Mensch in seine Innerlichkeit mit Gott verschließt und betont, dass beide Bezie-
hungen entscheidend für den »ganz erschlossenen Menschen« (SdE 233) seien: Als
»absolute[r] Singular« (ebd., 227) gewinnt er sich aus seiner Beziehung auf das Ab-
solute, aber erst durch die Beziehung auf einen anderen Menschen realisiert er sich
als paradoxer Charakter, und zwar als Charakter, der keine »Dauerform« (ebd., 241)
darstellt (wie der antike Daimon in Rosenzweigs Konzeption), sondern »jeden Au-
genblick erlischt und jeden Augenblick wieder frisch hervorbricht« (ebd., 237).
Wird das Offenbarungserlebnis nicht auf die Welt – die Schöpfung – zurückbezo-
gen, sondern für sich behalten, indem sich »Gottes Liebling« (ebd., 231) der Welt
2 Franz Rosenzweigs »Sprachdenken« im ›Stern der Erlösung‹ 55
anischen Ethik wird dieser diskontinuierliche, auf den zu-nächst Anderen ge-
richtete Charakter sein. Die messianische Intention richtet sich auf den zu-
nächst Anderen, denn aus dem Dualen dieser Beziehung erwächst die – stets
im Kommen begriffene – messianische Gemeinschaft.45
Bei dem »Individuum«, dem »singulären Einzelnen« und dem »diskontinu-
ierlichen Charakter« handelt es sich um Auslegungen des Menschen im Hin-
blick auf die Zeitdimensionen Vergangenheit (Schöpfung), Gegenwart (Offen-
barung) und Zukunft (Erlösung). Das »ereignete Ereignis« (SdE 178) der Ge-
genwart ist dabei zentral. Einerseits gibt Rosenzweig die Anrufung als absolu-
tes, überraschendes, unberechenbares und unwiederholbares Ereignis zu den-
ken, als eine »reine […] Gegenwart« (SdE 197), die »vorbereitungslos« (SdE
197) – ohne Vergangenheit – und »vorbedachtlos« (SdE 197) – ohne Intention
auf die Zukunft ist. Das »ereignete Ereignis« der Offenbarung im engsten
Sinne besteht bei Rosenzweig nur aus Namensanrufung, der Antwort »Hier bin
ich« (»ynINEhi«, »hinneni«: »siehe, hier (bin) ich«) und dem Liebesgebot des
»Schema Israel«: »›Du sollst lieben den Ewigen, deinen Gott, von ganzem Her-
zen und von ganzer Seele und aus allem Vermögen‹« (SdE 196; vgl. Dtn 6,5).
Alle drei Momente verweisen auf eine »reine Gegenwart« – auch das Liebes-
gebot weiß, so Rosenzweig, »nur vom Augenblick; es erwartet den Erfolg
noch im Augenblick seines Lautwerdens« (SdE 197). Andererseits entwickelt
Rosenzweig aus der Szene der Anrufung eine Phänomenologie des jüdischen
Glaubens und verbindet so das »ereignete Ereignis« der Gegenwart mit der
Geschichtlichkeit der jüdischen Offenbarung. Die Offenbarung erschöpft sich
nicht in der »reinen Gegenwart« – sie soll »Orientierung« (SdE 208) in der
Zeit geben. Die Spannung, die sich hier abzeichnet, reflektiert ein fundamenta-
les religionsphilosophisches Problem: In welchem Verhältnis stehen persönli-
che und historische Offenbarung? Wie kann ein je und je absolutes, überra-
schendes Ereignis, das sich gerade durch eine radikale Ungeschichtlichkeit,
durch Unverbundenheit mit allem Vorangehenden und allem Folgenden aus-
zeichnet, mit Geschichtlichkeit verbunden werden?
Ich möchte diese Frage erst einmal zurückstellen, um zuvor auf Rosen-
zweigs Theorie der Anrufung genauer einzugehen. Rosenzweig greift auf
Gen 3,9 und Gen 22,1 zurück, um die Anrufung bei dem Eigennamen zu ana-
lysieren. Mit der Frage nach dem Ort des »Du« lässt Gott den Dialog zwischen
Gott und Mensch beginnen. Gott fragt Adam, nachdem dieser von der verbote-
nen Frucht gegessen hat: »Wo bist du?« (Gen 3,9) Adam aber antwortet nicht
mit:
Ich bins, ›Ich habe es getan‹ […], sondern statt des Ich kommt aus dem antworten-
den Munde ein Er-Sie-Es: der Mensch vergegenständlicht sich selbst zum ›Manne‹:
das Weib, und zwar dieses ganz vergegenständlicht zum Weib, das dem Menschen
›gegeben‹ ist, hat es getan, und dieses wirft die Schuld auf das letzte Es: die Schlan-
ge wars (SdE 195).
Die Szene des Sündenfalls gibt die Anrufungsszene als Begründung von Ethik
überhaupt zu lesen. Denn in der Ver-Antwortung soll sich ein Ich entdecken
(»Ich bins«), das sich Handlung zuschreiben kann (»Ich habe es getan«). Adam
freilich weist die Verantwortung von sich. Seine Antworten »sind keine Ant-
worten«, keine Ver-Antwortung des Ich gegenüber dem Du Gottes, sondern
Ver-Gegenständlichungen, Erklärungen/Erzählungen, die auf den ihn entlas-
tenden Sachzusammenhang (»Er-Sie-Es«) seiner Tat verweisen.
Das Ich, das sich in der Verantwortung gegenüber dem Unendlichen konsti-
tuiert, ist kein autonomes Ich und trotzdem eines, das sich Handlung zuschrei-
ben können soll. Der Sachzusammenhang seiner Tat enthebt Adam nicht
seiner Verantwortung, auch wenn Rosenzweig sich des Paradoxes, des »in
allem Handeln Unlösbare[n]«, bewusst ist, dass »der Einzelne nicht gut sein
kann, ohne daß alle gut sind – und daß es doch andrerseits in der Welt, nach
dem großen Wort der preußischen Königin, nur gut werden kann durch die
Guten« (SdE 254f.). Auch wenn meine Tat in einem Sachzusammenhang
steht, der sie erklärt, so ist das Ich nicht nur ein Kreuzungspunkt von es de-
terminierenden Kausalketten/Diskurslinien, sondern an seinem Ort unver-
tretbar. Keiner kann hier und jetzt für mich/an meiner Stelle antworten.46
Das Ich ist nicht verantwortlich für die Welt, die ihm zuvorkommt, sich durch
ihr »Schon-da-sein« auszeichnet; aber die Welt entlastet es auch nicht, denn an
dem Ort, wo es sich befindet, ist in dem Augenblick niemand anderes. Es hat
kein »Alibi« in seiner Existenz, wie Michail Bachtin es etwas später formulie-
ren wird.47
Adam antwortet auf diese Frage ausweichend, anders Abraham. Bereits die
Eröffnung unterscheidet die beiden Dialoge zwischen Gott und Mensch. Statt
»Wo bist du?« ruft Gott Abraham unmittelbar bei seinem Namen: »Abraham!«
(Gen 22,1)
Jeder Ausweg wird dem Menschen abgeschnitten, indem an Stelle seines Allge-
meinbegriffes, der sich hinter das Weib und hinter die Schlange flüchten kann, das
Unfliehbare angerufen wird, das schlechthin Besondere, Begriffslose […]: der Ei-
genname. […] Der Mensch, der auf Gottes ›Wo bist du?‹ noch […] geschwiegen
hatte, antwortet nun, bei seinem Namen, doppelt, in höchster, unüberhörbarer Be-
stimmung gerufen, ganz aufgetan […]: ›Hier bin ich‹ (SdE 196).
Rosenzweig verficht eine starke Theorie des Eigennamens, ohne den Eigen-
namen zu essentialisieren.48 Vielmehr profiliert er ihn in sprachpragmatischer
Absicht. Der Eigenname ruft den »Einzelnen schlechtweg« (SdE 207) ins
Sein.49 Dieser fällt aber nicht mit dem autonomen Individuum zusammen; die
Anrufungsszene verdeutlicht, dass »Ich« erst dann in Erscheinung tritt, wenn
es als »Du« angerufen wird. Das »Ich« ist also auch bei Rosenzweig abhängig
von einem Außen; es ist nur »Ich«, weil es ursprünglicher für einen anderen
ein »Du« ist.50
Das Ich, das sich in der göttlichen Anrufung entdeckt, ist semantisch unbe-
stimmt, »ganz empfangend, noch nur aufgetan, noch leer, ohne Inhalt, ohne
Wesen, reine Bereitschaft« (SdE 196) für das Hören des Liebesgebotes, das
göttliche Gebot »Liebe mich«, das Rosenzweig nach Dtn 6,5 – Bestandteil des
»Schema Israel« (»Höre Israel«) – wiedergibt: »›Du sollst lieben den Ewigen,
deinen Gott, von ganzem Herzen und von ganzer Seele und aus allem Vermö-
gen‹« (SdE 196). Der Imperativ fordert nicht nur Liebe, sondern ist, so Rosen-
zweig weiter, der unmittelbare Ausdruck des Liebenden.
Die Liebe des Liebenden hat gar kein anderes Wort sich zu äußern als das Gebot.
Alles andere ist schon nicht mehr unmittelbare Äußerung, sondern Erklärung – Lie-
bes-erklärung. […] Es [das Gebot; Anm. E. D.] ist, während der Indikativ die ganze
umständliche Begründung der Gegenständlichkeit im Rücken hat und daher am
reinsten in der Vergangenheitsform erscheint, ganz reine, vorbereitungslose Gegen-
wart (SdE 197).
48 Vgl. auch das dritte Kapitel von Das Büchlein vom gesunden und kranken Men-
schenverstand, das Rosenzweig 1921 geschrieben hat, ohne es zur Veröffentlichung
freizugeben (die Erstveröffentlichung erfolgte 1953 auf Englisch). Hier schreibt Ro-
senzweig bündig: »Der Name ist nicht das ›Wesen‹« (Franz Rosenzweig: Das Büch-
lein vom gesunden und kranken Menschenverstand. Frankfurt a. M.: Jüdischer Ver-
lag 1992, S. 43). Vgl. zu Rosenzweigs Namenstheorie im Büchlein auch: Elke Dub-
bels: »Name ist nicht […] Schall und Rauch, sondern Wort und Feuer«. Sprachtheo-
rie als Namenstheorie bei Franz Rosenzweig und Gershom Scholem. In: Tatjana
Petzer, Sylvia Sasse, Franziska Thun-Hohenstein und Sandro Zanetti (Hg.): Namen.
Benennung – Verehrung – Wirkung. Positionen der europäischen Moderne. Berlin:
Kulturverlag Kadmos 2009, S. 185–208.
49 Vgl. auch SdE S. 208: »[I]m Eigennamen ist die Bresche in die starre Mauer der
Dinghaftigkeit gelegt. Was einen eigenen Namen hat, kann nicht mehr Ding, nicht
mehr jedermanns Sache sein; er ist unfähig, restlos in die Gattung einzugehen, denn
es gibt keine Gattung, der es zugehörte, es ist seine eigene Gattung. Es hat auch
nicht mehr seinen Ort in der Welt, seinen Augenblick im Geschehen, sondern es
trägt sein Hier und Jetzt mit sich herum; wo es ist, ist ein Mittelpunkt, und wo es den
Mund öffnet, ist ein Anfang.«
50 Vgl. Mosès, System und Offenbarung (wie Anm. 25), S. 93.
58 Teil I
Anders als das Gesetz, das »mit Zeiten […], mit Zukunft, mit Dauer rechnet«,
weiß »das Gebot […] nur vom Augenblick; es erwartet den Erfolg noch im
Augenblick seines Lautwerdens« (SdE 197). Rosenzweigs Unterscheidung
zwischen Gesetz und Gebot verläuft zwischen Allgemeinheit und Dauer auf
der einen Seite, Singularität und Augenblicklichkeit auf der anderen Seite.51
Diese Unterscheidung ist konstitutiv für Rosenzweigs messianische Ethik, die
im nächsten Abschnitt noch genauer zu behandeln sein wird. Insofern die
»unmittelbare Gegenwärtigkeit« des Liebesgebots als des »einzige[n] reine[n]
Gebot[s]« (SdE 197) allen Gesetzen voransteht, wird das »imperativische
Heute des Gebots« (SdE 198) zum Maßstab des Gesetzes.52 Dadurch wird das
Gesetz dem singulären Heute, dem Hier und Jetzt des konkreten Einzelnen
untergeordnet. Diese ethische Pointe tritt am Ende des Offenbarungskapitels,
im Übergang zum Erlösungskapitel, deutlich hervor, wo das Liebesgebot nach
außen, zum Gebot der Nächstenliebe gewendet wird: »Wie er dich liebt, so
liebe Du« (SdE 228). Im Kern kreist Rosenzweigs messianische Ethik um ein
semantisch unbestimmbares »Meta-Gesetz«, um eine paradoxe Pragmatik, die
die Intention auf das Nicht-Intendierbare – die Intention auf den je singulären,
51 Mendes-Flohr macht darauf aufmerksam, dass Rosenzweig mit der Entgegensetzung
von Gebot und Gesetz ein Thema aus Kants Schrift Die Religion innerhalb der
Grenzen der bloßen Vernunft aufgreift (vgl. Paul Mendes-Flohr: Rosenzweig and
Kant. Two Views of Ritual and Religion. In: Ders.: Divided Passions. Jewish Intel-
lectuals and the Experience of Modernity. Detroit: Wayne State Univ. Press 1991
[The culture of Jewish modernity], S. 283–310, besonders S. 284–289). Mit dem
göttlichen Gebot verbindet Kant die moralischen Pflichten, die zwar im kategori-
schen Imperativ und damit in der Autonomie des Menschen gründen, sich aber sub-
jektiv als göttliche Gebote interpretieren lassen (vgl. Immanuel Kant: Die Religion
innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Hg. von Bettina Stangneth. Hamburg:
Meiner 2003, S. 206). Mendes-Flohr meint, dass Kants Gebrauch des Terminus Ge-
setz oft eher die Bedeutung von einer heteronom auferlegten Vorschrift ohne morali-
schen Wert habe. Im zweiten Teil des Sterns wendet Rosenzweig die Unterschei-
dung von Gesetz und Gebot gegen Kant selbst, dem er abstrakten Formalismus vor-
wirft, insofern das moralische Gesetz, das dem kategorischen Imperativ und der
»Forderung der Autonomie« (SdE 239) entspricht, inhaltlich leer bleiben müsse.
»Im Gegensatz zum notwendigerweise rein formalen und daher inhaltlich nicht bloß
zwei-, nein unbegrenzt vieldeutigen moralischen Gesetz braucht das inhaltlich klare
Gebot der Nächstenliebe, die aus der gerichteten Freiheit des Charakters entspringt,
eine Voraussetzung jenseits der Freiheit: fac quod jubes et jube quod vis – dem daß
Gott ›befiehlt, was er will‹, muß, weil der Inhalt des Befehls hier der ist, zu lieben,
das göttliche ›schon Getansein‹ dessen, was er befiehlt, vorangehen« (SdE 239). Frei
ist die Liebestat, die das Gebot erfüllt, insofern als sich nicht im Voraus sagen lasse,
worin diese Tat im Einzelnen bestehe, denn »sie muß überraschend sein; wäre sie im
voraus anzugeben, so wäre sie nicht Liebestat« (SdE 241). Dieser Freiheit geht aber
die Verpflichtung auf die Zuwendung zu der je konkreten Situation und dem je kon-
kreten Gegenüber voraus. – Im zweiten Teil des Sterns wendet Rosenzweig solcher-
art den Vorwurf des Formalismus gegen Kant selbst, der ihn bekanntlich gegen das
Judentum als vermeintlich statuarischer Gesetzesreligion vorgebracht hat.
52 Vgl. Gibbs, Correlations in Rosenzweig and Levinas (wie Anm. 26), S. 72.
2 Franz Rosenzweigs »Sprachdenken« im ›Stern der Erlösung‹ 59
in der Zeit verweisen, sondern auf die jedesmal einzigartige Aussage, die sie enthält,
und daß sie so ihre eigene Anwendung widerspiegeln.57
Die Einzigartigkeit der Aussage besteht im Ereignis des Sagens selbst, in der
Äußerung, die in einem singulären Hier und Jetzt stattfindet.58 Damit wird die
Sprache als Zeichensystem in ihrem konventionellen und zitathaften Charakter
nicht geleugnet. Vielmehr wird der Ereignishaftigkeit jeder Äußerung Rech-
nung getragen. Die ereignishafte Aktualisierung der Sprache erfolgt durch die
Diskursinstanzen »ich« und »du«, die Benveniste als Instrumente versteht,
durch die Sprache als Zeichensystem in den »discours«, in die Aktualität ihrer
Verwendung transformiert wird. Rosenzweig spielt avant la lettre mit der
linguistischen Einsicht in die Doppelnatur der Sprache, Aussageakt (Ȏnoncia-
tion«) und Aussage (»énoncé«) zu sein. Er profiliert diese Einsicht im Hinblick
auf ein ethisches Subjekt, dass sich durch die Anrufung konstituiert, in der es
erfährt, dass keiner für es »ich« sagen kann. Das Ich entdeckt sich in dieser
Form, die Rosenzweig den »absoluten Singular« nennt, nur durch die Anru-
fung des Du.
In religionsphilosophischer Hinsicht bezeichnet die Offenbarung für Rosen-
zweig die Verneinung mythischer, schicksalhafter Wesenheiten. Die Offenba-
rung im engsten Sinne stellt das »ereignete Ereignis« (SdE 178) »einer mo-
menthaften Selbstverwandlung« (SdE 182) dar. Mensch und Gott erhalten ihr
Sein erst aus der Hand des Anderen. Im Ereignis des »göttlichen Sich-
selbstverschenkens« (SdE 186) verneint Gott sein mythisches Wesen, sein
schicksalhaftes, dauerndes Sein (Verhängnis), und macht sein Sein vom Men-
schen abhängig. Rosenzweig zitiert die Kabbala:
Wenn ihr mich bezeugt, so bin ich Gott, und sonst nicht – so läßt der Meister der
Kabbalah den Gott der Liebe sprechen. Der Liebende, der sich in der Liebe preis-
gibt, wird in der Treue des Geliebten aufs neue geschaffen (SdE 191).
Ist die Offenbarung im engsten Sinne, das Ereignis der »reinen unvermischten
Gegenwart« (SdE 184), bei Rosenzweig grund-los, ohne Vorbereitung und
Absicht, ein »rätselhaftes Ergreifen [von] Einzelne[n]« (SdE 183), so wird es
dennoch »festgehalten«59 über seine reine »Augenblicksverhaftetheit« (SdE
200f.) hinaus, indem es als Ereignis des Glaubens ausgelegt und auf eine histo-
rische Offenbarung zurückbezogen wird. Der hermeneutische Auslegungsakt
bezeichnet den Übergang von einer individuellen zu einer historischen Offen-
barung, den kritischen Punkt also der Offenbarungsreligionen. Bevor ich die
Logik analysiere, die hinter Rosenzweigs Ansatz steht, Ungeschichtlichkeit
und Geschichtlichkeit, reines, bedeutungsloses »ereignetes Ereignis« (Offen-
57 Ebd., S. 283.
58 In dem Sinne kann man tatsächlich wie Michail Bachtin behaupten, dass jede Äuße-
rung etwas ist, das vorher noch nicht existiert hat, und so etwas absolut Neues in die
Welt bringt (vgl. Eskin, Ethics and Dialogue [wie Anm. 47], S. 108).
59 Rosenzweig spricht von der »Kraft des Festhaltens« (SdE 190).
2 Franz Rosenzweigs »Sprachdenken« im ›Stern der Erlösung‹ 61
60 Vgl. SdE 191: »Der treue Glaube der Geliebten bejaht die im Augenblick gebundene
Liebe des Liebenden«.
61 Rosenzweigs Analyse des tragischen Selbst sei hier kurz angedeutet (sie wird später
im Zusammenhang mit Hermann Brochs Trilogie Die Schlafwandler wieder aufge-
griffen [vgl. Kap. I.6.1.3]). Der berühmte Anfang des Sterns der Erlösung geht von
der Erfahrung menschlicher Endlichkeit aus. Der Mensch, der angesichts des Todes
das Faktum seines einzelnen Daseins entdeckt, der in der »Furcht des Todes« nicht
sterben, sondern »bleiben« will (vgl. SdE 4), findet sich in seiner faktischen Exis-
tenz außerhalb von moralischen Systemen, in denen er als Objekt eines Gesetzes
rangiert. Er entdeckt sich als meta-ethischer Mensch: »Die Welt des Ethischen ist
dem Selbst bloß – ›sein‹ Ethos.« (SdE 79) Der Wille, »da zu sein«, begründet einen
Charakter, der auf seiner Einzigartigkeit beharrt. Der in sein Selbst verschlossene
Mensch ist für keinen Anspruch, der ihm von außen begegnet, zugänglich. Der tra-
gische, antike Held repräsentiert für Rosenzweig das stumme, meta-ethische Selbst,
das sich gegen Schicksal und mythische Götter – erfolglos – auflehnt. Walter Ben-
jamin hat Rosenzweigs Konzeption eines stummen tragischen Selbst übernommen,
um die Figuren des barocken Trauerspiels vom tragischen Helden zu unterscheiden
(vgl. GS I/1 286ff.).
62 Die Demut beruht auf dem »Gefühl der Abhängigkeit zugleich und des sicheren
Geborgenseins« (SdE 188).
62 Teil I
entspringen lässt.63 Durch das Glaubensbekenntnis gewinnt Gott erst sein Sein.
In der Folge der Seinszuschreibung durch den Menschen gibt er erst zu erken-
nen, wer er sei:
Denn das ists, wodurch die Offenbarung erst zum Abschluß kommt. Sie muß ihrer
grundlosen Gegenwärtigkeit nun dauernd auf Grund kommen, einen Grund, der jen-
seits ihrer Gegenwärtigkeit, also im Vergangenen liegt, aber den sie selbst sichtbar
macht nur aus der Gegenwärtigkeit des Erlebens heraus. Jene vielberufene Rück-
wendung der Offenbarung auf die Schöpfung, das ist letzthin, was wir hier meinen.
[…] Erst an dieser Stelle, wo der Erlebnis- und Gegenwartscharakter der Offenba-
rung unverrückbar festgestellt ist, erst hier darf sie eine Vergangenheit bekommen
(SdE 203).
Die Rückwendung der Offenbarung auf die Schöpfung be-gründet die indivi-
duelle Erfahrung in einer »historischen Offenbarung« (SdE 208). Konkret
bindet Rosenzweig das Offenbarungsereignis in den jüdischen Glaubens- und
Kulturraum ein. Die Verbindung zwischen persönlicher Erfahrung und »histo-
rischer Offenbarung« läuft dabei über die Logik des Namens. Rosenzweig
schreibt: »Grund der Offenbarung, Mittelpunkt und Anfang in eins, ist die
Offenbarung des göttlichen Namens« (SdE 209). Mosès argumentiert, dass
»der Übergang von der persönlichen Erfahrung zur objektiven Realität« bei
Rosenzweig eine nach außen gewendete »Projektion« des subjektiven Erleb-
nisses sei.64 »[D]er Offenbarung des eigenen Namens in der Erfahrung jedes
Menschen [entspricht] die kollektive Erfahrung des Sinai, jener absolute Ur-
sprung der jüdischen Geschichte und Geographie, als Offenbarung von Gottes
Namen.«65 Persönliche Erfahrung und »historische Offenbarung« entsprächen
63 Die Auslegung des Ich als gläubiges Subjekt ist an die Jom-Kippur-Liturgie ange-
lehnt (vgl. Mosès, System und Offenbarung [wie Anm. 25], S. 90). Das Geständnis
der vergangenen Sündhaftigkeit (»Ich habe gesündigt«) überwindet die »Scham«
(SdE 200); das Geständnis der gegenwärtigen Sündhaftigkeit (»Ich bin ein Sünder«)
»befreit« ganz von der Scham. Das Geständnis treibt über sich, über ein Sich-
Bekennen hinaus, so Rosenzweig, denn »nicht nur die Liebeleere der Vergangen-
heit« wird bekannt, sondern dass »ich auch jetzt, auch in diesem gegenwärtigsten
der Augenblicke noch lange nicht so liebe, wie ich mich geliebt weiß« (SdE 201).
Die Seele »begibt sich der Scham und [wagt] sich zu ihrer eigenen Gegenwart zu
bekennen […] und [wird] also der göttlichen Liebe gewiß« (SdE 202): »Alles Glau-
bensbekenntnis hat nur den einen Inhalt: der, den ich im Erlebnis meiner Geliebtheit
als den Liebenden erkannt habe, – er ist« (SdE 202). Das Glaubensbekenntnis be-
steht schlicht im »bekennenden ›Ich bin dein‹« (SdE 203). Aus dem Sündengeständ-
nis lässt Rosenzweig so das Glaubensbekenntnis entstehen.
64 Vgl. Mosès, System und Offenbarung (wie Anm. 25), S. 97.
65 Ebd., S. 98.
2 Franz Rosenzweigs »Sprachdenken« im ›Stern der Erlösung‹ 63
Letztlich bleibt für ihn die Möglichkeit der Offenbarkeit aber an die »histori-
sche Offenbarung« gebunden, durch die sie begründet wird. Die Offenbarkeit
als universelle Struktur menschlicher Erfahrung, die ursprünglicher wäre als
die historischen Offenbarungen, auf die sich die Offenbarungsreligionen beru-
fen, würde umgekehrt diese zu kontingenten historischen Möglichkeiten relati-
vieren. Würde man die Offenbarkeit für ursprünglicher als die Offenbarung
halten, würde man, auf die eine oder andere Weise, eine anthropologische
Reduktion der Religionen vornehmen, indem man diese auf die allgemeinen
Bedingungen menschlicher Erfahrung zurückführte. Diesen Schritt macht
Rosenzweig nicht.
Mit der Frage der Priorität von Offenbarkeit oder Offenbarung lässt sich die
Frage nach dem Status der religiösen Sprache in einem philosophischen Text
verbinden:
Are revelation, the messianic, the Wholly Other, or ›God‹ itself employed analogi-
cally and metaphorically, or are these words employed metonymically, in such a
way that the denotation of these words is thereby expanded to include within their
scope the abstract, bare, and phenomenological meanings these words receive in
twentieth-century continental philosophy?70
So wenig Rosenzweig der Offenbarkeit den Vorrang vor der als historisches
Gründungsereignis gedachten Sinaioffenbarung gibt, so wenig ist die religiöse
Sprache im Stern lediglich metaphorisch zu verstehen. Würde die Offenbarkeit
als ursprünglich angesetzt, wäre es prinzipiell möglich, die religiösen Ausdrü-
cke »Schöpfung«, »Offenbarung« und »Erlösung« metaphorisch zu lesen und
sie durch andere zu ersetzen. Dass Rosenzweig die Strukturen der Erfahrung
und der Sprache, die er in den biblischen Texten reflektiert findet, in selbst
religiöser Sprache beschreibt, ist jedoch nicht als akzidentiell zu bewerten,
sondern folgt aus der konstitutiven Bedeutung, die er der Sinaioffenbarung
zuschreibt. Rosenzweig gebraucht die religiöse Begriffssprache nicht metapho-
risch, sondern metonymisch in dem oben zitierten Sinne: Die ethisch existen-
tielle Bedeutung, die Rosenzweig den Kategorien »Schöpfung«, »Offenba-
rung« und »Erlösung« gibt, bleibt metonymisch auf den Horizont der Sinaiof-
fenbarung bezogen. Rosenzweig erweitert die Grenzen der religiösen Ausle-
gungstradition dieser Begriffe, indem er sie auf die Dimensionen von Erfah-
rung und Sprache wendet.71
70 Eddis Miller: Derrida and the Problem of the Secularized Messianic. In: Thomas
Crombez and Katrien Vloeberghs (Ed.): On the Outlook: Figures of the Messianic.
Cambridge: Cambridge Scholars Publishing 2007, S. 35–43, hier: S. 36.
71 Hier liegt der Unterschied zu Walter Benjamins Ansatz in dem Aufsatz Ȇber Spra-
che überhaupt und über die Sprache des Menschen« (1916). Benjamin und Rosen-
zweig gehen beide davon aus, dass die Analyse der biblischen Texte über allgemeine
Strukturen der Sprache Aufschluss geben kann. Benjamin stellt jedoch im Gegensatz
zu Rosenzweig klar, dass »wenn im folgenden das Wesen der Sprache auf Grund der
ersten Genesiskapitel betrachtet wird, […] damit weder Bibelinterpretation als
2 Franz Rosenzweigs »Sprachdenken« im ›Stern der Erlösung‹ 65
Die übertragene Sprache des Stern der Erlösung beschränkt sich nicht auf
die metaphorische Sprache, auf die Rosenzweig zurückgreift, um die Begeg-
nung der Subjektivität mit dem absolut Äußeren Gottes zu beschreiben.72
Vielmehr liegt auch den zentralen Kategorien »Schöpfung«, »Offenbarung«
und »Erlösung« ein übertragener Sprachgebrauch zugrunde. Denn Rosen-
zweigs philosophische Aneignung dieser religiösen Kategorien steht in einem
metonymischen Verhältnis zur religiösen Auslegungstradition. Nun ist es ei-
nes, in der Metonymie die rhetorische Grundoperation zu erkennen, die der
philosophischen Verwendung religiöser Begriffe im Stern der Erlösung zu-
grunde liegt. Ein anderes ist es, die religiöse Bildsprache zu analysieren, mit
der Rosenzweig im Stern der Erlösung operiert. Hier sind insbesondere die
Figur des »Gesichts«, das die geschaffene Welt mit dem »Antlitz Gottes«
verbindet, sowie natürlich die Figur des »Sterns« selbst auffällig. »In der Exis-
tenz bildet das Gesicht eine sichtbare Form, die die[] andere, transzendente
Sichtbarkeit jenseits des Zeitlichen andeutet«,73 so Michal Schwartz in ihrer
Analyse von Rosenzweigs religiöser Bildsprache. Im Symbol des »Sterns«
wiederum spiegelt sich am Ende das Gesicht wider, mit dessen mystischer
Kontemplation Rosenzweig den Stern der Erlösung abschließt.74
Insofern Rosenzweig die anthropomorphe Form des Gesichts und den Stern
als Symbol der Idee der Erlösung im Judentum ineinanderblendet, zeigt er die
tragende Bedeutung an, die er dem ethischen Tun des Menschen zuerkennt,
der, um noch einmal Levinas zu zitieren, als »notwendiger Vermittler der
Erlösung der Welt«75 erscheint. Die ethische Dimension von Rosenzweigs
Sprachphilosophie soll im nächsten Abschnitt genauer untersucht werden. Die
Logik des Namens, über die Rosenzweig individuelle Erfahrung und »histori-
sche Offenbarung« verklammert, spielt auch hier eine entscheidende Rolle.
»Forderung nach Namen« (SdE 208) lautet der ethische Imperativ, der auf das
Singulär-Werden der geschöpflichen Gattungswesen als Grundlage der Ge-
meinschaft zielt.
Zweck verfolgt noch die Bibel an dieser Stelle objektiv als offenbare Wahrheit be-
trachtet werden [soll], sondern das, was aus dem Bibeltext in Ansehung der Sprache
selbst sich ergibt, […] aufgefunden werden [soll]« (GS II/1 147). Vgl. hierzu auch
Kap. I.4.1.
72 Vgl. Michal Schwartz: Metapher und Offenbarung. Zur Sprache von Franz Rosen-
zweigs »Stern der Erlösung«. Berlin, Wien: Philo 2003 (Monographien zur philoso-
phischen Forschung; 284), S. 103f.
73 Ebd., S. 113.
74 Vgl. hierzu auch ebd., S. 161–170.
75 Levinas, Zwischen zwei Welten (wie Anm. 15), S. 142.
66 Teil I
»bAj-yKi hw"hyl; WdAh« (»Hodu leJHWH ki-tov«): »Danket IHM, denn er ist gü-
tig«, übersetzen Buber/Rosenzweig den Anfang von Psalm 136, der die Grund-
lage für Rosenzweigs Analyse der Sprache der Erlösung darstellt.
[I]n der im Dank geschehenen Vereinigung der Seele mit aller Welt ist das Reich
Gottes, das ja eben nichts ist als die wechselweise Vereinigung der Seele mit aller
Welt, gekommen […]. Aber freilich diese Erfüllung geht nur voran, sie ist nur vor-
weggenommen (SdE 260f.).
Die paradoxe Zeitlichkeit des »Reichs«, das der Erlösung zugehört und »im-
mer im Kommen ist«, »immer ebenso schon da wie zukünftig ist« (SdE 250),76
bezeichnet eine »Vorwegnahme des ›Zieles‹« (SdE 253). Dieses »Ziel« ist
nicht Endpunkt einer Entwicklung, sondern ist immer schon »jetzt« möglich –
und nie »jetzt« ein für alle Mal erreicht.77 Die universelle »Vereinigung« des
Einzelnen »mit aller Welt« (SdE 261) ist das »Ziel«, das im Chorgesang vor-
weggenommen wird. Das spezifische Medium der Gemeinschaft ist bei Ro-
senzweig eine Form des Chorgesangs, in dem alle Stimmen selbständig sind
und sich doch dem gleichen Rhythmus fügen (vgl. SdE 264). Insofern die
Zeitlichkeit der Gemeinschaft eine vorweggenommene Zukunft ist und diese
Zukunft zugleich immer im Kommen bleibt, kann die Gemeinschaft sich nie in
einer präsentischen Totalität schließen. Sie ist eine in der Gegenwart immer im
Kommen begriffene Gemeinschaft.
Ist die Sprache der Schöpfung historische Erzählung in der dritten (Nicht-)
Person78 im Indikativ der Vergangenheit, die Sprache der Offenbarung Wech-
selrede zwischen Ich und Du um den Imperativ des Liebesgebots, so bildet der
Kohortativ den Modus der Sprache der Erlösung in Rosenzweigs Stern.
[U]rsprünglich ist der Gesang vielstimmig gleichen Tons und Atems, und über allem
Inhalt des Gesangs steht die Form der Gemeinsamkeit. Ja der Inhalt ist selber weiter
gar nichts als die Begründung für diese seine Form. […] Der Stammsatz, wenn er
Inhalt gemeinsamen Gesangs sein soll, kann nur als eine Begründung solcher Ge-
meinsamkeit auftreten; das ›er ist gut‹ muß erscheinen als ein ›denn er ist gut‹. Was
ist nun das erste, was also begründet wird? Es kann nur die Gemeinsamkeit des Ge-
sangs sein, und diese Gemeinsamkeit nicht als die vollendete Tatsache, nicht als ein
Indikativ, sondern als eine grade eben begründete Tatsache. So muß die Stiftung der
76 Peter Eli Gordon beschreibt die Zeitlichkeit der Erlösung als »dual temporality«,
insofern Rosenzweig die Erlösung als gegenwärtig und zukünftig zugleich versteht
(Peter Eli Gordon: Rosenzweig and Heidegger: Between Judaism and German Phi-
losophy. Berkeley, Los Angeles u. a.: Univ. of Calif. Press 2005, S. 195).
77 »Es [das Reich; Anm. E. D.] ist einfürallemal noch nicht da. Es kommt ewig. Ewig-
keit ist nicht eine sehr lange Zeit, sondern ein Morgen, das ebensogut Heute sein
könnte« (SdE 250).
78 Vgl. Benveniste, Die Natur der Pronomen (wie Anm. 37), S. 285.
2 Franz Rosenzweigs »Sprachdenken« im ›Stern der Erlösung‹ 67
Gemeinsamkeit dem Inhalt des Gesangs vorangehn, als eine Aufforderung also zum
gemeinsamen Singen, Danken, Bekennen […]. Und diese Aufforderung wiederum
darf kein Imperativ sein, […] sondern die Aufforderung muß selbst unter dem Zei-
chen der Gemeinsamkeit stehen […]: die Aufforderung muß im Kohortativ stehen,
einerlei ob dieser Unterschied vom Imperativ äußerlich erkennbar ist oder nicht
(SdE 258f.).79
Welcher Art ist das »Wir«, das sich nicht auf eine »Gemeinsamkeit […] als
[…] vollendete Tatsache« begründet, sich als »Wir« nicht auf »vollendete
Tatsache[n]« berufen kann, seien diese nun genealogisch, soziologisch, natio-
nal, religiös oder biologisch konstruiert? »Wir ist kein Plural, der Plural ent-
steht in der dritten Person des Singular […] Das Wir ist die aus dem Dual
entwickelte Allheit« (SdE 264). Rosenzweigs Ethik der Gemeinschaft, wie er
sie im zweiten Teil des Sterns entwirft, bleibt an die Ethik der Begegnung
zwischen Ich und Du – dem Dual – gebunden.80 Der zeitlichen Struktur der
dauernden »Vorwegnahme« der Zukunft entspricht eine ethische, die sich dem
Anderen als dem »zu-nächst Nächsten« zuwendet:
Wenn nun ein Nochnicht über aller erlösenden Vereinigung geschrieben steht, so
kann das nur dazu führen, daß für das Ende der gerade gegenwärtige Augenblick, für
das Allgemeine und Höchste zu-nächst das jeweils Nächste eintritt. Das Band der
vollendeten und er-lösenden Verbindung von Mensch und Welt ist zunächst der
Nächste und immer wieder nur der Nächste, das zu-nächst Nächste. In den Gesang
Aller fügt sich hier also eine Strophe, die nur von zwei einzelnen Stimmen gesungen
wird […]. Statt des Plural, der die Dinge als einzelne Vertreter ihrer Gattung enthält,
und statt des Singular, in welchem die Seele ihre Geburt erlebt, herrscht also hier der
Dual […]. […] [F]reilich haftet sie [die Form des Dual; Anm. E. D.] nirgends fest
außer höchstens an den wenigen Dingen, die an sich paarweise auftreten; sonst glei-
tet sie von einem Träger zum andern, nächsten weiter, von einem Nächsten zum
nächsten Nächsten […]. Aber nur scheinbar gibt sie so ihre Herrschaft an den Plural
ab; in Wahrheit hinterläßt sie bei dieser Wanderung überall Spuren, indem sie in den
Plural der Dinge allenthalben das Zeichen der Singularität setzt (SdE 262).
Vor diesem Hintergrund wird begreiflich, dass der Abschnitt »Erlösung« des
zweiten Teils des Sterns nicht nur Reflexionen über das im Dankchoral konsti-
tuierte »Wir« enthält, sondern ebenso über die Begegnung mit dem »zu-nächst
Nächsten« und die Ethik der »Liebestat« (SdE 239ff.). Diese zeichnet sich
durch die Intention auf den Augenblick aus, durch eine »Willensrichtung«, die
nicht, wie der daimonische Charakter, »einfürallemal festgelegt [ist], sondern
in jedem Augenblick stirbt und […] erneut [wird]« (SdE 238). Die Intention
auf den singulären Augenblick entspricht der Intention, dass der zufällig zu-
nächst stehende Andere »in seiner Eigenschaftlichkeit und Eigenartigkeit […]
zum Einzigartigen, Subjektivischen, Substantivischen« (SdE 262) wird.
»[W]as ist Erlösung sonst als dies, daß das Ich zum Er Du sagen lernt?«
(SdE 305) In Rosenzweigs Konzeption eines existentiellen In-der-Sprache-
Seins ist »die Erlösung […] nicht unmittelbar Gottes Werk oder Tat, sondern
[…] Gott […] befreite […] in seiner Liebe die Seele zur Freiheit der Liebestat«
(SdE 297). Messianisch ist somit die Intention auf den Augenblick wie auf den
anderen Nächsten, den zufällig zu-nächst Anderen, den »plesios allos« (SdE
243), den »Irgendeinen« (SdE 263), der kraft der »Liebestat« zum »Einzigarti-
gen« wird. Der zu-nächst Nächste wird nicht – und das ist entscheidend –
vorab aufgrund dieser oder jener Eigenschaften ausgewählt. Dies impliziert,
dass seine Einzigartigkeit mit keiner vorgegebenen, (ihm oder anderen) be-
kannten Eigenschaft zusammenfällt: Die Einzigartigkeit ist ein Unbestimmtes
diesseits aller Bestimmungen, das in der »Liebestat« zum Ereignis wird. Denn
»er ist […] ein Du wie Du, ein Ich« (SdE 267) – das heißt aber nach der Ana-
lyse im vorherigen Kapitel: ein Ich, das, semantisch unbestimmt, an seiner
Stelle im Hier und Jetzt unvertretbar ist.
Zugleich verweist das vollkommen Unbestimmte des »Irgendeiner« auf ein
ihm »übergeordnet[es]« »Bestimmtes«: »das Ganze alles Bestimmten, das All«
(SdE 263). Die messianische Vereinigung, die durch die Zuordnung des »Ir-
gendeine[n]« zu »Alle[r] Welt« umschrieben wird und den Weg über die Sin-
gularisierung nimmt, das Aussäen von »Keime[n] […] von Namen, seelenhaf-
te[m] Eigensein, Unsterblichkeit« (SdE 268), ist das Telos des – freilich dem
Menschen gesetzlos erscheinenden – messianischen Prozesses.81
81 Denn weder aus der Entwicklung des »wachsenden Lebens« (SdE 266), aus der
natürlichen Ordnung der Welt, noch aus der Reihe der »Liebestaten« des Menschen
lässt sich ein »Gesetz« (SdE 267), eine Ordnung für den Verlauf der Geschichte er-
kennen. Vielmehr errichtet Rosenzweig eine paradoxe Konstruktion: Die verborgene
Ordnung zeigt sich in der Welt als ihr Gegenteil, als »Anarchie, Unordnung, Störung
des ruhig wachsenden Lebens« (SdE 266). Vgl. auch SdE 269: »Von Gott also
nimmt die Erlösung ihren Ursprung, und der Mensch weiß weder Tag noch Stunde.
Er weiß nur, daß er lieben soll und stets das Nächste und den Nächsten; und die
Welt, sie wächst in sich nach scheinbar eignem Gesetz; und ob sich Welt und
Mensch nun heute finden oder morgen oder wann – die Zeiten sind unberechenbar,
sie weiß nicht Mensch noch Welt; die Stunde weiß Er allein«.
2 Franz Rosenzweigs »Sprachdenken« im ›Stern der Erlösung‹ 69
Eric Santner hat meines Erachtens die Ethik des »zu-nächst Nächsten« bei
Rosenzweig sehr gut getroffen. Er schreibt in seiner Synopsis von Rosenzweig
und Freud:
In the Freudian-Rosenzweigian view, […] the biblical traditions inaugurate a form
of life structured precisely around an openness to the alterity, the uncanny strange-
ness, of the Other as the very locus of a universality-in-becoming. […]
[U]niversality as I am using the term here, signifies the possibility of a shared open-
ing to the agitation and turbulence immanent to any construction of identity […]: the
possibility of a ›We‹ […] on the basis of the fact that every familiar is ultimately
strange […]. [I]t is precisely when we, in the singularity of our own out-of-jointness,
open to the […] internal alienness […] of the Other that we […] shift from the regis-
ter of the global to that of the universal which remains as such a universal-in-
becoming. […] [W]hen we truly inhabit the proximity of our neighbor, [we] assume
responsibility for the claims his or her singular and uncanny presence makes on us
not only in extreme circumstances but every day.82
Die »Liebestat«, die sich der unbestimmt unheimlichen Präsenz des zu-nächst
Nächsten öffnet, ja, deren Effekt im Wesentlichen darin besteht, diese unheim-
liche Unbestimmtheit des Anderen sich ereignen zu lassen, wird von Rosen-
zweig mit dem göttlichen Liebesgebot korreliert. Zur »Liebestat« gehört, dass
sie »überraschend« ist, inhaltlich »nicht im voraus anzugeben« (SdE 241),
damit sie nicht zur »schematisch organisierten Tat« (SdE 240), der »Zweck-
tat«, erstarrt. In diesem Zusammenhang kehrt auch die Differenzierung zwi-
schen Gesetz und Gebot wieder (vgl. SdE 241ff.). Man könnte leicht versucht
sein, die Differenzierung zwischen Gebot und Gesetz, Liebestat und Zwecktat
bzw. »Liebesgebot und Gesetzesgehorsam« (SdE 242) für eine christliche Un-
terströmung in Rosenzweigs Stern zu halten – und würde dabei doch nur ein
christliches Stereotyp wiederholen, das eine Differenzierung verdrängt, die für
das Judentum wichtig ist: die Differenzierung zwischen Gerechtigkeit und
Recht, »z’dakah« und »mischpat«. Samson Raphael Hirsch hat in seinen Erläute-
rungen zur Thora, die er zwischen 1867 und 1878 übersetzt und kommentiert
hat, »z’dakah« definiert als »Wohlthat, aber als Pflicht begriffen«, eine Pflicht,
die in dem »Pflichtgebot« gründet.83 Das Pflichtgebot heißt, den Anderen als
Bedürftigen wahrzunehmen, der einen Anspruch auf die Wohltat nicht aus dem
Recht, sondern »im Namen Gottes« hat. Das Gebot zur z’dakah gibt keinen
Rechtstitel ab, sondern konstituiert einen Anspruch »im Namen Gottes«.84
bringe, was er über ihn ausgesprochen.« Hirsch erläutert, warum gerade an dieser
Stelle – anders als sonst – z’dakah vor mischpat steht. Grund hierfür sei der »jüdi-
sche Protest gegen Sodoms Lebens- und Staatsmaxime«: »Nicht mischpat, z’dakah
heisst das welterlösende Wort, das Abrahams Haus in die Welt und durch die Welt
tragen soll.« Denn »eine Art von mischpat ist auch in Sodom zu Hause«, wo das
»zedaka-lose Recht […] sich in Unmenschlichkeit und Härte [verkehrt]« (ebd., S.
264). Hirschs Übersetzung für z’dakah ist, wie bereits erwähnt, die »Wohlthat, aber
als Pflicht begriffen« (ebd., S. 265). Natürlich hebelt der orthodoxe Rabbiner Hirsch
hier nicht mischpat zu einseitigen Gunsten von z’dakah aus, die ihm beide als »am
Baume des ›Wandels vor Gott‹ gezeitigte Frucht« gelten. Doch es ist die z’dakah,
der er den Vorrang in »Abrahams Testament« zugesprochen sieht. So ist es weder
der Glaube an Gott, noch das Gottesrecht, sondern die »Erfüllung seiner Gebote«, zu
der das »Geschlecht […] erzogen werden muss«.
85 Die Vorstellung eines »Meta-Gesetzes« borge ich von Jean-François Lyotard. Lyo-
tard versteht den Imperativ »Seid gerecht!« als ein »Meta-Gesetz«, da er nicht Ge-
genstand des Wissens sein kann. »There is a kind of law, but we do not know what
this law says. There is a kind of law, a kind of metalaw that says: ›Be just.‹ That is
all that matters in Judaism: ›Be just.‹ But we do not know what it is to be just. That
is we have to be ›just.‹ It is not ›Abide by this‹; it is not ›Love one another‹, etc. […]
›Be just‹; case by case, every time it will be necessary to decide, to commit oneself,
to judge, and then to mediate if that was just« (Jean-François Lyotard and Jean-Loup
Thebaud: Just Gaming. Transl. by Wlad Godzich. 5th Ed. Minneapolis: Univ. of
Minnesota Press 1999 [Theory and history of literature; 20], S. 52f.). Diese paradoxe
jüdische Pragmatik greift Derrida in seiner Lektüre von Kafkas Parabel »Vor dem
Gesetz« wieder auf (vgl. Jacques Derrida: Préjugés. Vor dem Gesetz. Übers. von
Detlef Otto und Axel Witte. 3. Aufl., Wien: Passagen-Verlag 2005 [Edition Passa-
gen; 34], S. 41f.)
86 Rosenzweig, Das neue Denken (wie Anm. 1), S. 227.
87 Ebd.
2 Franz Rosenzweigs »Sprachdenken« im ›Stern der Erlösung‹ 71
Fragen jüdischer Existenz geht es erst im dritten Teil des Sterns (s. Kap. II.5).
Hier behandelt Rosenzweig die Frage des jüdischen Gesetzes allerdings nur
unter dem Gesichtspunkt der Liturgie und des Zeremonialgesetzes. Der Frage
eines Lebens im jüdischen Ritualgesetz über das Liturgische hinaus nimmt
sich Rosenzweig schriftlich und öffentlich erst in seiner Auseinandersetzung
mit Martin Buber an, dessen religiösen Anarchismus (vgl. Kap. I.3.2) Rosen-
zweig nicht teilt. In dem öffentlichen Brief an Buber »Die Bauleute. Über das
Gesetz« kehrt die Thematik von Gesetz und Gebot wieder: »Gebot […] muß
das Gesetz wieder werden«.88 Wieder akzentuiert Rosenzweig damit die »Heu-
tigkeit«89 und versucht, das jüdische Gesetz nicht als Vorschrift zu verstehen,
die an den Willen adressiert ist, sondern vom »Können«90 her, vom Jüdisch-
Sein-Können. Dieses Können setze wohl das Wissen um das »Reich des Tuba-
ren«91 voraus, sei aber »ganz individuell«:92 Keiner könne den anderen zur
Rede stellen, »obwohl jeder den anderen lehren kann und muss; denn was
einer kann, weiß er nur selber«.93 Ein Leben im Gesetz geht für Rosenzweig
über das Wissbare und das Überlieferte hinaus, das es zugleich voraussetzt.94
Das jüdische Leben im Gesetz präsentiert Rosenzweig auf diese Weise weni-
ger als Gegenstand des Wissens denn als Bereich des Könnens. Das »imperati-
vische Heute des Gebots« (SdE 198), das Rosenzweig zum Maßstab seiner
allgemeinen Ethik im zweiten Teil des Sterns der Erlösung erhebt, bestimmt
solcherart auch noch seine Perspektive auf ein jüdisches Leben im Gesetz, das
er, im Lichte einer am Können und nicht am Sollen orientierten Pragmatik
verstanden, gegenüber Buber verteidigen möchte.
88 Franz Rosenzweig: Die Bauleute. Über das Gesetz. In: Ders.: Zweistromland. Klei-
nere Schriften zur Religion und Philosophie. Berlin, Wien: Philo 2001, S. 45–59,
hier: S. 54.
89 Ebd.
90 Ebd.
91 Ebd., S. 55.
92 Ebd.
93 Ebd., S. 58.
94 Vgl. ebd., S. 55: »So wenig wie bei der Lehre darf einer uns kommen und uns im
voraus sagen wollen, was alles dazu [zum Gesetz; Anm. E. D.] gehöre und was
nicht. Wir dürfen es nicht vorher wissen wollen, selbst wenn wir es könnten. Wir
dürfen mit keinem Willen und mit keinem Wissen der unwissentlich-unwillentlichen
Wahl unsres Könnens vorgreifen. Was wir vorher wissen dürfen, ist das Reich des
Tubaren; was wir vorher wünschen dürfen, ist: daß unsre Tat in diesem Reich ihren
Platz finde; ob sie ihn hier finde, steht schon nicht mehr bei uns, wenigstens soweit
wir im Wissen und Willen sind. Da wir es sind, soweit wir es sind, geben wir un-
serm Wissen, unserm Willen diese Richtung, diese Sphäre. Wir haben keine andre
Gewähr, daß die wirkliche Tat, wenn sie entspringt, jüdisch sein wird oder nur jen-
seits der Grenzen dieses Reichs. Ist dies letzte der Fall, so werden sich die Grenzen
durch sie hinausrücken.«
3 Sprachtheorie zwischen Skepsis, Mystik und
Dialog (Landauer/Buber)
Landauer, Buber, Benjamin, Scholem und Bloch – sie alle rekurrieren, in un-
terschiedlicher Weise, auf mystische Sprachtheorien, um zu eigenen Sprach-
konzepten zu gelangen. Hierin unterscheidet sich Rosenzweig von ihnen, denn
er fasst ein Sprachhandeln jenseits von Sprachmystik und Sprachmagie ins
Auge. Benjamin und Scholem greifen auf mystische Sprachtheorien zurück,
um Sprache anders zu verstehen denn als Medium sozialer Kommunikation,
das auf der Grundlage von arbiträren und historisch konventionalisierten
Zeichen der Sprache äußerliche Inhalte mitteilbar macht. Jenseits dieser
instrumentellen Auffassung erscheint die Sprache als göttliches oder aber als
»reines« Medium. Landauer und Buber verfolgen demgegenüber eine Erleb-
nismystik, der Benjamin und Scholem kritisch gegenüberstehen. Das nicht
mitteilbare mystische Einheitserlebnis wertet Landauer als Postulat und An-
reiz zu sprachlicher Produktivität, zu einer »neuen Sprache«1 auf der »Stufe
des Kunstwissens und der bewußten Metapher«.2 Buber hingegen versucht,
das Einheitserlebnis als Affekt und nicht als Inhalt einer sprachlichen Mittei-
lung zu kommunizieren. Anders als Landauer unterstellt Buber dem Ein-
heitserlebnis unkritisch Realität, statt es als Postulat, als subjektive Denk-
notwendigkeit ohne objektive Beweiskraft, zu behandeln. Später distanziert
sich Buber dann von der Einheitsmystik und passt sein Sprachkonzept seiner
Dialogphilosophie an.
4 Ebd., S. 98f.
5 Vgl. ebd., S. 61–82.
6 Vgl. hierzu Gertrude Cepl-Kaufmann und Rolf Kauffeldt: Berlin-Friedrichshagen.
Literaturhauptstadt um die Jahrhundertwende. Der Friedrichshagener Dichterkreis.
München: Boer 1994, S. 304ff.
7 Vgl. die stichwortartigen Notizen Landauers in der Skizze »Sozialismus und Juden-
tum«. In: Gustav Landauer: Werkausgabe. Hg. von Gert Mattenklott und Hanna
Delf. Bd 3, hg. von Hanna Delf. Berlin: Akademie-Verlag 1997, S. 161f., hier:
S. 162: »nicht drittes Reich und Messianismus, sondern schlichte Verwirklichung
nach Möglichkeit«.
3 Sprachtheorie zwischen Skepsis, Mystik und Dialog 75
lassen ein Einziger zu sein, erkenne ich die Welt an und gebe mein Ich preis; aber
nur um mich selbst als Welt zu fühlen, in der ich aufgegangen bin. […] Das Ich tötet
sich, damit Weltich leben kann.16
Landauer kritisiert ein Verständnis des Individuums, das dieses als isolierte,
der Welt äußerlich bleibende Einheit vorstellt, woraus sich der Gegensatz von
Subjekt und Objekt, Individuum und Welt herleitet. Stattdessen soll sich das
Individuum als Teil der Welt verstehen, als »Teilseele[] der Weltseele«.17
Nicht nur das Individuum als »isolierte Einheit« verfällt mithin Landauers
Kritik, sondern ebenso die Vorstellung, dass die Welt aus distinkten Objekten
besteht, die im Raum mit dem Gesichtssinn wahrgenommen und begrifflich
klassifiziert werden. Für die mystische Realität der Welt, die das Subjekt er-
fahren soll, wenn es über die Grenzen der Individuation hinausgeht, hat Lan-
dauer unterschiedliche Namen: »urälteste und allgemeinste Gemeinschaft: mit
dem Menschengeschlecht und dem Weltall«,18 »allgewaltige[s] Leben«,19
»Weltgeist«,20 »Weltseele«,21 »wogende[] Flut der Seelenkräfte«,22 »ewig Le-
bendige[s]«,23 spinozistisch »wirkende Natur« bzw. »natura naturans«,24 »See-
lenstrom, den man je nachdem Menschengeschlecht, Art, Weltall nennt«,25 »un-
endlich differenzierte[s] Seelenfluten«,26 »das Göttliche«.27 Weist die Mehrheit
dieser Ausdrücke auf eine panpsychistische Auffassung der Welt hin,28 so
macht Landauer auch einen evolutionsbiologisch inspirierten »unlösbaren
körperlichen Zusammenhang mit der verflossenen Menschheit«,29 eine »Kör-
pergemeinschaft«30 oder »Gemeinschaft der Lebendigen«31 geltend.
Landauers Schreiben ist zweifellos eklektizitisch, manche sagen gar: dilet-
tantisch.32 Allerdings reflektiert und rechtfertigt Landauer selbst seinen Eklek-
16 Ebd., S. 83f.
17 Ebd., S. 87.
18 Ebd., S. 82.
19 Ebd., S. 84.
20 Ebd., S. 85.
21 Ebd., S. 87.
22 Ebd.
23 Ebd., S. 88.
24 Ebd.
25 Ebd., S. 90.
26 Ebd., S. 91.
27 Ebd., S. 96.
28 Vgl. zu den panpsychistischen Ansätzen um die Jahrhundertwende Monika Fick:
Sinnenwelt und Weltseele. Der psychophysische Monismus in der Literatur der
Jahrhundertwende. Tübingen: Niemeyer 1993 (Studien zur deutschen Literatur;
125).
29 Landauer, Durch Absonderung zur Gemeinschaft (wie Anm. 12), S. 91.
30 Ebd., S. 93.
31 Ebd., S. 94.
32 Vgl. Bernd Witte: Zwischen Haskala und Chassidut. Gustav Landauer im Kontext
der deutsch-jüdischen Literatur- und Geistesgeschichte. In: Hanna Delf und Gert
78 Teil I
tizismus, was die Benennung dessen, was das »Große[] und Ganze[]«33 sein
soll, betrifft. Denn insofern die Anerkennung der Welt ein Postulat des Den-
kens und die Vorstellung einer beseelten Welt ein Analogieschluss desselben
Denkens sei, stelle sie kein Wissen dar.34 Es handele sich vielmehr, wie Lan-
dauer in der oben zitierten langen Passage schreibt, um eine »selbstgeschaffene
Welt«, um eine Verbindung aus Postulat (subjektive Notwendigkeit, die Exis-
tenz der Welt anzunehmen, die nicht bewiesen werden kann) und Phantasie
(Vorstellung einer beseelten Welt). Alle Ausdrücke, die Landauer für das
»Große und Ganze« benutzt, will er deswegen auch nur als »bildmäßige An-
näherungsversuche«35 verstanden wissen, »da sie ja immer unter Vorbehalt
gegeben sind, da wir ja mehrere parallele, ergänzende Weltanschauungen in
uns parat haben müssen«,36 die sich nicht zum Dogma verfestigen sollen. Alle
Ausdrücke, mit denen Landauer den mystischen Einheitsgrund von Indivi-
duum und Welt belegt, verbindet, dass sie diesen Grund als schöpferisches,
dynamisches Prinzip imaginieren. Wer sich aus diesem dynamischen Grund
begreift, deutet seine Individualität als schöpferisches Tätigkeitsvermögen.
Wie Gert Mattenklott zutreffend schreibt, sucht Landauer auf dem Wege der
Mystik nach »Gemeinsamkeit, deren Ausübung das Individuelle eher noch
vertieft als neutralisiert«.37 Die »Innenseite seiner Politik« sei aber die Litera-
tur: »Tatsächlich ist Landauers ›Neue Gemeinschaft‹ zuallererst nicht Ökono-
mie oder Politik, sondern Poesie.«38 Dementsprechend zielt das Gemein-
schaftsideal Landauers auf die Vereinigung von schöpferischen Einzelnen.
Gegenüber »der Zwangsgemeinschaft der bürgerlichen Gesellschaften und
Staaten« sollen die »freien momentanen Vereinigungen von Einzelnen« die
Vorhut einer Gemeinschaft bilden, »die erst kommen soll, und die wir Ersten
gleich jetzt anbahnen und beginnen wollen«.39
Die mystische »allgemeinste Gemeinschaft«40 alles Lebendigen stellt Lan-
dauer als Fiktion heraus, die die Einzelnen sowohl aneinander binden als auch
zu ihrem schöpferischen Tätigkeitsvermögen, das wesentlich ihre Individuali-
tät ausmacht, anregen soll. Das Gemeinsame der »allgemeinsten Gemein-
schaft« besteht letztlich in nichts anderem als dem schöpferischen Prinzip.
Indem Landauer selbst auf den fiktiven Charakter der mystischen Weltbesee-
lung aufmerksam macht, markiert er, dass er sich auf das Feld der Phantasie
und der Sprachpoetik begibt. In den radikalsten Sätzen ist die Mystik bei Lan-
dauer nicht mehr als eine »neue[] Kunst«,41 ein »Spiel«,42 kurz: ein Sprachex-
periment, das eine Form nicht-begrifflicher Einheit, eine Art »begriffslose[r]
Synthesis«,43 herzustellen sich bemüht. Liest man Landauers Konzeption der
Mystik als Sprachexperiment, so zeigt sich, dass Landauer nicht hinter die
Einsichten der Sprachkritik zurückfallen, sondern auf ihnen aufbauen möchte.
Es muss daher auf Landauers und Mauthners Sprachkritik eingegangen wer-
den, bevor die Mystik als Sprachpoetik bei Landauer angemessen untersucht
werden kann.
Landauer fasst in Skepsis und Mystik die sprachnominalistische Botschaft
Fritz Mauthners wie folgt zusammen:
Diese Dinge da draußen sind Dinge, weil eure Sprache sie in die Form der Substan-
tive pressen muß, und ihre Eigenschaften sind Adjektiva und ihre Beziehungen re-
geln sich nach der Art, wie ihr eure Eindrücke auf euch bezieht, nämlich in der Form
des Verbums. Eure Welt ist die Grammatik eurer Sprache. […] Wir sehen Ähnli-
ches: das ist das Geheimnis unserer Assoziation und unserer Begriffsbildung.44
Versuch fruchtbar und möglich sein, die Welt in neuen Metaphern auszudrü-
cken?«58 Diese Frage aber verwandelt sich etwas später in eine Forderung, die
den »Verzicht auf eine uralte Metapher und ihr[en] Ersatz durch eine andere«
betrifft: »Der Raum muß in Zeit verwandelt werden.«59 Die neuen Metaphern
geben sich als sinnlich-unsinnliche Metaphern zu lesen, insofern das »Fließen«
der Zeit zwar die geformte Anschauung auflöst, zugleich aber neue »Ver-
schlingungen« bewirkt, die »wir mit Hilfe der Metaphern unserer Sinne noch
zu erforschen haben«.60 In Metaphern einer »unsinnlichen Ähnlichkeit« (GS
II/1 211–213), wie man mit Benjamin sagen könnte, organisiert sich solcherart
die Wahrnehmung neu. Der Übergang von der Sprachkritik zur Sprachpoetik
fällt bei Landauer mit dem Übergang von der Kritik an der unreflektierten
Illusion zur bewussten Produktion eines »feinere[n] Schein[s]«61 zusammen.
Anders als Mauthner, der als Fluchtpunkt aus der konstitutiven Uneigent-
lichkeit der Sprache nur das Jenseits der Sprache, die Sprachlosigkeit als mys-
tischen Ausdruck der Seinsfülle anerkennt,62 schlägt Landauer den Weg von
einer Sprachkritik zur Sprachpoetik, zur »Wortkunst«63 ein, in der es ihm um
den Prozess der Erzeugung von Zusammenhängen geht, welche nicht auf
»substantivischen Allgemeinbegriffe[n]«64 beruhen. Den Weg von der Sprach-
kritik zu Sprachpoetik setzt Landauer – in Anlehnung an den mittelalterlichen
Universalienstreit – mit dem Weg vom Nominalismus zu einem neuen »Rea-
lismus« gleich. Nachdem die Nichtigkeit der abstrakten Universalbegriffe ein
für alle Mal dargelegt sei, gelte es, »die Nichtigkeit des Konkretums, des iso-
lierten Einzelwesens nachzuweisen und zu zeigen, welch tiefe Wahrheit in der
Lehre der Realisten steckt.«65 Es gebe
keinerlei Individuum, sondern nur Zusammengehörigkeiten und Gemeinschaften
[…]. Es ist nicht wahr, daß die Sammelnamen nur Summen von Individuen bedeu-
ten; vielmehr sind umgekehrt die Individuen nur Erscheinungsformen, elektrische
Funken eines Großen und Ganzen. Eine andere Frage ist freilich, ob die überliefer-
ten Gattungsnamen in ihrer bequemen Schablonenhaftigkeit auch nur einigermaßen
einen gemäßen Ausdruck für die Gesamtheiten bilden, deren Momentblitze die Indi-
viduen sind.66
58 Ebd.
59 Ebd., S. 108.
60 Ebd., S. 128.
61 Landauer, Skepsis und Mystik (wie Anm. 1), S. 144.
62 Vgl. Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache (wie Anm. 45), Bd 1, S. 77–79.
Vgl. auch ebd., S. 47: »[D]ie Natur ist vollends sprachlos. Sprachlos würde auch,
wer sie verstünde«. Diesen Satz zitiert auch Landauer (vgl. Landauer, Skepsis und
Mystik [wie Anm. 1], S. 13).
63 Landauer, Skepsis und Mystik (wie Anm. 1), S. 146, S. 153.
64 Ebd., S. 149.
65 Ebd., S. 28.
66 Ebd.
82 Teil I
durch ihr einziges Ausdrucksmittel, die Sprache, Sinnenbild und Musik zugleich
zum Sinnbild gestalten.70
Das »Sinnbild«, das »den Rhythmus aus der Zeit, das Sinnenbild aus dem
Raum«71 verbinde, produziere einen »feinere[n] Schein«,72 der »unsere Men-
schenwelt, in der wir handelnd, nehmend und leidend stehen, besser zu klei-
den, zu decken«73 vermöge. Landauers musikalische Interpretation der Sprach-
formen, der Grammatik und der Logik, hat Ähnlichkeit mit Hölderlins poeti-
schem Verfahren, das sich, so Adorno, am Ideal der »begriffslose[n] Synthe-
sis«,74 orientiere. Anders als in »[g]roße[r] Musik«75 – dem Vorbild für die
»begriffslose Synthesis« – sei die Sprache an ein signifikatives Moment, an die
Form von Urteil und Satz und damit an die synthetische Form des Begriffs
gebunden. Visiere die Dichtung eine begriffslose Synthesis an, so müsse sie
sich gegen ihr eigenes Medium kehren. Nicht die Zerstörung der Logik, son-
dern ihre zarte Suspension lasse sich in Hölderlins später Lyrik beobachten.76
Die Logik hypotaktischer Satzkonstruktionen löse Hölderlin in parataktischen
Reihungen auf. Diese Reihung sei nicht nur in den formalen parataktischen
Konstruktionen Hölderlins zu finden. Auch wenn Hölderlin hypotaktische
Konjunktionen/Partikel verwende, würden diese, durch die musikalische Wei-
se ihres Gebrauchs, oftmals eher die Satzteile reihen als einen dem anderen
unterordnen. Sprache nähere sich der Musik an, indem die Logik der Urteile
der Logik der Möglichkeiten weiche.77 Mit der begrifflosen Synthesis wird
nicht der Verzicht auf jede Einheit angestrebt, sondern eine Einheit, die sich
selbst als nicht abschlusshaft weiß.78 Wie Hölderlin lässt Landauer die sprach-
liche Logik nicht einfach zerfallen, sondern hält an ihrer synthetischen Funkti-
on fest, zielt dabei aber auf »Synthesis vom anderen Typ, deren sprachkritische
Selbstreflexion«.79
Sprachkritik geriert sich bei Landauer im Anschluss an Mauthner als Kritik
am abstrakten, bestimmenden Urteil, das von außen an die Dinge herantritt und
sie einem durch Abstraktion gewonnenen Begriff subsumiert. Das Ganze als
Zusammenhang solcher abstrakt gewonnener Begriffe realisiert sich nur als
Herrschaftsanspruch gegenüber der Mannifaltigkeit. Die starren, »substantivi-
schen Allgemeinbegriffe«80 werden dementsprechend wegen ihrer »Schablo-
81 Ebd., S. 28.
82 Landauers Ansatz, den Zusammenhang von Einzelnem und Allgemeinem, politisch:
von Individuum und Gemeinschaft, auf sprachpoetischer Grundlage zu denken, habe
ich andernorts mit der Ontologie Spinozas verglichen. Spinozas Unterscheidung
zwischen abstrakten Universalbegriffen und Gemeinbegriffen (notiones communes)
und Landauers Differenzierung zwischen schablonenhaften Gattungsnamen und
sprachpoetisch erzeugten Allgemeinheiten laufen bis zu einem gewissen Grad paral-
lel (vgl. Elke Dubbels: Sprachkritik und Ethik: Landauer im Vergleich mit Spinoza.
In: Ulrich Kinzel [Hg.]: An den Rändern der Moral. Studien zur literarischen Ethik.
Ulrich Wergin gewidmet. Würzburg: Königshausen & Neumann 2008, S. 103–115).
83 Landauer, Skepsis und Mystik (wie Anm. 1), S. 28.
84 Ebd., S. 30.
85 Ebd., S. 17.
86 Ebd., S. 4.
87 Ebd., S. 29.
88 Ebd., S. 33.
89 Ebd., S. 41.
90 Vgl. Karl Eibl: Darwin, Haeckel, Nietzsche. Der idealistisch gefilterte Darwin in der
deutschen Dichtung und Poetologie des 19. Jahrhunderts. Mit einer Hypothese zum
biologischen Ursprung der Kunst. In: Henne und Kaiser, Fritz Mauthner – Sprache,
Literatur, Kritik (wie Anm. 47), S. 87–108, besonders S. 94.
3 Sprachtheorie zwischen Skepsis, Mystik und Dialog 85
ist sein Geblüt und seine Blutgemeinde. Blut ist dicker als Wasser; die Gemein-
schaft, als die das Individuum sich findet, ist mächtiger und edler und urälter als die
dünnen Einflüsse von Staat und Gesellschaft. Unser Allerindividuellstes ist unser
Allerallgemeinstes. Je tiefer ich in mich selbst heimkehre, um so mehr werde ich der
Welt teilhaftig.98
Auch Martin Bubers Sprachphilosophie entfaltet sich vor dem Hintergrund der
Sprachkritik um die Jahrhundertwende. Sowohl mit Mauthner als auch mit
Hofmannsthal, dessen Chandos-Brief bereits von den Zeitgenossen als poeti-
sche Adaption der Sprachkritik Mauthners gewertet wurde, war Buber be-
kannt, mit Gustav Landauer seit der gemeinsamen Friedrichshagener Zeit
befreundet. Bubers Sprachphilosophie bleibt »umrisshaft und selbst im Spät-
werk weitgehend an der Peripherie seines Denkens«.103 Eine systematische
Sprachphilosophie wird man vergebens bei Buber suchen. Stattdessen finden
sich sprachphilosophische Reflexionen verstreut in verschiedenen Schriften,
oftmals allerdings auch nur implizit. Abgesehen von Bubers programmatischer
Rede über die hebräische Sprache auf der Konferenz für hebräische Sprache
und Kultur in Berlin 1909104 sowie von seinen Notizen zur Übersetzung der
Hebräischen Bibel gibt es nur wenige Texte, in denen die Sprache zentraler
Gegenstand ist. Buber reflektiert über die Sprache zumeist nur im Zusammen-
hang mit anderen Themen. So verschränkt sich auch Bubers Thematisierung
des jüdischen Messianismus mit sprachphilosophischen Reflexionen.
In der jüdischen Mystik entdeckt Buber die Transformation des jüdischen
Messianismus zum Ethos. Die lurianische Kabbala habe den »ethisch-ekstati-
Legende des Baalschem. In: ders., Werkausgabe [wie Anm. 7], S. 158f., hier:
S. 159).
103 Asher Biemann: Einleitung. In: Martin Buber: Werkausgabe. Hg. von Paul Men-
des-Flohr und Peter Schäfer. Bd 6 (Sprachphilosophische Schriften), bearb., einge-
leitet u. kommentiert von Asher Biemann. Gütersloh: Gütersloher Verl.-Haus
2003, S. 9–68, hier: S. 9.
104 Vgl. Martin Buber: Die hebräische Sprache. In: Ders.: Die Jüdische Bewegung.
Bd 1. Berlin: Jüdischer Verlag 1916, S. 175–191. Vgl. zu Bubers kulturzionisti-
schem hebräischen Sprachkonzept und allgemein zu seiner Position in der Sprach-
debatte zwischen Zionisten und assimilierten liberalen Juden um Hebräisch, Jid-
disch und Deutsch: Arndt Kremer: Deutsche Juden – deutsche Sprache. Jüdische
und judenfeindliche Sprachkonzepte und -konflikte 1893–1933. Berlin, New York:
de Gruyter 2007 (Studia linguistica Germanica; 87), besonders S. 364–401.
88 Teil I
schen Akt des Einzelnen als Mitschaffen an der Erlösung«105 verkündet, dieses
»Mitschaffen« aber noch auf einen exklusiven Kreis von Menschen und deren
zumeist rituelle Handlungen beschränkt. Ins Volk gedrungen und als allgemei-
nes Ethos verstanden worden sei diese Lehre erst durch den Chassidismus, so
Buber. Um den sprachphilosophischen Implikationen des »ethisch-ekstatischen
Aktes« auf die Spur zu kommen, ist grundsätzlich nachzuvollziehen, wie Bu-
ber in der Einleitung zu den Geschichten des Rabbi Nachman (1906) die Ge-
schichte der jüdischen Mystik im Verhältnis zum jüdischen Messianismus
skizziert. Denn in diesem Zusammenhang geht Buber auch auf Form und
Funktion der Sprache bei den Mystikern ein. In der Einleitung zu den Ge-
schichten des Rabbi Nachman gibt Buber das messianische Ethos noch als
jüdisch nationales Ethos zu lesen. In seiner späteren dialogischen Phase nach
dem Ersten Weltkrieg verändert sich dies. Der Weg von Bubers Schreiben, den
dieses Kapitel nachzeichnen möchte, führt von der Mystik zum Dialog, vom
messianischen Ethos zur messianischen Ethik und von der Evokation zum
Vokativ.
Die Geschichten des Rabbi Nachman stellen Bubers erste Nacherzählung
chassidischer Geschichten und zugleich seine erste Buchveröffentlichung dar,
die ihm zu größerer Bekanntheit verhalf. Buber hebt gleich zu Beginn seiner
Einleitung die große Tradition jüdischer Mystik hervor, die man lange Zeit zu
leugnen versucht habe, wohingegen sie heute nicht mehr angezweifelt werden
könne. Mit dieser These stellt Buber sich sowohl gegen die Wissenschaft des
Judentums des 19. Jahrhunderts, die das Judentum als rationale Religion, frei
von Mystizismus und Aberglauben, interpretierte,106 als auch gegen das anti-
semitische Vorurteil, dass das Judentum keine Begabung zur Innerlichkeit und
a fortiori zur Mystik habe.107 In ihrer hergebrachten Form sei die mystische
Tradition, so Buber, zwar nicht mehr vorhanden. Dadurch habe sie aber nicht
jedwede Bedeutung für die Gegenwart verloren:
Freilich werden wir sie nicht mehr so ansehen dürfen, wie ihre alten Meister und
Jünger es taten: als ›Kabbala‹, das heißt: als Übergabe der Lehre von Mund zu Ohr
und wieder von Mund zu Ohr, in solcher Weise, daß jedes Geschlecht sie empfinge,
aber jedes in einer weiteren und reicheren Offenbarung und Ausdeutung, bis am En-
de der Zeiten die restlose Wahrheit verkündet würde; doch werden wir ihre Einheit,
105 Martin Buber: Die Geschichten des Rabbi Nachman. Frankfurt a. M.: Rütten &
Loening 1906, S. 10f.
106 Vgl. Michael Brenner: Jüdische Kultur in der Weimarer Republik. Übers. von
Holger Fliessbach. München: Beck 2000, S. 40.
107 Vgl. Paul Mendes-Flohr: Nachwort. In: Buber, Die Geschichten des Rabbi Nach-
man (wie Anm. 105), S. 149–160, besonders S. 150f., sowie Yossef Schwartz: The
Politicization of the Mystical in Bubers and his Contemporaries. In: Michael Zank
(Ed.): New Perspectives on Martin Buber. Tübingen: Mohr Siebeck 2006 (Religion
in philosophy and theology; 22), S. 205–218. Schwartz zitiert Adolf Lasson: »Ju-
dentum und Mystik sind sich ausschließende Gegensätze« (zitiert nach: ebd.,
S. 212).
3 Sprachtheorie zwischen Skepsis, Mystik und Dialog 89
ihre Besonderheit und ihre starke Bedingtheit durch die Art und das Schicksal des
Volkes, aus dem sie heraufwuchs, anerkennen müssen.108
Buber beschreibt hier nicht nur das Abreißen der mündlichen Tradition und
deutet damit die Probleme an, vor die er bei der Aufzeichnung der chassidi-
schen Geschichten gestellt ist. Diese kurze Passage enthält noch weitaus mehr:
Sie zeigt die Richtung an, die Buber bei der Aneignung dieser abgerissenen
Tradition verfolgt. Mit der mündlichen Tradition ist für Buber zugleich die
religiöse fraglich geworden. Denn die mündliche Tradition gibt Buber zugleich
als religiöse zu lesen, als »Offenbarung«, deren »restlose Wahrheit« am »Ende
der Zeiten« versprochen ist. Die Heutigen – in Bubers Diktion: »wir« – können
sie nicht mehr so auffassen. An die Stelle von Thora, Offenbarung und Wahr-
heit bei den »alten Meistern« rückt bei Buber »die Art und das Schicksal des
Volkes, aus dem sie [die Überlieferung; Anm. E. D.] herauswuchs«. Bereits
hier, ganz am Anfang von Bubers erster Veröffentlichung zur jüdischen Mys-
tik, die er als Nationalmystik präsentiert, ist der Ort der Politisierung der Mys-
tik bei Buber auszumachen.109
Die Politisierung der Mystik verläuft bei Buber über zwei recht unterschied-
liche theoretische und zeitgeschichtliche Achsen: Zum einen ist hier auf die
Religionssoziologie zu verweisen, die dem allgemeinen, strukturellen Zusam-
menhang von Religion und Gesellschaft nachgeht, wobei auf Buber besonders
Georg Simmels Arbeiten einen Einfluss ausübten.110 Zum anderen ist der Kon-
text der Neoromantik hervorzuheben, die die mystische Überlieferung des
christlichen Mittelalters wie auch der orientalischen Religionen feierte, wurde
sie doch als Ausdruck einer metaphysischen Erfahrung der Ureinheit der Welt
gerühmt, so etwa vom Verleger und neoromantischen Mäzen Eugen Diede-
richs. Trotz dessen antisemitischer Vorurteile standen Buber und Landauer mit
Diederichs im Kontakt. Nicht zuletzt diesem wollte Buber die mystische Tradi-
tion des Judentums dokumentieren, gehörte Diederichs doch zu denen, die eine
solche Tradition im Rahmen des Judentums anzweifelten.111 Im Kontext der
108 Buber, Die Geschichten des Rabbi Nachman (wie Anm. 105), S. 5.
109 In seinem Vorhaben, die exakte Stelle in Bubers Schriften zu lokalisieren, an der
die Mystik bei Buber politisiert wird, hat Yossef Schwartz jüngst diesen Punkt
merkwürdigerweise verfehlt (vgl. Schwartz, The Politicization of the Mystical [wie
Anm. 107], S. 212ff.) Schwartz kann erst nach dem Ersten Weltkrieg eine klare
politische und soziale Formulierung der Mystik in Bubers Der Heilige Weg fest-
stellen (vgl. ebd., S. 215).
110 Vgl. Paul Mendes-Flohr: Von der Mystik zum Dialog. Martin Bubers geistige
Entwicklung bis hin zu »Ich und Du«. Übers. von Dafna A. von Kries. Königstein
i. Ts.: Jüdischer Verlag 1979, besonders S. 83–87.
111 Kurz nach Erscheinen der Geschichten des Rabbi Nachman schickt Buber ein
Exemplar an Diederichs und schreibt: »Sie werden sich vielleicht erinnern, daß wir
einmal – vor mehreren Jahren – über die Frage der Existenz einer jüdischen Mystik
miteinander gesprochen haben. Sie wollten nicht recht daran glauben. Mit dem
Nachman-Buche habe ich eine Serie von Dokumenten dieser Existenz eröffnet«
(Martin Buber an Eugen Diederichs 21.01.1907. In: Martin Buber: Briefwechsel
90 Teil I
zugleich für Kontinuität wie Erneuerung und stimmen mit seinem kulturzionisti-
schen Programm überein. Dass es Buber mit der Rede vom »Märchen« weniger
um eine formanalytisch akkurate Gattungseinordnung als um eine kulturpoliti-
sche Geste ging, zeigt sich nicht zuletzt darin, dass Buber im Hinblick auf die
Geschichten des Rabbi Nachman mal von »Geschichten«, mal von »Legenden«
und dann eben von »Märchen« spricht. Wie lax Buber mit dem »Märchen« als
Gattung umgeht, wird auch darin deutlich, dass ihm selbst die antike Aggada-
und Midrasch-Literatur als »Märchenliteratur« gilt.118
Für den jungen Buber ist also das jüdische Volk und nicht die jüdische Re-
ligion Grund der jüdischen Mystik, in dem deren Einheit und Besonderheit
wurzeln soll. Auf der Linie dieser Argumentation schreibt Buber dem jüdi-
schen Volk bestimmte Eigenschaften zu, um die Spezifik der jüdischen Mystik
zu erklären. Als »ursprünglichen Eigenschaft des Volkes« deklariert Buber das
Pathos. Es soll die »Kraft der jüdischen Mystik« ausmachen.119 Das Pathos
umschreibt Buber wiederum auf höchst eigenwillige Weise. Es gebe der Seele
des Juden
einen Kern, eine Sicherheit, eine Substanz, allerdings keine sensorische, objektive,
sondern eine motorische, subjektive. […] Ich vermag es [das Pathos; Anm. E. D.]
nicht zu analysieren, noch auch in einer Definition zu fassen. Es ist ein eingeborenes
Eigentum, das sich einst mit allen anderen Qualitäten des Stammes aus dessen Orte
und Geschick heraus gebildet hat. Will man es immerhin umschreiben, so darf man
es vielleicht als Wollen des Unmöglichen bezeichnen. Es streckt die Arme aus, das
Schrankenlose zu umfangen. Es trägt eine schlechthin unerfüllbare Forderung, wie
das Pathos des Mose und der Propheten die Forderung der absoluten Gerechtigkeit,
wie das Pathos Jesu oder Pauli die Forderung der absoluten Liebe, oder eine
schlechthin unerfüllbare Absicht, wie das Pathos Spinozas die Absicht, das Sein zu
formulieren, oder ein schlechthin unerfüllbares Verlangen, wie das Pathos Philons
und der Kabbala das Verlangen nach der Vermählung mit Gott, die im Sohar ›Siw-
wug‹ genannt wird. So wird die Seele, die in den wirklichen Dingen keinen Boden
finden kann, von ihrer Leere und Unfruchtbarkeit erlöst, indem sie in dem Unmögli-
chen Wurzeln schlägt.120
Diese komplexe Passage ist nicht nur ein frühes Zeugnis für Bubers Bemühen,
ein jüdisch-orientalisches, subjektiv-motorisches Bewusstsein von einem ob-
jektiv-sensorischen griechisch-westlichen Bewusstsein zu unterscheiden,121
125 Mit der expressiven oder emotiven Funktion bezeichnet Jakobson die Ausrichtung
der Sprache auf den Sender, mit der konativen auf den Empfänger (vgl. Roman Ja-
kobson: Linguistik und Poetik. In: Ders.: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921–
1971. Hg. von Elmar Holenstein und Schelbert Tarcisius. 3. Aufl., Frankfurt a. M.:
Suhrkamp 1993 [Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft; 262], S. 83–121, beson-
ders S. 89f.).
126 Buber, Die Geschichten des Rabbi Nachman (wie Anm. 105), S. 8.
127 Vgl. Wilhelm Dilthey: Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psycholo-
gie. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd 5. 5., unveränderte Aufl., Stuttgart: Teub-
ner 1968, S. 139–240, hier: S. 170.
128 Martin Buber: Die Lehre vom Tao. In: Ders.: Werke. Bd 1. Heidelberg, München:
Kösel 1962, S. 1021–1051, hier: S. 1045.
129 Vgl. ebd., S. 1029, S. 1040f.
130 Ebd., S. 1044.
131 Vgl. Paul Mendes-Flohr: Buber’s Rhetoric. In: Ders. (Ed.): Martin Buber. A Con-
temporary Perspective. Syracuse (NY), Jerusalem: Syracuse Univ. Press 2002 (The
library of Jewish philosophy), S. 1–24, besonders S. 15f.
94 Teil I
Damit ist der Weg angezeigt, auf dem Buber versucht, der Antinomie der
Sprache zu begegnen, die sich in seiner Konzeption einstellen muss und die
Paul Mendes-Flohr wie folgt beschreibt: »Although pinioned to the phenome-
nal world, language bears the graced imprint of noumenal experience.«132 Ist
das Erlebnis auch unaussprechlich, so will es doch kommuniziert werden.
Gesucht ist eine Sprache, die das Erlebnis nicht semantisch kommuniziert,
sondern als Pathos, als Erregung oder Bewegung. Einer solchen Sprachkon-
zeption entspricht Bubers volkspsychologische These von der mehr motori-
schen als sensorischen Begabung des Juden.
Buber weist selbst darauf hin, dass diese volkspsychologische These sprach-
philosophische Implikationen hat: Da »der Jude« in seinem geistigen Leben
sehr viel intensiver reagiere als er empfange, gestalte er das Empfangene mehr
zu Wortgedanken und Begriffen statt zu Bildgedanken und Vorstellungen.
Nicht der einzelne sinnliche Gegenstand interessiere ihn, sondern die Bezie-
hung von Psyche und Kosmos, die er in mathematische Formeln und logischen
Definitionen, aber auch in Rhythmen und Melodien ausdrücke.133 Diese Pas-
sage erinnert an Landauers Abwertung der am empirischen Gegenstand orien-
tierten Raum- und Gesichtssprache zugunsten einer musikalischen Sprache,
worauf Asher Bieman hingewiesen hat.134 Buber wird aber nicht wie Landauer
die musikalische Sprache als Grundlage einer »neuen Wortkunst« und einer
neuen unsinnlichen Metaphernbildung propagieren. Die Ausführungen zum
Pathos zeigen, dass es ihm vielmehr um eine motorische, also eine bewegende
bzw. erregende Sprache zu tun ist. Nicht Landauer, sondern Buber geht es in
erster Linie um die Sprache als Stimmung oder Pathos erzeugendes Medium,
wie ich anders als Bieman sagen würde. Hierin erweist sich Buber als der
treuere Schüler Mauthners, der zwar mit der Vorstellung von Sprache als
Werkzeug der Erkenntnis aufräumt, der poetischen Sprache aber einen Vorteil
gegenüber der Sprache des Alltags und der Erkenntnis zugesteht. Denn so
wenig die Sprache für Mauthner ein Medium der Erkenntnis ist, so sehr rühmt
er sie als ein Medium der Stimmung. Das Poetische der poetischen Sprache sei
aber immer die Stimmung gewesen.135 Pathos ist bei Buber gleichwohl mehr
als Stimmung bei Mauthner, denn ersterer schreibt dem von ihm gemeinten
Pathos eine kognitive Relevanz zu, handelt es sich doch um den Affekt von
»Erlebnis« als erkenntnistheoretischer Kategorie.
Auch wenn Buber ein sehr spezielles Verständnis von Pathos hat, das bei
ihm eben nicht bloß Empfindung ist, sondern erkenntnistheoretische Bedeu-
tung hat, so richtet er den Fokus doch, wie die klassische Rhetorik, auf ein
136 Biemann spricht von der »Sprachüberwindung durch Sprache«, die den »charakte-
ristischen, oft als Affekt empfundenen Stil Bubers prägte« (vgl. Biemann, Einlei-
tung [wie Anm. 103], S. 68), ohne selbst die Verbindung zu Bubers eigener Pa-
thos-Theorie herzustellen.
137 Mendes-Flohr, Buber’s Rhetoric (wie Anm. 131), S. 18.
138 Buber verzichtet in seinen beiden frühen chassidischen Anthologien komplett auf
einen wissenschaftlichen Apparat, um jede Ähnlichkeit seines Ansatzes mit dem
der Wissenschaft des Judentums zu vermeiden, die in seinen Augen einer »jüdi-
schen Renaissance« entgegenstand (vgl. Urban, Hermeneutics of Renewal [wie
Anm. 117], S. 47).
139 Buber, Die Geschichten des Rabbi Nachman (wie Anm. 105), S. 28.
140 Ebd., S. 30.
141 Ebd.
96 Teil I
hebe sie doch auch die »Anderheit des Anderen«142 in einem »Ursein ohne
Gegenüber«143 auf. Ist dieses nur eine Projektion eines affektiv erlebten Selbst,
so reduziert sich auch der Andere auf das eigene Erlebnis.144 Der frühe Buber
rühmt demgegenüber noch an der jüdischen Mystik, dass sie das »Gottfinden
[…] auf das Selbstsein«145 gestellt habe – anders als die »deutsche[] Mys-
tik«,146 die das »›Entwerden‹ der Seele«147 lehre. Mystische und nationalkultu-
relle Selbstaffirmation reichen sich so die Hand.
Wenn man sich an die drei aristotelischen Redefunktionen, Pathos, Ethos
und Logos, hält, so fällt im Hinblick auf Bubers Einleitung zu den Geschichten
des Rabbi Nachman nicht nur auf, dass Buber den Logos, den argumentativen
Sachbezug der Rede, übergeht. Genauso auffällig ist es, dass er das Pathos mit
dem Ethos, dem Charakter des Sprechenden, identifiziert. Denn er definiert ja
das Pathos als »ursprüngliche Eigenschaft«148 des jüdischen Volkes; es sei
»ein eingeborenes Eigentum, das sich einst mit allen anderen Qualitäten des
Stammes aus dessen Orte und dessen Geschick heraus gebildet hat«.149 Das
Pathos als Ethos des jüdischen Volkes beschreibt Buber sowohl als geschicht-
lich erworbene Qualität, abhängig von Ort und Geschick, als auch als »einge-
borenes Eigentum«. Hierin mag man einen frühen Hinweis auf einen unausge-
sprochenen Lamarckismus bei Buber sehen, der auch in den Drei Reden des
Judentums zum Ausdruck kommt (vgl. Kap. II.2.2). Entscheidend ist aber,
dass Buber, indem er Pathos und Ethos identifiziert, die funktionale Geschie-
denheit zwischen Redner und Zuhörer aufhebt, denen Aristoteles jeweils Ethos
(Redner) und Pathos (Zuhörer) zugeordnet hatte. Damit suggeriert Buber eine
Gemeinschaft zwischen Redner und Publikum, die als rhetorischer Effekt in
seinen Texten wiederholt begegnet, eben auch in den Drei Reden über das
Judentum, die in Kapitel II.2.2 genauer analysiert werden. Auch auf Gustav
Landauer hat dieser Effekt gewirkt, schreibt er doch im Hinblick auf Bubers
zweites Buch zur jüdischen Mystik, Die Legende des Baalschem (1908), dass
zwischen ihm als Leser und Rezensenten des Baalschem und dessen Verfasser
150 Landauer, Die Legende des Baalschem (wie Anm. 102), S. 158.
151 Buber, Die Geschichten des Rabbi Nachman (wie Anm. 105), S. 10.
152 Ebd., S. 10.
153 Ebd.
154 Ebd., S. 10f.
155 Vgl. ebd., S. 12.
156 Ebd. Die These, dass die lurianische Kabbala die Grundlage für die sabbatianische
Bewegung darstellt, wird Gershom Scholem später zum Ausgangspunkt seiner
Forschungen zum Sabbatianismus machen, ohne dass er sie meines Wissens je auf
Buber zurückgeführt hätte. Der Einfluss Bubers auf Scholem, der durch Scholems
Abwehr gegenüber Buber seit dem Ersten Weltkrieg und nicht zuletzt durch ihre
Kontroverse über den Chassidismus verdeckt wurde, wird in jüngeren Forschungs-
arbeiten wieder hervorgehoben, die sich nicht an die von Scholem gezogenen
Frontlinien halten. So ist für Steven Aschheim fraglich, ob Scholem überhaupt oh-
ne Buber denkbar gewesen wäre (vgl. Steven E. Aschheim: Scholem, Arendt,
Klemperer. Intimate Chronicles in Turbulent Times. Bloomington u. a.: Indiana
University Press 2001, S. 30).
157 Buber, Die Geschichten des Rabbi Nachman (wie Anm. 105), S. 12.
98 Teil I
hunderts sei schließlich die »letzte[] und höchste[] Entwicklung der jüdischen
Mystik«158 in Gestalt des Chassidismus entstanden, der Buber als »Ethos ge-
wordene Kabbala«159 gilt. Sein Kern sei »eine höchst gotterfüllte und höchst
realistische Anleitung zur Ekstase«.160 An jedem Orte und zu jeder Zeit sei es
dem Menschen dabei gegeben, sich mit Gott zu vereinigen, so der »Baalschem
Tov« alias Israel Ben Elieser aus Miedzyborz, der Begründer des Chassidis-
mus und Urgroßvater des Rabbi Nachman. Denn auf allen Wegen finde der
Mensch Gott, der das Wesen der Dinge sei. Die Lehre des Baalschem habe
bald Eingang ins Volk gefunden, das auf seinen »eigenen Wert gestellt«161
worden sei und sich nicht mehr einer »›geistigen Aristokratie‹ von Talmud-
gelehrten«162 unterlegen fühlen musste, habe es doch vom Baalschem lernen
können, dass nicht das Wissen über den Rang eines Menschen entscheide,
sondern seine Gottesnähe. Einer solchen Lehre sei das Volk aber nicht ge-
wachsen gewesen, und so »entstand aus der Seelennot des Volkes eine Institu-
tion von Mittlern, welche Zadikkim, das ist Gerechte, genannt wurden.«163 In
dieser Institution von Mittlern zwischen Gott und Volk sieht Buber die imma-
nente Ursache der »Entartung«164 des Chassidismus, die auch Rabbi Nachman
nicht aufhalten können habe. Er habe wohl noch dem großen Traum vom Zad-
dik als »›Seele des Volkes‹«165 angehangen und die Menschen frei machen
wollen. »Aber das Volk war nicht sein geworden.«166
Buber gibt hier ein Muster für die Geschichte des Messianismus vor, an
dem er auch in seinen späteren, bibelexegetischen Arbeiten festhalten wird:
Aus einem anarchischen Zustand der unmittelbaren Gottesnähe, den Buber
später »Urmessianismus« (JCM VIII 5) nennt, erfolgt der Fall in die Repräsen-
tation, die Hierarchie, die Institution. Im Chassidismus nimmt Buber diesen
Fall im Zaddiktum wahr, in der Hebräischen Bibel im institutionellen, reprä-
sentativen Königtum (vgl. hierzu Kapitel II.2.3). Den Baalschem und seinen
Urenkel Rabbi Nachman stellt Buber als ›unverdorbene‹ Zaddikim dar, die
sich nicht von der Institution und ihren repräsentativen Formen (»Prachtliebe«)
vereinnahmen lassen haben. Buber präsentiert sie als »pure charismatic spiri-
tual leaders«.167 Solche charismatischen Führergestalten faszinieren Buber
auch später noch, so z. B. die biblischen Richter, die er mit Max Weber als
Vertreter charismatischer Herrschaft (im Unterschied zu legaler oder traditio-
Begegnung. Damit einher geht die Transformation eines noch als volksspezi-
fisch angesetzten messianischen Ethos zu einer allgemeinen messianischen
Ethik. »Ethos« hat ja eine doppelte griechische Herkunft, ۔șȠȢ und ۆșȠȢ, und
kann auf die moralische Gesinnung, den moralischen Charakter, aber auch auf
die Gewohnheit, den Brauch gemäß dem Herkommen verweisen.173 Dement-
sprechend konstruiert Buber das messianische Ethos in der Einleitung zu den
Geschichten des Rabbi Nachman als gruppenspezifisches, das das Judentum
als Volk auszeichne. Kabbala und Chassidismus haben aber mit der »Welterlö-
sung«174 einen universalen Fluchtpunkt, wie Buber natürlich weiß. Die Span-
nung zwischen Partikularismus und Universalismus im jüdischen Messianis-
mus wird uns in Bubers Texten immer wieder begegnen. Buber hat sie auf
unterschiedliche Weise zu lösen versucht. In seinen beiden ersten chassidi-
schen Büchern verlässt er sich noch darauf, dass die Verweise auf den luriani-
schen Erlösungsmythos, in dem sich der »Tikkun« auf individueller, nationaler
und kosmischer Ebene abspielt, über diese Spannung hinweghelfen.
Zu der Spannung zwischen Partikularismus und Universalismus kommt
noch eine weitere: Einerseits ist es möglich, das messianische Ethos im Exil zu
verwirklichen, wie der Baalschem und sein Urenkel Rabbi Nachman zeigen
und lehren. Andererseits bleibt die Rückkehr aus dem Exil nach Palästina das
Ziel des Baalschem, des Rabbi Nachman – und Bubers. Um diese Rückkehr
aus dem Exil vorzubereiten, soll ein nationales Selbstbewusstsein qua Kultur
geschaffen werden, so das kulturzionistische Programm Bubers. Zu diesem
Programm gehört die Wiederentdeckung der jüdischen Mystik. Deren Ethos
erklärt Buber zwar zum nationalen Ethos, das sich aber auch im Exil realisie-
ren lässt, wie man nicht zuletzt in Bubers eigenen chassidischen Publikationen
lesen kann. Die Verbindung zwischen messianischem Ethos und der Rückkehr
aus dem Exil, dem traditionellen Gegenstand der messianischen Sehnsucht,
bleibt also widersprüchlich.
Vom messianischen Ethos zur messianischen Ethik, vom Erlebnis zur Be-
gegnung, von der Mystik zum Dialog und von der Evokation zum Vokativ: So
lässt sich schlagwortartig der Weg von Bubers Denken beschreiben, wobei der
Erste Weltkrieg, von Buber anfänglich noch emphatisch gefeiert, die Wende
darstellt (s. Kap. II.2.3). Mit dem Dialog gewinnt auch die Sprachphilosophie
einen neuen Bezugspunkt. Die Umschlagpunkte von Bubers Denken verhalten
sich nun nicht wie absolute Gegensätze zueinander. Die Texte aus der Zeit
nach dem Ersten Weltkrieg unterscheiden sich zwar signifikant von den vorhe-
rigen, es ist aber Differenz und Kontinuität zwischen diesen beiden Schaffens-
phasen zu konstatieren. Illustrieren lässt sich dies an dem veränderten Blick
auf die chassidischen Texte, der sich in Bubers Publikationen ab den 1920er
Jahren findet. Kurz gefasst streicht Buber das ekstatische Moment, das charak-
173 Vgl. Hans Reiner: Ethos. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. von
Joachim Ritter und Karlfried Gründer. Bd 2. Basel: Schwabe 1972, Sp. 812–815.
174 Buber, Die Geschichten des Rabbi Nachman (wie Anm. 105), S. 11.
3 Sprachtheorie zwischen Skepsis, Mystik und Dialog 101
teristisch für seine frühere Erlebnismystik war, aus dem, was er nun die »chas-
sidische Botschaft« nennt:
Was die chassidische Botschaft von der Erlösung sagt, erhebt sich gegen die messi-
anistische Selbstunterscheidung eines Menschen von den andern Menschen, einer
Zeit von den andern Zeiten, einer Handlung von den andern Handlungen. Allem
Menschentum ist die mitwirkende Kraft zugeteilt, alle Zeit ist erlösungs-unmittelbar,
alles Handeln um Gottes willen darf messianisches Handeln heißen.175
In dieser Passage hebt Buber drei Differenzen auf, die aus dem Messianischen
ein Besonderes machen würden. Es gibt nicht den einen und einzigen messia-
nischen Heilsbringer im Unterschied zu allen anderen Menschen. Es gibt nicht
die messianische Heilszeit im Unterschied zu allen anderen Zeiten. Es gibt
kein ekstatisches oder sakrales Erlösungshandeln im Unterschied zu allem
anderen profanen Handeln. Zusammen mit diesen Differenzen wird die Leit-
differenz von heilig und profan aufgehoben, die den Gottesdienst auf ein sak-
rales Gebiet beschränkt. Damit richtet sich Buber aber nicht nur gegen den
sakralen Kult, sondern auch gegen die moderne funktionale Aufteilung der
Gesellschaft in verschiedene Bereiche, deren einer »Religion« heißt und eine
besondere, von allem anderen unterschiedene Sphäre markiert. Positiv dagegen
hält er die »Heiligung des Alltags«176 oder in messianischer Diktion: den »All-
Tag der Erlösung«.177 Der spätere Buber ist aber nicht nur von der Idee der
Alltäglichkeit, sondern auch von der Idee der Allgemeinheit des dialogischen
Gottesverhältnisses durchdrungen, das sich nirgends sonst als in der dialogi-
schen Begegnung mit Innerweltlichem realisieren lasse (»in jedem Du reden
wir das ewige [Du; Anm. E. D.] an«).178 Mit dem Anspruch auf Allgemeinheit
(»alle[s] Menschtum«) wendet Buber aber nicht nur das messianische Ethos zu
einer messianischen Ethik, sondern erhebt den Anspruch auf philosophische
Evidenz, die sich religiöser und/oder nationaler Partikularität enthebt, wie
Michael Theunissen zu Recht betont.179 Damit ist aber wie bei Rosenzweig zu
fragen, in welchem Verhältnis die Analytik einer allgemeinen Erfahrungsstruk-
tur zu der Analytik einer religiösen Erfahrung steht. Wie bei Rosenzweig soll
diese Frage an der methodischen Bedeutung der Sprache für Bubers Ich-und-
Du-Philosophie untersucht werden.
Buber expliziert sein dialogisches Denken an der Sprache. Gleichwohl steht
die Sprache viel weniger am Ausgang seines Denkens als etwa bei Rosen-
175 Martin Buber: Spinoza, Sabbatai Zwi und der Baalschem. In: Ders.: Werke. Bd 3.
Heidelberg, München: Kösel 1963, S. 742–757, hier: S. 756.
176 Ebd., S. 748; vgl. auch Martin Buber: Der große Maggid und seine Nachfolge. In:
Ders.: Die chassidischen Bücher. Berlin: Schocken o. J., S. 331–553, hier: S. 351.
177 Buber, Spinoza, Sabbatai Zwi und der Baalschem (wie Anm. 175), S. 753f.
178 Martin Buber: Ich und Du. Leipzig: Insel-Verlag 1923, S. 10.
179 Vgl. Michael Theunissen: Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart.
Berlin: de Gruyter 1965, S. 331–333.
102 Teil I
zweig.180 Hier setzt sich eine Tendenz fort, die schon beim frühen Buber zu
beobachten war. Am Chassidismus interessiert Buber vor allem ein am Erleb-
nis orientierter Frömmigkeitstypus und die Frage, wie das Erlebnis als Affekt
kommuniziert werden kann, nicht aber die Vorstellungen von Sprachmagie,181
die der Chassidismus von der Kabbala geerbt hat und die Scholems Aufmerk-
samkeit auf sich ziehen werden. Der spätere Buber verfolgt eine Ontologie des
Mitseins, die auf dem Unterschied zwischen den Grundworten Ich-Du und Ich-
Es aufbaut. Diese Grundworte sind keineswegs nur metaphorisch gemeint,
sondern es geht um gesprochene Worte, um verbale Sprache in einem nicht-
metaphorischen Sinn. Zugleich behauptet Buber aber, dass über die Grundwor-
te nicht die »wörtersprachliche Form«182 entscheide. Zum einen soll dies hei-
ßen, dass ich »Du« sagen und »Es« meinen kann oder umgekehrt »Es« sage
und »Du« meine. Zum anderen bedeutet dies, dass sich die Grundworte weder
auf das Feld der Rede beschränken noch sich in ihr erfüllen, was das Grund-
wort Ich-Du anbetrifft. Das Grundmodell von Bubers Ich-und-Du-Philosophie
ist ein intentionales Modell von Haltungen, die der »Einstellung«, einem inten-
tionalen Sich-Richten-auf, in der Phänomenologie Husserls entsprechen.183
Buber korreliert das Haltungsmodell mit der Lehre von den Grundworten:
Die Welt ist dem Menschen zwiespältig nach seiner zweifältigen Haltung. Die Hal-
tung des Menschen ist zweifältig nach der Zwiefalt der Grundworte, die er sprechen
kann. Die Grundworte sind nicht Einzelworte, sondern Wortpaare. Das eine Grund-
wort ist Ich-Du. Das andere Grundwort ist das Wortpaar Ich-Es, wobei, ohne Ände-
rung des Grundwortes, für Es auch eins der Worte Er und Sie eintreten kann.184
Auch wenn die »wörtersprachliche Form« nicht über die Grundworte entschei-
den soll, orientiert Buber sich doch in seiner Beschreibung des Ich-Du- und
Ich-Es-Verhältnisses an den Gesetzen der artikulierten Rede. Dass er in diese
dann wieder den Unterschied von Sagen und Meinen hineinträgt, zeigt ein
grundsätzliches Problem von Bubers Ich-und-Du-Philosophie an: Mit der On-
tologie des Mitseins oder des »Zwischen« will Buber die Sphäre der Subjekti-
vität, verstanden als intentional gerichtete Subjektivität von unterschiedlichen
Welthaltungen, überschreiten. Dabei geht Buber vom Intentionalitätsschema
aus, das die Ich-Es-Relation grundiert, um es in der Ich-Du-Relation zu zerbre-
chen. Er bleibt aber der Intentionalität auch in der Negativität des Zerbrechens
noch verhaftet.185
180 Vgl. Bernhard Casper: Das dialogische Denken. Franz Rosenzweig, Ferdinand
Ebner und Martin Buber. 2. Aufl., Freiburg, München: Alber 2002, S. 285.
181 Vgl. Moshe Idel: Hasidism. Between Ecstasy and Magic. Albany: State Univ. of
New York Press 1995 (SUNY series in Judaica), S. 213.
182 Buber, Ich und Du (wie Anm. 178), S. 64.
183 Vgl. Theunissen, Der Andere (wie Anm. 179), S. 278.
184 Buber, Ich und Du (wie Anm. 178), S. 9.
185 Vgl. Theunissen, Der Andere (wie Anm. 179), S. 281, S. 293.
3 Sprachtheorie zwischen Skepsis, Mystik und Dialog 103
Wenn die Beziehung zum Du unmittelbar sein soll, dann ist Du kein Mittel zu
einem Zweck. Aber auch die Beziehung selbst ist kein Mittel, das heißt, sie ist
kein Medium, das eine Botschaft überträgt. Das bedeutet nicht, dass diese
Beziehung überhaupt kein Medium sei. Ihre Bestimmung als »Zwischen«
weist die Beziehung vielmehr dezidiert als Medium aus, reicht doch die Tradi-
tion, Medien als »Zwischen« zu denken, bis in die Antike zurück. Die Antike
191 Vgl. Dieter Mersch: Medientheorien zur Einführung. Hamburg: Junius 2006,
S. 18–20.
192 Vgl. Jakobson, Linguistik und Poetik (wie Anm. 125), S. 91.
193 Vgl. Elmar Holenstein: Einführung: ›Von der Poesie und Plurifunktionalität der
Sprache‹. In: Roman Jakobson: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921–1971. Hg. von
Elmar Holenstein und Schelbert Tarcisius. 3. Aufl., Frankfurt a. M.: Suhrkamp
1993 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft; 262), S. 7–60, besonders S. 20.
194 Buber, Zwiesprache (wie Anm. 142), S. 16.
195 Buber, Ich und Du (wie Anm. 178), S. 49f.
196 Ebd., S. 71.
3 Sprachtheorie zwischen Skepsis, Mystik und Dialog 105
den darf«.197 Diese Sprache kenne weder ein Alphabet noch ein Wörter-
buch.198
Außer der Unmittelbarkeit ist es die Lehre von der gegenseitigen Konstitu-
tion von Ich und Du und ihrer beider Herkunft aus dem »Zwischen«, die die
Spezifik von Bubers dialogischem Ansatz ausmacht. Ich und Du gehen nicht
als fertige Seiende in die Begegnung, sondern die Beziehung als Begegnung
bringt die sich Begegnenden allererst hervor. Damit gelten Ich und Du Buber
als gleichursprünglich, das heißt, sie beide gehen aus dem Ereignis der Begeg-
nung hervor, in dem sie sich gegenseitig – »Ich-wirkend-Du und Du-wirkend-
Ich«199 – konstituieren sollen. Buber erteilt folglich nicht nur der Vorherrschaft
des Ich, sondern auch der Überordnung des Du eine Absage. In der Gleichur-
sprünglichkeit von Ich und Du unterscheidet sich Bubers Ansatz von dem
Rosenzweigs – und gleichzeitig von modernen Anrufungstheorien von Althus-
ser über Levinas200 bis hin zu Butler. Denn bei Rosenzweig kommt dem Du
der Primat vor dem Ich zu. Die Antwort auf die Anrufung: Wo bist du? konsti-
tuiert das Ich. Erst als solcherart Angesprochener werde ich fähig, andere an-
zusprechen. Bei Buber gehen Ansprechen und Angesprochenwerden dagegen
Hand in Hand. Vorrang vor Ich und Du hat das »Zwischen«, ein Sein, das
nicht Sein als Vorhandenheit meint, sondern ein Sein als eine im »Zwischen«
waltende Wirklichkeit, die Buber, wie wir sehen werden, mit Gott als dem
»ewigen Du« identifiziert. Eine Schwierigkeit von Bubers Ansatz ist nun, dass
er einerseits den Vorrang des Zwischen behauptet, aber andererseits vom In-
tentionalitätsschema ausgeht. Dieses soll wohl in der Ich-Du-Relation über-
wunden werden, die Initiative hierfür geht aber vom Ich aus, setzt man Ich-Du
als »Haltung«, wie Buber am Anfang seiner Schrift Ich und Du. Dadurch läuft
Buber Gefahr, dem Ich doch wieder den Vorrang vor dem Du einzuräumen –
eine Gefahr, die durch den Rahmen des Intentionalitätsschemas notwendig
gegeben ist und der in diesem Rahmen auch nicht entgangen werden kann.
Anders als Rosenzweig bindet Buber die Anrufung auch nicht an einen
einmaligen historischen Offenbarungsakt am Sinai zurück. In seinen philoso-
phischen Schriften Ich und Du sowie Zwiesprache geht er nicht von einer
jenseits der »innerweltlichen« Ich-Du-Begegnungen geschehenden Offenba-
rung Gottes aus. Vielmehr nennt Buber Gott das »ewige Du«, das nicht außer-
halb, sondern in der Beziehung zum einzelnen Du begegnet: »In jeder Sphäre,
durch jedes uns gegenwärtig Werdende blicken wir an den Saum des ewigen
Du hin, aus jedem vernehmen wir ein Wehen von ihm, in jedem Du reden wir
das ewige an, in jeder Sphäre nach ihrer Weise«.201 Bereits die Beziehung zum
einzelnen Du stellt Buber als ein Transzendieren des Es dar, das sich im Zer-
brechen der Intentionalität realisiert. Dieses Transzendieren wird allerdings als
zeitlich unbeständig und räumlich diskontinuierlich beschrieben, denn es löst
den »räumlich-zeitlich-ursächlichen Zusammenhang«202 des Du mit anderem
Seiendem auf.203 Das »ewige Du« ist nun die Transzendenz des Transzendie-
rens oder in Bubers Bildsprache: Im ewigen Du schneiden sich »die verlänger-
ten Linien der Beziehungen«.204 Es ist dasjenige Du, das als Du beständig
existieren soll. Hier springt Buber aus einer (was das Ich-Du-Verhältnis anbe-
trifft: negativen) Ontologie in die Ontotheologie. Theunissen hat diese Bewe-
gung und damit Bubers ontotheologischen Grundgedanken wie folgt um-
schrieben:
matischen Wissens vollzieht, um das sich Buber in seiner Analyse auch nur wenig
kümmert (vgl. Levinas, Martin Buber und die Erkenntnistheorie [wie Anm. 200],
S. 133).
201 Buber, Ich und Du (wie Anm. 178), S. 13.
202 Ebd., S. 38.
203 Vgl. ebd., S. 42: »Die Eswelt hat Zusammenhang im Raum und in der Zeit. Die
Duwelt hat in Raum und Zeit keinen Zusammenhang. Das einzelne Du muß, nach
Ablauf des Beziehungsvorgangs, zu einem Es werden. Das einzelne Es kann, durch
Eintritt in den Beziehungsvorgang, zu einem Du werden.«
204 Ebd., S. 101.
3 Sprachtheorie zwischen Skepsis, Mystik und Dialog 107
Sofern das ewige Du eben das ist, was über das einzelne Du hinaus ist und was in
der (transzendierenden) Verlängerung der Beziehung zu diesem begegnet, ist es das
Sein, das vom Standpunkt des in der Welt Vorkommenden als Nichts erscheint. Das
heißt nicht, es sei dieses Nichts. Es ist weder das bloße Nichts des Vorkommenden
noch etwas Vorkommendes, das hinter dem einzelnen angesprochenen Seienden
abermals vorkäme. In ihm ist vielmehr das, was vom Vorkommenden her wie nichts
aussieht, existente Wirklichkeit.205
Mit der Setzung Gottes als »ewiges Du«, das nicht, wie das einzelne Du, zum
Es werden könne, hängt es zusammen, dass Buber behauptet, Gott könne nur
angesprochen, nicht ausgesagt werden.206 Hiermit wendet sich Buber nicht nur
gegen die Theologie als Rede über Gott und gegen die philosophische Meta-
physik, die über Gott als causa Aussagen trifft.207 Vielmehr spricht er sich
auch gegen die Auffassung aus, dass die Offenbarung einen Inhalt habe, ohne
dass er Offenbarung als Idee überhaupt zurückweisen würde. Die »ewige, die
im Jetzt und Hier gegenwärtige Offenbarung«208 hält Buber fest. Sie ist die
Offenbarung des ewigen Du, Offenbarung der ewigen Gegenwart Gottes als
Wirklichkeit des Zwischen, auf die die innerweltlichen Ich-Du-Beziehungen –
und nur sie allein – führen. Offenbarung als »ausgesagtes Wissen und gesetz-
tes Tun der Religionen«209 lehnt Buber demgegenüber ab,210 womit eine ab-
lehnende Haltung auch gegenüber dem halachischen Judentum einhergeht.
Hieran entzündet sich seine berühmte, bereits oben erwähnte Debatte mit Ro-
senzweig über den Status der Halacha im Judentum (vgl. Kap. III.2.3). Buber
formuliert entschieden: »Offenbarung ist nicht Gesetzgebung.«211
Aussagen und Ansprechen sind die beiden Achsen der Sprachphilosophie ,
zu denen Buber im Rahmen seiner Ich-und-Du-Philosophie gelangt. Aussagen
ist auf einen Gegenstand bezogen, der als Träger von Eigenschaften erscheint.
Dagegen konstituiert sich im Ansprechen, im Vokativ des »Du« ein ungegen-
ständliches Du, an dessen Aktivität die Anrede appelliert. Unmittelbar ist die
Ansprache im Vokativ des »Du«, insofern in ihr Sprache nicht als Medium von
Botschaften gebraucht wird und ein »Du«, unvermittelt durch sachliche und
semantische Bezüge, angesprochen wird. Die Intention auf Unmittelbarkeit
zielt auf den Vollzug der Freiheit des Angesprochenen, der unabhängig von
meiner Intention sein soll und doch im Rahmen des Intentionalitätsschemas
von meiner Initiative abhängig ist – das bereits erwähnte Dilemma von Bubers
dialogischem Ansatz. Insofern sich für Buber der Dialog »außerhalb der mitge-
teilten oder mitteilbaren Inhalte«212 vollendet, gilt es, mit der Wortsprache
über diese hinauszugelangen, hin zu der einer »unübersetzbaren Sprache des
Tuns«,213 die auf die je einmalige Situation ohne Wörterbuch eingeht. Dem
späteren Buber geht es wie schon dem früheren darum, mit der Wortsprache
ein anderes als diese zu erzeugen: Zuerst ist es das Erlebnis als Affekt, später
ein paradoxes Tun, das zugleich ein Lassen, ein Nichttun sein soll, um solcher-
art die Gegenseitigkeit der Ich-Du-Beziehung, im Unterschied zum Ich-Es-
Verhältnis, zu realisieren.
Buber schreibt nun nicht nur über die verschiedenen Dimensionen der Spra-
che, sondern er versucht, sie schreibend in seinem eigenen Text einzuholen.
Dementsprechend wechselt sich in Ich und Du eine philosophisch begriffliche
mit einer poetischen Sprache ab.214 So bemerkt Buber etwa im Hinblick auf
die Aktualität und Latenz der Ich-Du-Beziehung, die immer wieder ins Es
zurückzufallen muss: »Aber die gegenständliche Sprache erhascht nur einen
Zipfel des wirklichen Lebens«, um dann in nicht mehr gegenständlicher, son-
dern metaphorischer Sprache fortzuführen: »Das Es ist die ewige Puppe, das
Du der ewige Falter.«215 Metaphorische Sprache ist nur eines der Mittel, die
Buber anwendet, um den Text zu poetisieren und die logische Begriffssprache
aufzubrechen. Dazu kommen rhetorische Fragen, Leseradressen, Dialoge mit
einem unidentifizierten Gesprächspartner, der den logischen Gang der Ideen
unterbricht, sowie lyrische Apostrophen an das Du. Durch diese Prozeduren
versucht Buber, den Text selbst zu einem Du zu machen, gilt doch, dass die
Du-Momente […] als wunderliche lyrisch-dramatische Episoden [erscheinen], von
einem verführenden Zauber wohl, aber gefährlich ins Äußerste reißend, den erprob-
ten Zusammenhang lockernd, mehr Frage als Zufriedenheit hinterlassend, die Si-
cherheit erschütternd, eben unheimlich, und eben unentbehrlich.216
Die Sprache Bubers ist nun an vielen Stellen nicht nur poetisch, sie ist oftmals
religiös, von der jüdischen Überlieferung geprägt. Wie schon bei Rosenzweig
stellt sich nun auch bei Buber die Frage, ob er in seiner dialogischen Philoso-
Ansprechen bzw. im Dialog und vergeht mit diesem. Soweit würde ich Theu-
nissens Versuch einer philosophischen Auslegung des »Zwischen« als existen-
ter Wirklichkeit folgen.221 Anders als dieser halte ich aber die Identifikation
der Wirklichkeit des »Zwischen« und des »ewigen Du« mit Gott keinesfalls
für unproblematisch.222 An ihr hängt die gesamte religiöse Semantik von Ich
und Du, nicht zuletzt die Semantik um »erlösen«, die es erlaubt, im Hinblick
auf die Ich-Du-Relation bei Buber von einer messianischen Ethik zu sprechen.
Für Buber ist es die »große Tat Israels […], dass es die Anredbarkeit […]
Gottes als Wirklichkeit zeigte«.223 Hieraus resultiert notwendig die Spannung,
dass Buber einerseits eine dialogische Erfahrungsstruktur beschreibt, die von
der Partikularität einer jeden und mithin auch der jüdischen Religion unabhän-
gig sein soll, ursprünglicher als diese; dass er aber andererseits die dialogische
Erfahrung als jüdische Lehre und Tat deklariert. Damit trennt Buber nicht
kategorisch zwischen seinen philosophischen Schriften und seiner bibelexege-
tischen Arbeit über den jüdischen Messianismus, die er wiederum auf seine
Vorstellung vom Zionismus und jüdischer Identitätspolitik abbildet (vgl. Kapi-
tel II.2.3). Es dürfte wohl nicht nur eine Unentschiedenheit im Denken Bubers
darstellen, sondern auch einen historisch politischen Hintergrund haben, dass
er die Offenbarung der Offenbarkeit mit der jüdischen Offenbarung identifi-
ziert, wenn es auch um Erfahrungen geht, die vom Judentum unabhängig und
ursprünglicher als dieses sein sollen. Denn auf diese Weise lässt Buber seine
Dialogphilosophie in seine jüdische Identitätspolitik hineinspielen, der wir
später noch weiter nachgehen werden.
Gerechtigkeit ist eine messianische Kategorie bei Benjamin genauso wie bei
seinem Freund Gershom Scholem. Beide reflektieren sie im Hinblick auf be-
stimmte sprachliche Strukturen. Bereits im frühen Sprachaufsatz von 1916
»Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen« sind Rechts-
und Sprachkritik bei Walter Benjamin aufs Engste miteinander verbunden.
Einem dem Bereich des Mythischen zugewiesenen Recht stellt Benjamin die
Vorstellung einer göttlichen Gerechtigkeit gegenüber, die er explizit als
sprachliche Gerechtigkeit in seinem späteren Essay »Karl Kraus« (1931) the-
matisiert. Macht Benjamin im Rahmen seiner allgemeinen Sprach- und
Rechtsphilosophie Anleihen bei der jüdischen Tradition, so bildet diese den
unmittelbaren Zusammenhang von Scholems Überlegungen. Dessen frühe
Versuche zu einer jüdischen Theorie der Gerechtigkeit kreisen um das Ver-
hältnis von Thora und Tradition, die er stets von ihrer sprachlichen Seite her
denkt, nämlich als Auslegungstradition der heiligen jüdischen Texte. Scholems
Sprachreflexion bezieht sich auf Strukturen der hebräischen Sprache – Benja-
min hat hingegen nie richtig Hebräisch gelernt. Auf Scholems Auffassung der
hebräischen Sprache baut auch sein Zionismus auf, wie sich in seinem be-
rühmten, an Rosenzweig gerichteten »Bekenntnis über unsere Sprache« zeigt.
Im letzten Teil dieses Kapitels werde ich Scholems Sprachbekenntnis als Re-
aktion auf Rosenzweigs Artikel »Neuhebräisch?« lesen. Scholem und Rosen-
zweig hatten nicht nur unterschiedliche Positionen gegenüber dem Zionismus,
sondern diese spiegeln sich in ihrem jeweiligen Verständnis der hebräischen
Sprache wider.
Wie ein Brennspiegel bündelt der Essay »Karl Kraus« aus dem Jahr 1931 viele
Motive von Walter Benjamins Schreiben bis dato. Recht und Gerechtigkeit,
barocke Naturgeschichte und Kreaturbegriff, mythischer »Schuldzusammen-
hang von Lebendigem« (GS I/1 138) und dämonische Zweideutigkeit, Anar-
chie als »einzig moralische, einzig menschenwürdige Weltverfassung« (GS
112 Teil I
theorie ableitet. Damit geht einher, dass Benjamin theologische Konzepte wie
Schöpfung und Erlösung als Sprache zu denken gibt. Im Kraus-Essay konstitu-
ieren Zitat, Name und Reim, wie wir noch genauer sehen werden, Erlösung als
Sprache. Im Zitat und im Reim bezieht sich die Sprache nun aber im eminen-
ten Sinn auf sich selbst, so dass Erlösung zu einem sprachimmanenten Phäno-
men wird. Benjamins sprachliche Säkularisierung der Erlösung behält jedoch
theologische Restbestände. Im gänzlich Profanen taucht wieder etwas Religiö-
ses, etwas Messianisches auf – diese Figur findet sich immer wieder bei Ben-
jamin.4
Bereits in seinem frühen Sprachaufsatz »Über Sprache überhaupt und über
die Sprache des Menschen« (1916) betont Benjamin, dass seine Betrachtung
zum »Wesen der Sprache auf Grund der ersten Genesiskapitel […] weder
Bibelinterpretation als Zweck verfolgt noch auch die Bibel an dieser Stelle
objektiv als offenbarte Wahrheit dem Nachdenken zugrunde []legt« (GS II/1
147). Vielmehr widmet Benjamin sich der Frage, was aus dem »Bibeltext in
Ansehung der Natur der Sprache selbst« (ebd.) sich ergebe. Er exemplifiziert
die nicht-signifikativen Dimensionen der Sprache im Rückgang auf den theo-
logischen Sprachdiskurs, ohne sie für die Theologie reservieren zu wollen.
Doch die Crux besteht darin, dass sich theologische Sprachmodelle nicht ohne
weiteres in profane Bereiche übertragen lassen. So funktioniert das von Ben-
jamin skizzierte Sprachmodell der Genesis, wie noch näher zu zeigen ist, nur
unter der Bedingung, dass man Gottes Wort als Offenbarung voraussetzt – eine
Voraussetzung, von der Benjamin gerade nicht mehr ausgehen möchte. Die
adamitische Sprache, der er sich in seinem frühen Sprachaufsatz widmet, lässt
sich als solche überhaupt nicht in profane Bereiche übertragen, denn sie ist an
theologische Voraussetzungen gebunden. Will man sprachtheoretische Er-
kenntnisse, die der theologische Sprachdiskurs der Genesis birgt, auch in
nicht-theologischen Zusammenhängen fruchtbar machen, dann müssen sie so
modifiziert werden, dass sie ohne die Offenbarung als ihre Voraussetzung
auskommen. Das ist die Aufgabe, die Benjamin stellt, wenn es um die »Natur
4 Prominentestes Beispiel hierfür ist das Umspringen der allegorischen Betrachtung,
das Benjamin am Ende seines Trauerspielbuches fokussiert. Vergänglichkeit werde
in den barocken Trauerspielen nicht nur allegorisch bedeutet. Vielmehr werde sie im
Umspringen der allegorischen Intention selbst allegorisch bedeutend: »Als Allegorie
der Auferstehung. […] Denn auch diese Zeit der Hölle wird im Raume säkularisiert
und jene Welt, die sich dem tiefen Geist des Satan preisgab und verriet, ist Gottes«
(GS I/1 406). Eine simplifizierende Lektüre wird in diesen Sätzen eine negative,
transzendente Heilsgewissheit ausgedrückt finden. Ganz so einfach ist es aber nicht.
Benjamin beschreibt den Umschwung der barocken Allegorien des Vergehens als
Vergehen der Allegorie, um auf eine Welt nach der Intentionalität und der Subjekti-
vität, die er mit der Allegorie verbindet, hinzudeuten. Das Vergehen der Allegorie ist
aber selber nur als Allegorie zu haben. Vgl. zu dieser Paradoxie Bettine Menke: Ur-
sprung des deutschen Trauerspiels. In: Burkhardt Lindner (Hg.): Benjamin-
Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, Weimar: Metzler 2006, S. 210–228,
besonders S. 226.
114 Teil I
der Sprache selbst« (GS II/1 147) zu tun sein soll. Benjamin hält sich selbst
nicht grundsätzlich an eine saubere Unterscheidung zwischen theologischem
Sprachmodell und sprachimmanentem Modell, das »der Natur der Sprache
selbst« gemäß ist, weder im frühen Sprachaufsatz noch später. Nichtsdestotrotz
gibt diese Unterscheidung eine wichtige Richtung in Benjamins Sprachdenken
an, der ich in diesem Kapitel folgen möchte. Hiermit verbunden sind folgende
Fragen:
In welcher modifizierten Form lassen sich die sprachtheoretischen Erkennt-
nisse, die Benjamin in der Analyse der Genesis gewinnt, in andere Register
eintragen, etwa in das Register der profanen Literatur oder der Politik? In
diesen beiden Registern verzeichnet Benjamin immerhin den Wiener Sprach-
kritiker Karl Kraus bereits 1920, als dieser ihm »auf dem Wege zu einem gro-
ßen Politiker«5 zu sein scheint. Was bleibt vom adamitischen Sprachmodell im
späteren Kraus-Essay? Und wie sind die »messianischen Potenzen«6 der Spra-
che zu denken, auf die Benjamin mit der »Engelsprache« (GS II/1 363) im
Kraus-Essay anspielt? Welches theologische Sprachmodell steht hier im Hin-
tergrund, und wie wird es gegebenenfalls modifiziert? Diese Fragen sollen uns
im Folgenden in der Lektüre von Benjamins Kraus-Essay beschäftigen. Die
zentrale Stellung, die der Kraus-Essay in diesem Kapitel hat, erklärt sich dar-
aus, dass er, deutlicher noch als der frühe Sprachaufsatz von 1916, zeigt, dass
unter profanen Bedingungen nicht ungebrochen am adamitischen Sprachmo-
dell festzuhalten ist. Die durch den frühen Sprachaufsatz aufgeworfene Frage,
wie die Überführung des adamitischen Sprachmodells der Genesis in ein pro-
fanes, sprachimmanentes zu denken ist, nimmt der Kraus-Essay wieder auf.
Benjamins Kraus-Essay ist in drei Abschnitte aufgeteilt: »Allmensch«,
»Dämon«, »Unmensch« als die drei physiognomischen Ansichten von Karl
Kraus. In dem Abschnitt über den »Allmenschen« behandelt Benjamin Kraus’
Orientierung an der Natur als Schöpfung. Im zweiten Teil geht es unter dem
Titel »Dämon« um Kraus’ Fixierung auf die Sphäre des Rechts. Der dritte
Teil, »Unmensch« betitelt, dreht sich schließlich um den von Benjamin so
genannten »realen Humanismus« (GS II/1, 355, 363ff.), den Benjamin mit
dem Marxismus assoziiert. Als dessen Bote erscheine bei Kraus der Un-
mensch, ein »Geschöpf aus Kind und Menschenfresser, […] ein neuer Engel«
(GS II/1 367). Die drei Abschnitte behandeln also Schöpfung, Gericht und
Erlösung, die Benjamin als Sprachkonzepte bzw. als Sprachpraktiken bei
Kraus zu lesen gibt.
Die Schöpfung dient Karl Kraus als positiver Maßstab seiner Pressekritik,
deren bevorzugter Gegenstand die »Phrase« ist. Diese erkennt Benjamin als
Kraus’ Inbegriff des »Unechten«. Der Entlarvung dieses Unechten habe sich
Kraus’ Kampf gegen die Presse verschrieben: »›Wer nur hat diese große Ent-
schuldigung: zu können, was man nicht ist, in die Welt gebracht?‹ Die Phrase.
Sie ist aber eine Ausgeburt der Technik« (II/1 336). Der Hiatus zwischen Sein
und technischem Können drückt sich für Kraus in der Gleichzeitigkeit von
Ungleichzeitigem, nämlich von neuer technischer Lebenswelt bei alten Le-
bensformen, aus. »Die Phantasie der Neuzeit ist hinter den technischen Errun-
genschaften der Menschheit zurückgeblieben«,7 lässt Kraus die Figur des
Nörglers in seinem Weltkriegsdrama Die letzten Tage der Menschheit sagen.
Der Hauptvorwurf des Nörglers gegenüber der Presse vor und im Kriege be-
steht dementsprechend nicht darin, dass sie korrupt gewesen sei und mit den
Krieg treibenden Parteien gemeinsame Sache gemacht hätte. Vielmehr gilt für
den Nörgler: »Nicht daß die Presse die Maschinen des Todes in Bewegung
setzte – aber daß sie unser Herz ausgehöhlt hat, uns nicht mehr vorstellen zu
können, wie das wäre: das ist ihre Kriegsschuld!«8
Ist die Phrase für Kraus Inbegriff des Unechten,9 so baut er die »Natur
schlechtweg […] in ihrem ungebrochenen Ursein« (GS II/1 353) als ihre Kon-
trastfolie auf. Hieraus gewinne Kraus, so Benjamin, den Maßstab seiner Kritik,
nämlich den theologischen Takt:
Takt ist nicht etwa – wie nach der Vorstellung Befangener – die Gabe, jedem unter
Abwägung aller Verhältnisse das ihm gesellschaftlich Gebührende werden zu lassen.
Im Gegenteil: Takt ist die Fähigkeit, gesellschaftliche Verhältnisse, doch ohne von
ihnen abzugehen, als Naturverhältnisse, ja selbst als paradiesische zu behandeln und
so nicht nur dem König, als wäre er mit der Krone auf der Stirn geboren, sondern
auch dem Lakaien wie einem livrierten Adam entgegenzukommen. Diese Noblesse
hat Hebel in seiner Priesterhaltung besessen, Kraus besitzt sie im Harnisch. Sein
Kreaturbegriff enthält die theologische Erbmasse von Spekulationen, die zum letzten
Mal im 17. Jahrhundert aktuelle, gesamteuropäische Geltung besessen haben. (GS
II/1 339)
Takt beruhe bei Kraus nicht auf gesellschaftlicher Konvention, sondern orien-
tiere sich, als theologischer Takt, an der Übereinstimmung von Sein und Gel-
tung. Einen König so zu behandeln, als wäre er mit der Krone auf der Stirn zur
Welt gekommen, heißt, zu unterstellen, dass ihn seine königliche Natur – und
nicht etwa menschliche Einrichtungen – zum König mache. Die Rede davon,
»gesellschaftliche Verhältnisse, doch ohne von ihnen abzugehen, als Naturver-
hältnisse, ja selbst als paradiesische zu behandeln«, findet ein Echo im letzten
Teil von Benjamins Essay. Hier schreibt Benjamin, Kraus’ Programm sei es,
»die bürgerlich-kapitalistischen Zustände zu einer Verfassung zurückzuentwi-
7 Karl Kraus: Die letzten Tage der Menschheit. Tragödie in fünf Akten mit Vorspiel
und Epilog. In: Ders.: Schriften. Hg. von Christian Wagenknecht. Bd 10. 12. Aufl.,
Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005 (Suhrkamp-Taschenbuch; 1320), S. 208.
8 Ebd., S. 677.
9 Einerseits stellt sich, nach Kraus’ Auffassung, die Phrase vor die Sache, andererseits
produziert sie Effekte, die selbst realitätsmächtig sind (vgl. Helmut Arntzen: Karl
Kraus und die Presse. München: Fink 1975, S. 41).
116 Teil I
ckeln, in der sie sich nie befunden haben« (GS II/1 363). Das Menschenwürdi-
ge nicht als »Bestimmung und Erfüllung der befreiten – revolutionär veränder-
ten – Natur, sondern als Element der Natur schlechtweg« (GS II/1 353) zu
begreifen wie Kraus, muss jemandem, der mit dem historischen Materialismus
liebäugelt wie Benjamin, aufstoßen. Mit einem langen Zitat von Karl Marx
wendet sich Benjamin dann auch gegen das »Phantom« des »›natürlichen‹
Menschen« (GS II/1 364).
Der Versuch, den gesellschaftlichen Verhältnissen im Schöpfungsstand ih-
ren Ursprung zuzuweisen, begegnet in barocken Dramen wie auch in der baro-
cken juristischen Theorie, wie man in Benjamins als Habilitationsschrift ge-
planter Studie Ursprung des deutschen Trauerspiels nachlesen kann (vgl. GS
I/1 264). Zur »theologischen Erbmasse« von barocken Spekulationen, die
Benjamin Kraus attestiert, gehört es, dass Kraus keinen Begriff von Geschichte
als einem selbständigen Bereich zwischen Schöpfung und Weltgericht habe.
Benjamin sieht Geschichte bei Kraus vielmehr in barocker, theologisch ge-
prägter Naturgeschichte aufgehen. Die »Schreckensjahre seines Lebens« habe
Kraus, so Benjamin, nicht als Geschichte, sondern als Natur begriffen, als
»ein[en] Fluß, verurteilt durch eine Höllenlandschaft sich zu winden. Es ist die
Landschaft, in der täglich 50.000 Baumstämme für 60 Zeitungen fallen« (GS
II/1 341). Wandert im Barock die Geschichte in den Schauplatz hinein (vgl.
GS II/1 271), so auch bei Kraus. Benjamin kann sich daher nicht der Meinung
von Kraus’ Freund Adolf Loos anschließen, dass »Kraus an der Schwelle einer
neuen Zeit« (GS II/1 348) stünde. Kraus sei kein historischer Genius. Die
Spanne zwischen Schöpfung und Weltgericht finde bei ihm »keine heilsge-
schichtliche Erfüllung, geschweige denn geschichtliche Überwindung« (GS
II/1 340). Er befinde sich »nicht an der Schwelle einer neuen Zeit. Kehrt er der
Schöpfung je den Rücken, bricht er ab mit Klagen, so ist es nur, um vor dem
Weltgericht anzuklagen« (GS II/1 349).10
Als »Überläufer in das Lager der Kreatur« (GS II/1 341) eignen Kraus zwei
Sprachgebärden: die Klage und die Anklage. Ankläger ist Kraus, wenn er der
Schöpfung den Rücken kehrt und vor dem Weltgericht auftritt. Mit der Klage
ist er aber bei der Kreatur. Über die Klage als Ausdruck der Natur hatte Ben-
jamin schon am Ende von »Über Sprache überhaupt und über die Sprache des
Menschen« gehandelt. »Es ist eine metaphysische Wahrheit, daß alle Natur zu
klagen begönne, wenn Sprache ihr verliehen würde« (GS II/1 155), schreibt
Benjamin hier und betont die Doppeldeutigkeit dieses Satzes. Er bedeute zum
einen, dass die Natur über ihre Stummheit klagen würde. Zum anderen besage
der Satz, dass die Klage der sprachliche Ausdruck der Natur wäre, und zwar
11 Hierüber geht die Forschung hinweg, wie sie überhaupt das Verhältnis von adamiti-
scher Namensprache zur Klage, die am Schluss von Benjamins Essay thematisiert
wird, vernachlässigt. Ich danke Ulrich Wergin für diesen Hinweis.
118 Teil I
12 Vgl. Karl Kraus: Der Reim. In: Ders.: Schriften. Hg. von Christian Wagenknecht.
Bd 7. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1987 (Suhrkamp-Taschenbuch; 1317), S. 323–358.
13 In diesem Ideal geht Kraus’ Sprachauffassung zwar nicht auf, es lässt sich aber
durchaus bei ihm annehmen (vgl. Jürgen Link: Karl Kraus im Kampf mit der Phrase
oder Versuch über den Anteil der Katachresen an der modernen Kultur. In: KultuR-
Revolution 43 [Dezember 2001], S. 50–55, besonders S. 53).
4 Gerechtigkeit als Sprache und Gerechtigkeit als messianische Kategorie 119
Das Zitat, »das Wort des Andern«, spielt in Kraus’ satirischer Strategie eine
zentrale Rolle. Denn diese zielt darauf, die Handlungen und Worte der Zeitge-
nossen qua Zitat sich selbst zur Schau stellen und verurteilen zu lassen: »[D]ie
grellsten Erfindungen sind Zitate. Sätze, deren Wahnwitz unverlierbar dem
Ohr eingeschrieben ist, wachsen zur Lebensmusik. […] Phrasen stehen auf
zwei Beinen – Menschen behielten nur eines«,15 schreibt Kraus im Vorwort
seines satirischen Dokumentardramas Die letzten Tage der Menschheit, das zu
über 50 Prozent aus Zitaten besteht. Das »Wort des Andern« wird in Kraus’
Texten zum »corpus delicti« in einem Strafprozess, den Benjamin im großen
Kraus-Essay präzisiert, indem er ihn einen »Sprachprozeß[]« (GS II/1 349)
nennt. Denn Kraus übt Kritik an der Sprache, d. h. an der zeitgenössischen
Sprachverwendung, durch die Sprache selbst.16 Oder in Benjamins juristischer
Terminologie: In Kraus’ »Sprachprozeßordnung« (GS II/1 349) habe die Spra-
che den Vorsitz in der Gerichtskammer, in die sich jeder Gedanke im Nu ver-
wandeln könne.
Die Thematik von Sprache und Recht verweist wieder zurück auf Benja-
mins frühen Aufsatz »Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Men-
schen«. Für Benjamin hat der Sündenfall, im Hinblick auf den »Wesenszu-
sammenhang der Sprache« (GS II/1 153), eine dreifache Bedeutung. So stelle
der Sündenfall erstens die Geburtsstunde der Sprache als Mittel dar. Denn mit
der Frage nach Gut und Böse begebe sich der Mensch jenseits der Schöpfung
und ihrer Positivität. Angesichts dessen, dass Gott seine Schöpfung als sehr gut
erkannt hat (»und siehe, es war sehr gut« (Gen 1,31; GS II/1 152), sei das
Wissen um Gut und Böse nichtig und selbst das einzig Böse, das der paradiesi-
sche Zustand kenne. Das Wissen um Gut und Böse verlasse die Namenspra-
che, durch die der Mensch mit der Sprache der Dinge verbunden ist. Das
menschliche Wort als Mittel, als »äußerlich mitteilende[s] Wort[]« (GS II/1),
trete aus der immanenten Magie der Namensprache heraus; es soll »etwas
mitteilen (außer sich selbst)« (GS II/1 153). In der Namensprache teile sich
hingegen die Sprache, das sprachlich-geistige Wesen des Menschen, selbst
mit, indem es die Dinge benennt. Das Wissen um Gut und Böse installiert
demgegenüber Sprache als Mittel und »bloße[s] Zeichen« (GS II/1), durch das
etwas von der Sprache Verschiedenes bezeichnet werden soll.
Zweitens interpretiert Benjamin den Sündenfall unter sprachphilosophi-
schen Gesichtspunkten als Ursprung des »richtende[n] Wort[es]« (GS II/1
153), des Urteils. Im Urteil trete das Wort aus der immanenten Sprachmagie
heraus, um »ausdrücklich, von außen gleichsam, magisch« (GS II/1 153) zu
wirken. Als Mittel ausdrücklicher, äußerlicher Magie wird die Sprache den
Intentionen der Sprechenden untergeordnet und zu der Sprache äußerlichen
Zwecken gebraucht. Die »Magie des Urteils« (GS II/1 153) sieht Benjamin
sich aber gegen diejenigen richten, die sie evozieren – das richtende Wort
verstößt die ersten Menschen aus dem Paradies. Eine ungeheure Ironie kenn-
zeichne den Sündenfall als »mythischen Ursprung des Rechtes« (GS II/1 154):
Die ersten Menschen haben selbst das richtende Wort »exzitiert, zufolge einem
ewigen Gesetz, nach welchem dieses richtende Wort die Erweckung seiner
selbst als die einzige, tiefste Schuld bestraft – und erwartet« (GS II/1 153). Die
dritte sprachphilosophische Bedeutung des Sündenfalls schließlich ist mit der
Problematik des Urteils verbunden. Denn im Urteil drückt sich das Vermögen
des Sprachgeistes zur Abstraktion aus, die ein Ab-Sehen von den konkreten
sinnlichen Dingen impliziert.
Benjamins Rechtskritik, die ihren prägnantesten Ausdruck in dem Aufsatz
»Zur Kritik der Gewalt« (1921) gefunden hat, ordnet das Recht dem Bereich
des Mythos, dem mythischen Kreislauf von Schuld und Rache, zu. In Benja-
mins Augen hat Karl Kraus das Recht in seiner mythischen Substanz durch-
schaut wie wenige – und ruft es dennoch beständig an. Dies gehört zum »Dä-
mon« Kraus: Teil dessen zu sein, was er anklagt. Diesen dämonischen Bann
versuche Kraus aufzuheben, indem er die Rechtsordnung selbst in den Ankla-
gezustand versetze:
Man hat von Kraus gesagt, er habe das Judentum in sich niederringen, gar den Weg
vom Judentum zur Freiheit zurückgelegt – nichts widerlegt dies besser, als daß auch
ihm Gerechtigkeit und Sprache ineinander gestiftet bleiben. Das Bild der göttlichen
Gerechtigkeit als Sprache – ja in der deutschen selber – zu verehren, das ist der echt
jüdische Salto mortale, mit dem er den Bann des Dämons zu sprengen sucht. Denn
dies ist die letzte Amtshandlung des Eiferers: die Rechtsordnung selbst in Anklage-
zustand zu versetzen. […] Kraus stellt das Recht in seiner Substanz, nicht in seiner
Wirkung unter Anklage. Sie lautet Hochverrat des Rechtes an der Gerechtigkeit.
Genauer, des Begriffs am Worte, aus dem er sein Dasein hat: vorsätzliche Tötung
der Phantasie. (GS II/1 349)
Das »Bild der göttlichen Gerechtigkeit« zwar nicht direkt als Sprache, wohl
aber als ästhetische Urteilskraft hatte Benjamin implizit bereits in seinem Es-
4 Gerechtigkeit als Sprache und Gerechtigkeit als messianische Kategorie 121
say »Zur Kritik der Gewalt« aufgerufen. Benjamin zielt hier darauf, die Frage
der Gerechtigkeit aus dem Grunddogma der Mittel-Zweck-Korrelation, in dem
sich die Schulen des Naturrechts und des positiven Rechts träfen, herauszufüh-
ren. Strebe das Naturrecht danach, durch Gerechtigkeit der Zwecke die Mittel
zu rechtfertigen, so das positive Recht danach, durch die Berechtigung der
Mittel die Gerechtigkeit der Zwecke zu garantieren (vgl. GS II/1 180). Benja-
min hält dagegen, dass gerechte Zwecke nicht Zwecke eines möglichen Rechts
sein könnten. Gerechtigkeit sei vielmehr »das Prinzip aller göttlichen Zweck-
setzung« (GS II/1 198), im Gegensatz zur Macht als dem »Prinzip aller mythi-
schen Rechtsetzung« (GS II/1 198). Dieses spekulative Schema Gerechtig-
keit/Zweck/Gott versus Macht/Recht/Mythos lässt Benjamin nun in die Ästhe-
tik hinüberspielen, indem er implizit auf Kants Kritik der Urteilskraft Bezug
nimmt. Denn Benjamin begründet die These, dass gerechte Zwecke nicht
Zwecke eines möglichen Rechts sein könnten, damit, dass gerechte Zwecke
allgemeingültig, aber nicht verallgemeinerungsfähig zu denken seien. Die
Differenzierung zwischen »allgemeingültig« und »verallgemeinerungsfähig«
expliziert Benjamin im Hinblick auf den Einzelfall: »Zwecke, welche für eine
Situation gerecht, allgemein anzuerkennen, allgemeingültig sind, sind dies für
keine andere, wenn auch in anderen Beziehungen noch so ähnliche Lage« (GS
II/1 196). Der Anspruch auf Allgemeingültigkeit und die gleichzeitige Rück-
sicht auf den strikten Einzelfall kennzeichnen nun aber die ästhetische, reflek-
tierende Urteilskraft bei Kant, der sie von der bestimmenden Urteilskraft un-
terscheidet.17 Kants Differenzierung zwischen logisch bestimmender und re-
17 Vgl. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. Hg. von Wilhelm Weischedel. 2. Aufl.,
Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1996, S. 87: »Ist das Allgemeine (die Regel, das Prinzip,
das Gesetz) gegeben, so ist die Urteilskraft, welche das Besondere darunter subsu-
miert, […] bestimmend. Ist aber nur das Besondere gegeben, wozu sie das Allge-
meine finden soll, so ist die Urteilskraft bloß reflektierend.« Auf Kants Kritik der
Urteilskraft als Bezugstext von Benjamins »Zur Kritik der Gewalt« hat Hamacher
hingewiesen (vgl. Werner Hamacher: Afformativ, Streik. In: Christiaan L. Hart
Nibbrig [Hg.]: Was heißt »Darstellen«? Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1994 [Edition
Suhrkamp; 1696 = N.F.; 696], S. 340–371, hier: S. 349). Hamacher fasst dabei Ben-
jamins Unterscheidung von Recht und Gerechtigkeit, Verallgemeinerungsfähigkeit
und singuläre Allgemeingültigkeit wie folgt zusammen: »Gesetze fordern Allge-
meinheit, aber sie gründen ihren Anspruch, allgemein zu gelten, auf eine Subsump-
tionslogik, die jede einzelne Lage nur als Anwendungsfall eines Gesetzes in Be-
tracht zieht und dabei die Singularität dieser Lage mißachtet. […] Gerechtigkeit ist
wesentlich Situationsgerechtigkeit. […] Für die Theorie der Gerechtigkeit folgt aus
dieser Überlegung, daß reine Mittel und gerechte Zwecke immer die einer singulä-
ren Situation sind, daß nur singuläre, unter allgemeine Gesetze nicht befaßbare Mit-
tel und Zwecke Allgemeingültigkeit beanspruchen, nur singuläre für gerecht gelten
können. Ihre Singularität ist keine nach Regeln schon erkannte oder je erkennbare,
sondern eine solche, die in der Abwesenheit von Regeln allgemeine Anerkennung
erst fordert« (ebd., S. 349f.). Hamacher arbeitet des Weiteren die sprechakttheoreti-
schen Implikationen von Benjamins Unterscheidung zwischen Recht und Gerechtig-
122 Teil I
keit heraus. Sei die Rechtssetzung als performativer Akt der Einsetzung zu denken,
so müsse im Hinblick auf die sprachliche Struktur der Gerechtigkeit die Sprechakt-
theorie um ein Präformativ ergänzt werden. Denn singuläre gerechte Zwecke und
reine Mittel verweisen für Hamacher auf die Sprache in ihrer prä-positionalen, vor-
performativen Medialität, die er »afformativ« nennt (vgl. ebd., S. 348).
18 Vgl. Sander L. Gilman: Jüdischer Selbsthaß. Übers. von Isabella König. Frankfurt
a. M.: Jüdischer Verlag 1993, S. 139.
19 Die »deutsche Sprachkultur von Juden« ist das Thema einer Studie von Stephan
Braese. Außer der Dignifizierung der deutschen Sprache in Abgrenzung zu deren
Ethnifizierung erkennt Braese als Komponenten der deutschen Sprachkultur von Ju-
den die kulturelle Erfahrung von Mehrsprachigkeit und Sprachwechsel (Stephan
Braese: Eine europäische Sprache. Deutsche Sprachkultur von Juden 1760–1930.
Göttingen: Wallstein 2010).
4 Gerechtigkeit als Sprache und Gerechtigkeit als messianische Kategorie 123
che Sprache, sondern eine Sprache, die sich aus Zitat und Reim zusammen-
setzt, aus Formen, in denen sich die Sprache in hervorragender Weise auf sich
selbst bezieht. Göttliche Gerechtigkeit wird dort verortet, wo die Sprache ganz
zu sich kommt, die immanente »Natur der Sprache selbst« (II/1 147) zum
Ausdruck gelangt. Die Kehrseite von Benjamins radikaler sprachlicher Säkula-
risierung theologischer Konzepte ist, wie wir noch sehen werden, dass in der
immanenten »Natur der Sprache selbst« wieder etwas Religiöses aufscheint.
Der Hochverrat des Rechts an der Gerechtigkeit, den Kraus anprangere,
übersetzt Benjamin mit dem Verrat des Begriffs am Wort bzw. der vorsätzli-
chen Tötung der Phantasie. Indem Kraus nun die Technik des Zitats verwen-
det, vollzieht er, in Benjamins Darstellung, beides: Anklage des Rechts bzw.
des Begriffs und Rettung des Wortes bzw. der Phantasie. Mit dem Verfahren
des Zitierens verwendet Kraus eine Technik des Gerichts, um die Rechtsord-
nung selbst anzuklagen und zugleich zu übersteigen zur »Anarchie als einzig
moralische[r], einzig menschenwürdige[r] Weltverfassung« (GS II/1 356). Das
Verb »zitieren« ist im Deutschen zuerst in der Rechtssprache beheimatet ge-
wesen, wo es im 15. Jahrhundert im Sinne von »vor Gericht laden« gebraucht
wurde. Das Wort ist aus lateinisch »citare« entlehnt, das »herbeirufen, vorla-
den; sich auf jemandes Zeugenaussage berufen, anführen, erwähnen« bedeutet.
Man zitiert jemanden vor Gericht, indem man ihn beim Namen vor Gericht
ruft.20 »Aus dem Sprachkreis des Namens«, behauptet Benjamin, »erschließt
sich das polemische Grundverfahren von Kraus: das Zitieren« (GS II/1 362).
Benjamins anschließende Beschreibung von Kraus’ Zitatpraxis ist wohl die
berühmteste, meistzitierte Stelle des Essays:
Ein Wort zitieren heißt es beim Namen rufen. So erschöpft sich auf ihrer höchsten
Stufe die Leistung von Kraus darin, selbst die Zeitung zitierbar zu machen. […] Im
rettenden und strafenden Zitat erweist die Sprache sich als die Mater der Gerechtig-
keit. Es ruft das Wort beim Namen auf, bricht es zerstörend aus dem Zusammen-
hang, eben damit aber ruft es dasselbe auch zurück an seinen Ursprung. Nicht unge-
reimt erscheint es, klingend, stimmig, in dem Gefüge eines neuen Textes. Als Reim
versammelt es in seiner Aura das Ähnliche; als Name steht es einsam und aus-
druckslos. Vor der Sprache weisen sich beide Reiche – Ursprung so wie Zerstörung
– im Zitat aus. Und umgekehrt: nur wo sie sich durchdringen – im Zitat – ist sie
vollendet. Es spiegelt sich in ihm die Engelsprache, in welcher alle Worte, aus dem
idyllischen Zusammenhang des Sinnes aufgestört, zu Motti in dem Buch der Schöp-
fung geworden sind. (GS II/1 362f.)
Benjamin gibt das Zitat als Name zu lesen. Von der Benjamin-Forschung ist
bisher wenig beachtet worden, dass es interessanterweise auch in der linguisti-
schen Zitattheorie eine Schule gibt, die Zitate von ihrer logischen Funktion her
als Namen interpretiert.21 Das Zitat ist eine Form der sprachlichen Metareprä-
sentation, d. h. eine sprachliche Bezugnahme auf eine andere sprachliche Re-
präsentation. Eine durch Alfred Tarski begründete Schule der Linguistik geht
nun davon aus, dass ein in Anführungszeichen gesetzter Ausdruck oder eine
zitierte Äußerung, die sich auf den Anführungsausdruck bzw. die angeführte
Äußerung selbst beziehen, wie Eigennamen funktionieren. Das Zitat ist der
Eigenname der zitierten Äußerung oder des zitierten Ausdrucks, so Tarski.22
Aus der Namenstheorie folgt die Konsequenz, dass angeführte Äußerungen als
logisch unstrukturierte, referentiell undurchsichtige und singuläre Termini
anzusehen sind.23 Die Theorie, Zitate als Eigennamen zu verstehen, ist umstrit-
ten in der Linguistik, gibt aber wichtige Hinweise für Benjamins Zitattheorie.
Das, was passiert, wenn ein Wort beim Namen gerufen wird, bestimmt Benja-
min als einen dekontextualisierenden Vorgang: Zitiert, beim Namen aufgeru-
fen, werde das Wort bei Kraus »zerstörend aus dem Zusammenhang« gebro-
chen. Der sprachliche Ausdruck als solcher, jenseits seines Verwendungszu-
sammenhangs, wird dadurch hervorgehoben (und stellt bei Kraus damit
zugleich seinen Verwendungszusammenhang bloß). Als Name stehe das Wort
einsam und ausdruckslos, so Benjamin. Hierbei kann er kaum an die adamiti-
schen Namen der Dinge gedacht haben, sondern an Eigennamen, die keiner
Objekterkenntnis entsprechen, wie Benjamin bereits in seinem frühen Sprach-
aufsatz schreibt (vgl. GS II/1 149f.). Indem Worte zitiert, beim Namen gerufen
werden, wird der sprachliche Ausdruck auf sich selbst als sprachlichen Aus-
druck bezogen und dadurch eine Differenz von Sprache und Ding markiert.24
Als einsamer und ausdrucksloser Name funktioniert das Wort nicht mehr als
Objektsprache und verweist, einsam, auf sich selbst.
Einerseits konstruiert Benjamin das Zitat auf diese Weise als Sprache der
Sprache, als Eigenname, der allein auf den sprachlichen Ausdruck selbst refe-
riert. Andererseits schneidet er aber das Band zwischen Sprache und Ding
nicht ganz durch, erklärt er doch: »Als Reim steigt die Sprache aus der kreatür-
lichen Welt herauf, als Name zieht sie alle Kreatur zu sich empor« (GS II/1
361). Hier scheint wieder die adamitische Namenstheorie durch. Benjamins
äquivoker Gebrauch des Ausdrucks »Name«, der Ding-, aber auch Eigenname
bedeuten kann, trägt dazu bei, dass die Definition des Zitats als Name schillert.
Benjamin konzipiert das Zitat als Eigenname, der sich auf den sprachlichen
Ausdruck selbst beziehen soll, der aber auch die Funktion der adamitischen
Namen wieder aufgreift, indem es heißt, dass er »alle Kreatur zu sich em-
por[zieht]«. In dem Moment, wo die Sprache ganz profan wird und sich im
Zitat – und sei es das Kraus’sche Zeitungszitat – immanent auf sich selbst
bezieht, eignet ihr wieder die mystische Namensmagie, die Benjamin im frü-
hen Sprachaufsatz beschrieben hat. Wenn die Sprache ganz zu sich selbst
kommt, wird sie auch wieder zum Ausdruck der Natur – das vollendet Profane
reicht dem Mystischen die Hand. Sie treffen sich darin, dass sie den »idylli-
schen Zusammenhang des Sinns« aufstören.
Im »rettenden und strafenden Zitat« geht die Dekontextualisierung, der auf-
gestörte Zusammenhang, mit einer Rekontextualisierung einher: Nicht »unge-
reimt« erscheine das Wort, sondern »klingend, stimmig, in dem Gefüge eines
neuen Textes«. Das Gefüge dieses »neuen Textes« beruht also nicht auf Re-
geln der Grammatik oder Semantik, sondern auf der nicht-semantischen Ord-
nung des Klangs, des Reims.25 Benjamin sieht im strafenden und rettenden
Zitat einen Spiegel der Engelsprache, in welcher »alle Worte, aus dem idylli-
schen Zusammenhang des Sinnes aufgestört, zu Motti in dem Buch der Schöp-
fung geworden sind«. Mit dem Stichwort der »Engelsprache« gibt Benjamin
eine ›erlöste Sprache‹ oder Erlösung als Sprachform zu denken. Um diese
angemessen beurteilen zu können, muss man die Mehrdeutigkeit im »Buch der
Schöpfung« hören. Denn das »Buch der Schöpfung« lässt sich nicht nur als
Hinweis auf die Genesis lesen, sondern im genauen Wortsinn ist es vielmehr
die Übersetzung des hebräischen Sefer Jezira, eines frühen mystischen Textes,
dessen Datierung umstritten ist und zwischen dem 1. und 9. nachchristlichen
Jahrhundert schwankt.26 Der Sefer Jezira hat für die Ausbildung der jüdischen
25 Bettine Menke verweist auf Benjamins »Lehre vom Ähnlichen«, um das von Ben-
jamin angesprochene Textgefüge zu erläutern, das durch den Reim organisiert wird:
»Die Relation des ›Reims‹ zeigt, so wäre […] mit Benjamins Lehre vom Ähnlichen
zu formulieren, einen Zusammenhang ›unsinnlicher Ähnlichkeit‹ in der Sprache an,
die sich in einer innersprachlichen konstellativen und konfigurierenden Affinität
manifestiert« (Bettine Menke: Sprachfiguren. Name – Allegorie – Bild nach Benja-
min. Weimar: Verlag und Datenbank für Geisteswiss. 2001 [Medien i; 6], S. 506).
26 Vgl. zum historischen Hintergrund und zur Frage der Datierung des Sefer Jezira
Klaus Hermann: Das Sefer Jezira. In: Sefer Jezira. Buch der Schöpfung. Hg. u.
126 Teil I
übers. von Klaus Hermann. Frankfurt a. M., Leipzig: Verlag der Weltreligionen im
Insel Verlag 2008, S. 131–219, besonders S. 184–204.
27 Robert Alter hat bereits Benjamins Anspielung auf den Sefer Jezira bemerkt (vgl.
Robert Alter: Necessary Angels. Tradition and Modernity in Kafka, Benjamin, and
Scholem. Cambridge [Mass.]: Harvard Univ. Press 1991, S. 81). Alter wertet diese
Bezugnahme als Zeichen der Kontinuität zwischen den frühen metaphysischen und
den späteren marxistisch orientierten Texten Benjamins. Die Anspielung auf den Se-
fer Jezira im Kraus-Essay zeige, dass Benjamin bleibend von der Idee einer kosmi-
schen Sprache des Ursprungs fasziniert gewesen sei. Alter geht nicht weiter auf den
Sefer Jezira ein und berücksichtigt folglich auch nicht dessen besonderes Sprach-
modell des Sefer Jezira. Erst dieses Sprachmodell macht aber deutlich, inwiefern die
›erlöste Sprache‹ bei Benjamin nicht einfach mit der Sprache des Ursprungs oder der
Schöpfung zusammenfällt. – Ich möchte mich an dieser Stelle noch einmal herzlich
bei Brian Britt für den Hinweis auf Robert Alters Studie bedanken.
28 Benjamin hat nach Auskunft Scholems Molitors Philosophie der Geschichte oder
über die Tradition neben Werken Franz von Baaders 1917 bestellt (Gershom Scho-
lem: Walter Benjamin – die Geschichte einer Freundschaft. 4. Aufl., Frankfurt a. M.:
Suhrkamp 1997 [Bibliothek Suhrkamp; 467], S. 53).
29 Mit diesem Ausdruck bezeichnet Winfried Menninghaus die sprachphilosophische
Aneignung der Kabbala bei den Romantikern (Menninghaus, Walter Benjamins
Theorie der Sprachmagie [wie Anm. 3], S. 199). Menninghaus kritisiert die Rich-
tung der Forschung, die Berührungspunkte Benjamins mit der historischen Kabbala
suche und verkenne, dass Benjamins Kenntnis der Kabbala über die Romantiker
(Hamann, Schlegel, Novalis, v. Baader) und deren ästhetische Reformulierung der
Kabbala vermittelt sei. Diese »zweite Kabbala« sei der Fundus für Benjamins mys-
tisch-magische Begrifflichkeit (vgl. ebd., S. 192). Den »kabbalistischen Horizont«
von Benjamins Sprachtheorie streicht Menninghaus damit nicht weg, sondern rückt
ihn in die romantische ästhetische Traditionslinie ein.
30 Vgl. hierzu die grundlegende Studie von Andreas Kilcher: Die Sprachtheorie der
Kabbala als ästhetisches Paradigma. Die Konstruktion einer ästhetischen Kabbala
seit der Frühen Neuzeit. Stuttgart, Weimar: Metzler 1998, besonders S. 242–278.
Kilcher zeigt, wie kabbalistische Entschlüsselungstechniken zu poetischen Verfah-
ren der Verschlüsselung transponiert werden.
4 Gerechtigkeit als Sprache und Gerechtigkeit als messianische Kategorie 127
Der Sefer Jezira behandelt die sprachlichen Verfahren, mit denen Gott das
Universum geschaffen haben soll. Die 22 Buchstaben des hebräischen Alpha-
bets bilden die Grundlage der Sprache der Schöpfung. »Jede einzelne Creatur
stellt die Ausprägung irgend eines heiligen Buchstabens dar«,31 schreibt Moli-
tor im Hinblick auf den Sefer Jezira. Dort geht es jedoch nicht nur um die
Schöpfungskraft der einzelnen Buchstaben, sondern als die wichtigste Erfin-
dung des Sefer Jezira gilt das Konzept der 231 möglichen Kombinationen
zweier hebräischer Buchstaben, aus denen alle Worte und a fortiori der
Mensch und die Welt geschaffen sein sollen. Aus der bedeutungslosen Kombi-
nation von zwei Buchstaben sind dem Sefer Jezira zufolge Welt und Mensch
erschaffen worden. Die Permutation und Kombination von Buchstaben, unab-
hängig von der Semantik, wird als sprachliches Verfahren der Schöpfung ver-
anschlagt, und nicht etwa die konventionelle Buchstabenfolge, die bedeutsame
Worte und Sätze generiert. Insofern der Sefer Jezira die Sprache in einzelne
Buchstaben als sprachliches, nicht-signifikatives Material atomisiert, das die
Grundlage für die Kombination und die Permutation der Buchstaben darstellt,
marginalisiert er vollkommen den kommunikativen, semantischen Aspekt der
Sprache: »God did not create the world by statements, by meaningful utteran-
ces, but by abstract forces, marked by the letters of the alphabet.«32
Die Sprachauffassung des Sefer Jezira übte einen großen Einfluss auf die
spätere kabbalistische Hermeneutik aus. Atomisierung des biblischen Textes
und Buchstabenkombination tauchen als Auslegungstechniken zum Beispiel
bei Abraham Abulafia im 13. Jahrhundert wieder auf. Die Technik der Atomi-
sierung des Textes ist für diesen höchste Auslegungskunst. Er nennt sie den
»Pfad der Namen«, denn indem das Kontinuum der Buchstaben aufgetrennt
werde, werde der biblische Text in göttliche Namen zerlegt.33 Eine solche kab-
balistische Hermeneutik, die auf dem Sefer Jezira aufbaut, überschreitet den
biblischen und den rabbinischen Standpunkt. In der rabbinischen Literatur und
implizit auch in der Bibel selbst begegnet der Glaube, dass die spezifische
Reihenfolge der Buchstaben, die den biblischen kanonischen Text konstituie-
ren, eine entscheidende Bedeutung habe. Diese Textauffassung ist auf Bewah-
rung der Textbedeutung ausgerichtet. Die Kombinationsmöglichkeiten, die der
Sefer Jezira erörtert, transzendieren demgegenüber die hergebrachte Textbe-
31 Franz Joseph Molitor: Philosophie der Geschichte oder über die Tradition. Bd 2.
Münster: Theissing 1834, S. 249.
32 Joseph Dan: The Language of Creation and Its Grammar. In: Christoph Elsas u. a.
(Hg.): Tradition und Translation. Zum Problem der interkulturellen Übersetzbarkeit
religiöser Phänomene. Berlin, New York: de Gruyter 1994, S. 42–63, hier: S. 59.
33 Vgl. Moshe Idel: Kabbalah – New Perspectives. New Haven, London: Yale Univ.
Press 1988, S. 236: »The disintegration of social language into meaningless units is
considered by Abulafia as the path of transformation of human language into divine
names«.
128 Teil I
deutung, ja, sie transzendieren überhaupt Sprache als Medium, mit dem Inhalte
übertragen werden sollen.34
Wenn Benjamin das »Buch der Schöpfung« als das »Gefüge eines neuen
Textes« (GS II/1 363; Hervorhebung E.D.) beschreibt, in dem die qua Zitat
beim Namen gerufenen Worte erscheinen, so lässt sich das schwerlich auf die
Genesis in ihrer überlieferten Textgestalt beziehen, sondern muss als Anspie-
lung auf den Sefer Jezira verstanden werden. Denn ein Buch der Schöpfung,
das »den idyllischen Zusammenhang des Sinnes« aufstört, ist weniger die
Genesis als der Sefer Jezira. Spielt die Semantik in der Permutation und Kom-
bination der Buchstaben im Sefer Jezira keine Rolle, so löst auch die de- und
rekontextualisierende Zitierpraxis, die Benjamin bei Kraus ausmacht, die
Sprache aus dem Sinnzusammenhang. Für den Historiker der jüdischen Mystik
Moshe Idel hat die kabbalistische Hermeneutik, die auf dem Sefer Jezira fußt,
Ähnlichkeit mit der avantgardistischen Sprachpraxis, wie man sie von den
Symbolisten und den Surrealisten kennt.35 Offenkundig hat Benjamin ebenfalls
Parallelen zwischen mystischer Hermeneutik und zeitgenössischen poetischen
Sprachtechniken bemerkt, wenn er Karl Kraus’ literarische Strategie der Zi-
tatmontage mit dem »Buch der Schöpfung« alias dem mystischen Sefer Jezira
assoziiert.36
Adorno hat eine Verwandtschaft zwischen Benjamin und Kraus in dem für
beide charakteristischen Interpretationsansatz gesehen, »profane Texte so zu
betrachten, als wären es heilige«.37 Dieser Satz Adornos impliziert unter-
schiedliche Lesarten. Es kann einmal um spekulative, theologische Sprachmo-
delle gehen, vor deren Hintergrund profane Texte betrachtet werden. Zum
anderen können Auslegungstechniken gemeint sein, die an heiligen Texten
entwickelt worden sind und nun auf profane Texte angewandt werden. Wel-
chen Status haben aber theologische Sprachmodelle, wenn die Bibel nicht
mehr als »offenbarte Wahrheit« in Betracht kommt (vgl. GS II/1 147)? Das
adamitische Sprachmodell funktioniert nur, wenn Gottes Wort als Ursprung
der stummen Sprache der Dinge und der benennenden Sprache des Menschen
veranschlagt wird. Denn »Objektivität« kann die Übersetzung der stummen
Sprache der Dinge in die benennende Sprache des Menschen nur beanspru-
34 Vgl. Moshe Idel: Das Buch Jezira in der jüdischen Tradition. In: Das Buch Jezira in
der Übersetzung von Johann Friedrich von Meyer. Hg. von Eveline Goodman-Thau
und Christoph Schulte. Berlin: Akademie-Verlag 1993, S. 39–44, besonders S. 41.
35 Vgl. Idel, Kabbalah – New Perspectives (wie Anm. 33), S. 236.
36 Vgl. zur ästhetischen Kabbala im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts Kilcher, Die
Sprachtheorie der Kabbala (wie Anm. 30), S. 345–358, sowie Cornelia Temesvári:
Kabbala als Kreationsfiktion. Starker Dichter und schreibender Golem bei Harold
Bloom und Cynthia Ozick. In: Dies. und Roberto Sanchiño Martínez (Hg.): »Wovon
man nicht sprechen kann…«. Ästhetik und Mystik im 20. Jahrhundert. Philosophie –
Literatur – visuelle Medien. Bielefeld: transcript 2010, S. 107–130.
37 Theodor W. Adorno: Einleitung zu Benjamins ›Schriften‹. In: Ders.: Über Walter
Benjamin. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1970, S. 33–51, hier: S. 41.
4 Gerechtigkeit als Sprache und Gerechtigkeit als messianische Kategorie 129
chen, wenn sie als »in Gott verbürgt« angenommen wird (vgl. GS II/1 151).
Wenn das Wort Gottes – also die Bibel – nicht mehr als Garant für die Objek-
tivität der Übersetzung in einem ternären Sprachmodell vorausgesetzt werden
kann, dann lässt sich das adamitische Namensmodell nicht mehr halten. Kraus
rekurriert mit dem theologischen Takt als Maßstab der Kritik noch ungebro-
chen auf das Sprachmodell der Genesis. Anders Benjamin. Dass für ihn nicht
ungebrochen am adamitischen Sprachmodell festzuhalten ist, wird in seiner
kritischen Beschäftigung mit Kraus besonders deutlich, wirft Benjamin Kraus
doch vor, die Dimension des Historischen zu verkennen und an dem Ideal
einer »archaischen geschichtslosen« Natur orientiert zu bleiben (vgl. GS II/1
353). Dieses Ideal informiert aber auch den theologischen Takt bei Kraus und
das mit ihm korrespondierende Sprachmodell. »]I]n Ansehung der Natur der
Sprache selbst« (GS II/1 147) bleibt für Benjamin das adamitische Sprachmo-
dell dahingehend wichtig, dass es ihm eine Alternative dazu liefert, Sprache
nur als Mittel der Mitteilung von ihr fremden Inhalten anzusehen. Dass Spra-
che kein Medium ist, durch das etwas mitgeteilt wird, sondern in dem sich
etwas mitteilt, nämlich Sprache als geistiges Wesen selbst – diese Einsicht in
das Wesen der Sprache, die Benjamin in der Bibel findet, ist auch von Rele-
vanz, wenn man die Bibel nicht als offenbarte Wahrheit voraussetzt. Auch die
postlapsarische Sprache, also Sprache als Mittel und abstraktes Urteil, kann
vom Instrument zum Medium werden, das sich selbst mitteilt: etwa indem sie
sich im Zitat auf sich selbst bezieht, sich selbst benennt, oder im Reim allein
auf lautlicher Grundlage operiert. Die Sprache aus Zitat und Reim verbindet
den historischen Raum mit dem Naturraum, definiert Benjamin das Zitat doch
als Sprache der Geschichtsschreibung (vgl. GS V/1 595) und ordnet den Reim
dem Kind, der kreatürlichen Welt und dem Naturlaut zu. Vom Zwang der
Signifikation befreit werden im Zitat sowohl die Dinge als auch die Sprache,38
die im Reim zu sich selbst als Medium wie zur Natur als lautlicher Ausdruck
kommt.
Urteile, die zitiert werden, werden nicht exekutiert. Hans Mayer hat es ein-
mal als misslich bezeichnet, wie Kraus »den Weltuntergang zu gestalten, mit
unterzugehen, dann aber das Jüngste Gericht zu überleben und die Tragödie
drucken zu lassen«.39 Das ist aber das Paradox von apokalyptischer Literatur
überhaupt, die nicht nur den Weltuntergang darstellen, sondern den Untergang
mit ihrem Wort selbst vollziehen will.40 Benjamin gibt diesem Paradox am
Ende seines Kraus-Essays eine andere Wendung:
38 Vgl. Schulte, Ursprung ist das Ziel (wie Anm. 1), S. 121.
39 Hans Mayer: Der Widerruf. Über Deutsche und Juden. Frankfurt a. M.: Suhrkamp
1996, S. 64.
40 Strukturell verbinden apokalyptische Texte den Anspruch, über die gesehene und
gehörte transzendente Wahrheit zu berichten, mit dem Anspruch, selbst die trans-
zendente Wahrheit zu sein und sie ins Werk zu setzen. Anders gesagt: »Die Sprach-
zeichen sind die Gegenwart des Wesens der Sache, dessen also, ›was geschehen
muss‹« (Hartmut Böhme: Vergangenheit und Gegenwart der Apokalypse. In: Ders.:
130 Teil I
Zerstörend ist […] die Gerechtigkeit, die destruktiv den konstruktiven Zweideutig-
keiten des Rechtes Einhalt gebietet; zerstörend ist Kraus dem eigenen Werk gerecht
geworden: ›Zurück als Führer bleibt mein ganzes Irren.‹ Das ist die Sprache der
Nüchternheit, die ihre Herrschaft in der Dauer begründet, und schon haben die
Schriften von Kraus zu dauern begonnen.
Kraus’ Werk ist selbst zitierbar und im Sinne des dekontextualisierenden Zitats
zerstörbar geworden.41 Aus Kraus’ Urteilen und Verurteilungen werden Zwei-
fel, die zu erregen Kraus selbst in dem kurzen Text »Die Sprache« einem Den-
ken in der Sprache als »moralische Gabe« zuschreibt.42 Mit dem Zitat bemüht
Kraus eine Gerichtstechnik und subvertiert zugleich das Gericht – das Gericht
eingeschlossen, das seine eigenen Schriften üben wollen. Gerade indem Kraus’
Werke zu dauern angefangen haben und das Jüngste Gericht, das sie selbst sein
wollen, überleben, eröffnen sie den Raum für eine Sprache jenseits des Rechts
– eine Sprache des Irrens und des Zweifelns.43 Der »Aufschub der Exekutive«,
durch den sich Urteile in Fragen verwandeln, ist auch für den jungen Scholem
Kennzeichen der Gerechtigkeit, aus deren Perspektive er das Verhältnis von
Thora (Weisung/Recht) und Tradition/Kommentar bestimmt. »Im Aufschub
handeln heißt die Bedeutung eliminieren« (T II 359). Scholems messianisches
Sprachkonzept, dem wir uns im Folgenden zuwenden, hört sich ähnlich an wie
das Benjamins, doch gibt es signifikante Unterschiede. Besonders hervorzuhe-
ben ist, dass Benjamin die Bibel nicht als offenbarte Wahrheit behandelt. Bei
Natur und Subjekt. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1988 [Edition Suhrkamp; 1470 =
N.F.; 470], S. 380–398, hier: S. 384).
41 Den Facetten des ästhetischen und politischen Diskurses der »Zerstörung« in der
Weimarer Republik geht Alexander Honold nach, indem er Benjamins Blick auf den
Antihumanismus Ernst Jüngers und Karl Kraus’ folgt (Alexander Honold: Der Leser
Walter Benjamin. Bruchstücke einer deutschen Literaturgeschichte. Berlin: Vor-
werk 8 2000, besonders S. 207–276 (»Arbeiter der Zerstörung. Karl Kraus, gegen
Ernst Jünger gelesen«). Honold zeigt, welche unterschiedlichen ästhetischen und po-
litischen Konsequenzen die Kritik am »›idealen‹ Humanismus« (ebd., S. 268) der
Persönlichkeit, die Benjamin, Kraus und Jünger teilen, haben kann. Für Benjamin
führt sie politisch zum Unmenschlichen des »realen Humanismus«, der im Kraus-
Essay als Chiffre für den Marxismus steht. Ästhetisch realisiert sich in Benjamins
Augen das Unmenschliche bei Kraus in einer Sprache, die »nur durch wachsende
Entfernung vom Menschlichen überhaupt gewonnen werden kann« (II/3 1103), wie
Honold aus einer Vorstudie zum Kraus-Essay zitiert.
42 Vgl. Karl Kraus: Die Sprache. In: Ders.: Schriften. Hg. von Christian Wagenknecht.
Bd 7. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1987 (Suhrkamp-Taschenbuch; 1317), S. 371–373,
besonders S. 372.
43 Bettine Menke hat das Motiv des Aufschubs des Gerichtstags im Zusammenhang
mit Benjamins Rechtskritik sorgfältig untersucht (Bettine Menke: Benjamin vor dem
Gesetz: Die Kritik der Gewalt in der Lektüre Derridas. In: Anselm Haverkamp
(Hg.): Gewalt und Gerechtigkeit. Derrida – Benjamin. Frankfurt a. M.: Suhrkamp
1994 (Edition Suhrkamp; 1706 = N.F.; 706), S. 217–275). Wichtiger textueller Be-
zugspunkt ist dabei Benjamins frühes Fragment »Die Bedeutung der Zeit in der mo-
ralischen Welt« (vgl. GS VI 97–98).
4 Gerechtigkeit als Sprache und Gerechtigkeit als messianische Kategorie 131
Scholem hat sie noch diesen Status, wenn dieser auch einen sehr eigenwilligen
Begriff von Offenbarung hat. Damit geht einher, dass Scholem die Tradition
als Auslegungstradition heiliger jüdischer Texte bestimmt und im Rahmen
jüdischer Identitätsfragen verhandelt. Bei Benjamin gehört zur Tradition letzt-
lich die Geschichte in ihrer Gesamtheit. Die universale Perspektive bestimmt
auch Benjamins Blick auf den Messianismus. Mit dem direkten oder indirekten
Hinweis auf den Messianismus markiert er zwar immer wieder (nicht zuletzt
im Kraus-Essay) die Bedeutung der jüdischen Tradition, letztlich ist aber der
Messianismus in seinen Texten universal ausgerichtet: »[E]rst der erlösten
Menschheit [fällt] ihre Vergangenheit vollauf zu. Das will sagen: erst der er-
lösten Menschheit ist ihre Vergangenheit in jedem ihrer Momente zitierbar
geworden« (GS I/2 694), heißt es in der dritten These »Über den Begriff der
Geschichte«, die verdeutlicht, dass Benjamin die Zitattheorie nach dem Vor-
bild des Messianismus als Modell einer ›erlösten Sprache‹ denkt –44 aber auch
umgekehrt, dass er den Messianismus nach dem Vorbild der Zitattheorie kon-
zipiert.
Benjamin übersetzt nicht einfach theologische Sprachmodelle in profane,
sondern findet in theologischen Texten Modelle für eine nicht-signifikative
Sprache, die er, nicht ohne sie zu brechen, in andere Register (Poesie, Politik,
Anthropologie) überträgt. Beruht das theologische Sprachmodell der Genesis
noch auf der Offenbarung, dem Wort Gottes, so ist die Frage, was vom adami-
tischen Sprachmodell bleiben kann, wenn man es »in Ansehung der Natur der
Sprache selbst« (GS II/1) betrachtet. Die paradiesische »Unmittelbarkeit« (GS
II/1 142) der Sprache ist nicht mehr gegeben und die »Mittelbarmachung der
Sprache« (GS II 154) nicht rückgängig zu machen, sondern nur in Richtung
auf Sprache als »reine[s] Mittel« (GS II 191) zu überschreiten. Die »reinen
Mittel« stellen eine profane Kategorie bei Benjamin dar, der wir uns in Kapitel
II.4.4 noch einmal zuwenden. Um es mit dem in diesem Kapitel behandelten
Material zu veranschaulichen: Aus den adamitischen Namen werden Zitat-
Namen, in denen die Sprache sich auf sich selbst bezieht. Weder die adamiti-
sche Sprache noch die Zitatsprache sind Mittel zum Zweck der Kommunikati-
on von äußerlichen Inhalten – mit dem Unterschied, dass sich in der Zitatspra-
che Sprache als »reines Mittel«, im Sinne des Medialen in seiner schieren
Potentialität, manifestiert, ohne vom Wort Gottes abzuhängen. Diese Unter-
scheidung zwischen den adamitischen Namen und den Zitat-Namen, sprachli-
cher Unmittelbarkeit und Sprache als reinem Mittel ist jedoch nicht stabil.
Denn Benjamin gibt das Zitat nicht nur als Eigenname der Sprache selbst zu
verstehen. Vielmehr beschreibt er eine Bewegung, in der die Sprache zu sich
selbst als reinem Mittel und damit auch wieder zur Natur als deren Ausdruck
kommt. Im Zitat als sprachlichem Eigennamen scheint so doch wieder die
Funktion der adamitischen Namensprache auf. Das ganz Profane bekommt
eine mystische Qualität, ohne dass dies eine Rückkehr zur Bibel als Offenba-
der Gottesname ʤʩʤʠ ʸʹʠ ʤʩʤʠ [’ehje ascher ’ehje, ich werde sein, der ich sein
werde]. ʤʩʤʠ bezeichnet im Hebräischen sowohl Gegenwart (ich bin) als auch
Zukunft (ich werde sein). Der Gottesname gilt Scholem als Ausdruck der ewi-
gen Gegenwart, »denn was Gott sein wird, das war er durch alle Geschlechter«
(T II 235). Die Zukunftsform kann im biblischen Hebräisch ferner einen
Wunsch oder eine Aufforderung ausdrücken, wenn sie als sogenannter »Jus-
siv« gebraucht wird. Scholem kombiniert diese beiden Besonderheiten des
Althebräischen, um das Sein der Gegenwart als Forderung zu denken. In dieser
Konzeption manifestiert sich seine ethische Interpretation des Judentums, der
er bereits 1916 Ausdruck verliehen hat: »Das Wesen des Judentums ist Ge-
rechtigkeit. Eine göttliche Kategorie. […] Im Judentum glaubt man nicht,
sondern ist gerecht« (T I 392).
Zweitens drückt sich für Scholem die ewige Gegenwart im »Waw ha-
Hippuch der Erzählung« (T II 236) aus:
Was geschieht dort? In der Verbindung verwandeln sich die Zeiten: Vergangenheit
in Zukunft und Zukunft in Vergangenheit, und wie? Im Medium der Gegenwart. Die
Zeit des ʪʥʴʤʤ-'ʥ [waw ha-hippukh] ist die messianische Zeit. Der Name Gottes
verbürgt die metaphysische Möglichkeit dieser Konstruktion. (T II 236f.)
48 Giorgio Agamben: Die Zeit, die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief. Übers. von
Davide Giurato. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2006, S. 89.
49 Problematisch ist nun allerdings nicht nur, dass Agamben Scholems messianischen
Zeitbegriff mit dem des Apostels Paulus identifiziert, d.h. mit einer typologischen
Beziehung von Vergangenheit und Zukunft, sondern dass Agamben letztlich beide,
Scholem und Paulus, von Benjamins Modell der »Jetztzeit« (GS I/2 701) her ver-
4 Gerechtigkeit als Sprache und Gerechtigkeit als messianische Kategorie 135
schen Zeit als Zeit der Inversion gewinne, so Agamben, die Vergangenheit
(das Abgeschlossene) wieder Aktualität und werde unabgeschlossen, während
die Gegenwart (das Unabgeschlossene) eine Art von Abgeschlossenheit erfah-
re.50 Dies ist gewiss das allgemeine Modell, nach dem Benjamin im Umfeld
des Passagenwerks Geschichte als Möglichkeitsraum zu denken versucht.51
Was bei Benjamin eine messianische Figur im Rahmen einer allgemeinen
Geschichtsphilosophie ist – gilt doch für diesen, dass der »echte Begriff der
Universalgeschichte […] ein messianischer [ist]« (GS V/1 608) –, steht bei
Scholem im Kontext von Überlegungen zum Verhältnis von Offenbarung,
Kanon und Tradition im Judentum. Scholem versteht die jüdische Tradition
dabei historisch-philologisch als Tradition der Textauslegung. Die Reflexion
über das Verhältnis zwischen der Thora als kanonischem Offenbarungstext
und deren Auslegungstradition konstituiert Scholems jüdische Theorie der
Gerechtigkeit. Ohne diesen spezifischen Kontext verkürzt man entscheidend
die messianische Zeit- und Sprachphilosophie des jungen Scholem.
Das dritte Merkmal des Bibelhebräischen, das Scholem anführt, um die
messianische Zeit zu explizieren, ist eine Teilwiederholung des zweiten Mo-
ments. Das Perfekt consecutivum kann auch eine imperativische Bedeutung
annehmen, wenn es auf einen Imperativ folgt. Hierauf hebt Scholem ab, wenn
er das »ʪʥʴʤʤ-'ʥ [waw ha-hippukh] der Forderung« thematisiert, »die als Ver-
gangenheit ausgesprochen werden darf: ʺʡʤʠʥ [we ’ahavta], Du sollst lieben,
das ist nur möglich, weil du geliebt hast. Am Gewaltigsten von allen erscheint
hier das Messianische in der Sprache, indem seine Strahlen selbst die Vergan-
genheit erheben« (T II 237).
In dem Aufsatz »Über Jona und den Begriff der Gerechtigkeit« konkretisiert
sich Scholems messianischer Zeit- und Sprachbegriff. Zwei Komplexe stehen
im Zentrum dieses erst posthum veröffentlichen Aufsatzes, der neben dem
Aufsatz über das Klagelied zu den wichtigsten Jugendaufzeichnungen Scho-
lems gezählt wird:52 die Idee der Gerechtigkeit und das Verhältnis des Kanoni-
steht. Agamben verwischt die Unterschiede zwischen allen dreien, wobei uns hier
nur der Unterschied zwischen Benjamin und Scholem interessiert.
50 Vgl. ebd., S. 89. Ohne es explizit zu machen, referiert Agamben hier ein Notat
Benjamins aus dem Konvolut N des Passagenwerks: »Was die Wissenschaft ›fest-
gestellt‹ hat, kann das Eingedenken modifizieren. Das Eingedenken kann das Unab-
geschlossene (das Glück) zu einem Abgeschlossenen und das Abgeschlossene (das
Leid) zu einem Unabgeschlossenen machen. Das ist Theologie; aber im Eingeden-
ken machen wir eine Erfahrung, die uns verbietet, Geschichte grundsätzlich a-
theologisch zu begreifen, so wenig wir sie in unmittelbar theologischen Begriffen zu
schreiben versuchen dürfen« (GS V/1 571).
51 Vgl. hierzu auch Werner Hamacher: ›Jetzt‹. Benjamin zur historischen Zeit. In:
Helga Geyer-Ryan, Paul Koopman and Klaas Yntema (Eds): Perception and Expe-
rience in Modernity. International Walter Benjamin Congress 1997 (Benjamin-Stu-
dien/Studies; 1). Amsterdam, New York: Rodopi 2002, S. 145–183.
52 Vgl. Daniel Weidner: Gershom Scholem. Politisches, esoterisches und historiogra-
phisches Schreiben. München: Fink 2003, S. 211.
136 Teil I
schen zur Tradition. Im Oktober 1918 liest Scholem Dora und Walter Benja-
min seine Aufzeichnungen über Jona vor (vgl. T II 335). Die Präsentation
erfolgt im Zusammenhang mit der Diskussion, warum Scholem bei seiner
»religiösen Haltung dennoch die orthodoxe Lebensführung nicht annähme«,53
wie Scholem im Rückblick schreibt. In dem Aufsatz über Jona gewinnt Scho-
lem einen Begriff von Tradition, dem zufolge »die (geschriebene) Thora […]
nicht angewendet werden [kann]. Sie ist das Recht Gottes, das noch nicht Ge-
rechtigkeit ist, vielmehr dazu sich wandelt, in dem unendlichen Aufschub der
Tradition. Offenbarung und messianische Zeit sind in ihr unzertrennlich ver-
bunden« (T II 529). Tradition als Aufschub und Gerechtigkeit als Aufschub
korrelieren miteinander. Scholem liest das Buch Jona als Unterweisung des
Propheten in die Idee der Gerechtigkeit. Die Stadt Ninive, der der Prophet Jona
widerstrebend im Auftrag Gottes den Untergang prophezeit, wird am Ende
nicht zerstört. Jona hadert mit Gott, dass seine Prophezeiung nicht eingetroffen
ist, weil Ninive sich bekehrt und Gott sich bedacht hat. Jona zieht sich vor dir
Tore der Stadt zurück, um dort unter dem Schatten einer Pflanze zu beobach-
ten, was mit Ninive im Weiteren geschieht. Als Gott ihm nun auch noch die
Schatten spendende Pflanze nimmt, wünscht sich Jona den Tod. Gott belehrt
ihn mit einer Frage, mit der das Buch Jona zugleich schließt: »Dir ist es leid
um den Kikajon, mit dem du keine Mühe gehabt, und den du nicht groß gezo-
gen, der als Kind einer Nacht entstanden und als Kind einer Nacht verschwun-
den ist. Und mir sollte nicht leid sein um Ninweh, die große Stadt, in welcher
mehr als zwölf Myriaden Menschen sind, die nicht wissen (zu unterscheiden)
zwischen der Rechten und Linken, dazu vieles Vieh« (Jona 4,11)?
Indem das Jona-Buch mit einer Frage endet, illustriert es für Scholem
»höchste Erziehung« (T II 523), denn der Lehrer erziehe durch Fragen, nicht
durch Antworten. Darüber hinaus weist sich in der Verwandlung des Gottesur-
teils in eine Frage für Scholem die Gerechtigkeit aus:
Denn dies und nichts anderes bedeutet Gerechtigkeit im tiefsten Sinne: daß zwar ge-
urteilt werden darf, aber die Exekutive davon völlig unterschieden bleibt. Die ein-
deutige Beziehung des richterlichen Urteils auf die Exekutive, die eigentliche
Rechtsordnung, wird aufgehoben im Aufschub der Exekutive. Das tut Gott mit Ni-
nive. Der Schluss von Kap. 3,10: er hatte geurteilt, etwas auszuführen und führte es
(noch) nicht aus, spricht die Idee der Gerechtigkeit klassisch aus. Wo das Gericht ei-
nen Spruch fällt, erhebt die Gerechtigkeit eine Frage. Wie Daniel sagt: ›Im Rate der
Wächter ein Beschluß und im Spruche der Heiligen eine Frage: das ist die Gerech-
tigkeit‹. (T II 526)
53 Scholem, Walter Benjamin (wie Anm. 28), S. 93. Scholem fährt in seiner Erinne-
rung fort: »Ich erklärte, so wie ich es damals formulierte, daß das für mich mit der
Konkretisierung auf einer falschen, zu frühen Sphäre zusammenhänge, die sich an
den Paradoxien des Drehs, die dabei zum Vorschein kommen und notwendig in sol-
cher falschen Beziehung liegen, erweist. Es stimmt etwas in der Anwendung nicht:
Die Ordnungen stoßen sich aneinander. Ich müsse den anarchischen Suspens auf-
rechterhalten« (ebd.).
4 Gerechtigkeit als Sprache und Gerechtigkeit als messianische Kategorie 137
Sprache. Für ihn handelt es sich bei der Prophetie um den Bericht eines Got-
tesurteils, das er bereits als historisch betrachtet, denn »wie du [Gott] gewollt
hast, tust du wirklich« (T II 532). Dieser Satz aus Jona 1,14, der formal im
Perfekt steht, könne aber auch übersetzt werden mit: »wie du willst, so kannst
du tun« (T II 532), ein Doppelsinn, der auf den Charakter des Prophetismus
hindeute. Denn der Prophetismus gilt Scholem als Weissagung über die »ewi-
ge Gegenwart« (vgl. T II 529), in der sich die Zeiten und mit ihnen die Sprech-
akte und deren Bedeutung verwandeln. Die »ewige Gegenwart« als Zeit der
Inversion ist weder Vergangenheit noch Zukunft, sondern verbürgt deren Ver-
wandelbarkeit. Der Prophetismus als Weissagung über die »ewige Gegen-
wart«, also die Zeit der Inversion, nimmt die Zukunft nicht vorweg. Er ist
keine Konstatierung, die die Zukunft behandelt, als wäre sie schon vergangen;
er ist aber auch nicht nur Warnung. Vielmehr hat er die Verwandelbarkeit
selbst zum Thema: von Konstatierungen in perlokutionäre Sprachakte – seien
es Warnungen oder erzieherische Fragen – und umgekehrt.
Im »Aufschub der Exekutive« soll sich das Recht zur Gerechtigkeit wan-
deln.58 Scholems Differenzierung zwischen Recht und Gerechtigkeit orientiert
sich an dem Unterschied von ʨʴʹʮ [mischpat, Recht] und ʤʷʣʶ [z’dakah,
Gerechtigkeit] im Judentum. Explizit bezieht sich Scholem hier auf Samson
Raphael Hirschs Erläuterungen zur Thora, die wir weiter oben bereits erwähnt
haben (vgl. Kap. I.2.3): »Z’edekah [ist] die Wohltat, aber als Pflicht begrif-
fen.«59 Der »Aufschub der Exekutive« macht Raum für die Gerechtigkeit als
Tat, als Wohltat, zum Beispiel »als Almosen, auf die Arme im Namen Gottes,
nicht mehr im Namen des Rechts Anspruch haben (Samson Raphael Hirsch)«
(T II 528). Im »Aufschub der Exekutive« soll aber noch mehr geschehen, denn
Scholem betont ja, dass das Recht sich verwandelt, indem es sich zur Gerech-
tigkeit kehrt. Das impliziert jedoch, dass die Thora selbst sich wandeln muss.
Folgerichtig schreibt Scholem auch an anderer Stelle: »Die Thora ist der wahre
Ort der Verwandlung« (T II 362).
Der Satz, dass die Thora der wahre Ort der Verwandlung sei, lässt sich un-
terschiedlich interpretieren. Man kann ihn als Zeugnis für Scholems undogma-
tisches Verständnis des Judentums auffassen. Die Thora begründet die jüdi-
sche Tradition, wird von dieser aber auch in der Auslegung beständig verwan-
delt. Die entscheidende Idee der Tradition ist für Scholem, dass die geschrie-
bene Thora nicht angewendet werden kann. Diese nicht angewendete schriftli-
che Thora konstituiert zugleich die Tradition – die »mündliche Thora«, wie die
talmudische Tradition schon früh genannt wurde –, welche wiederum nichts
anderes ist als der Aufschub. Mit der Idee einer Tradition begründenden, nicht
angewendeten Thora geht es Scholem letztlich um die »Deutbarkeit schlecht-
58 Scholem bezieht sich immer wieder auf Ps 94,15, den er mit »denn zur Gerechtig-
keit kehrt sich das Recht« (T II 358) übersetzt (vgl. auch T II 523f.).
59 Der Pentateuch. Übers. u. erläutert von Samson Raphael Hirsch. 3. Neuaufl. Frank-
furt a. M.: Rosenzweig 1996, Bd 1, S. 264.
4 Gerechtigkeit als Sprache und Gerechtigkeit als messianische Kategorie 139
Mit Maimonides ist sich Scholem einig in der Ablehnung, die »kommende
Welt« als eine rein zukünftige, ›ganz andere‹ Welt zu verstehen, einig also in
der Ablehnung einer apokalyptischen Geschichtsbetrachtung. Was bei Maimo-
nides allerdings rationale Gründe hat und darauf zielt, die Gültigkeit der Thora
und ihrer Vorschriften für alle Zeiten und mithin auch für die messianische
Zeit zu behaupten,60 hat bei Scholem ganz andere Gründe. Ihm geht es nicht
um die Verteidigung der Vorschriften der Thora, differenziert er doch zwi-
60 In der Mischne Tora (»Wiederholung der Thora«) von 1180 lehrt Maimonides, dass
die »Satzungen unserer Tora […] für immer und ewig [gelten]. Ihnen kann nichts
hinzugefügt werden und nichts von ihnen weggenommen werden. […] Man möge
nicht etwa denken, daß in den Tagen des Messias irgend etwas vom natürlichen Lauf
der Welt aufhören wird, oder eine Neugestaltung innerhalb der Schöpfung stattfin-
den wird. Vielmehr wird sich alles in der Welt nach der gewohnten Norm vollzie-
hen« (zitiert nach Christoph Schulte: Der Messias der Utopie. Elemente des Messia-
nismus bei einigen modernen jüdischen Linksintellektuellen. In: Menora. Jahrbuch
für deutsch-jüdische Geschichte 11 [2000], S. 264). Der Rationalist Maimonides
bemüht sich, mit dieser Auslegung antinomistische Tendenzen im Judentum abzu-
wenden. Das Kommen des Messias soll nichts an der natürlichen und religiösen
Ordnung ändern.
140 Teil I
schen Recht und Gerechtigkeit, um die Thora als Gesetz zu verstehen, das im
»Aufschub der Exekutive« (T II 526) bzw. »im Aufschub der Tradition« (T II
529) sich zur Gerechtigkeit wandle. Es ist Scholem hier um einen Begriff von
Tradition zu tun, die an der Gerechtigkeit ausgerichtet ist und sich als Konti-
nuum von Fragen begreift. Jede Antwort verwandelt sich in diesem Traditi-
onsverständnis wieder in eine Frage, das Abgeschlossene in das Unabge-
schlossene. Diese unendliche Inversion von Frage in Antwort, die sich wieder
in Frage verwandelt, macht für Scholem die »unendliche Gegenwart« und
damit den messianischen Zeitbegriff des Judentums aus. »›In der Lehre gibt es
kein Vorher und kein Nachher‹« (T II 206), zitiert er den Talmud. Diesen
Grundsatz der talmudischen Hermeneutik, in der die unterschiedlichsten Zeiten
miteinander in einen Dialog treten können, ungeachtet der herkömmlichen
Zeitschranken,61 macht sich Scholem als messianische Inversion oder »Ver-
wandlung der Zeiten« zu eigen. Er interpretiert letztlich die Tradition, die auf
einem »Aufschub der Exekutive« beruht, selbst als messianisch. Genauer: Die
jüdische Tradition als traditio, als Überlieferungsmodell, in dem verschiedene
Deutungen möglich sind und kein Urteil vollzogen wird, deutet Scholem mes-
sianisch. Der Messianismus ist aber auch traditum, Gegenstand der Überliefe-
rung. Die öfter beobachtete Ambivalenz Scholems gegenüber dem jüdischen
Messianismus hat meines Erachtens hier ihren tieferen Grund. Gegenüber dem
Messianismus als traditum wird Scholem im Laufe seines Lebens und Schrei-
bens eine kritische Distanz einnehmen. So erkennt er das Gewaltpotential des
Messianismus als Problem im zionistischen Kontext. Mit den unterschiedli-
chen Spielarten eines messianischen Zionismus setzt Scholem sich vor allem
in den Texten, die er nach seiner Ankunft im Jischuv 1923 schreibt, kritisch
auseinander (vgl. Kap. II.4.5). Gleichzeitig ist sein eigener Zionismus jedoch
nicht unmessianisch.62 Einen Schlüssel für diese Ambivalenz findet man in
den hier behandelten Texten des jungen Scholem. Insofern die Idee der Tradi-
tion maßgeblich für seinen Zionismus ist und insofern er ein messianisches
61 Vgl. Yosef Hayim Yerushalmi: Zachor: Erinnere Dich! Jüdische Geschichte und
jüdisches Gedächtnis. Übers. von Wolfgang Heuss. Berlin: Wagenbach 1996
(Wagenbachs Taschenbücherei; 260), S. 30. Yerushalmi zitiert eine talmudische
Hagada, in der Moses zwischen den Schülern in Rabbi Akibas Akademie sitzt und
die Fassung verliert, weil er nicht versteht, was die Schüler sagen. »Als er zu einer
bestimmten Sache kam, da sagen die Schüler zu ihm: Meister, woher hast du das? Er
sagte zu ihnen: Es ist eine Lebensregel an Mose vom Sinai. Da beruhigte sich sein
Sinn« (ebd., S. 32). Moses hat nach rabbinischer Überzeugung sowohl die schriftli-
che als auch die mündliche Thora (Talmud) am Sinai erhalten. Der Lehrer Moses
bedarf der Schüler und späterer Meister, um die Dimensionen der Thora zu realisie-
ren. Die Bedeutung liegt also nicht am Ursprung, sondern wird in der Deutung erst
hergestellt. Scholems 27. These über Judentum und Zionismus drückt den gleichen
Gedanken wie die talmudische Hagada aus, nur dass hier nicht der Lehrer in den
Lernenden, sondern der Lernende in den Lehrer verwandelt wird: »Die Lehre ist das
Medium, in dem sich der Lernende in den Lehrer verwandelt« (T II 302).
62 Vgl. Weidner, Gershom Scholem (wie Anm. 52), S. 99.
4 Gerechtigkeit als Sprache und Gerechtigkeit als messianische Kategorie 141
Verständnis der Tradition als traditio, als Überlieferungsmodell, hat, kann sich
Scholems Zionismus überhaupt nicht kategorisch vom Messianismus lösen.
Ebenso wie Scholem nach seiner Auswanderung nach Palästina 1923 verstärkt
die destruktive Seite des jüdischen Messianismus bedenkt, reflektiert er Ge-
waltmomente, die mit der »›Aktualisierung‹ des Hebräischen«63 einhergehen
können. Die hebräische Sprache spielt, vor wie nach der Auswanderung, eine
herausragende Rolle in Scholems Zionismus. Die Katastrophenstimmung, in
die Scholem immer wieder in den ersten Jahren im Jischuv verfällt, beeinflusst
nun auch sein Sprachverständnis. Den politischen Hintergrund für Scholems
Katastrophenstimmung – die Auseinandersetzung mit nationalistischen zionis-
tischen Kräften, die ungelöste jüdisch-arabische Frage – und seine Auswirkung
auf Scholems Konzeption des Messianismus werden wir später beleuchten
(vgl. Kap. II.4.5). An dieser Stelle soll es um die Dialektik der Säkularisierung
der hebräischen Sprache und die Möglichkeit des Ausbruchs religiöser Gewalt
gehen, die Scholem in dem kurzen, an Rosenzweig gerichteten Text »Be-
kenntnis über unsere Sprache« (1926) skizziert.64
63 Gershom Scholem: Bekenntnis über unsere Sprache. In: Stéphane Mosès: Der Engel
der Geschichte. Franz Rosenzweig, Walter Benjamin, Gershom Scholem. Frankfurt
a. M.: Jüdischer Verlag 1994, S. 215–217, hier: S. 215.
64 Der kurze, posthum veröffentlichte Text »Bekenntnis über unsere Sprache« von
1926 ist Franz Rosenzweig gewidmet und Bestandteil einer Mappe mit Texten ge-
wesen, die Rosenzweig anlässlich seines 40. Geburtstags (25.12.1926) überreicht
wurde. Anfang der 1920er Jahre hatten Rosenzweig und Scholem eine heftige De-
batte über das Deutschjudentum und den Zionismus geführt. Scholem schreibt rück-
blickend: »Ich war Zionist – er nicht. […] Unsere Entscheidungen waren in ganz
verschiedene Richtungen gefallen. Er suchte das deutsche Judentum von innen her
zu, ich weiß nicht, ob ich sagen soll: reformieren oder revolutionieren […]; ich setz-
te keine Hoffnungen mehr auf das als Deutschjudentum bekannte Amalgam und er-
wartete die Erneuerung des Judentums nur von seiner Wiedergeburt im Lande Isra-
el« (Gershom Scholem: Von Berlin nach Jerusalem. Jugenderinnerungen. Erweiterte
Ausgabe. Übers. von Michael Brocke und Andrea Schatz. Frankfurt a. M.: Suhr-
kamp 1997 [Suhrkamp-Taschenbuch; 2784], S. 172–173). Stéphane Mosès ist der
Ansicht, dass man Scholems »Bekenntnis über unsere Sprache« vor dem Hinter-
grund seiner »tiefen Enttäuschung über den Zionismus, zumindest in seiner konkre-
ten Verwirklichung« lesen müsse (Mosès, Der Engel der Geschichte [wie Anm. 63],
S. 217). Der Text zeuge von Scholems Wunsch, »die Heftigkeit seiner Äußerungen
von 1922 irgendwie auszugleichen und ihm [Rosenzweig] gegenüber zu bekennen –
tatsächlich hatte er seinen Text ›Ein Geständnis‹ überschrieben –, daß angesichts der
Wirklichkeit seine Vorstellungen sich denen Rosenzweigs angenähert hatten« (ebd.,
S. 221), ohne dass Scholem darüber aufgehört habe, Zionist zu sein. Meines Erach-
142 Teil I
tens bezieht sich Scholem noch viel unmittelbarer auf Rosenzweig, genauer auf des-
sen Aufsatz »Neuhebräisch?«, den Rosenzweig 1925 geschrieben und im April 1926
veröffentlicht hat. Erst wenn man diesen Bezug berücksichtigt, wird deutlich, dass
die Annäherung zwischen Scholem und Rosenzweig in der gemeinsamen Ableh-
nung einer bestimmten Auffassung des Neuhebräischen liegt, die mit dem Namen
Jakob Klatzkin und einem so säkularen wie »wundergläubige[n] Nationalismus«
(Franz Rosenzweig: Neuhebräisch? Anläßlich der Übersetzung von Spinozas Ethik
[1926]. In: Ders.: Zweistromland. Kleinere Schriften zur Religion und Philosophie.
Berlin, Wien: Philo 2001, S. 99–106, hier: S. 103) verbunden ist. Darüber hinaus
bleiben die Differenzen zwischen Rosenzweig und Scholem aber bestehen. Ich bin
dem Zusammenhang von Scholems und Rosenzweigs Texten bereits an anderer
Stelle nachgegangen (vgl. Elke Dubbels: »Name ist nicht […] Schall und Rauch,
sondern Wort und Feuer«. Sprachtheorie als Namenstheorie bei Franz Rosenzweig
und Gershom Scholem. In: Tatjana Petzer, Sylvia Sasse, Franziska Thun-Hohenstein
und Sandro Zanetti [Hg.]: Namen. Benennung – Verehrung – Wirkung. Positionen
der europäischen Moderne. Berlin: Kulturverlag Kadmos 2009, S. 185–208).
65 Scholem, Bekenntnis über unsere Sprache (wie Anm. 63), S. 216.
66 Ebd., S. 215.
67 Gershom Scholem: Sprachbekenntnis. 1925, TS, JNUL, Gershom-Scholem-Archiv,
Arc. 40 1599/277 I 56, S. 1. Bei dem »Sprachbekenntnis« handelt es sich um eine
Vorstufe zu dem an Rosenzweig gerichteten »Bekenntnis über unsere Sprache«.
68 Scholem, Bekenntnis über unsere Sprache (wie Anm. 63), S. 216.
69 Ebd.
70 Ebd., S. 215.
71 Ebd., S. 216.
4 Gerechtigkeit als Sprache und Gerechtigkeit als messianische Kategorie 143
72 Gershom Scholem: Der Name Gottes und die Sprachtheorie der Kabbala. In: Ders.:
Judaica 3 (Studien zur jüdischen Mystik). Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1973
(Bibliothek Suhrkamp; 333), S. 7–70. Andreas Kilcher leitet Scholems bereits wäh-
rend der Studienzeit (1915–1919) erwachendes Interesse an der Sprachtheorie der
Kabbala genealogisch von der Suche nach der Synthese von Mystik und Mathematik
her, zu der ihn Novalis inspiriert habe. »Scholem hat also in den Jahren 1915 bis
1917 mit der Sprachtheorie der Kabbala ein Paradigma gefunden, in dem sich, nach
dem romantischen Modell von Novalis, Mystik und Mathematik wie in einem
Brennspiegel verschmelzen ließen« (Kilcher, Die Sprachtheorie der Kabbala [wie
Anm. 30], S. 340).
73 Scholem, Bekenntnis über unsere Sprache (wie Anm. 63), S. 216.
74 Ebd.
75 Ebd., S. 215.
76 Ebd.
77 Ebd., S. 216.
78 Ebd., S. 215.
144 Teil I
Rosenzweig beschreibt Klatzkins Ansatz, der für ihn eine »extreme[] Theo-
rie aus den Versuchslaboren des europäischen Nationalismus«87 vorstellt, wie
folgt:
Klatzkin ist innerhalb der zionistischen Theorie der führende Vertreter eines, wie er
es selber nennt, ›formalen Zionismus‹, der bewußt jeden zukunftsbindenden oder gar
zukunftsverpflichtenden Rechtsanspruch der jüdischen Erbschaft an die gegenwärti-
ge Generation, die sich anschickt, jene Erbschaft anzutreten, leugnet und die natio-
nale Wiedergeburt allein von der Zukunft, von den Wunderkräften der Rasse, des
Bodens und vor allem eben der Sprache erwartet. Wobei diese drei Faktoren natür-
lich streng ohne jede inhaltliche Erfülltheit, eben ›rein formal‹ gefaßt sind, so daß,
beiläufig bemerkt, der Wunderglaube des modernen Rationalisten, was Grundlosig-
keit und Stützenunbedürftigkeit anbetrifft, den dem alten Juden von der Tradition
abgeforderten bei weitem hinter sich läßt.88
schon über den nationalen Kontext hinaus, haben an ihrem »Wort- und Satz-
gewebe« doch fremde Sprachen ihre unauslöschlichen Spuren hinterlassen,
von der »aramäische[n] Sprache der Perserzeit«98 bis hin zu »Europas Spra-
chen wie sie sich unter dem überschattenden Baum der weltkirchlichen Latini-
tät zu eigenen Bildungen entwickelten«.99 Die »weltverpflichtet[e]«100 hebräi-
sche Sprache unterläuft Rosenzweigs Darstellung zufolge die Bildung, die
Wucht einer geschlossenen nationalen Identität und damit die Intention ihres
zionistischen Theoretikers Klatzkin. Rosenzweig überwindet in diesem Auf-
satz von 1925 seine noch im Stern der Erlösung (1921) vertretene Auffassung
des Hebräischen als sakraler Ritualsprache genauso wie seinen dortigen radikal
antizionistischen Standpunkt (vgl. Kap. II.5). In seinen letzten Lebensjahren
verstand sich Rosenzweig nur mehr als Nicht-Zionist statt als Anti-Zionist.101
In diesem Sinne erkennt er in dem Aufsatz »Neuhebräisch?« auch grundsätz-
lich den Wunsch an, in Palästina ein »geistige[s] Zentrum«102 für das Juden-
tum zu bilden, und versucht dabei, verschiedene Gründe aufzuzeigen, warum
dieses sich nicht »im Sinne des reinen, hemmungslos entwicklungslustigen
Nationalismus entwickeln«103 könne.
Scholems Szenario einer heiligen Sprache, die nicht den säkularen Intentio-
nen ihrer Sprecher gehorcht, fällt weitaus bedrohlicher aus als dasjenige Ro-
senzweigs. Scholem warnt, dass die Eliminierung der religiösen Tradition
nicht vor dem eines Tages möglichen Ausbruch der »religiösen Gewalt dieser
Sprache«104 bewahre. Schlägt bei Benjamin im Sündenfall die »immanente[]
[…] Magie« (GS II/1 153) des Namens in die zweischneidige »Magie des
Urteils« (ebd.) um, so skizziert Scholem eine Dialektik der Namensbeschwö-
rung:105 Die »mit großer Gewalt beschworen[en]«106 »alten Namen«,107 die
von säkularen politischen Zionisten wie Klatzkin der Tradition entwendet
werden, um den nationalen Neuanfang durch die »Verneinung des Exils«108
und den Bruch mit der Tradition des Exils zu vollziehen, evozieren dialektisch
das »Gericht«,109 den »Aufstand einer heiligen Sprache«.110 Scholem mag hier
an die eines Tages mögliche Rückkehr der verdrängten religiösen Dimension
der Sprache denken, wenn »die alten Glaubensinhalte in heute noch nicht vor-
hersehbarer Form wiedererscheinen werden, aber diesmal in der Form einer
kollektiven Neurose«.111
Zwischen der Scylla eines säkularen politischen Zionismus à la Klatzkin
und dessen »wundergläubige[m] Nationalismus«112 und der Charybdis eines
unmittelbar religiösen Zionismus versucht Scholem seinen zionistischen Kurs
zu halten und einem Entweder-oder zwischen Religion und Säkularisierung zu
entgehen. Als positive Alternative zu dem apokalyptischen Szenario gibt sich
in Scholems Text der Moment zu lesen, »wo das ›Gesprochene‹, der Inhalt der
Sprache [eine deutliche Spitze gegen Klatzkins Konzeption der hebräischen
Sprache als bloßer Form; Anm. E.D.] wieder Gestalt annehmen wird«.113 Die
Rede von der »Gestalt«, also der Sichtbarkeit der Sprache lässt sich als impli-
zite Bezugnahme auf die Sinaioffenbarung deuten. So spricht Scholem an
anderer Stelle von der »Blendung […], die von der Offenbarung ausgeht«,114
um deren Angewiesenheit auf die Tradition der Auslegung hervorzuheben. Als
›Blendung der Offenbarung‹ bezeichnet Scholem das Problem, dass »das Wort
Gottes in seiner absoluten symbolischen Fülle […] zerstörend [wäre].«115
Denn die Offenbarung »ist als Absolutes, Bedeutung-Gebendes, aber selbst
Bedeutungsloses das D eu tba re , das erst in der kontinuierlichen Beziehung
auf die Zeit, in der Tradition sich auseinanderlegt.«116 Die Sinaioffenbarung
gilt aber nach jüdischer Tradition als Offenbarung des göttlichen Namens, der
über alle Bedeutung hinausgeht und gleichzeitig eine Fülle der Deutungen
ermöglicht. Wenn der Inhalt der Sprache wieder Gestalt annimmt, gewinnt er
also paradoxerweise gerade den Bezug auf ein Inhaltsloses wieder, das die
beleuchten, so lässt sich beobachten, dass auch bei Scholem das Symbol in
einem messianischen Licht erscheint.121 Es bildet eine zentrale Kategorie in
Scholems späteren Arbeiten zur Sprachtheorie der Kabbala, deren Elemente
sich bereits in seinen früheren Texten, wie in dem an Rosenzweig gerichteten
Sprachbekenntnis, ausmachen lassen. In seinem Symbolverständnis zeigt sich
Scholem dabei von der Philosophie der Romantik beeinflusst, mit der er im
Symbol die Erscheinung des Unendlichen im Endlichen annimmt. Bei aller
messianischen Aufladung des Symbols bleibt für Scholems Verständnis des
jüdischen Messianismus und dessen historischer Dynamik zwischen Vollzug
und Aufschub jedoch eine Logik der Inversion entscheidend. Die auf dem
Aufschub beruhende Tradition, die vom apokalyptischen Vollzug – der Spra-
che des göttlichen Gerichts, die, wie wir noch genauer sehen werden, politi-
sche Kräfte zu usurpieren sich anmaßen – liquidiert zu werden droht, invertiert
die apokalyptische Energie, indem sie sie in sich hineinzieht, um sie zu neutra-
lisieren, aber auch zu bewahren: als ihr geheimes Kraft- und Gefahrenzentrum,
worauf wir in Kapitel III.4 noch einmal zurückkommen werden.
121 Vgl. Susan A. Handelman: Fragments of Redemption. Jewish Thought and Literary
Theory in Benjamin, Scholem, and Levinas. Bloomington, Indianapolis: Indiana
Univ. Press 1991, S. 109.
5 Ernst Blochs ästhetischer Geist der Utopie als
Prolegomenon zu einem »System des theoretischen
Messianismus«
Nichts weniger als ein »S ys te m d es the ore tis chen Me ss ian ismu s «
(GU 337) hat Ernst Bloch in seinem großen Frühwerk, dem Geist der Utopie
von 1918, als Desideratum der Philosophie angemahnt. Dieses Werk präsen-
tiert sich als Grundlegung des eingeforderten Systems des »theoretischen Mes-
sianismus«.1 Hiermit bezeichnet Bloch eine Erkenntnistheorie, die die syste-
matischen Wissensbereiche neu zu denken gibt.2 Blochs messianische Er-
kenntnistheorie setzt die Abhängigkeit des Erkennens vom Subjekt voraus, das
er als erlebendes, geschichtsphilosophisch auffassendes und utopisches Sub-
jekt bestimmt (vgl. GU 339). Die Wahrheit einer solchen messianischen Er-
kenntnistheorie nennt Bloch auch eine »zweite Wahrheit« (GU 339, 369), die
er von der Evidenz der positivistischen Tatsachenlogik unterscheidet, ohne
dass er diese einfach verwerfen wollte. Vielmehr geht es Bloch mit der Wen-
dung zur Subjektivität um den Primat der praktischen Vernunft auch in der
Logik. Die Verbindung von praktischer und theoretischer Vernunft ist beim
jungen Bloch nun aber fundiert in der Ästhetik. Denn es ist vor allem ein äs-
thetisches Subjekt, das Subjekt ästhetischer Erfahrung, von dem seine Er-
kenntnistheorie ihren Ausgang nimmt. Die ästhetische Erfahrung gewährt die
»Ahnung eines noch nicht bewußten Wissens«.3 Das Noch-Nicht-Bewusste der
Subjekte und das Noch-Nicht-Gewordene der Objekte, die Bloch später im
Prinzip Hoffnung als Momente einer Ontologie des Noch-Nicht vorstellt, sind
1 Als eine »Einleitung zu einem großen System des theoretischen Messianismus« hat
dann auch Margarete Susman den Geist der Utopie rezipiert (Margarete Susman, zi-
tiert nach: Wilhelm Voßkamp: »Wie könnten die Dinge vollendet werden, ohne daß
sie apokalyptisch aufhören«. Ernst Blochs Theorie der Apokalypse als Vorausset-
zung einer utopischen Konzeption der Kunst. In: Klaus Bohnen (Hg.): Aufklärung
als Problem und Aufgabe. Kopenhagen, München: Fink 1994 (Text & Kon-
text/Sonderreihe; 33), S. 295–304, hier: S. 296).
2 Bloch nennt in diesem Zusammenhang die Biologie (»Theorie des Lebens«), die
Kosmologie (»Theorie des Weltbaus«), die »Philosophie der Geschichte«, die »Phi-
losophie des Staates«, das »System der Äshtetik« und die »Ethik und Metaphysik
der Innerlichkeit« (GU 336).
3 Manfred Riedel: Ästhetische Utopie. Die Gottesfrage in Blochs Artistenmetaphysik.
In: Weimarer Beiträge 40/3 (1994), S. 449–453, hier: S. 453.
152 Teil I
im Geist der Utopie noch stark auf die Subjektivität, nämlich auf das Subjekt
ästhetischer Erfahrung, als ihren Dreh- und Angelpunkt bezogen.4
Bloch hat den Geist der Utopie zwischen 1915 und 1917 geschrieben und
1918 veröffentlicht. Der im expressionistischen Duktus verfasste Text behan-
delt Fragen der philosophischen Ästhetik, die auch die Grundlage für Blochs
allgemeine Geschichtsphilosophie abgibt. Er schlägt einen großen Bogen vom
alten Ägypten bis zur Moderne. Zugleich präsentiert sich der Geist der Utopie
als eine sozialistische Revolutionsschrift. Ästhetische Fragen dominieren
gleichwohl. Der umfangreichste Abschnitt handelt über die »Philosophie der
Musik«. Erst im letzten Kapitel, »Karl Marx, der Tod und die Apokalypse«,
wendet sich Bloch explizit politischen Fragen zu.
In der Ästhetik ist bereits beim frühen Bloch die Transzendenzerfahrung des
Noch-Nicht-Gewussten zentral. Diese verbindet Bloch im Geist der Utopie mit
der Ästhetik des Symbols. Dieses ist auch der Schlüssel zu Blochs Auffassung
des Messianismus. »Symbol: Die Juden« (GU 319) ist ein Exkurs zum Juden-
tum im Geist der Utopie überschrieben. Die Geschichte der Juden interpretiert
Bloch als Symbol einer mystischen Menschheitsgeschichte, einer »kanonisch-
mystische[n] Anthropogenie« (GU 321). Zum »jüdische[n] Weltgefühl« (ebd.)
zählt er die messianische Erwartung, die »unserer Aktualität« (GU 332) bedür-
fe. Den jüdischen Messianismus versteht er als ein »ebensowohl motorische[s]
als prägnant historische[s], unbildliche[s], unnaturhafte[s] Gerichtetsein auf ein
noch nicht daseiendes messianisches Ziel über der Welt« (GU 322), das sich in
den religiösen Texten in »überweltengroßen Visionen« verkörpert habe. Das
messianische Ziel über der Welt soll nun in der Welt realisiert werden. Bloch
säkularisiert dabei nicht einfach nur religiöse Zielvorstellungen. Im gleichen
Maße spiritualisiert er das Weltliche. Anders formuliert: Bloch holt die Trans-
4 Die Umstellung auf die Ontologie im »Prinzip Hoffnung« bemerkt Voßkamp, ohne
die entsprechende Rolle der Ästhetik in Blochs Frühwerk zu thematisieren (vgl.
Wilhelm Voßkamp: »Grundrisse einer besseren Welt«. Messianismus und Geschich-
te der Utopie bei Ernst Bloch. In: Stéphane Mosès und Albrecht Schöne [Hg.]: Ju-
den in der deutschen Literatur. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1986 [Suhrkamp-
Taschenbuch; 2063], S. 316–329, besonders S. 317). Die Zentralstellung der Ästhe-
tik in Blochs Geist der Utopie ist Gegenstand jüngerer Arbeiten geworden. Zu nen-
nen sind hier insbesondere die Studien von Anna Czajka-Cunico, Achim Kessler
und Inge Münz-Konen (Anna Czajka-Cunico: »Wann lebt man eigentlich?« Die Su-
che nach der ›zweiten‹ Wahrheit und die ästhetische Erfahrung in Blochs »Geist der
Utopie«. In: Bloch-Almanach 19 [2000], S. 103–156; Anna Czajka: Poetik und Äs-
thetik. Studien zu einer neuen Literaturauffassung in Ernst Blochs literarischem und
literaturästhetischem Werk. Berlin: Duncker und Humblot 2006 [Schriften zur Litera-
turwissenschaft; 27], besonders S. 35–47; Inge Münz-Konen: Ernst Blochs Aisthesis-
Konzept im Geist der Utopie. In: Bernhard J. Dotzler und Helmar Schramm [Hg.]: Ca-
chaça. Fragmente zur Geschichte von Poesie und Imagination. Berlin: Akademie-
Verlag 1996, S. 127–132). Zur performativen Dimension von Blochs Ästhetik vgl.
auch Achim Kessler: »Wie könnte die Welt verändert werden?« Ernst Blochs perfor-
mative Ästhetik. In: Bloch-Almanach 25 (2006), S. 97–131.
5 Ernst Blochs ästhetischer ›Geist der Utopie‹ 153
zendenz nur insofern in die Immanenz, als die Immanenz sich selbst über die
positivistische Tatsachenlogik hinaus zu einem utopischen Totum transzendie-
ren soll. Für ihn stellt die messianische Sprache des Judentums wie auch des
Christentums einen symbolischen Ausdruck für ein noch nicht realisiertes und
der Erfüllung harrendes utopisches Ganzes dar, das in der überpositivistischen
Welt liegt.
Bloch begnügt sich nun im Geist der Utopie nicht damit, die jüdische Ge-
schichte symbolisch zu deuten und den jüdischen Messianismus in dieser sym-
bolischen Auslegung als Verweis auf die – durch nichts garantierte und der
menschlichen Tat bedürftige – Zielgerichtetheit von Geschichte überhaupt zu
verstehen. Darüber hinaus interpretiert er das Symbol messianisch und operiert
mit einer überbordenden messianischen Symbolik. Der ästhetischen »Symbol-
intention« (GU 365) selbst soll es eingeschrieben sein, so Blochs Postulat, sich
auf ein utopisches Ganzes zu richten. Dieses komme wiederum in der religiö-
sen, messianischen Symbolsprache in herausragender Weise zum Ausdruck.
Von dieser hat Bloch nicht zuletzt in seinem eigenen Buch, dem Geist der
Utopie, ausgiebig Gebrauch gemacht. Blochs Geist der Utopie lebt von der
Doppelbewegung, den Messianismus als Symbol für das utopische Totum
einer geeinten Menschheit und einer geeinten Welt zu deuten, und das ästheti-
sche Symbol, auf das das utopische Totum als seinen Ausdruck angewiesen ist,
messianisch aufzufassen.
Im Folgenden werde ich zuerst die symbolisch strukturierte, ästhetische Er-
fahrung des Noch-Nicht genauer untersuchen, die dem Ungewordenen der
Vergangenheit ebenso Raum gibt wie den offenen Möglichkeiten der Zukunft
und die den Ausgangspunkt von Blochs Geist der Utopie darstellt. Sodann
möchte ich Blochs messianische Erkenntnistheorie, die auf dieser ästhetischen
Erfahrung aufbaut, näher betrachten. Und schließlich werde ich mich Blochs
Verständnis des Symbols zuwenden, um eine Grundlage zu finden, auf der die
messianische, als symbolisch markierte Sprache des Geistes der Utopie ange-
messen beurteilt werden kann.
Der Geist der Utopie beginnt essayistisch. »Ein alter Krug« ist das erste
Kapitel überschrieben, das dem Obertitel von Blochs Text, »Die Selbstbegeg-
nung«, folgt. Nicht an einem Kunstwerk, sondern an einem Gebrauchsgegen-
stand, einem alten Hausgerät als modernem Sammelobjekt, exemplifiziert
Bloch ästhetische Erfahrung. Aisthesis, sinnliche Wahrnehmung, und Staunen
vor einem einzelnen Ding stehen am Anfang: »Ich sehe ihm gerne zu. Fremd
führt er hinein. Die Wand ist grün, der Spiegel golden, die Fenster schwarz, die
Lampe brennt hell. Aber er ist nicht nur einfach warm oder gar fraglos schön
wie die anderen edlen alten Dinge« (GU 13). Hieran schließt sich eine Be-
schreibung des Äußeren des Kruges an, eines einfachen, ungeschlachten Gerä-
tes, an dem am meisten das »wilde Männergesicht« (GU 13) auf dem Bauch
auffalle. Empirische Beschreibung und Spekulation durchdringen sich in den
folgenden Sätzen, die Mutmaßungen über die Geschichte des spätantiken Kru-
154 Teil I
ges, seine Funktion im Totenkult und den »wilde[n] Bartmann« als Angehöri-
gen der mittelalterlichen, bäuerlichen Geister- und Märchenwelt enthalten. Im
letzten Drittel geht es um den verborgenen Inhalt, das geheime, dunkle Innere
des Kruges. Hier kommt die ästhetische Erfahrung zum Zuge, die ein dynami-
sches, mimetisches Verhältnis zwischen Betrachter und Betrachtetem be-
schreibt:
[W]er den alten Krug ansieht, trägt seine Farbe und Form mit sich herum. Ich werde
nicht mit jeder Pfütze grau und nicht von jeder Schiene mitgebogen, um die Ecke
gebogen. Wohl aber kann ich krugmäßig geformt werden, sehe mir als einem Brau-
nen, sonderbar Gewachsenen, nordisch Amphorahaften entgegen, und dieses nicht
nur nachahmend oder einfühlend, sondern so, daß ich darum als mein Teil reicher,
gegenwärtiger werde, weiter zu mir erzogen an diesem mir teilhaftigen Gebilde
(GU 14).
Das Innere des Kruges erschließt sich nicht einem distanzierten Betrachten. Es
erfordert eine Verwandlung des Betrachters. Die Mimesis gerade an das Uner-
gründliche des Kruges entdeckt dem Betrachter, was ihm an ihm selber ver-
borgen ist: »Der Krug Blochs bin ich selber, wörtlich und unmittelbar, dump-
fes Muster dessen, was ich werden könnte und nicht sein darf«,5 kommentiert
Adorno. Nicht an jedem Ding ist für Bloch solche Erfahrung zu machen, son-
dern nur an denen, die von Menschen gemacht wurden. Am Krug ist nicht nur
das Werden und die Geschichte seines empirischen Gemachtseins nachzuvoll-
ziehen, sondern in seinem Inneren ist sein Noch-Nicht-Gewordenes aufgespei-
chert. Die Geschichte des Gemachten führt nicht auf einen vollkommenen
Ursprung zurück, sondern das ›Uralte‹ des Kruges verweist vielmehr auf das
Unerfüllte, geschichtlich noch nicht Eingeholte. Im »Blochische[n] Archais-
mus« spreche, im genauen Gegensatz zur Blut- und Bodenideologie, das »Ur-
alte, Urvergessene […] vom noch nicht Gewesenen, erst Herzustellenden«.6
Das Gemachte ragt, als ein geschichtlich Unfertiges, in
ein fremdes, neues Gebiet hinein und kommt mit uns, wie wir lebend nicht sein
könnten, geformt zurück, beladen mit einem gewissen, wenn auch noch so schwa-
chen Symbolwert. Auch hier fühlt man sich, in einen langen, sonnenbeschienenen
Gang mit einer Tür am Ende hineinzusehen, wie bei einem Kunstwerk. Das ist
keines, der alte Krug hat nichts Künstlerisches an sich, aber mindestens so müßte
ein Kunstwerk aussehen, um eines zu sein, und das wäre allerdings schon viel
(GU 14f.).
Was den alten Krug einem Kunstwerk vergleichbar macht, ja, sogar zum Para-
digma eines Kunstwerks macht, ohne dass er selbst eines wäre, ist der »Sym-
bolwert«, den ihm Bloch zuschreibt. Wenn Adorno formuliert, dass ich selber
Blochs Krug bin, und dies nicht als ein »Gleichnis«, sondern »wörtlich und
5 Theodor W. Adorno: Henkel, Krug und frühe Erfahrung. In: Ders.: Noten zur Litera-
tur. Hg. von Rolf Tiedemann. 7. Aufl., Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1998, S. 556–566,
hier: S. 565.
6 Ebd., S. 564.
5 Ernst Blochs ästhetischer ›Geist der Utopie‹ 155
unmittelbar« aufzufassen sei,7 dann ist dies, ohne dass Adorno dies eigens
bemerkte, ein Effekt der Rhetorik des Symbols, die Bloch sich zunutze macht.
Der alte Krug verkörpert mich, er steht, als ein »mir teilhaftige[s] Gebilde«
(GU 14 [Hervorhebung E. D.]), in der Beziehung der Synekdoche zu mir, auf
der der klassische Symbolbegriff aufbaut.8 Das Symbol zeichnet sich, im Un-
terschied zur Metapher, durch »primäre Referenz auf Empirie aus, sei es ein
Gegenstand, sei es eine Handlung«.9 Durch bestimmte Verfahren provozieren
Texte die symbolische Deutung eines pragmatisch-empirischen Elementes, etwa
durch Wiederholung und Antithese oder durch eine prominente thematische
Stellung, wie in Blochs Eingangsessay im Geist der Utopie. Dabei fordert gerade
die Inkongruenz zwischen pragmatisch-empirischer Eigenbedeutung und promi-
nenter Stellung im Text zur symbolischen Deutung eines empirischen Elementes
heraus, dessen künstlich herbeigeführter Bedeutungsmangel durch Bedeutung
aus dem Kontext oder dem kulturellen Wissen aufzufüllen ist.10 Blochs Text
setzt diesen Bedeutungsmangel selbst ins Bild. Der Krug hält Bedeutung in
seinem Inneren zurück. Der alte Krug geht nicht in seiner empirischen Tatsäch-
lichkeit auf, sondern verkörpert viel mehr, ohne dass dieses »Mehr« an Bedeu-
tung durch den Text erschöpfend dargestellt und vorgegeben wäre.
Das Symbol stellt ein hermeneutisches Phänomen dar, insofern Gegenstän-
de oder Ereignisse erst durch ihre Deutung zu Symbolen werden. Deren »sym-
bolische Bedeutung ist die symbolische Deutung«.11 Die »durch den Textzu-
sammenhang zu bestätigende Möglichkeit«12 beherrscht die Relation zwischen
literarischem Symbol und Symbolisiertem, die nicht arbiträr und konventionell
geregelt ist, es sei denn, es handelt sich um ein Symbol, das eine textexterne,
kulturell überlieferte Bedeutung hat wie z. B. die tradierte religiöse Symbolik.
Das Symbol als hermeneutisches Phänomen beruht also auf den symbolischen
Deutungsmöglichkeiten von empirischen Gegenständen, Ereignissen oder
Handlungen, die synekdochisch, metonymisch oder metaphorisch motiviert
sein können.13
Blochs alter Krug wird zum Symbol des Betrachters. Als »Muster dessen,
was ich werden könnte«,14 verkörpert der Krug meine verborgenen, noch nicht
realisierten Möglichkeiten. Er stellt ein unfertiges, geschichtliches Gebilde dar,
dessen Bedeutung sich nicht im Empirisch-Pragmatischen erschöpft. Sein
»schwer zu ergründen[des]« (GU 14) Inneres enthält einen Überschuss an
Deutungsmöglichkeiten. Indem der Krug »in ein fremdes, neues Gebiet hin-
7 Ebd., S. 565.
8 Vgl. Gerhard Kurz: Metapher, Allegorie, Symbol. 4. Aufl., Göttingen: Vandenhoeck
& Ruprecht 1997, S. 80f.
9 Ebd., S. 73.
10 Vgl. ebd., S. 79.
11 Ebd., S. 80.
12 Ebd.
13 Vgl. ebd., S. 80–84, wo die drei Typen des Symbols erläutert werden.
14 Adorno, Henkel, Krug und frühe Erfahrung (wie Anm. 5), S. 565.
156 Teil I
15 Jochen Hörisch skizziert diese Problematik an späteren Texten von Ernst Bloch. Die
Differenz von Sein und Haben, die Bloch später an den Anfang des Philosophierens
stellt (»Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst« (Ernst Bloch:
Tübinger Einleitung in die Philosophie. In: Ders.: Gesamtausgabe. Bd 13. Frankfurt
a. M.: Suhrkamp 1977, S. 13) und die Hörisch verfolgt, ist auch schon im Geist der
Utopie als Differenz des erlebenden und des erkennenden Ich thematisch. Und auch
für den Geist der Utopie gilt, dass der Text dann »[p]roblematisch wird […], wenn
e[r] das, was e[r] als nicht vermittelbar erkannt hat, doch durch rhetorische Gewalt
vermitteln will« (Jochen Hörisch: »Knappes Raunen«. Ernst Bloch über Haben und
Sein. In: Jan Robert Bloch (Hg.): »Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden
wir erst.« Perspektiven der Philosophie Ernst Blochs. Frankfurt a. M.: Suhrkamp
1997, S. 104–107, hier: S. 106). Blochs Schreiben, so Hörisch weiter, ziele auf den
apokalyptischen Sprung, den plötzlichen Durchbruch, der »schlechthin alles neu
macht – auch und gerade das Verhältnis von Sein und Haben. Es läßt sich beobach-
ten, dass Philosophie, die so prozediert, dafür einen hohen Preis zahlt. Sie raunt
nicht knapp, sondern breit; sie muß beschwören, was sich nicht beobachten läßt; sie
läuft Gefahr, ihre besten dekonstruktiven Differenz-Einsichten preiszugeben« (ebd.,
S. 107).
5 Ernst Blochs ästhetischer ›Geist der Utopie‹ 157
Text dann doch ein »letzte[s] Antworten«, das in religiöser Symbolik be-
schrieben wird als
das sich selbst Essen, in sich selbst Auferstehen, sich selbst Rezitieren in der gnosti-
schen Messe, […] ein völlig erlebtes, in uns zurückverwandeltes, das heißt, mit sei-
nem Kern gedecktes Eingedenken, […] ein intensiv und darin ontisch gewordenes
Gegenwärtigsein von Person (GU 373).
16 Heinz Paetzold: Symbolik als Konstitution von Gattungsbewußtsein und als utopi-
sche Subversion. Zu Georg Lukács’ und Ernst Blochs Theorie des Symbolischen. In:
Études Germaniques 41 (1986), S. 363–376, hier: S. 371.
158 Teil I
17 Vgl. Bloch, Tübinger Einleitung in die Philosophie (wie Anm. 15), S. 342.
18 Wilfried Korngiebel: Bloch und die Zeichen. Symboltheorie, kulturelle Gegenhege-
monie und philosophischer Interdiskurs. Würzburg: Königshausen & Neumann
1999, S. 63. Bereits Hans Heinz Holz hat kritisiert, dass Bloch in seiner Symbolthe-
orie die semantische Funktion in die Objektwelt selbst verlege und einem alten
Anthropozentrismus erliege. Indem alle Naturqualitäten auf den Menschen ausge-
richtet werden, könne der Mensch als Bewusstsein der Welt erscheinen (vgl. Hans
Heinz Holz: Einsatzstellen einer ›Ontologie des Noch-Nicht-Seins‹. In: Burghardt
Schmidt [Hg.]: Materialien zu Ernst Blochs »Prinzip Hoffnung«. Frankfurt a. M.:
Suhrkamp 1978 [Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft; 111], S. 263–291, hier:
S. 282).
5 Ernst Blochs ästhetischer ›Geist der Utopie‹ 159
In ihm [dem Messianismus; Anm. E.D.] lebt zwar ein Dienen untereinander, aber
auch trotzigste Selbstheit gegen Welt und Gott; es lebt darin keine Knechtsgestalt,
kein alliebender und allwissender Vater, kein sichtbarer, bildhafter, unmusikalischer
Gott, kein Opfertod, kein Gnadenschatz, überhaupt keine Garantiertheit und vorhan-
dene Definiertheit des Ziels, wohl aber die fruchtbarste, moralische, Kierkegaard mit
den Propheten vereinende Kategorie der Gefahr – die Menschen sind noch immer
schutzlos und ohne Himmel, aber in unserer Kraft zu wenden und zu rufen, in unse-
rem tiefsten, noch namenlosen Inneren schläft der letzte, unbekannte Christus, der
Kälte-, Leere-, Welt- und Gottbesieger, Dionysos, der ungeheure Theurg, von Moses
geahnt, von dem milden Jesus nur umgeben, aber nicht verkörpert. Nun aber, hier
werden sich die Juden und die Deutschen ewig begegnen […]; und so ist es immer
noch denkbar […], daß […] das Judentum mit dem Deutschtum nochmals ein Letz-
tes, Gotisches, Barockes zu bedeuten hat, um solchergestalt mit Rußland vereint,
diesem dritten Rezipienten des Wartens, des Gottgebärertums und Messianismus, –
die absolute Zeit zu bereiten. (GU 332)
leicht über die Lippen gleite, mehr noch: »Jesus kehrt endlich zu seinem Volk
zurück, und sein Name, sogar seine Symbole sind leise und allmählich […] in
das Herz und die Gedanken der jungen, ernsten, nachdenklichen Generation
eingegangen« (GU 323).29 Bloch versteht Jesus als »Propheten, der der Messi-
as hätte sein können« (GU 378), wenn Menschen und Gott nicht versagt hät-
ten, indem sie Jesus den Opfertod sterben ließen. Die »Kreuzes- und Opfer-
todsmagie« (GU 378) weist er entschieden zurück und mit ihr die »der ganzen
religiösen Antike eigene Ergebenheit« (GU 380). Für den Juden sei Jesus, so
er ihn nicht mit Angst erfülle, der »noch nicht realisierte Messias« (GU 328).
Denn vom Judentum sei der Gedanke des Trösters, des Dritten über Juden und
Christen, des Messianismus und »Tertium Testamentum« niemals aufgegeben
worden (vgl. GU 329). Bloch unterstellt nun dem Judentum, dessen Glauben
auf die Auflösung und die letzte Stunde gerichtet sei, einen »latente[n] Gnosti-
zismus« (GU 330), indem er die gnostische Entgegensetzung zwischen dem
niederen Schöpfergott, dem Demiurgen, und dem Erlösergott bereits in die
Hebräische Bibel hineinträgt.30 Der Messias wie der Erlösergott gelten Bloch
als noch unbekannt. Dieses Unbekannte, das Messias und Gott darstellen, ist
aber nichts anderes als das Unbekannte des Menschen. Denn die religiöse
Symbolik drückt für Bloch keine transzendente Wahrheit aus, sondern eine
menschliche, ›seelische‹ (vgl. GU 382) – eine immanente Transzendenz.
Das messianische Ziel der Geschichte bildet die universale »Selbstbegeg-
nung im Inneren aller Dinge, Menschen und Werke« (GU 386), ein Leben in
der unverstellten Fülle aller Möglichkeiten, von Bloch auch »mystische
Selbsterfüllung in Totalität« (GU 294) genannt. Wäre die utopische Identität
erreicht, so würde das Bedeuten »endlos in Alteritas«31 aufhören, und die
»Symbolintention« (GU 365, 373) wäre erfüllt. Es verwundert nicht, dass
Bloch vor allem auf apokalyptische Symbolik zurückgreift, um diese utopische
Identität zu figurieren, bezeichnet die Apokalypse doch, sprach- und medien-
theoretisch besehen, das Ende der Übertragungen.32 Dieses Ende der Übertra-
gungen setzt Bloch selbst ins apokalyptische Bild, sei es, dass er das aus der
Johannes-Apokalypse bekannte Motiv des ›Verschlingens des Buches‹ (vgl.
Offb 10,9–10) zu einem Bild für die Seinsfülle einer eschatologischen
29 Grundsätzlich ist Blochs Exkurs über die Juden stark von Martin Bubers Drei Reden
über das Judentum beeinflusst (s. Kap. II.2.2). Von diesem übernimmt Bloch die
Vorstellung, dass Jesus’ Lehre im Rahmen der jüdischen Geistesgeschichte zu ver-
stehen sei (vgl. hierzu auch Krochmalnik, Daniel: Ernst Blochs Exkurs über das Ju-
dentum. In: Bloch-Almanach 13 [1993], S. 39–58, besonders S. 52f.).
30 Vgl. zu den gnostischen Motiven in Blochs Geist der Utopie auch Michael Pauen:
Apotheose des Subjekts. Gnostizismus in Ernst Blochs »Geist der Utopie«. In:
Bloch-Almanach 12 (1992), S. 15–64.
31 Bloch, Tübinger Einleitung in die Philosophie (wie Anm. 15), S. 339.
32 Vgl. Joseph Vogl: Apokalypse als Topos der Medienkritik. In: Jürgen Fohrmann
und Arno Orzessek (Hg.): Zerstreute Öffentlichkeiten. Zur Programmierung des
Gemeinsinns. München: Fink 2002, S. 133–141, besonders S. 139.
162 Teil I
Menschheit wählt (vgl. GU 382) oder die Differenz zwischen Bild und Wirk-
lichkeit auflöst, indem er umgekehrt das Verschwinden ins Bild imaginiert:
Darum zum Ende, wir selber schreiten derart, […] in unseren inneren Spiegel hinein.
Wir verschwinden in der kleinen, gemalten Tür des fabelhaften Palastes, den Messi-
as zu rufen, und in Explosion fliegt auf das Draußen, in den Weg Gestelltes, Satan
der Todesdämon, das krustenhafte Ritardando der Welt, alles, was nicht von uns ist,
[…] von unserer himmlischen Herrlichkeit ist oder sie gar hindert (GU 444).
Denn wir sind mächtig; nur die Bösen bestehen durch ihren Gott, aber die Gerechten –
da besteht Gott durch sie, und in ihre Hände ist die Heiligung des Namens, ist Gottes
Ernennung selbst gegeben, der in uns rührt und treibt, geahntes Tor, dunkelste Frage,
überschwängliches Innen, der kein Faktum ist, sondern ein Problem, in die Hände un-
serer gottbeschwörenden Philosophie und der Wahrheit als Gebet (GU 445).
Der Schreibakt selbst erzeugt erst die Autorität, die die Heiligung des Namens
beglaubigt: nämlich das »wir«, die Leserschaft als Versammlung, um deren
Evokation und Ermächtigung (»[d]enn wir sind mächtig«) sich Blochs gesamte
Schrift dreht. Allgemein zeichnet sich das apokalyptische Schreiben dadurch
aus, dass sich die Sprachzeichen als »Gegenwart des Wesens der Sache« in-
szenieren, dessen also, »›was geschehen muß‹ (Apok. 4,1)«.36 Auch Blochs
Schreiben sehnt sich danach, Schreiben und Tun wie im illokutionären Sprech-
akt zusammenfallen zu lassen, steht aber vor der (uneingestandenen und durch
Pathos überdeckten) Aporie, die Autorität, von der das Gelingen des Sprechak-
tes abhängt, nicht wie in der Bibel voraussetzen zu können, sondern erst perlo-
kutionär, also als Effekt der eigenen Rede erzeugen zu müssen.
Bei ihrem wörtlichen Sinn (von griechisch »apokalypto«: »entblößen«,
»enthüllen«) genommen, beschreibt die Apokalypse eine Wahrheitsstruktur, in
der das Ende nicht nur der offenbarte, verschlüsselte Gegenstand der Wahrheit
ist. Vielmehr ist die Wahrheit selbst das Ende, insofern »die Bestimmung, daß
die Wahrheit sich enthüllt, die Vollendung des Endes [ist]«,37 wie Derrida
bemerkt. In Wirklichkeit entblöße, so Derrida weiter, die Apokalypse damit
den »Selbst-Hunger«, das »absolute Phantasma als absolutes Sich-Haben«.38
Blochs Rhetorik des »wir« bedient dieses »absolute Phantasma«. Machtkritik
»Kiddusch Haschem« offenbar an Hugo Bergman an, den er zugleich mit seiner aus-
schließlich anthropologischen Auffassung überbietet (vgl. Hugo Bergmann: Die
Heiligung des Namens [KIDDUSCH HASCHEM]. In: Vom Judentum. Hg. vom
Verein jüdischer Hochschüler Bar Kochba in Prag. Leipzig: Kurt Wolff 1913, S. 13–
43). Vgl. zu dem Aufsatz von Bergmann und seiner Rezeption bei Margarete Sus-
man auch Sandro Zanetti: 1919. Margarete Susman und die Politik des Namens. In:
Tatjana Petzer, Sylvia Sasse, Franziska Thun-Hohenstein und Sandro Zanetti (Hg.):
Namen. Benennung – Verehrung – Wirkung. Positionen der europäischen Moderne.
Berlin: Kulturverlag Kadmos 2009, S. 209–224).
36 Böhme, Vergangenheit und Gegenwart der Apokalypse (wie Anm. 34), S. 384.
Diese »›doppelte Strukturbildung‹« der apokalyptischen Redeform, die nicht nur
über den Untergang der alten und den Aufzug der neuen Welt berichtet, sondern sich
selbst in diesem Geschehen eine entscheidende Rolle zuschreibt, stellt den Aus-
gangspunkt für Jürgen Brokoffs literaturwissenschaftliche Untersuchung der »Apo-
kalypse in der Weimarer Republik« dar, die freilich Blochs Geist der Utopie nicht
berücksichtigt (vgl. Jürgen Brokoff: Die Apokalypse in der Weimarer Republik.
München: Fink 2001, besonders S. 10, 12).
37 Jacques Derrida: Von einem neuerdings erhobenen apokalyptischen Ton in der
Philosophie. In: Ders.: Apokalypse. Übers. von Michael Wetzel. Graz, Wien: Böh-
lau 1985 (Edition Passagen; 3), S. 9–90, hier: S. 64.
38 Ebd., S. 79.
164 Teil I
und »Selbst-Hunger« verbinden sich in seinem Text dabei auf eine Weise, die
typisch für die Apokalypse als historische Strömung wie als Schreibmodus ist.
Die Vernichtung des »Radikal-Bösen«,39 die »Vernichtung und Niederlage«
der deutschen »Militärautokratie«40 im Ersten Weltkrieg gelten Bloch als Vor-
aussetzung für eine mystisch erfüllte, demokratisch sozialistische Zukunftsge-
sellschaft.
Mit Blochs politischer, revolutionärer Apokalyptik werden wir uns noch
einmal in Kap. II.4.3 beschäftigen. An dieser Stelle sei die grundsätzliche
Problematik von Blochs Geist der Utopie hervorgehoben: In diesem Text fehlt
die klare Unterscheidung zwischen historischer, korrigierbarer und anthropo-
logischer, unaufhebbarer ›Entfremdung‹, vor deren Vermengung bereits Schil-
ler gewarnt hat,41 mit dem Bloch die Hochschätzung der Ästhetik und des
Symbols im politischen Befreiungsprozess teilt. Wird diese Unterscheidung
nicht getroffen, so wird die gesellschaftliche »Utopie von regressiven identi-
täts-philosophischen Träumen und narzißtischen Verschmelzungs- und All-
machtsphantasien«42 heimgesucht. Bloch zielt auf einen utopischen Flucht-
punkt, in dem die Trennung zwischen Einzelnem und Allgemeinem ebenso
wie die zeitliche Spaltung von Person und Zustand, zwischen erkennendem
und erlebendem Ich, aufgehoben ist.43 Würde mit dieser Utopie Ernst gemacht,
würde sie die Bedingungen der Möglichkeit zu subjektiver Reflexion und
Kritik – und damit die Voraussetzungen von Blochs Geist der Utopie – zerstö-
ren. Es liegt eine latente Gewalt in der identitätsphilosophischen Fundierung
des Geists der Utopie, die sich mit Derrida als Gewalt des apokalyptischen
»Selbst-Hunger[s]« begreifen lässt.
39 Ernst Bloch: Schadet oder nützt Deutschland eine Niederlage seiner Militärs? An
Volk und Heer. In: Ders.: Kampf, nicht Krieg. Politische Schriften 1917–1919. Hg.
von Martin Korol. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1985, S. 457–474, hier: S. 472.
40 Ebd., S. 473.
41 Vgl. Ulrich Wergin: Vom Symbol zur Allegorie? Der Weg von der Frühklassik zur
Frühromantik, verfolgt im Ausgang von Goethes ›Iphigenie‹ über ›Das Märchen‹ bis
hin zu Novalis’ ›Glauben und Liebe‹. In: Victor Millet (Hg.): Norm und Transgres-
sion in deutscher Sprache und Literatur. München: Iudicium 1996, S. 75–125, hier:
S. 85.
42 Ebd.
43 Mit dem utopischen Fluchtpunkt, die Differenz zwischen erlebendem und erkennen-
dem Ich aufzuheben, fällt Bloch hinter die transzendentale Erkenntnis zurück, dass
die Spaltung von Person und Zustand konstitutiv für Subjektivität ist, die darin ihre
Gebundenheit an die Zeitlichkeit zeigt.
6 (De-)Figurationen des Messianischen in Hermann
Brochs Romantrilogie Die Schlafwandler
3 Vgl. Nina Perlina: Mikhail Bakhtin and Martin Buber: Problems of Dialogic Imagi-
nation. In: Studies in Twentieth Century Literature 9/1 (1984), S. 13–28.
4 Vgl. Paul Michael Lützeler: Kulturbruch und Glaubenskrise. Hermann Brochs »Die
Schlafwandler« und Matthias Grünewalds »Isenheimer Altar«. Tübingen, Basel:
Francke 2001 (Kontakte; 10). Lützeler argumentiert, dass Brochs Trilogie eine
strukturelle Analogie zum Tryptichon des Isenheimer Altars aufweist. Geburt, Ver-
kündigung und Kreuzigung würden motivisch auch die Abfolge der drei Romane
organisieren. Mit Lützeler treffe ich mich in der Annahme, dass sich der Protagonist
des ersten Romans, Joachim von Pasenow, mit dem Christusknaben identifiziert
(s. u. den Abschnitt »Der Messias als Kind«); vgl. ferner Anja Grabowsky-Hotama-
nidis: Zur Bedeutung mystischer Denktraditionen im Werk von Hermann Broch.
Tübingen: Niemeyer 1995 (Studien zur deutschen Literatur; 137). Grabowsky-
Hotamanidis vertritt die Ansicht, dass Brochs Roman eine »mystische Transformati-
on des gnostischen Denkens« (ebd., S. 102) vollziehe. Beschreibe die »Gnosis einen
heilsgeschichtlichen Gesamtprozeß, in den das einzelne Individuum nicht eingreifen
kann und durch den es determiniert ist, so stellt Mystik dessen Vollzugsgestalt von
Verstrickung ins Weltliche und Erhebung daraus zum Geistigen in die Verfügungs-
gewalt des Subjekts und begründet so die Möglichkeit von Autonomie« (ebd., S. 83).
Gnostische Motive sind sicherlich in den Schlafwandlern vorhanden; das Messiani-
sche als dialogisches Prinzip bzw. als Ethik, die ihren Ausgang vom irreduzibel An-
deren nimmt, vermag die Autorin aufgrund ihrer Konzentration auf die Geschichte
des subjektiven Bewusstseins allerdings nicht zu erfassen. Sie bleibt traditionellen
Vorstellungen von »unverstellte[r] subjektive[r] Autonomie« (ebd., S. 109) verhaf-
tet, deren Rückgewinnung sie im dritten Roman der Schlafwandler angebahnt sieht,
insofern die gnostisch gedachte »dispersio«, der Abfall in die Disparatheit, zum Äu-
ßersten getrieben und so der Umschlag in eine neue (Bewusstseins-)Einheit vorbe-
reitet werde.
5 Vgl. Gisela Brude-Firnau: Der Einfluß jüdischen Denkens im Werk Hermann
Brochs. In: Richard Thieberger (Hg.): Hermann Broch und seine Zeit. Akten des In-
ternationalen Broch-Symposiums Nice 1979. Berlin, Frankfurt a. M. u. a.: Lang
1980, S. 108–121, sowie dies.: Die 9. Episode der ›Geschichte des Heilsarmeemäd-
chens‹. In: Dies. (Hg.): Materialien zu Hermann Brochs »Die Schlafwandler«.
Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1972, S. 180–196.
6 (De-)Figurationen des Messianischen in Brochs ›Die Schlafwandler‹ 167
Mensch und damit das adäquate Kind seiner Zeit«,7 so der Autorkommentar
zur Figur – hat ein Offenbarungserlebnis. Aufgrund einer epiphanischen Chris-
tus-Vision im Schützengraben desertiert er und zelebriert das letzte Kriegsjahr
als »Ferien«8 (SW 390, 391, 392, 393, 395) von moralischen Zwängen. Er
reißt auf betrügerische Weise die geschäftliche und redaktionelle Leitung eines
Zeitungsbetriebes an sich und bringt am Ende des Romans dessen früheren
Leiter, August Esch, den Protagonisten des zweiten Romans, hinterrücks um.
»Es war alles gut« (SW 678): In Anspielung auf die Worte der Genesis (»Und
Gott sah alles, was er gemacht, und siehe, es war sehr gut« (Gen 1,31) wird
Huguenaus Empfinden nach dem Mord beschrieben. Die Positivität der Schöp-
fung vor Gut und Böse kommt im Jenseits von Gut und Böse auf das nackte,
tötbare Leben jenseits menschlicher und göttlicher Ordnung herunter. Die
Christus-Vision veranlasst Huguenau zu einer, wie man sagen könnte, Imitatio
Christi aus atheistischem Geist. Die göttliche Freiheit von irdischen Banden
wird zum Vorbild für das »wertfreie[]«, »aus jedem Wertverband entlassene«
(SW 693) Individuum, dem Endprodukt des sogenannten »Zerfalls der Werte«.
Der letzte Roman der Schlafwandler ist erzähltechnisch avanciert, es wird
multiperspektivisch erzählt, indem der Erzähler nacheinander unterschiedliche
Personen als »Reflektoren« der Handlung wählt.9 Die Einheit der Handlung
wird darüber hinaus durch die 16 Episoden der »Geschichte des Heilsarmee-
mädchens in Berlin« durchbrochen, in denen eine polyphone Schreibweise
zum Zuge kommt. Die geschichtsphilosophischen Essays über den »Zerfall der
Werte« sprengen gar den fiktionalen Rahmen.
Obwohl alle drei Protagonisten als Repräsentanten ihrer Epoche angelegt
sind, höhlt sich dieses tradierte Schema der Fiktionsbildung, das kollektive und
individuelle Erfahrung homogenisiert, immer weiter aus. Huguenau ist nicht
mehr einfach als Repräsentant einer Epoche angelegt, sondern er ist Repräsen-
tant einer nicht mehr repräsentationsfähigen Epoche. Die Offenbarungserleb-
nisse und die ihnen entsprechenden messianischen Figurationen zielen in den
7 Hermann Broch: Ethische Konstruktion in den Schlafwandlern. In: SW 726–727,
hier: 726.
8 »Ferien« als einzelne freie Tage oder Urlaub leiten sich von lateinisch »feriae« ab,
worauf etymologisch auch die »Feier« zurückgeht: »Das lateinische Substantiv feri-
ae (alat. fesiae) entstammt dem Bereich der Sakralsprache und bedeutet ursprünglich
›die für religiöse Handlungen bestimmten Tage‹. Es gehört mit den verwandten
Wörtern lat. festus ›die für die religiösen Handlungen bestimmten Tage betreffend;
festlich, feierlich‹ und lat. fanum ›heiliger, der Gottheit geweihter Ort‹; ›die für die
religiöse Feier bestimmte Kultstätte‹ zu einer Nominalwurzel *fes-, *fas- ›religiöse
Handlung‹, die keine sicheren Entsprechungen im Außeritalischen hat« (Art. »Fei-
er«. In: Duden, Etymologie: Herkunftswörterbuch der deutschen Sprache. Bearb.
von Günther Drosdowski. Mannheim, Leipzig, Wien, Zürich: Dudenverlag 1997,
S. 181).
9 Vgl. zu diesem Modell multiperspektivischen Erzählens Volker Neuhaus: Typen
multiperspektivischen Erzählens. Köln, Wien: Böhlau 1971 (Literatur und Leben,
N.F.; 13), S. 136.
6 (De-)Figurationen des Messianischen in Brochs ›Die Schlafwandler‹ 169
ersten beiden Romanen noch darauf, die Ordnung der Repräsentation, die
»allgemeine Ordnung von Identitäten und Unterschieden«,10 zu wahren (Pase-
now) bzw. (wieder) zu begründen (Esch). Die Hauptfigur des dritten Romans,
Wilhelm Huguenau, begnügt sich demgegenüber mit einer opportunistischen
»Privattheologie« (SW 696). Die atomisierte, moderne Massengesellschaft
untergräbt das Paradigma der Repräsentation, dem der in den geschichtsphilo-
sophischen Exkursen beschworene messianische »Führer« wieder zu seinem
Recht verschaffen soll. Die »Messiashoffnung der Annäherung« löst sich hin-
gegen von der Vorstellung geschlossener Totalität, die der Messias verkörpern
soll, und weist auf eine neue Ethik, die dem Verlust einer allgemeinen reprä-
sentativen Ordnung Rechnung trägt.
6.1.1 Der Messias als Kind oder Geschichte als Prozess der Reinigung
Im ersten der drei Romane (1888 . Pasenow oder die Romantik) schwebt Joa-
chim v. Pasenow das Bild der »Heiligen Familie« (SW 129) während eines
militärischen Gottesdienstes, einer »militärischen Kulthandlung« (SW 128),
vor Augen. Es handelt sich bezeichnenderweise um ein Erinnerungsbild aus
der Kindheit, das ihm vor die geschlossenen Augen tritt, als er in den von den
Soldaten gesungenen Choral einstimmt.
[D]enn mit dem Liede, das er als Kind gesungen, war die Erinnerung an ein Bild
aufgestiegen, Erinnerung an ein kleines buntes Heiligenbild, und da das Bild ihm
nun deutlich wurde, erinnerte er sich auch, daß es die schwarzhaarige polnische Kö-
chin gewesen war, die es ihm gebracht hatte, hörte ihre dunkle, singende Stimme
und sah ihre runzligen Finger mit der rissigen Spitze, hinzeigend über all die Bunt-
heit, aufzeigend, daß hier die Erde war, auf der die Menschen lebten, und wie dar-
über, nicht allzu hoch darüber, auf silbriger Regenwolke die Heilige Familie gar
friedlich beieinander saß, abkonterfeit in sehr bunter Kleidung, und das Gold, mit
dem die Gewänder verziert waren, wetteiferte mit dem Glanz der goldenen Heili-
genscheine (SW 129).
Hat man es immer mit Romantik zu tun, wie zuvor der Erzähler, mit der Figur
des Eduard v. Bertrand, sinniert, »wenn Irdisches zu Absolutem erhoben wird«
(SW 23), so ist diese Szene nicht nur ein Beispiel für eine solchermaßen ver-
standene religiöse Romantik, sondern gibt zugleich die dazugehörige Ästhetik
wieder. Irdisches spiegelt sich im Absoluten, die Familie wird zum Bild der
10 Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaf-
ten. Übers. von Ulrich Köppen. 15. Aufl., Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1999 (Suhr-
kamp-Taschenbuch Wissenschaft; 96), S. 296. Bei Foucault zeichnet sich die Reprä-
sentation dadurch aus, dass das Zeichen transparent ist auf seine Bedeutung und als
Bindeglied zwischen subjektivem Bewusstsein bzw. Vorstellungsvermögen und
»allgemeiner Ordnung der Identitäten und Unterschiede« fungiert. Vgl. zur »Krise
der Repräsentation« in der Moderne: Kerstin Behnke: Krise der Repräsentation. In:
Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd 8. Hg. von Joachim Ritter und
Karlfried Gründer. Darmstadt: Wiss. Buchges. 1992, Sp. 846–854.
170 Teil I
»Heiligen Familie« stilisiert. Die Ästhetik der Nachahmung stellt eine Korres-
pondenz zwischen Irdischem und Absolutem her, insofern das Irdische das Ab-
solute »abkonterfeit« (von französisch »contrefaire«: »nachmachen«, »nach-
bilden«), um den Raum einer geschlossenen Vorbild-Abbild-Repräsentation zu
errichten. Pasenow identifiziert sich dabei mit dem Christkind (»er selbst ein
Jesusknabe« (SW 130)). Die Orientierung am Messias als Kind entspricht der
im ersten Roman dargestellten romantisch regressiven Tendenz von 1888, als
die Ära Wilhelms II. beginnt.
Die romantische Ästhetik der anschaulichen Repräsentation ist unmittel-
bar für den Protestanten Pasenow nicht zu haben; bereits sein kindliches
Entzücken war, wie er sich erinnert, mit »Zittern ob der Ketzerei, die ein
geborener Protestant mit solchem Wunsche […] sich zuschulden kommen
ließ« (SW 129), durchsetzt. Das Bild drückt für den erwachsenen Pasenow
dann auch nicht mehr den verbotenen »Wunsch des Knaben« aus, sondern die
»Zuversicht des Zieles«, denn »er wußte, daß er den ersten schmerzlichen
Schritt zum Ziele getan hatte, zugelassen zur Prüfung, wenn auch erst am An-
fang der Prüfungsreihe stehend« (SW 130). So lautet die evangelische Ausle-
gung oder, wie es im Wortlaut heißt, die »evangelische Auflösung des Heili-
genbildes« (SW 130), wobei die »Auflösung« eine dialektische Aufhebung
anstrebt. Denn die »evangelische Auflösung des Heiligenbildes« will das Di-
lemma der »anzweifelbaren Konvention« (SW 127) lösen, das Dilemma der
Kontingenz der gesellschaftlichen »Ordnung« (SW 127), die Pasenow ange-
sichts des »Verfließen[s] der Formen« (SW 130), der gesellschaftlichen Kon-
ventionen, bewusst wird. Dieses »Verfließen der Formen« ist auch bildlich
ernst zu nehmen, denn es lösen sich auch die traditionellen Formen der sinnli-
chen Wahrnehmung in der Großstadt Berlin auf. Insbesondere ist es der »so
sehr gefürchtete Zerfall des menschlichen Antlitzes in ein Nichts« (SW 130),
der sich qua dialektischer Auflösung zur »Verheißung des Ebenbildes« (SW
130) aufheben soll, das eben nicht mehr unmittelbar in die Augen fällt (katho-
lische Heiligenverehrung), sondern auf dem evangelischen »geraden Weg der
Pflicht« (SW 158) zu verfolgen ist.
Das Offenbarungserlebnis im militärischen Gottesdienst bestätigt und be-
kräftigt für Pasenow die Legitimation der militärischen und kirchlichen Institu-
tionen, denen er angehört – hatte ihm doch schon geschwant, dass das militäri-
sche Exerzieren und auch der Gottesdienst ein bloß auf kontingenten Konven-
tionen gründender »Zirkus«11 sein könnte, ohne Rückhalt im Absoluten.
Pasenow verkörpert ein Christentum, wie es Rosenzweig vorgeschwebt ha-
ben mag, als er im Stern der Erlösung die christliche Fixierung auf den An-
fang, den ersten Christen, beschreibt. Indem das Christentum auf »Kreuz und
Krippe« als Erlösungsgeschehen zurückblicke, verwische sich ihm der klare
Unterschied zwischen Offenbarung und Erlösung: »Christus, nicht etwa erst
der wiederkehrende, nein schon der von der Jungfrau geborene, heißt Heiland
und Erlöser« (SdE 409). Das messianische Kind, Figur des Anfangs, in dem
bereits die Erlösung liegt, wird zur Repräsentationsfigur für Pasenow und
bestimmt auch sein Geschichtsverständnis. In der Geschichte ereignet sich
nichts qualitativ Neues, sondern sie ist eine »Prüfung«, ein Reinigungsprozess,
in dem das »Gereinigte« vom »Unreinen« geschieden wird. Ist die historische
Gegenwart für Pasenow von einem gefährlichen »Gleiten«12 gekennzeichnet,
das die Formen verfließen und das »Reine« sich mit dem »Unreinen« vermi-
schen lässt, so kann Pasenow dies nur als eine Prüfung in der Pflichttreue, in
der Treue gegenüber den die Erlösung verwaltenden Institutionen von Kirche
und Staat, auslegen.
Die Unterscheidung zwischen dem »Reinen« und dem »Unreinen« setzt der
Ambivalenz des »Gleitens« die Vorstellung des »[E]indeutig[en]« (SW 77)
gegenüber, in der »g[i]lt: ja, ja und nein, nein« (SW 77). Broch arbeitet in der
Schlafwandler-Trilogie mit unterschiedlichen Leitmotiven. Im ersten Roman
nimmt die Vorstellung von Reinheit und Unreinheit eine dominante Position
ein.13 Die Kategorien »rein« und »unrein« tragen für Pasenow eine soziale wie
eine moralische Konnotation. Sie spiegeln seine Sehnsucht nach »Festigkeit,
Sicherheit und Ruhe« (SW 36) wider. Auch für Pasenow persönlich ist die
soziale und moralische Ordnung ins »Gleiten« geraten, nachdem er eine Affäre
mit einer »Animierdame«, der Böhmin Ruzena, angefangen hat. Er entschließt
sich letztlich gegen Ruzena und für die Heirat mit der seinem Stand entspre-
chenden Elisabeth Baddensen. Dieser Entschluss für ein Leben auf den ländli-
chen Gütern mit der für ihn »Reinheit« (SW 101) verkörpernden »Unschuldi-
gen und Unberührten« (SW 148) wendet sich gegen ein Leben mit Ruzena, die
mit der Welt des »Städtischen« verbunden ist, in der sich »das Helle[] und die
Dunkelheit« beständig »unsauber« zu mischen drohen (vgl. SW 148).
Mit der Religionsethnologin Mary Douglas ist von einer ordnenden, form-
gebenden Funktion von rituellen Verunreinigungsvorstellungen in sozialer
Hinsicht auszugehen. Verunreinigungsvorstellungen, so zeigt Douglas, spielen
besonders dort eine Rolle, wo soziale Trennungslinien gefährdet sind, aber
auch moralische Beurteilungen ins Wanken geraten.14 Für Brochs Romanfigur
Pasenow werden Reinheit und Unreinheit in eben diesem Sinne zum morali-
schen Kompass in einer historisch und biographisch prekären Situation, in der
sich die sozialen Trennungen aufzulösen beginnen.
12 Das »Gleiten« stellt eines der kontrapunktischen Leitmotive im ersten Roman dar,
vgl. SW 28 (»hineingleiten«), 29, 57, 61, 99, 128.
13 Vgl. zum Motivkomplex »rein/unrein« SW 24f., 68, 70, 101, 143, 148, 171, 173.
14 Vgl. Mary Douglas: Reinheit und Gefährdung. Eine Studie zu Vorstellungen von
Verunreinigung und Tabu. Übers. von Brigitte Luchesi. Berlin: Reimer 1985,
S. 175. Verunreinigungsvorstellungen können auf diese Weise den Moralkodex
stärken, so dass z. B. der Glaube an Verunreinigung die Menschen davor zurückhält,
eine soziale oder moralische Norm zu übertreten, wenn die »moralische Empörung«
keine praktischen Sanktionen zur Hand hat.
172 Teil I
Die Differenz »rein« vs. »unrein« ist für Pasenow im sozialen wie im mora-
lischen Bereich identisch mit der Differenz »geformt« vs. »ungeformt«, »Form
auflösend«, »Ordnung gefährdend«. In aufgelöster Form erscheinen Pasenow
die Welt der Arbeiter, der Bereich des moralisch unbekümmerten Nachtlebens
der Großstadt, aber auch die Dimension des internationalen Handels. Diese
Leitdifferenz strukturiert auch Pasenows Unterscheidung zwischen legitimer
und illegitimer Gewalt. Illegitim müssen Pasenow die »unritterlichen Waffen«
(SW 468) des Ersten Weltkrieges erscheinen, vor allem der – auf beiden Seiten
erfolgte – Einsatz von Giftgas.15 Pasenows Furcht vor dem »Verfließen der
Formen« findet im unsichtbaren, anonymen Giftgas ihren paradigmatischen
Gegenstand. Die Anonymität der Waffe widerspricht seiner aristokratischen
Vorstellung eines legitimen Kampfes, der auf dem Modell des Duells fußt,
eines Kampfes unter Personen, die um ihre »Ehre« streiten.16
Der Krieg, für dessen Gewerbe er erzogen worden war, der Krieg, für den er eine
Jugend lang Uniform getragen hatte […], war plötzlich keine Angelegenheit der
Uniform mehr, keine Angelegenheit der Blauhosen und Rothosen, keine Angele-
genheit feindlicher Kameraden, die ritterlich die Klinge kreuzen, der Krieg war
weder Krönung noch Erfüllung eines uniformierten Lebens geworden, sondern hat-
te unbemerkt und doch immer fühlbarer dieses Lebens Grundlagen erschüttert
(SW 469).
walterfahrung. Der Überfall der Westgoten auf Rom hatte Augustinus zu sei-
nem monumentalen apologetischen Werk De Civitate Dei veranlasst, da er sich
mit der Frage konfrontiert sah, wie »alles zugrunde gehen kann in den christli-
chen Zeiten«.17 Augustinus’ Geschichtsauffassung liegt keine weltgeschichtli-
che, keine politische Eschatologie zugrunde, sondern eine Eschatologie des
Glaubens. Die innerweltlichen geschichtlichen Vorgänge sind für ihn neben-
sächlich, ja mehr noch: der innerweltliche Geschichtsverlauf demonstriert an
sich nur die hoffnungslose Aufeinanderfolge von Reichen und Generationen,
die in der vorbestimmten Ordinatio Dei zwar einen Zweck erfüllen. Hiervon
kann die menschliche Weisheit aber allenfalls Bruchstücke wahrnehmen. Die
eigentliche Bedeutung der Geschichte ist die eines »Pädagogium[s], das haupt-
sächlich durch Leiden erzieht«.18
Auch Pasenow weicht immer weiter von der Politik auf eine Eschatologie des
Glaubens aus. Eigentlich gehören für den preußischen Protestanten Staat und
Glaube zusammen. Angesichts eines Krieges jedoch, in dem auch die eigene
Seite mit »unritterlichen Waffen« kämpft (»das Gift der Gottesleugner und
Abenteurer […] hat auch unser Vaterland nicht verschont« (SW 468)), lässt sich
bei ihm ein immer weiter gehender Rückzug auf den Glauben beobachten, dem
die Geschichte unbegreiflich bleibt. Die Identifikation mit dem messianischen
Kind führt schließlich zu buchstäblicher Regression: Zum Schluss der Roman-
trilogie ist Pasenow »willen- und kraftlos« (SW 683) und lässt sich wie ein
Baby mit dem Schnabeltopf Milch einflößen von Huguenau, der gerade Esch
umgebracht hat.
Die Szene ist sexuell aufgeladen. Esch ist es fast »ein wollüstiger Gedanke,
daß er allein und verlassen dort stünde« (SW 203). Das Geschehen evoziert in
ihm die lustvoll besetzte Vorstellung des Jüngsten Gerichtes (»Es waren die
Fanfaren des Gerichtes.« (SW 204)), das seinem »Gewissen« einen »Stich«
(SW 205) gibt: »[I]mmer wartet man, daß man zum Gericht geweckt wird,
denn mag man auch einmal dem Freidenkerbund beigetreten sein, so hat man
trotzdem sein Gewissen« (SW 204). Eschs Gewissen ist freilich »anar-
chisch«,20 »er fühlte, daß er jemandem treu zu bleiben habe, wußte er auch
nicht wem« (SW 205).
Die Instanzen, gegenüber denen sich Eschs Gewissen verantwortlich fühlen
könnte – Familie, soziale Gruppe, Staat, Kirche, Gott –, sind für ihn nicht mehr
bindend. Mehr noch: Sie können die »Opferkrise«, die Produktion sinnloser
wie unschuldiger Opfer, deren Paradebeispiel für ihn die Abend für Abend
aufs neue »gekreuzigte« Varietédarstellerin Ilona wird, nicht mehr steuern,
geschweige beheben. Die staatlichen Instanzen, Gericht und Polizei, produzie-
ren vielmehr selbst unschuldige Opfer. Die metaphysische Perspektive auf das
Jüngste Gericht bringt Esch nicht dazu, sich mit der Vorstellung einer im Jen-
seits richtenden und auf diese Weise ordnenden Handlung zu vertrösten. Sie
befördert vielmehr in ihm den Wunsch, dass es eine den gesellschaftlichen
Konflikten übergeordnete und in diesem Sinne transzendente Instanz gäbe, die
die Opferkrise zu beheben vermöchte.
Gerichtswesen und Opfer haben die gleiche Funktion, nämlich den Teufels-
kreis der Rache zu unterbrechen.21 Der genealogische Zusammenhang zwi-
schen religiösen Opferpraktiken und modernem Gerichtswesen, den René
Girard aufgezeigt hat, wird auch im Esch-Roman sichtbar.22 Opferpraktiken
wie Gerichtsverfahren gehen aus dem Racheprinzip hervor, transformieren es
aber so, dass die Rache selbst folgenlos bleibt, selbst also nicht gerächt wird.
Im Rahmen der Opferriten wird der Teufelskreis der Rache durch Opferstell-
vertretung unterbrochen, durch die ein »opferbares« Lebewesen an die Stelle
des »richtigen« (der sog. »Täter« des modernen Strafwesens) gesetzt wird. Im
Gerichtswesen wird der Teufelskreis der Rache dadurch unterbunden, dass
»die Entscheide der gerichtlichen Autorität sich immer als das letzte Wort der
Rache [behaupten]«.23 Damit die Gewaltregulation durch Opferkult und Ge-
richtswesen funktioniert, darf die Transformation der Rache nicht erkannt
werden. Sie muss sich ins »Dunkel« der Transzendenz hüllen. »Dieses Dunkel
fällt mit der tatsächlichen Transzendenz heiliger, gesetzmäßiger und rechtmä-
ßiger Gewalt zusammen, im Gegenüber zur Immanenz der schuldhaften und
gesetzwidrigen Gewalt.«24 Diese »Transzendenz [täuscht] die Gewalt nachhal-
tig […], indem sie an einen Unterschied zwischen Opfer und Gewalt oder
zwischen Gerichtswesen und Rache glauben läßt.«25
20 Broch, Der Wertezerfall und die Schlafwandler (wie Anm. 1), SW 734.
21 Girard, Das Heilige und die Gewalt (wie Anm. 19), S. 39.
22 Vgl. zur Einordnung des Girard’schen Ansatz in die Geschichte der Opfertheorien:
Josef Drexler: Die Illusion des Opfers. Ein wissenschaftlicher Überblick über die
wichtigsten Opfertheorien ausgehend vom deleuzianischen Polyperspektivismusmo-
dell. München: Akademie-Verlag 1993; sowie Burkhardt Wolf: Die Sorge des Sou-
veräns. Eine Diskursgeschichte des Opfers. Zürich, Berlin: Diaphanes 2004, beson-
ders S. 9–19.
23 Girard, Das Heilige und die Gewalt (wie Anm. 19), S. 29.
24 Ebd., S. 40.
25 Ebd., S. 41.
176 Teil I
Die Transzendenz des weltlichen Gerichtswesens löst sich für Esch nun je-
doch auf. Denn er nimmt die Schlichtungsinstanz des Gerichts als in die Im-
manenz der Gesellschaft verstrickt, also schlicht: als parteiisch wahr (»kapita-
listische Rechtsordnung« [SW 259]), insofern sie sinnlose, unschuldige Opfer
produziert. Umgekehrt ist Esch geradezu von der Idee einer durch Opferung
neu herzustellenden Ordnung besessen. Er verfolgt (oder aber: es verfolgt ihn)
die Idee eines Ordnung stiftenden Gründungsopfers: »Man muß Opfer bringen,
denn ohne Opfer keine Erlösung«, meint Esch, und noch prägnanter: »[D]as
Opfer mußte sein, damit Ordnung in die Welt komme, damit der Stand der
Unschuld allem Lebendigen wieder geschenkt werde« (SW 306f.). Die Bedeu-
tung des Opfers schillert bei Esch zwischen schlichtem moralischem Verzicht,
physischem Selbstopfer und der Opferung eines – um mit Henri Hubert und
Marcel Mauss zu sprechen – victime, das qua Konsekration die Kommunikati-
on zwischen dem Profanen und dem (für Esch verlorenen, wiederzugewinnen-
den) Heiligen als transzendenter Ordnungsinstanz herstellen soll.26 Dieses
victime muss nicht unbedingt der von Esch für die Verhaftung Geyrings ver-
antwortlich gemachte Industrielle Eduard von Bertrand sein, auch wenn Esch
dem Plan, ihn zu opfern, anhängt. »[L]osgelöst vom Täter besteht das Unrecht
und das Unrecht allein ist es, das gesühnt werden muß« (SW 271). Für Esch
geht es nicht darum, ein einzelnes Unrecht ›wiedergutzumachen‹, sondern eine
gesellschaftliche Unordnung zu beheben, die er als metaphysische verkennt,
insofern er die Gesellschaft als Bereich guter und böser Kräfte wahrnimmt.
26 Die Konsekration, durch die ein »victime« zu einem kultischen Opfer wird, steht im
Zentrum von Henri Huberts und Marcel Mauss’ 1899 erschienenem »Essai sur la na-
ture et la fonction du sacrifice«. Mauss und Hubert haben den Konsekrations- als
Kommunikationsprozess interpretiert. Im Medium der Zerstörung des Opfers soll
die Kommunikation mit den Göttern erfolgen: »Le sacrifice est un acte réligieux qui,
par la consécration d’une victime, modifie l’état de la personne morale qui
l’accomplit ou de certains objects auxquels elle s’intéresse« (Henri Hubert et Marcel
Mauss: Essais sur la nature et la fonction du sacrifice. In: Marcel Mauss: Les foncti-
ons sociales du sacré. Paris: Éd. de Minuit 1968, S. 193–307, hier: S. 205). Die Kon-
sekration beschreiben die Autoren näherhin als einen Prozess, der die Kommunika-
tion zwischen dem Heiligen und dem Profanen vermittels eines im Vorgang der Op-
ferung (sacrifice) physisch zerstörten, zu den Göttern erhobenen Opfers (victime)
zum Ziel hat. Da es keine transzendente Instanz mehr für Esch gibt, ist diese zualler-
erst durch ein Opfer performativ zu installieren. Auch hierfür haben Hubert und
Mauss eine Vorlage geliefert, wenn sie im letzten Kapitel dem »sacrifice de dieu«
nachgehen und schreiben: »[L]a création de la divinité est l’oeuvre des sacrifices an-
térieurs« (ebd., S. 283f.). Hubert und Mauss entwickeln ihre These vom Gottesopfer
aus den antiken Mythen, wo der Held eines gewaltsamen Todes sterben muss, um
göttlich zu werden: Ein (Selbst-)Mord begründet den Opferritus, in dem der Gott
stets von neuem stirbt. Aus dieser Perspektive stellt sich für die Autoren das Chris-
tus-Opfer als Klimax einer evolutionären Entwicklung dar: Das Selbstopfer Gottes,
das in der Messe zelebriert werde, begründe das Verzicht-Ideal, durch das ein mora-
lisches Opfer an die Stelle des physischen trete.
6 (De-)Figurationen des Messianischen in Brochs ›Die Schlafwandler‹ 177
Anders als Girard es ihnen vorwirft,27 haben bereits Mauss und Hubert be-
merkt, dass am Ursprung der Opferkulte selbst ein Gewaltakt ausgemacht
werden kann. Das einmütige Opfer (»Sündenbock«-Theorie), das bei Girard
die Opferpraxis begründet und als »Gründungsopfer« gesellschaftlicher Ord-
nung veranschlagt wird, findet sich zwar in ihrer Darstellung nicht; wohl aber
beschreiben sie, wie ein Mord einen Opferkult zu begründen vermag. Die
Vorstellung, dass gesellschaftliche Ordnung durch einen Opfervorgang zu
konstituieren sei, ist der rote Faden in Eschs wilden Opferphantasien. Verdankt
sich die Installation des Gottes als transzendenter Instanz selbst einem Gewalt-
akt, so entspricht diesem Zusammenhang in Brochs Text, dass der von Esch
als Opfer privilegierte Bertrand bereits zwischen »Übermörder« (SW 268) und
göttlichem Wesen (vgl. SW 297, 335) changiert.
Die Opferbesessenheit Eschs ist nun weitaus mehr seinem Ordnungsstreben
als einem religiösen Bedürfnis zuzuschreiben (»es muß Ordnung gemacht
werden, damit man von vorne anfangen kann« (SW 339)). Das Opfer soll
wieder Ordnung schaffen (»das Opfer mußte sein, […] damit Ordnung in die
Welt komme« (SW 306)). Die Transzendenz wird in erster Linie benötigt, um
die Stabilität der Ordnung zu garantieren. Denn die Kommunikation mit den
Göttern im Opfervorgang hat einen sozialen Ordnungseffekt. Diesen regulie-
renden Aspekt des Opfers hat die strukturalistische soziologische Schule in der
Nachfolge von Mauss und Hubert immer wieder betont. Der Opfervorgang
trägt zwar Gewaltcharakter, ist aber zugleich Steuerung. Julia Kristeva bringt
dies mit der rechtlichen, aber auch sprachlichen Ordnung der Repräsentation in
Zusammenhang:
[D]er Opfervorgang markiert jenen Grat, in dem das Soziale und das Symbolische
ihren Ausgang nehmen: das Thetische, das die Gewalt lokalisiert und aus ihr einen
Signifikanten macht. Weit davon entfernt, Gewalt zu entfesseln, zeigt der Opfervor-
gang vielmehr, daß sie durch Repräsentation aufgehalten und in eine Ordnung über-
führt werden kann.28
27 Vgl. Girard, Das Heilige und die Gewalt (wie Anm. 19), S. 18.
28 Julia Kristeva: Die Revolution der poetischen Sprache. Übers. von Reinold Werner.
Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1978 (Edition Suhrkamp; 949), S. 83f. Den Hinweis auf
Kristevas Interpretation des Opfervorgangs bzw. auf den Zusammenhang von Opfer-
und Ordnungsbesessenheit gibt bereits Friedrich Vollhardt: Hermann Brochs ge-
schichtliche Stellung. Studien zum philosophischen Frühwerk und zur Romantrilo-
gie »Die Schlafwandler«. Tübingen: Niemeyer 1986 (Studien zur deutschen Litera-
tur; 88), S. 293f.
178 Teil I
Eschs Traumbegegnung mit Bertrand bringt ihn nicht nur davon ab, Bertrand
»opfern« zu wollen, sondern seine Opferobsession bekommt auch eine andere
Stoßrichtung: Statt das eine Opfer aktiv anzustreben – sei es nun das aktive
Selbst- oder das Fremdopfer –, mit dem die vielen passiven (›unschuldigen‹)
Opfer gesühnt werden sollen, lernt Esch mit der Zeit zu rechnen und auf Ge-
schichte zu spekulieren. Es muss das »Ende der Zeit« erreicht, die Zeit voll
werden, bevor überhaupt des »Erlösers Tod« den »Stand der Unschuld« wieder
herstellen kann (vgl. SW 379). Die passive Opferrhetorik (viele Opfer müssen
erlitten werden, bis das Ende der Zeit erreicht ist) verdrängt die aktive.
Den Krieg versteht Esch apokalyptisch, als Anzeichen für das Wirken des
Antichrist (vgl. SW 586), wobei es ihm, anders als Pasenow, auf den apoka-
lyptischen Bruch ankommt, aus dem qualitativ Neues entstehen soll. Der apo-
kalyptische Diskurs, der sich im Ersten Weltkrieg mit dem revolutionären
Diskurs verbinden konnte wie z. B. bei Ernst Bloch, lässt auch bei Esch revo-
lutionäre Züge anklingen, die letztlich aber wieder in das betont unpolitische
»Reich der Erlösung« abgebogen werden: »Mord und Gegenmord … viele
müssen sich opfern, damit der Erlöser geboren wird, der Sohn, der das Haus
bauen darf« (SW 501), meint Esch, und: »Je ärger das Übel, je tiefer die Fins-
ternis, je schärfer das sausende Messer, desto näher das Reich der Erlösung«
(SW 555).
Der sektiererische, opferbesessene Messianismus eines Esch ebenso wie der
romantisch-regressiv am messianischen Kind (am »reinen«, die Erlösung be-
reits in sich tragenden Anfang) orientierte Messianismus eines Pasenow resul-
tieren aus einer Krisen- und Kriegserfahrung, die die Protagonisten in über-
kommene religiöse Deutungskategorien zu übersetzen versuchen, um der his-
torischen Situation einen »Sinn« zu induzieren. Die messianischen Vorstellun-
gen Pasenows und Eschs erfüllen so die Funktion von Abschirmdiskursen.
Die Auflösung personaler Integrität führt dazu, dass »einer in den andern ver-
fließt und […] [k]einer ist, was er zu sein glaubt: man glaubt, daß man ein Kerl
ist, der fest auf seinen zwei Beinen steht […] und in Wirklichkeit steht man
einmal auf diesem Platz und einmal auf jenem« (SW 272). In der Logik von
»Kräften« und systemischen Positionen (»Platz«) zergeht die Schimäre eines
ganzheitlichen Subjekts. Pasenow versucht, in traditionell christlicher Weise
an der Vorstellung eines substantiellen Subjekts festzuhalten, die Gottes-
»Ebenbildlichkeit« (SW 130) löst sich ihm nur dialektisch auf, um zur »Ver-
heißung« (SW 130) zu werden, dass der »Gottesstaat[] […] alles in sich auf-
nimmt, was Menschenantlitz trägt« (SW 470 [Hervorhebung E. D.]). Für Esch
zerrinnt zwar die personale Integrität; es bleiben aber nicht nur gesellschaftli-
che »Kräfte« übrig, sondern »Kräfte« mit metaphysischem Vorzeichen: aus
»guten und bösen Menschen« werden »gute[] und böse[] Kräfte« (SW 270),
die wieder ins ordnungsmäßige Verhältnis zu bringen sind.
Am Anfang des dritten Romans der Schlafwandler erfolgt ebenfalls eine
Übertragung von Transzendentem auf Immanentes, allerdings mit einem gänz-
lich anderen Effekt: Die Identifikation mit dem Gott führt zu dessen Durch-
streichung – diese Folgen hat das Offenbarungserlebnis für den atheistischen
Kaufmann Wilhelm Huguenau. So wie das Messianische nicht mehr im Be-
wusstseinshorizont der Hauptfigur verankert ist – Huguenau sind messianische
Vorstellungen fremd –, geht es auch nicht mehr in dem Paradigma der Reprä-
sentation und der personalen Identität auf. Das heißt aber auch, dass man es bei
dem Bezug auf messianische Momente nicht mehr allein mit einem religiösen
Abschirmdiskurs zu tun hat wie in den beiden vorangehenden Romanen. Hin-
ter die Einsicht, dass anonyme Strukturen traditionelle Vorstellung von perso-
naler Integrität und Identität hinfällig machen, geht der dritte Roman nicht
zurück. Die präreflexive Tatsache des eigenen Daseins, die der Eingang des
dritten Romans in den Vordergrund rückt, ebenso wie die dialogische Existenz
schließen anonyme Strukturen nicht aus. Die dialogische Existenz zeigt viel-
mehr eine Dimension auf, die aus einer Aktualisierung anonymer Strukturen
im Hier und Jetzt der konkreten Situation entsteht. Mit der präreflexiven Tat-
sache des eigenen Daseins wiederum wird der Einzelne in der Anonymität des
technisch geführten Krieges konfrontiert, der ihn zu einer statistischen Größe
reduziert – ihm jedoch nicht das Sterben abnehmen kann.
180 Teil I
6.1.3 Von der Imitatio Christi aus atheistischem Geist zur »Messias-
hoffnung der Annäherung« als ethisch-poetischem Prinzip
Nach Geburt und Kreuzigung wird die Auferstehung Christi zum Vorbild für
den Protagonisten des letzten Romans, überschrieben Huguenau . Oder die
Sachlichkeit. Im Schützengraben hat Wilhelm Huguenau eine Auferstehungs-
vision, aufgrund derer er desertiert. Es herrschen keine Gemeinschaftsgefühle
im Schützengraben, sondern Isolation, Einsamkeit und Angst:
Schon als sie einer nach dem andern durch den Laufgraben dahintrotteten, hatten sie
wohl alle das Gefühl, hinausgestoßen zu sein aus dem Schutze des Kameradschaftli-
chen und des Zusammengehörens, und wenn sie auch sehr abgestumpft waren […],
so gab es doch keinen, der nicht wußte, daß er als einsamer Mensch mit einsamem
Leben und einsamem Tode hier herausgestellt worden war in eine übermächtige
Sinnlosigkeit, […] die sie nicht begreifen oder höchstens als Scheißkrieg bezeichnen
konnten (SW 386).
Bei dem »Bild«, das in Huguenaus Erinnerung »wie ein Altar in der Mitte
stand«, handelt es sich um den in Colmar im Musée d’Unterlinden befindli-
chen »Isenheimer Altar« Matthias Grünewalds, dessen in Leidensdrastik dar-
gestellte Kreuzigung Christi ein Beispiel für die veränderten Kreuzigungsdar-
stellungen im späten Mittelalter ist.30 Sie führen nicht mehr den Weltenrichter
und göttlichen Himmelsherrn vor Augen, der für immer über den Tod trium-
phiert hat, sondern den leidenden Erlöser, den sterbenden Gott. Freilich resul-
tiert dieses ›realistisch‹ dargestellte Sterben Gottes in der umso wunderbareren
Auferstehung, die Grünewald in leuchtenden Farben auf der Wandlung des
Altars präsentiert. Die epiphanische Vision bringt Huguenau zur Desertion. Er
steht nicht wie Christus aus dem Grabe auf, sondern kriecht aus dem Graben:
der Soldat im Schützengraben als »einer der Ausgestoßenen«, wie es im Epi-
log der Schlafwandler heißt, die »die ersten sein müssen, die zur Wertfreiheit
gelangen, […] auch die ersten, den Ruf des Mordes zu vernehmen« (SW 702).
Die Christus-Vision läutet für den Deserteur Huguenau eine »Ferienzeit«
(SW 391) ein, in der er sich auf betrügerische Weise in den Besitz eines Zei-
30 Vgl. zum Isenheimer Altar und zu Matthias Grünewald Karen van den Berg: Die
Passion zu malen. Zur Bildauffassung bei Matthias Grünewald. Duisburg u. a.:
pict.im 1997; Horst Ziermann: Matthias Grünewald. München: Prestel 2001; Georg
Scheja: Der Isenheimer Altar des Matthias Grünewald. Köln: DuMont Schauberg
1969.
6 (De-)Figurationen des Messianischen in Brochs ›Die Schlafwandler‹ 181
tungsbetriebes bringt und die er mit einem Mord an dessen früherem Besitzer
Esch beendet. Huguenau rennt Esch, dessen Besessenheit von der Notwendig-
keit eines Opfers zur Wiederherstellung einer aus den Fugen geratenen Welt ja
im Zentrum des zweiten Romans der Schlafwandler gestanden hat, in den
Wirren der Revolutionstage »das Bajonett in den knochigen Rücken« (SW
677). Man könnte auch sagen: Er versetzt ihm einen Stoß ins Kreuz, kreuzigt
den vom Opfergedanken Besessenen – und verweist damit auf ein Jenseits der
Opferlogik. Denn hinter Hunguenaus Tat steht keine Ökonomie des Heils oder
des Sinns. Seine Tat ist psychologisch wie handlungspragmatisch unzurei-
chend motiviert: ein sinnloses »Töten«. Die Logik der »Opferheiligung«, die
aus den Opfern ordentliches Kapital schlägt, indem die Opfer »zu den Göttern
erhoben« und dadurch eine Sinn wie Ordnung beglaubigende Funktion be-
kommen, wird selbst liquidiert.
Huguenaus Christus-Vision, in der sich das »Orangelicht des Kanonenfeu-
erwerks und der Leuchtraketen« mit den »leuchtenden Farben jenes Grüne-
wald’schen Altarwerks« (SW 388) mischen, bedeutet ihm also keine Überhö-
hung der Kriegsszenerie zum religiösen Opfergang. Eine religiöse, kriegerisch-
propagandistische Opferrhetorik wird allenfalls karikiert, denn Huguenau
entschließt sich ja nicht zum Opfer, zum ›Heldentum‹, sondern zur Desertion.
Die Altarbilder haben für Huguenau nicht den Status eines Kultbildes – er
erinnert sie nicht als Altar, sondern in seiner Erinnerung standen sie nur mehr
»wie ein Altar« (SW 387; Hervorhebung E.D.) in der Mitte eines Museums-
raumes. Losgelöst vom Kult evoziert das Bild weder eine Imitatio Christi im
traditionellen noch im propagandistischen Sinne. Vielmehr wird die Imitatio
Christi chiastisch gewendet, insofern nicht die Leidensbereitschaft des Erlösers
für Huguenau vorbildlich ist, sondern dessen Freiheit von irdischen Banden,
wie sie in der Auferstehungsszene zum Ausdruck kommt. Es handelt sich also
um eine Imitatio Christi aus atheistischem Geist, die die eigene Freiheit an die
Stelle der göttlichen Freiheit setzt.
Der Gott erscheint, um geleugnet zu werden. Huguenaus Selbstbehauptung
hat eine atheistische Pointe, die Nietzsches Atheismus, so wie ihn Rosenzweig
interpretiert, verwandt ist. »›[W]enn Gott wäre, wie hielte ich es aus, nicht
Gott zu sein?‹« (SdE 20), zitiert Rosenzweig – nicht ganz korrekt –31 Nietz-
sche und fährt fort:
Der erste wirkliche Mensch unter den Philosophen war der erste, der Gott von An-
gesicht zu Angesicht sah – wenn auch nur, um ihn zu leugnen. […] Das trotzige
Selbst schaut […] die alles Trotzes ledige göttliche Freiheit, die ihn, weil er sie für
31 Bei Nietzsche heißt es eigentlich: »W e n n es Götter gäbe: wie hielte ich es aus, kein
Gott zu sein! Aber es giebt keine Götter« (Friedrich Nietzsche: Nachgelassene
Fragmente 1882–1884. In: Ders.: Kritische Studienausgabe. Hg. von Giorgio Colli
und Mazzino Montinari. Bd 10. München: Dt. Taschenbuch-Verlag 1999 [dtv;
59044], S. 368).
182 Teil I
Schrankenlosigkeit halten muß, zur Leugnung drängt […]. So stößt das Meta-
Ethische […] das Metaphysische aus sich ab (SdE 20f.).
Der Schluss des ersten Erzählabschnittes der Schlafwandler lässt sich parallel
dazu lesen: Christus entschwebt während der Nacht »mit aufgehobener Hand
in die Kuppel«, Huguenau aber kriecht am Morgen aus dem Graben in eine
Welt hinaus, die »wie unter einem Vakuumrezipienten – Huguenau musste an
eine Käseglocke denken – […] lag«, »grau, madig und vollkommen tot in
unverbrüchlichem Schweigen« (SW 388). Christus verschwindet aus der Welt,
und Huguenau »schritt wie unter einer Glocke voll Unbekümmertheit, abge-
grenzt von der Welt und doch in ihr« (SW 391). Am Beginn des dritten Ro-
mans der Schlafwandler zerfällt die Einheit von Gott, Mensch und Welt vol-
lends. Der Zerfall des Seins in die drei voneinander isolierten Bereiche
Mensch, Gott und Welt steht auch am Beginn von Rosenzweigs Stern der
Erlösung. Ein Vergleich zwischen Brochs Romananfang und der Einleitung
des Stern der Erlösung ist erhellend, insofern Huguenau, das »wertfreie« Indi-
viduum, als eine Figuration des »meta-ethischen Selbst« gelesen werden kann,
von dem Rosenzweig ausgeht. Am Anfang von Rosenzweigs Philosophie steht
kein abstraktes Prinzip, sondern die Erfahrung der Endlichkeit. So beginnt der
Stern der Erlösung mit der Kriegserfahrung, die den Menschen nicht nur mit
der Todesangst konfrontiert, sondern ihn auf die nackte, dem Tode preisgege-
bene Kreatürlichkeit zu reduzieren droht:
Mag der Mensch sich wie ein Wurm in die Falten der nackten Erde verkriechen vor
den herzischenden Geschossen des blind unerbittlichen Tods, mag er es da gewalt-
sam unausweichlich verspüren, was er sonst nie verspürt: daß sein Ich nur ein Es
wäre, wenn es stürbe, und mag er deshalb mit jedem Schrei, der noch in seiner Keh-
le ist, sein Ich ausschreien gegen den Unerbittlichen […] – die Philosophie lächelt
zu all dieser Not ihr leeres Lächeln und weist mit ausgestrecktem Zeigefinger das
Geschöpf […] auf ein Jenseits hin, von dem es gar nichts wissen will (SdE 3).
32 Der biographische Entstehungskontext des Sterns ist legendär: Rosenzweig war als
Soldat an der Balkanfront, als er 1917 »plötzlich wie im Blitzschlaf den ganzen in-
neren Aufbau« seines Werkes vor Augen gesehen haben soll. Im nächsten halben
Jahr schickt er seiner Mutter eine Fülle von Postkarten, die sein unablässiges Arbei-
ten am Stern bekunden und dessen Grundlage darstellen (vgl. Ulrich Sieg: Jüdische
Intellektuelle im Ersten Weltkrieg. Berlin: Akademie-Verlag 2001, S. 297–305).
6 (De-)Figurationen des Messianischen in Brochs ›Die Schlafwandler‹ 183
Später erfolgt dann die Flucht nach vorne, die heroische Überbietung der tech-
nischen ›Kälte‹ in dem technizistischen Ideal des »Arbeiters«.33 In Martin
Heideggers Sein und Zeit ist es das »Vorlaufen in den Tod«, durch das der
Einzelne den anonymen Strukturen des »Man« entkommen soll, um die ei-
gensten Daseinsmöglichkeiten zu ergreifen.34 Rosenzweig hat mit Heidegger
sehr viel mehr als mit Jünger gemeinsam, vor allem den existenzphilosophi-
schen Ansatz und die Bemühung, eine Bestimmung für das singuläre Dasein
zu finden. Rosenzweig versucht, seinem dialogischen Ansatz gemäß, das »sin-
gulare Individuum« (SdE 143) vom Ereignis des Angerufenwerdens und der
Erfahrung, dass keiner für mich/an meiner Stell in diesem Moment antworten
kann, zu bestimmen (s. oben). Die Einsicht, dass keiner für mich/an meiner
Stelle sterben kann,35 die in Heideggers Überlegungen den Impuls zum Vor-
laufen in den Tod um des Ergreifens der eigensten Möglichkeiten willen gibt,
steht bei Rosenzweig, statt im Zentrum, lediglich am Anfang seiner Philoso-
phie, nämlich in der Einleitung zum Stern.36
33 Vgl. zu den beiden bei Jünger vorfindlichen Strategien Thomas Weitin: Notwendige
Gewalt. Die Moderne Ernst Jüngers und Heiner Müllers. Freiburg i. Br.: Rombach
2003 (Rombach-Wissenschaften: Reihe Cultura; 34).
34 Vgl. Martin Heidegger: Sein und Zeit. 18. Aufl., Tübingen: Niemeyer 2001, S. 263
(»§ 53. Existentialer Entwurf eines eigentlichen Seins zum Tode«): »Das Vorlaufen
läßt das Dasein verstehen, daß es das Seinkönnen, darin es schlechthin um sein ei-
genstes Sein geht, einzig von ihm selbst her zu übernehmen hat. […] Die im Vorlau-
fen verstandene Unbezüglichkeit des Todes vereinzelt das Dasein auf es selbst. Die-
se Vereinzelung ist eine Weise des Erschließens des ›Da‹ für die Existenz. Sie macht
offenbar, daß alles Sein bei dem Besorgten und jedes Mitsein mit anderen versagt,
wenn es um das eigenste Seinkönnen geht. Dasein kann nur eigentlich es selbst sein,
wenn es sich von ihm selbst her dazu ermöglicht.«
35 Heidegger, Sein und Zeit (wie Anm. 34), S. 240 (§ 47. »Die Erfahrbarkeit des Todes
der Anderen und die Erfassungsmöglichkeiten eines ganzen Daseins«).
36 Anders als Heidegger exponiert Rosenzweig eine ontologische Abhängigkeit vom
Anderen, um »singulares Individuum« und nicht nur »stummes Selbst« zu sein. An
die Stelle des göttlichen Anderen tritt bei Heidegger der Tod. Denn was bei Heideg-
ger der existential-ontologische Begriff des Todes bezeichnet, verstanden als »die
eigenste, unbezügliche, gewisse und als solche unbestimmte, unüberholbare Mög-
lichkeit des Daseins« (Heidegger, Sein und Zeit [wie Anm. 34], S. 258), die sich
phänomenologisch im »Gewissensruf« bezeugt, erfüllt bei Rosenzweig das Offenba-
rungsgeschehen, in dem sich der Mensch von Gott angerufen und auf seinen unver-
tretbaren Ort verwiesen findet (s. o.). Trotz der frappierenden Nähe des unerwartba-
ren, plötzlich einbrechenden Heidegger’schen Gewissensrufes, der nichts aussagt
oder erzählt (vgl. ebd., S. 273), sondern das Dasein zu ihm selbst aufruft, und der
göttlichen Anrufung bei Rosenzweig, die ebenso überraschend erfolgt wie seman-
tisch leer bleibt, hält Rosenzweig doch daran fest, dass der Ruf von außen kommt
und nicht wie bei Heidegger »aus mir und doch über mich« (ebd., S. 275). Der Un-
terschied zwischen Heidegger und Rosenzweig liegt nicht nur darin, dass Heidegger
versucht, die Philosophie von jedem Bezug auf ein transzendentes Dasein (Gott) zu
›bereinigen‹, Rosenzweig hingegen Gott als Element des Seins »setzt«. Die Bedeu-
tung, die der Andere für beider Philosophie hat, fällt ebenfalls unterschiedlich aus.
184 Teil I
Die Entdeckung des einzelnen faktischen Daseins als irreduzibler Realität ist
von grundlegender Bedeutung. Denn es genügt, wie Stéphane Mosès Rosen-
zweigs Gedanken umschreibt, »eine einzige Realität aufzufinden, die dem
Denken vorhergeht, um das ausdrückliche Postulat aller Philosophie, die
Totalitätsidee in Frage zu stellen.«37 Das irreduzible Dasein des Einzelnen
wird zum »Gärstoff, der die logisch-physische Einheit des Kosmos zerfällt«
(SdE 17).
Der Mensch, der angesichts des Todes das Faktum seines einzelnen Daseins
entdeckt, der in der »Furcht des Todes« nicht sterben, sondern »bleiben« (SdE
4) will, findet sich in seiner faktischen Existenz außerhalb von moralischen
Systemen, in denen er als Objekt eines Gesetzes rangiert. Er entdeckt sich als
Heidegger gibt zwar auch einer Dimension des Mitseins Raum, wenn er ausführt,
dass die »Entschlossenheit zum eigensten Seinkönnen« (Heidegger, Sein und Zeit
[wie Anm. 34], S. 299) das Dasein nicht von seiner Welt ablöse, sondern »es in das
fürsorgende Mitsein mit anderen stoße« (ebd., S. 298). Rosenzweig stellt aber be-
reits die ontologische Abhängigkeit vom (göttlichen) Anderen aus, um überhaupt
»singulares Individuum« zu sein, führt also den Anderen an der Stelle ein, an der in
der fundamental-ontologischen Untersuchung Heideggers der Tod steht. Die Grund-
figuration Rosenzweigs ist bereits echt dialogisch – zwei voneinander unabhängige,
getrennte Wesen begegnen einander –, wohingegen bei Heidegger der Gewissensruf
wohl auch »wie eine fremde Stimme« (ebd., 277 [Unterstreichung E. D.]) erscheint.
Es sind jedoch »der Rufer und der Angerufene je das eigene Dasein zumal selbst«
(ebd., 279). Dabei handelt es sich freilich um ein Dasein, das sich selbst als fremdes
erfährt, als ein »in der Unheimlichkeit auf sich vereinzelte[s], in das Nichts gewor-
fene[s] Selbst« (ebd., 277). Ebenso wie der eigene Tod bei Heidegger an die Stelle
des göttlichen Anderen bei Rosenzweig tritt, rückt ein ›innerer Dialog‹ an die Stelle
eines äußeren.
37 Stéphane Mosès: System und Offenbarung. Die Philosophie Franz Rosenzweigs.
München: Fink 1985, S. 51.
6 (De-)Figurationen des Messianischen in Brochs ›Die Schlafwandler‹ 185
Die Desertion Huguenaus wird von dem Erzähler unter dem Aspekt der Frei-
heit kommentiert, als deren Ausdruck die Loslösung aus der »menschlichen
Verbundenheit« postuliert wird. In der Perspektive dieses Kommentars erhält
das »Schützengrabenerlebnis« Huguenaus das Pathos einer existentiellen Ein-
samkeits-, Vereinzelungs- und Endlichkeitserfahrung, die sich durch die Be-
freiung von den Banden des Allgemeinen auszeichnet. Das Pathos bricht sich
jedoch an der Figur Huguenaus, dem gewandten, auf seinen Vorteil bedachten
Kaufmann, dessen Desertion ihn nicht davon abhält, aus dem Krieg einen
Gewinn zu schlagen. Das meta-ethische Selbst, das sich durchzusetzen weiß,
ist hier einfach ein geschickter Profiteur und Opportunist.
Huguenau repräsentiert eine Epoche, die nicht mehr repräsentationsfähig ist.
Erzähllogisch impliziert dies, dass ein Einzelleben nicht mehr für das ›Ganze‹
einer Epoche zu stehen vermag. Das multiperspektivische Erzählen im dritten
Roman der Schlafwandler zollt dem »Zerfall des Seins« in Form einer Vielzahl
von Ich-Standpunkten, die nicht mehr miteinander und dem ›Ganzen‹ ihrer
Epoche vermittelt sind, Tribut. Die Einheit der Romanhandlung, die im ersten
Roman noch durch die Handlungsstruktur des Familienromans gewährleistet
war und im zweiten sich schon aufzulösen begann, zersplittert im dritten Ro-
man zum Mosaik, indem verschiedene, nicht miteinander vermittelte perspek-
tivische Blickwinkel als »Reflektoren« der Handlung dienen. Die Erzähler-
kommentare indizieren zwar eine übergeordnete, reflektierende Erzählinstanz,
die jedoch nicht alle Abschnitte beherrscht und insgesamt nicht stark genug
ausgebildet ist, um den Roman mit einem auktorialen Bewusstsein zu dominie-
ren. Insbesondere in den Abschnitten, die zu einem dramatischen Modus ten-
dieren (Wiedergabe von Dialogen), sowie in den Abschnitten, die dominant
intern fokalisiert sind, tritt der Erzähler zugunsten der Figuren zurück. Allein
die Exkurse, in denen sich durch das Pathos des »Zerfalls der Werte« immer
wieder eine kulturkritische Lesart aufdrängt, beanspruchen, einen übergeord-
neten philosophischen Kommentar zu dem Romangeschehen zu liefern.
Mit der Reformation, so heißt es hier, sei die »mittelalterliche Ganzheit«
(SW 540) und »platonische Einheit der Kirche« (SW 540) aufgelöst und damit
6 (De-)Figurationen des Messianischen in Brochs ›Die Schlafwandler‹ 187
die »Atomisierung der Wertgebiete« (SW 536) eingeläutet worden. Jedes »Parti-
alwertsystem« strebe nun nach Autonomie, frei nach den zeitgenössischen Devi-
sen: »Krieg ist Krieg, l’art pour l’art, in der Politik gibt es keine Bedenken, Ge-
schäft ist Geschäft« (SW 496). Auf der Linie dieser Argumentation wird der
Erste Weltkrieg, in dessen letztem Kriegsjahr der dritte Roman spielt, geistesge-
schichtlich mit der Tendenz der Moderne erklärt, die wissenschaftliche Eigenlo-
gik von einzelnen »Objektgebieten« zu verfolgen, ohne dass diese noch in ein
übergreifendes Wertsystem eingebettet wären (vgl. SW 536).
Die Sehnsucht nach exemplarischer Zusammenfassung der auseinanderge-
fallenen Wertgebiete ruft bereits im ersten Exkurs den »Führer« auf den Plan,
»in dem alles Geschehen dieser Zeit sinnfällig sich darstellte, dessen eigenes
logisches Tun das Geschehen dieser Zeit ist […]. Deshalb sehnen wir uns wohl
nach einem ›Führer‹, damit er uns die Motivation zu einem Geschehen liefere,
das wir ohne ihn bloß wahnsinnig nennen können« (SW 421). Diese Führerge-
stalt soll wieder die Einheit zwischen Einzelleben und dem »Gesamtgesche-
hen« (SW 419) der Zeit verkörpern, sein Tun das »Geschehen dieser Zeit«
wiedergeben – die »Zerspaltung« kitten, die der Schreiber40 der Exkurse fest-
stellt. Denn zerspalten sei das zeitgenössische Erleben insofern, als das »Ge-
samtgeschehen« der Zeit (nämlich der Krieg) in »pathetische[m] Entsetzen«
für wahnsinnig erklärt werde, jeder Einzelne sich selbst aber als »durchaus
›normal‹« empfinde. Das führt den Schreiber der Exkurse zu der für den ersten
Exkurs tonangebenden Frage:
Sind wir wahnsinnig, weil wir nicht wahnsinnig geworden sind? (SW 419)
41 Hermann Broch: Das Böse im Wertsystem der Kunst. [zuerst 1933] In: Ders.: Geist
und Zeitgeist. Essays zur Kultur der Moderne. Hg. von Paul Michael Lützeler.
Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1997, S. 7–42, hier: S. 42.
42 Hermann Cohen: Die Messiasidee. In: Ders.: Jüdische Schriften. Hg. von Bruno
Strauß. Bd 1. Berlin: Schwetschke 1924, S. 105–124, hier: S. 109.
43 Hermann Cohen: Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums. Wiesbaden:
Fourier 1966, Darmstadt 1966, S. 298.
6 (De-)Figurationen des Messianischen in Brochs ›Die Schlafwandler‹ 189
Lehre vom einen, einzigen Gott erklärt:44 Ist es doch ein Grundanliegen von
Cohens Religionsphilosophie, den Anteil der Religion an der Vernunft aufzu-
zeigen, den er eben in der sittlichen Erkenntnis verortet. Dementsprechend
meint Cohen mit der »idealen Sittlichkeit«, die der Messias symbolisiere, kei-
ne religiöse Ethik im Unterschied zu einer philosophischen Ethik. Cohens
religionsphilosophische Geste besteht vielmehr darin, die Begriffe der Religion
als »Ergänzung«45 zur philosophischen Ethik zu betrachten, eine Ergänzung,
die dort relevant wird, wo sich »Lücken« in der philosophischen Ethik der
griechisch-platonischen Tradition auftun.46 An zwei Stellen macht Cohen hier
»Lücken« aus: im Mangel am Begriff des Mitmenschen als eines »Du«47 und
an der Vorstellung einer »allgemeinen Menschenliebe«.48
Mit der »Messiashoffnung der Annäherung« ruft Broch nun im Epilog der
»Schlafwandler« eine zentrale Kategorie von Cohens ethischer Interpretation
der jüdischen Religion generell wie des Messianismus im Besonderen auf:
Denn in dem Terminus der »Annäherung« fasst Cohen die Liebe des Men-
schen zu Gott, die ihrer beider Beziehung als »Korrelation« entspricht. Annä-
herung an, nicht Vereinigung mit Gott bedeute die Liebe zu Gott im Judentum,
wie Cohen betont, um den jüdischen Monotheismus von aller Mystik zu unter-
scheiden. Was meint nun aber die Annäherung an Gott, wenn dieser, wie für
Cohen feststeht, strikt unkörperlich zu denken ist? Sie richtet sich auf Gott als
»Urbild der sittlichen Handlung«.49 Das »Urbild« ist kein »Abbild«, das es nur
von den natürlichen Dingen des Universums, nicht aber von Gott geben kön-
ne.50 Keine »Nachahmung« wie beim plastischen Bild, sondern nur eine
»Nacheiferung« sei möglich bei dem monotheistischen Gott. Dessen Attribute
seien nicht körperlich zu verstehen, sondern als »Attribute der Handlung«, wie
Cohen im Hinblick auf die rabbinische Auslegungstradition der Bibel konsta-
tiert.51 Anders gesagt: Die Annäherung an Gott als »Urbild der sittlichen
Handlung« ist selber nur möglich in der sittlichen Handlung (Nacheiferung
statt Nachahmung).
Kein Mensch könne das »Urbild der sittlichen Handlung« darstellen (lies:
verkörpern), so Cohen.52 Diesem Grundsatz entspricht die De- und Refigurati-
on des Messias in den literarischen Quellen des Judentums, die Cohen er-
Gesetz« darstelle. Darin sei das Judentum dem Protestantismus ähnlich, bei
welchem die »Schrift« die Funktion des »Gesetzes« vertrete (vgl. SW 580).
Auch wenn Cohens Name nicht fällt, steht er doch Pate für die Vorstellung
einer Kongruenz zwischen Judentum und, wo nicht dem Protestantismus, so
aber doch der kantischen Philosophie, die in Brochs Roman als Konzentrat des
Protestantismus erscheint.57 Im Gegensatz zu Cohen postuliert jedoch der
Schreiber der Exkurse, dass der »protestantische Gedanke: der kategorische
Imperativ der Pflicht« zum Zerfall der Werte seit der Reformation geführt
habe. Der Autonomie der einzelnen Wertgebiete gemäß werde der religiöse
»Wert« »aus dem religiösen Wertgebiet selbst gewonnen« (SW 579). In die-
sem Rückzug der Religion aus dem Sichtbaren büße sie die Funktion ein, die
sie im Mittelalter gehabt habe: Zentralwert für alle Gebiete des Lebens zu sein.
Ein umfassendes Wertesystem, dem ein »finales Weltganzes« (SW 497)
entspricht, erscheint in den Exkursen der Schlafwandler immer wieder als
Ideal, das auf das katholische Mittelalter projiziert wird. Demgegenüber figu-
riert der Jude »kraft der abstrakten Strenge seiner Unendlichkeit« als der
»›fortgeschrittenste‹ Mensch kat’exochen« (SW 581). Erst im Epilog der
»Schlafwandler« wird es denkbar, dass »der einer ›abstrakten Unendlichkeit‹
[…] ausgelieferte Mensch aus der ihm gegebenen Autonomie heraus zu einer
neuen Ethik […] findet.«58 Die neue Ethik wird sich der »abstrakten Unend-
lichkeit« stellen müssen, wie etwa Cohens Ethik der »Annäherung«, die als
»ewige Aufgabe«59 gedacht ist und im Epilog der Schlafwandler in der »Mes-
siashoffnung der Annäherung« anklingt. Mit Cohen verstanden löst die »Mes-
siashoffnung der Annäherung« die Vorstellung geschlossener Totalität auf, um
der unendlichen Totalität der werdenden Menschheit Raum zu geben. Es mag
fraglich sein, wie weit diese Ethik trägt – der Sehnsucht nach dem Führer, der
die Einheit zwischen dem Einzelleben und dem »Gesamtgeschehen« (SW 419)
der Zeit verkörpern soll, erteilt sie auf jeden Fall eine Absage.
Für Cohen stellt die Religion ein »Grenzgebiet« zwischen Kunst und Wis-
senschaft dar.60 Brochs literarisches Schreiben in den Schlafwandlern bewegt
sich wiederum zwischen Wissenschaft und Religion. Außer den »wissenschaft-
lichen« geschichtsphilosophischen Exkursen ist nämlich die »Geschichte des
Heilsarmeemädchens in Berlin« in den Huguenau-Roman eingeschaltet. Deren
Protagonisten sind der orthodoxe Jude Nuchem Sussin, das fromme Heilsar-
meemädchen Marie und der Philosoph »Dr. phil.« (SW 450) Bertrand Müller,
aus dessen Perspektive die Heilsarmee-Episoden geschrieben sind. Er wird
auch als Schreiber der geschichtsphilosophischen Exkurse zu erkennen gege-
ben. Was die 16 Heilsarmee-Episoden auszeichnet, ist nicht ihre dürftige
57 Der Spur Cohens im 8. Exkurs ist bereits Brude-Firnau nachgegangen (vgl. Brude-
Firnau, Der Einfluß jüdischen Denkens [wie Anm. 5], besonders S. 115–118).
58 Vollhardt, Hermann Brochs geschichtliche Stellung (wie Anm. 28), S. 223.
59 Cohen, Religion der Vernunft (wie Anm. 43), S. 129.
60 Vgl. Hermann Cohen: Der Stil der Propheten. In: Ders.: Jüdische Schriften. Hg. von
Bruno Strauß. Bd 1. Berlin: Schwetschke 1924, S. 262–283, hier: S. 264.
192 Teil I
Handlung, sondern dass sich in ihnen ein Dialog zwischen den Exponenten der
unterschiedlichen Wertgebiete (Religion und Wissenschaft) und Religionen
(christliche Freikirche und Judentum) ereignet. Hiermit geht ein originär poly-
phones statt eines polyperspektivischen Erzählens einher. In den Episoden der
Geschichte um Nuchem Sussin, Marie und Bertrand Müller nimmt die »Messi-
ashoffnung der Annäherung« den echt dialogischen Sinn an, den Rosenzweig
in Cohens Konzept der Korrelation immer schon wahrgenommen hat.
Der Ich-Erzähler Bertrand Müller lebt in einer Berliner Wohnung mit einer
Gruppe orthodoxer polnischer Juden,61 unter denen sich Nuchem Sussin befin-
det, der zu dem Heilsarmeemädchen Marie eine tiefe Zuneigung fasst, was von
ihrer beider Umwelt als Vorbote einer verbotenen Liebesgeschichte gedeutet
wird. Das Entscheidende der Episoden liegt nun darin, dass der Ich-Erzähler zu
einer anderen Beurteilung des Fremden bzw. der Fremdheit kommt, als es
sonst, in den Exkursen wie in den Erzählerkommentaren der Schlafwandler,
der Fall ist, in denen eine (paradoxe) Überwindung der Fremdheit durch deren
zum Umschlag führende Steigerung angestrebt wird.62 Demgegenüber formu-
liert der Ich-Erzähler in der dreizehnten Episode: »Oft scheint es mir, als wäre
der Zustand, der mich beherrscht, nicht mehr Resignation zu nennen, als sei er
vielmehr eine Weisheit, die sich mit der allumschließenden Fremdheit abzu-
finden gelernt hat« (SW 616). Die Wahrnehmung des unaufhebbaren Fremden
wird zum zentralen Motiv der Episoden.63
Eine Faszination durch das Fremde bzw. die fremde Perspektive durchzieht
die Episoden. Schon gleich die erste Episode beginnt mit den Worten:
Zu den vielen Unduldsamkeiten und Beschränktheiten, deren die Vorkriegszeit eine
Fülle besaß und deren wir uns heute mit Recht schämen, gehört wohl auch das gänz-
liche Unverständnis gegenüber allen Phänomenen, die auch nur ein wenig außerhalb
einer sich völlig rational dünkenden Welt lagen. Und weil man damals gewöhnt war,
bloß die abendländische Kultur und ihr Denken als verpflichtend anzusehen, alles
übrige aber als minderwertig abzutun, so war man leichthin geneigt, alle Phänome-
ne, die der rationalen Eindeutigkeit nicht entsprachen, der Kategorie des Unter-
Europäischen und Minderwertigen zuzurechnen. […] Man wollte Eindeutiges und
Heroisches, mit andern Worten Ästhetisches sehen, man glaubte, daß dies die Hal-
tung des europäischen Menschen sein müsse (SW 416).
Diese Bemerkung gilt der Heilsarmee, deren »primitive Heilslehre« (SW 416)
den Erzähler keineswegs überzeugt, geschweige denn bekehrt. Die Relevanz
61 Der Ich-Erzähler stellt seine jüdischen Mitbewohner nicht ohne Ressentiment dar.
Brude-Firnau sieht darin einen Ausdruck der Abwehr osteuropäischer Juden und Jü-
dinnen, die zeittypisch war (vgl. Brude-Firnau, Der Einfluß jüdischen Denkens [wie
Anm. 5], S. 111).
62 Grabowsky-Hotaminidis hat ja, wie bereits erwähnt, eben hierin ein wichtiges gnos-
tisches Motiv in den Schlafwandlern erkannt.
63 Dieses wird in traditioneller Lesart als Resignation gedeutet (vgl. Karl Robert Man-
delkow: Hermann Brochs Romantrilogie »Die Schlafwandler«. 2. Aufl., Heidelberg:
Winter 1975 [Probleme der Dichtung; 6], S. 155).
6 (De-)Figurationen des Messianischen in Brochs ›Die Schlafwandler‹ 193
der Episoden für den Roman liegt auch weniger in religiösen Gehalten als
darin, dass sich der Ich-Erzähler mit dem Phänomen einer grundsätzlich ande-
ren Perspektive, ja, genereller: mit dem Phänomen des ›perspektivischen Da-
seins‹ konfrontiert sieht, das eine homogene Kultur, die »Eindeutiges«, und
das heißt für den Erzähler wie für Broch: »Ästhetisches« will, nicht zulassen
kann. Genau diese fremde Perspektive ist es, die der Ich-Erzähler im Hinblick
auf seine jüdischen Mitbewohner als Faszinosum geltend macht, das ihn »ge-
fangen« hält:
Ich war von dem Getriebe der Juden so gefangen, daß ich viele Stunden des Tages
der stillen Beobachtung widmete. Im Vorderzimmer hingen zwei Öldrucke, Roko-
koszenen darstellend, und ich mußte darüber nachdenken, ob sie wohl diese Bilder
und vieles andere zu erkennen und mit den gleichen Augen wie unsereins zu be-
trachten vermöchten. Und mit diesen Beobachtungen beschäftigt, hatte ich das
Heilsarmeemädchen Marie, obgleich ich sie mit alldem irgendwie in Verbindung
brachte, völlig vergessen (SW 434).
67 Michail Bachtin: Probleme der Poetik Dostojewskis. Übers. von Adelheid Schramm.
Frankfurt a. M., Berlin, Wien: Ullstein 1985 (Ullstein; 35228), S. 17.
68 Vgl. hierzu auch den Kommentar von Paul Ricœur: Zeit und Erzählung. Übers. von
Rainer Rochlitz. Bd 2. München: Fink 1989 (Übergänge; 18,2), S. 165.
69 Vgl. Gérard Genette: Die Erzählung. Übers. von Andreas Knop. München: Fink
1994 (UTB für Wissenschaft : Literatur und Sprachwissenschaft; 8083), S. 16.
6 (De-)Figurationen des Messianischen in Brochs ›Die Schlafwandler‹ 195
nen sich durch einen engen Bezug von Ethik und Poetik aus, wie man ihn auch
bei Michail Bachtin finden kann. Bachtin ist von seinen philosophischen An-
fängen, in denen es ihm darum ging, Sein« als »Ereignis« der Ko-Existenz
aufzufassen,70 mehr und mehr in das Gebiet der literarischen Untersuchungen
vorgedrungen, wo er am Beispiel Dostojewskis das Konzept des polyphonen
Romans erarbeitet hat. Es liegt durchaus in der Logik der Dialogphilosophie,
den Fokus wie Bachtin auf die Literatur zu legen. Ist doch die »epische Fiktion
[…] der einzig erkenntnistheoretische Ort, wo die Ich-Originität (oder Subjek-
tivität) einer dritten Person als einer dritten dargestellt werden kann«.71 Da-
durch bewegt sich das »Er« in Richtung »Du«, so dass die Literatur gewisser-
maßen der Forderung Rosenzweigs entgegenkommt: »[E]r soll dir nicht ein Er
bleiben und also für dein Du bloß ein Es, sondern er ist wie Du, wie dein Du,
ein Du wie Du, ein Ich« (SdE 267).
Der dialogische Sinn der »Messiashoffnung der Annäherung« findet sein
poetisches Komplement in der Polyphonie der »Geschichte des Heilsarmee-
mädchens in Berlin«. Die »Messiashoffnung der Annäherung«, wie ich sie in
den vorangegangenen Seiten zu verstehen versucht habe, verweist auf eine
ethische Interpretation der Religion. Diese ethische Interpretation der Religion
kann deren philosophisch begriffliche Explikation bedeuten wie bei Cohen, auf
dessen Religionsphilosophie sich die »Messiashoffnung der Annäherung«
70 Das russische Wort für »Ereignis«, »sobytie«, enthält im Präfix »so« die Kompo-
nente »mit«, im Stamm »bytie« die Bedeutung »Sein«. Sein als »Ereignis« bedeutet
also wörtlich Mitsein (vgl. Michael Holquist: Dialogism. Bakhtin and his World. 2nd
Ed. London, New York: Routledge 2002 [New accents], S. 25). Eskin spricht in An-
lehnung an und bei gleichzeitiger Differenzierung gegenüber Heidegger von »co-
existence« (vgl. Michael Eskin: Ethics and Dialogue in the Works of Levinas, Bakh-
tin, Mandel Mandel’shtam, and Celan. Oxford: Oxford Univ. Press 2000, S. 72). Die
Architektur der Ko-Existenz ist triadisch: »Ich-für-mich-selbst«, der »Andere-für-
mich«, »Ich-für-den-Anderen«. Aus der Wahrnehmungssituation leitet Bachtin die
Unabgeschlossenheit des Ich her. Ich nehme den Anderen als abgeschlossene Figur
vor einem Horizont wahr, mich selbst hingegen als unabgeschlossen. Um überhaupt
für mich wahrnehmbar zu sein, brauche ich den Anderen, der mir eine wahrnehmba-
re Form gibt. Umgekehrt braucht der Andere mich, um ein Bewusstsein seiner selbst
zu haben. Die Ko-Existenz setzt meine Ansprechbarkeit für den Anderen voraus:
»Bakhtin insists that my co-existentially active relation to the other is ›more than ra-
tional‹: it is answerable. I am always already answerable to and before the other
from within my singular time and place, in which […] I have no ›alibi‹« (ebd., S.
79). Kein »Alibi« in der Ko-Existenz zu haben, meint, wie bei Rosenzweig, dass
kein anderer an meiner Stelle antworten kann – »Alibi« heißt ja nichts anderes als
»anderer Ort«. Den ethischen Akzent setzt Bachtin wie Rosenzweig dahingehend,
den Anderen nicht als Objekt, sondern als anderes Ich wahrzunehmen. So erhält das
dritte Glied der Ich/Anderer-Reihe, »Ich-für-den-Anderen«, die Valenz einer ethi-
schen Substitution wie bei Rosenzweig (»er ist wie Du, ein Du wie Du, ein Ich«
[SdE 267]), die dem Anderen die Unabgeschlossenheit des »Ich« gibt.
71 Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung. Frankfurt a. M., Berlin u. a.: Ullstein
1980 (Ullstein-Buch; 39007), S. 79.
196 Teil I
primär zurückbeziehen lässt. Sie kann aber auch zu einem neuen literarischen
Ausdruck führen – sei es ihm Rahmen einer ›literarisierten‹ Philosophie wie
bei den Dialogdenkern Rosenzweig und Buber, sei es im Rahmen der fiktiona-
len Literatur selbst, in der sie sich in einer eigenen Schreibweise manifestiert
wie in den polyphonen Passagen der Schlafwandler.
Teil II
verwiesen, und sie den Positionen Carl Schmitts und Jacob Taubes’ zugeord-
net. Für den Begriff der politischen Theologie gelte das Gleiche wie für den
Begriff des Politischen: Er könne sich einerseits auf die Gesellschaft, die Ge-
meinschaft und die Öffentlichkeit beziehen, andererseits auf die Herrschaft,
auf Struktur und Organisation von Befehlsgewalt im sozialen Raum.5 Anders
als Carl Schmitt, der politische Theologie »ganz im kratologischen Sinne als
Zusammenhang von Autorität, Offenbarung und Gehorsam«6 interpretiere,
stehe bei Taubes die Theologie der Gemeinschaft im Vordergrund:
Politische Theologie ist für ihn [Taubes; Anm. E. D.] in allererster Linie die Lehre
von der Bildung eines (wie er das nennt) Ver-Bundes im Sinne eines Gottesvolkes,
es geht um die religiöse Fundierung von Gemeinschaft. Damit steht er fest auf dem
Boden der jüdischen Tradition. Dort war ja die kratologische Dimension seit dem
Verlust der Staatlichkeit […] ausgelagert, zum einen in die politischen Mächte, von
denen Israel in der Geschichte abhängig war, und zum anderen in die Idee des Mes-
sias. Es gibt eine alte Tradition […], derzufolge der Messias oder das Messianische
nichts anderes als die staatliche Unabhängigkeit ist […]. Das besondere dieser hori-
zontalen Politischen Theologie besteht also darin, dass sie die kratologische Dimen-
sion in den Hintergrund verlagert […], im Aufschub des Messianischen einerseits
wie in der Vergleichgültigung der jeweils herrschenden politischen Machtkonstella-
tion andererseits. In den Vordergrund rückt dafür das andere der Mächte dieser Welt
und der letztendlich durch den Erlöser umgewendeten kommenden: das Gottesvolk
als rein horizontale, gewissermaßen ›herrschaftsfreie‹ Gemeinschaft in der Dimensi-
on der Geschichte.7
Das Ideal einer »herrschaftsfreien Gemeinschaft« jenseits des Staates, die die
Autoren im Hinblick auf Taubes geltend machen, stellt nur ein Beispiel dar,
was mit einer politischen Theologie der Gemeinschaft gemeint sein kann. Die
Art, wie Assmanns und Hartwich das Politische zwei Dimensionen zuordnen,
der vertikalen Achse, dem »Kratologischen«, und der horizontalen Achse, dem
»Sozialen«, um dementsprechend zwischen zwei Möglichkeiten politischer
Theologie zu unterscheiden, tendiert zu einer Trennung von Staat und Gemein-
schaft. Damit schreiben die Autoren eine romantische Tradition fort, in der die
terminologische Differenzierung zwischen Staat und Gemeinschaft überhaupt
erst aufgekommen ist.8 Mit dieser terminologischen Trennung von Staat und
Gemeinschaft können unterschiedliche politische Positionen verbunden sein,
keineswegs nur antistaatliche wie im wie im Falle des religiösen Anarchisten
Taubes. Analytisch sollte man nicht generell von einer Trennung, gar Entge-
5 Vgl. Wolf-Daniel Hartwich, Aleida Assmann und Jan Assmann: Nachwort. In:
Jacob Taubes: Die politische Theologie des Paulus. Hg. von Aleida Assmann und
Jan Assmann. 3. Aufl., München: Fink 2003, S. 143–181, hier: S. 178.
6 Ebd., S. 180.
7 Ebd., S. 179. Es sei dahingestellt, ob diese Analyse Taubes’ Ansatz wirklich trifft.
8 Vgl. Manfred Riedel: Gesellschaft, Gemeinschaft. In: Otto Brunner, Werner Conze
und Rainhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon
zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd 2. Stuttgart: Klett 1975, S. 801–
862, besonders S. 827–836.
1 »Politische Theologie« 201
gensetzung von Staat und Gemeinschaft ausgehen. Wo sie begegnet, ist sie als
politische Strategie zu verstehen, wie bei Taubes, aber auch wie bei den in
dieser Arbeit näher behandelten Autoren. Ein romantischer Antikapitalismus
und eine romantische, antistaatliche Gemeinschaftsidee können als deren ge-
meinsamer Hintergrund angenommen werden.9
Zu betonen ist aber, dass die Gemeinschaftsidee ambivalent ist. In seiner
einflussreichen Abhandlung Gemeinschaft und Gesellschaft (1887) verbindet
der Soziologe Ferdinand Tönnies mit der Gemeinschaftsidee weniger eine
Staats- als eine Kapitalismuskritik. Dementsprechend lautet der primäre Ge-
gensatz hier auch nicht Staat und Gemeinschaft, sondern Gemeinschaft und
(Handels- bzw. Kapital-) Gesellschaft.10 Die Gemeinschaftsidee begegnet aber
nicht nur in Gegendiskursen, in Gegenentwürfen zur bürgerlichen, kapitalisti-
schen Gesellschaft oder/und zum Staat. Vielmehr insistiert die Gemeinschafts-
idee in der modernen politischen Theorie überhaupt. Anders gesagt: Der Ge-
meinschaftsdiskurs ist nicht zwangsläufig kapitalismus- oder staatskritisch,
weder in der Romantik noch am Anfang des 20. Jahrhunderts. Vielmehr um-
schreibt die »Gemeinschaftsidee […] die äußerste Grenze und Grenzerfahrung
moderner Politik; ihre Reflexion ist zum Angelpunkt jeder immanenten Legi-
timation politischer Herrschaft geworden.«11 Man kann sich auf die Gemein-
schaft ebenso als Speicher aller Legitimationsfragen politischer Herrschaft
beziehen wie sich auf sie zu Zwecken der Suspension geltender Macht beru-
fen. Die Gemeinschaft kann als Figur einer permanenten Revolution und ideal-
typischen Form einer direkten Demokratie evoziert werden, aber auch als
Modell einer plebiszitären Ermächtigung dienen.12 Der Rekurs auf die Ge-
meinschaft stellt mithin keinen Archaismus in der Moderne dar, sondern rührt
an ein fundamentales Problem in der Konstitution moderner Gesellschaften.
Insofern diese sich nicht mehr auf eine transzendente Quelle der Legitimität
berufen, sondern Politik im Namen des Volkes machen, zieht die Möglichkeit
einer neuen Metaphysik, der Metaphysik des Volkes, auf. Der Totalitarismus
bezieht sich wie die Demokratie auf das Volk als Quelle der Legitimität und
9 Vgl. Michael Löwy: Erlösung und Utopie. Jüdischer Messianismus und libertäres
Denken. Eine Wahlverwandtschaft. Übers. von Dieter Kurz und Heidrun Töpfer.
Berlin: Kramer 1997, S. 35f.
10 Tönnies definiert die Gemeinschaft als einen Kreis von Menschen, die trotz aller
Trennungen wesentlich miteinander verbunden sind, wohingegen die Gesellschaft
einen Kreis von Menschen umfasse, die trotz aller Verbundenheit voneinander ge-
trennt bleiben (vgl. Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbeg-
riffe der reinen Soziologie. 4. Aufl., Darmstadt: Wiss. Buchges. 2005, S. 34). Wo
eigentlich kaufmännische Individuen, Geschäfte oder Firmen und Kompanien sich
gegenüberstünden, verkörpere sich die Natur der »Gesellschaft« wie in einem Ex-
trakte (ebd., S. 44).
11 Joseph Vogl: Einleitung. In: Ders. (Hg.): Gemeinschaften. Positionen zu einer Philo-
sophie des Politischen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1994 (Edition Suhrkamp; 1881 =
N.F.; 881), S. 7–27, hier: S. 10.
12 Vgl. ebd.
202 Teil II
bleibt eine latente Gefahr für die Demokratie – eine Beunruhigung, die das
Denken Claude Leforts, des Theoretikers der Demokratie, antreibt und ihn
nach der »Fortdauer des Theologisch-Politischen« fragen lässt (s. u.).
Bei aller Fragwürdigkeit einer zu einfachen Entgegensetzung von Herr-
schaft und Gemeinschaft ist der Hinweis doch wichtig, dass sich die Spielarten
politischer Theologie nicht auf den Bereich einer Herrschaftstheologie be-
schränken, die die Position der höchsten Macht im Staat, den Souverän, als
Analogon oder Säkularisat göttlicher Allmacht interpretiert, wie bei Carl
Schmitt der Fall. Denn bei allen hier behandelten Autoren dreht sich die poli-
tisch-theologische Formation um Fragen des politischen oder/und religiösen
Kollektivs. Der jüdische Messianismus ist wohl in seinem biblischen Anfang
eine Königstheologie gewesen. Politische Theorien im ersten Drittel des 20.
Jahrhunderts, die sich irgend auf die jüdische messianische Tradition beziehen,
haben jedoch kaum eine wie auch immer geartete Analogisierung des Messias
mit der höchsten Machtposition im politischen Gemeinwesen verfolgt. Sicher-
lich sind politische Führerfiguren, allen voran Herzl, immer einmal wieder als
(falscher) Messias bezeichnet worden. Daraus ist aber keine politische Theorie
im starken Sinn entwickelt worden.
In der politischen Theorie zumal der deutsch-jüdischen Autoren sind es
vielmehr Kollektive, die im Rückgriff auf die jüdische Tradition messianisch
figuriert worden sind, sei es im anarchistischen oder sozialistischen Kontext das
revolutionäre Kollektiv, sei es im religiösen oder/und zionistischen Zusammen-
hang das Judentum als religiöses Gottesvolk oder/und als politische Nation.
Christliche politische Theologien sind nun zwar keineswegs darauf beschränkt,
die höchste politische Machtposition zu fokussieren, sondern können natürlich
auch Kollektive in den Blick nehmen (s. u.). Messianische Herrschertheologien,
in denen es um die Position höchster Macht im Staat geht, begegnen gleichwohl
im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts eher in politischen Theorien, die sich auf
die christliche, statt auf die jüdische messianische Tradition zurückbeziehen.
Hierfür sind vielfältige politische, soziologische und historische Gründe anzu-
nehmen. Ein dogmatischer Unterschied zwischen der jüdischen und der christli-
chen Messiaslehre dürfte hierbei freilich auch eine Rolle spielen:
Das Judentum in seinen Hauptströmungen hat den Messias immer als Men-
schen gedacht. Dem steht die christliche Lehre von Jesu zwei Naturen, seiner
menschlichen und seiner göttlichen Natur, gegenüber, die sich politisch beson-
ders gut vereinnahmen ließ. Im Mittelalter hat die Zwei-Naturen-Lehre die
politische Theorie von den zwei Körpern des Königs begründet, deren Aus-
wirkungen bis in die Souveränitätstheorie des 20. Jahrhunderts reichen.13 Im
Unterschied hierzu wird in den politischen Entwürfen im ersten Drittel des 20.
Jahrhunderts, die explizit auf die Tradition des jüdischen Messianismus rekur-
13 Vgl. Ernst H. Kantorowicz: Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen
Theologie des Mittelalters. 2. Aufl., München: Dt. Taschenbuch-Verlag 1994 (Dtv
Wissenschaft; 4465).
1 »Politische Theologie« 203
Mit seiner Schrift Politische Theologie hat Carl Schmitt eine Konzeption
politischer Theologie vorgelegt, die sich nicht von der antiken Konzeption der
»theologia tripartita« her versteht, sondern von einer Offenbarungstheologie,
die sich Gott als Gesetzgeber vorstellt. Schmitt votiert nicht etwa für ein sakra-
les Königtum, das die Majestät als heilig und als Stellvertretung Gottes auf
Erden interpretiert, wie man es aus dem Mittelalter kennt.17 Vielmehr argu-
mentiert er sowohl entwicklungsgeschichtlich als auch per analogiam. So
erklärt Schmitt zu Beginn der dritten der vier Abhandlungen, die seine Politi-
sche Theologie umfasst:
Alle Begriffe der modernen Staatslehre sind säkularisierte theologische Begriffe.
Nicht nur ihrer historischen Entstehung nach, weil sie aus der Theologie auf die
Staatslehre übertragen wurden, indem zum Beispiel der allmächtige Gott zum omni-
potenten Gesetzgeber wurde, sondern auch in ihrer systematischen Struktur, deren
Erkenntnis notwendig ist für eine soziologische Betrachtung dieser Begriffe. Der
Ausnahmezustand hat für die Jurisprudenz eine analoge Bedeutung wie das Wunder
für die Theologie.18
hatten, richtete sich der ideologische Kampf der radikalen Gegner aller beste-
henden Ordnung mit steigendem Bewußtsein gegen den Gottesglauben über-
haupt als gegen den extremsten fundamentalen Ausdruck des Glaubens an eine
Herrschaft und an eine Einheit.«22
Von einem Autor der Restaurationszeit, Donoso Cortes, übernimmt Schmitt
nun die Theorie der souveränen Entscheidung. »Sobald Donoso Cortes erkann-
te, daß die Zeit der Monarchie zu Ende ist, weil es keine Könige mehr gibt und
keiner den Mut haben würde, anders als durch den Willen des Volkes König
zu sein, führte er seinen Dezisionismus zu Ende, das heißt, er verlangte eine
politische Diktatur.«23 Den Staat auf die »reine, nicht räsonnierende und nicht
dikutierende, sich nicht rechtfertigende, also aus dem Nichts geschaffene abso-
lute Entscheidung« zu begründen wie Cortes (und vor ihm schon de Maistre),
»ist aber wesentlich Diktatur, nicht Legitimität«.24 Bereits in der ersten der
vier Abhandlungen hatte Schmitt argumentiert, dass der Rechtsstaat nicht auf
das diktatorische, das aus dem Nichts setzende Moment der souveränen Ent-
scheidung verzichten könne, sondern vielmehr auf ihm beruhe: »Denn jede
Ordnung beruht auf einer Entscheidung, und auch der Begriff der Rechtsord-
nung […] enthält den Gegensatz der zwei verschiedenen Elemente des Juristi-
schen in sich [i. e. Entscheidung und Norm; Anm. E. D.].«25 Die absolute
Entscheidung, die sich frei macht von normativer Gebundenheit, sei die Ent-
scheidung über den Ausnahmezustand, worin Schmitt wiederum keine Abwei-
chung von der Rechtsordnung erkennt, sondern ihren Grund: »Der Ausnahme-
fall offenbart das Wesen der staatlichen Autorität am klarsten. Hier sondert
sich die Entscheidung von der Rechtsnorm, und […] die Autorität beweist, daß
sie, um Recht zu schaffen, nicht Recht zu haben braucht.«26
Hans Blumenberg hat Schmitts politische Theologie als Rhetorik dekonstru-
iert. Schmitt erzeuge systemimmanent einen »Bedarf an Metaphorik«,27 inso-
fern er den Souverän als Willensperson denke, dessen Dezisionismus nicht mit
22 Ebd., S. 45.
23 Ebd., S. 56.
24 Ebd.
25 Ebd., S. 11. Schmitts These, dass jede Ordnung auf einer Entscheidung beruhe,
interpretiert Jürgen Fohrmann differenztheoretisch. Bei der politischen Theologie
Schmitt’scher Provenienz gehe es um die Gründungsgewalt einer Entscheidung zu
einer ersten Unterscheidung, von der alle anderen Entscheidungen im politischen
Raum abhängen sollen. Zur Debatte stehe also ein bestimmter Umgang mit Diffe-
renz, eine Politik, die das Setzen von Unterschieden für unabdingbar hält und antritt,
dem nicht beendbaren Gleiten von einer Gleichung zur anderen, das Schmitt in der
Romantik am Werk sieht, Einhalt zu gebieten (vgl. Jürgen Fohrmann: Die Grenze
der politischen Theologie. Anmerkungen zu einem Konzept. In: Jürgen Brokoff und
Jürgen Fohrmann [Hg.]: Politische Theologie. Formen und Funktionen im 20. Jahr-
hundert. Paderborn u. a.: Schöningh 2003, S. 29–38).
26 Schmitt, Politische Theologie (wie Anm. 18), S. 14.
27 Hans Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit. Erneuerte Ausgabe. Frankfurt a. M.:
Suhrkamp 1996, S. 110.
206 Teil II
Statt die Politik historisch oder logisch aus der Theologie abzuleiten, konsta-
tiert Lefort schlicht im Hinblick auf die französische Moderne, dass das Den-
ken auch nach der Französischen Revolution in den Horizont einer theolo-
gisch-politischen Welterfahrung eingebunden geblieben sei. So unterschiedlich
die Ansätze und Thesen Leroux’, de Maistres, Ballanches, Chateaubriands,
Michelets oder Quinets gewesen seien, sie alle teilten die Überzeugung, dass
man die Transformationen der modernen Gesellschaft nicht entschlüsseln
könne – »das heißt richtig ermessen, was verschwindet, oder was geschieht,
oder was wiederkehrt –, ohne die religiöse Bedeutung des Alten und des Neu-
en zu erfragen«.30
Was wird aus den »zwei Körpern des Königs«, d. h. der christlichen politi-
schen Theologie des Mittelalters, die Ernst Kantorowicz in seiner gleichnami-
gen Studie beschrieben hat, im Übergang zur Moderne? Die Vorstellung eines
sterblichen und eines unsterblichen Körpers des Königs ist im Mittelalter in ein
komplexes System von Repräsentationen eingeschaltet, dessen Bestandteile
sich im Laufe der Zeit verändern können, dessen Prinzip aber gleich bleibt.
Wie der Körper des Königs wird der politische Körper verdoppelt, so dass das
Irdische ein Transzendentes repräsentiert, sei es in der Figur der Sakralisierung
des Rechts, des Territoriums, des Königreiches oder schließlich der Spirituali-
sierung des Volkes, der Nation, des Vaterlandes, des Heiligen Krieges, des
Staatsheils.31 Lefort verfolgt nun, wie sich das Spiel der Repräsentation und
Verdopplung von Immanentem, Irdisch-Materiellem in Transzendentem,
Ewig-Göttlichem, auch nach der Französischen Revolution erhält. So habe ein
Denker wie Jules Michelet32 wohl die theologisch-politische Formation der
Monarchie kritisiert, aber die scheinbar diskreditierten theologisch-politischen
Begriffe im Dienste einer Apologie der Moderne wiederverwendet.33 Michelet
habe die Position des Königs durch das Volk ersetzt: Die Bedeutung des »mo-
narchische[n] Mysterium[s] der Verkörperung«34 sehe Michelet in der Verei-
nigung aller mit allen durch die Identifikation mit dem Bild des Königs. Auf
das Vereinigungsmysterium möge Michelet nicht verzichten und übertrage es
auf das »heilige Bild des Volkes«.35 So dränge sich der Eindruck auf, dass »die
Denker, die am meisten das Gefühl für das Aufkommen der Modernität […]
zeigen […], im Religiösen die Wiederherstellung eines Pols der Einheit suchen
würden, dank dessen die infolge der Niederlage des Ancien Régime drohende
Auflösung des Sozialen gebannt wäre.«36
Lefort erkennt jedoch zwei Triebkräfte theologisch-politischer Formationen:
das bereits zitierte Streben nach »Wiederherstellung des Pols der Einheit« und
31 Diese Verdoppelung von Materiellem und Spirituellem kennzeichnet für Lefort auch
den Säkularisierungsprozess: »Parallel zu einem Prozeß der Säkularisierung und
Laizisierung, der dahin tendiert, der Kirche ihre zeitliche Macht im Rahmen des
Staates zu entziehen und den nationalen Klerus in die Gemeinschaft des Königrei-
ches einzuschließen, vollzieht sich ein Prozeß der Einverleibung der religiösen Re-
präsentationen, die geeignet sind, dem ›natürlichen‹ Raum und den sozialen Institu-
tionen eine mystische Bedeutung einzuflößen. Quer durch die ganze Dichte der Ge-
sellschaft vollzieht sich eine Verdoppelung zwischen dem, was dem Funktionalen
und dem, was dem Mystischen angehört« (ebd., S. 91).
32 Lefort bezieht sich auf verschiedene Schriften Michelets, insbesondere auf die Ein-
leitung zur universellen Geschichte, auf Die Französische Revolution und das Vor-
wort von 1869 zur Geschichte Frankreichs.
33 Vgl. ebd., S. 67ff.
34 Ebd., S. 75.
35 Ebd., S. 82. Eine strukturell vergleichbare Bewegung findet sich in Ernst Blochs
Geist der Utopie (s. Kap. II.4.3).
36 Ebd., S. 85.
208 Teil II
die Sorge um die »Wiederherstellung einer Dimension des Anderen«,37 die der
Totalitarismus im 20. Jahrhundert in der Vorstellung vom »Volk-als-Eine[m]«38
abzuschaffen versucht habe.39 Die »Dimension des Anderen« spielt nun noch in
Leforts eigener Analyse der modernen Demokratie eine konstitutive Rolle. Die
Demokratie bildet für Lefort eine Ordnung der Unbestimmtheit, deren soziale,
kollektive Identität nicht fest-zustellen sei und sich in keiner definitiven Ges-
talt repräsentieren lasse. Dies führt Lefort darauf zurück, dass die Demokratie
das einzige politische Regime sei, in dem »eine Repräsentation der Macht
eingerichtet ist, die sinnfällig bestätigt, dass sie ein leerer Ort ist, und die so
den Abstand zwischen dem Symbolischen und dem Realen bewahrt.«40 In der
modernen Demokratie verkörpere sich die Macht nicht, weder im Volk noch in
den Autoritäten, die die Macht nach den Regeln eines periodisch wiederkeh-
renden Wettbewerbs ausüben. Insofern der Ort der Macht leer sei, vermittle er
nicht mehr zwischen dem Göttlichen und Irdischen: »Dort, wo sich ein leerer
Ort abzeichnet, ist keine Verbindung zwischen der Macht, dem Gesetz und
dem Wissen und keine Aussage über ihre Grundlage möglich. Das Sein des
Gesellschaftlichen entzieht sich«.41 Für Lefort lässt sich dies insbesondere an
der Prozedur des allgemeinen Wahlrechts beobachten.42
37 Ebd., S. 65.
38 Ebd., S. 65.
39 Lefort hat hier das Zusammentreffen von religiöser und demokratischer Opposition
in den Ostblockländern (der SolidarnoĞü) vor Augen.
40 Ebd., S. 49.
41 Ebd., S. 53.
42 Lefort demonstriert am allgemeinen Wahlrecht, wie eine interne, konstitutive Spal-
tung die soziale Identität in der Demokratie durchkreuzt. Die Prozedur des allgemei-
nen Wahlrechtes, die als Ausdruck der Souveränität des Volkes gilt, verwandele die-
ses Volk in dem Augenblick, in dem es seinen Willen vermeintlich behauptet, in ei-
ne reine Vielfalt von Individuen, eine Vielzahl von Zähleinheiten. »Kurzum: es zeigt
sich, dass der Letztbezug auf die Identität des Volkes, auf das instituierende Subjekt
den rätselhaften Schiedsspruch der Zahl verdeckt« (ebd., S. 52–53). Der »Abstand
zwischen dem Symbolischen und dem Realen« werde so in der Prozedur des allge-
meinen Wahlrechts sinnfällig. Damit bleibe die soziale Identität in der Demokratie
undefinierbar – aus unhintergehbaren Gründen ihrer symbolischen Form. Deswegen
unterscheidet Lefort auch noch einmal zwischen der Idee, dass die Macht nieman-
dem gehört (klassischer Bestandteil bereits des antiken demokratischen Diskurses),
von der Idee, dass die Macht einen leeren Ort bezeichnet. »Die Formel: ›Die Macht
gehört niemandem‹ kann in eine zweite übersetzt werden (die übrigens historisch die
erste zu sein scheint): Sie gehört keinem von uns, während die Bezeichnung eines
leeren Ortes einhergeht mit einer Gesellschaft ohne positive Determination, die in
Gestalt einer Gemeinschaft repräsentierbar ist. […] Die Macht löst sich nicht mehr
von der Arbeit der Spaltung, in der sich die Gesellschaft instituiert, und diese be-
zieht sich infolge dessen auf sich selbst nur in der Erfahrung, einer internen Spaltung
ausgesetzt zu sein, die sich nicht als de-facto-Spaltung, sondern als eine solche er-
weist, die ihre Konstituierung hervorbringt« (ebd., S. 50f.).
1 »Politische Theologie« 209
Auch wenn der leere Ort der Macht nicht mehr zwischen Transzendenz und
Immanenz vermittelt, spielt die Differenz zwischen Immanenz und Transzen-
denz, Sichtbarem und Unsichtbarem auch in Leforts Demokratieverständnis
weiterhin eine Rolle. Denn eine Gesellschaft, deren Sein sich entzieht, geht
nicht in der Immanenz ihrer sozio-empirischen »Tatsachen« auf. Sie erfasst
sich erst in ihrer besonderen symbolischen Form, wenn sie ihre Transzendenz
gegenüber sich selbst – ihren Seinsentzug – wahrnimmt. Leforts Essay dreht
sich nicht zuletzt um die Frage, welche Rolle die Transzendenz in der symboli-
schen Form der Demokratie spielt.43 Hierbei ist zu beachten, wie Lefort zwi-
schen der »Gestalt des Anderen«44 und der »Dimension des Anderen«45 unter-
scheidet. Die moderne Demokratie, recht verstanden, habe wohl die »Gestalt
des Anderen« abgeschafft, nicht jedoch die »Dimension des Anderen«.46 Die
Demokratie verweise nicht mehr auf eine »Gestalt des Anderen« im Sinne
eines »Außen […] irgendeiner anderen vorstellbaren Gewalt«,47 durch die ein
Ursprung gesetzt wird, der mit dem des Gesetzes und des Wissens überein-
stimmen soll. Genau dieser Umstand leiste aber im Gegenzug der modernen
Illusion Vorschub, eine Gesellschaft könne sich in einer reinen Immanenz zu
sich selbst ordnen. Diese Vorstellung sei jedoch illusionär, denn eine Gesell-
schaft könne das Prinzip ihrer Institution nicht in ihre eigenen Grenzen zu-
rücknehmen. Die Dimension des Anderen erweist sich als unhintergehbar,
insofern mit ihr die Differenz der konstituierten Gesellschaft von den Prinzi-
pien ihrer Konstitution/Instituierung bezeichnet wird.48 Mit der »Dimension
des Anderen« beschreibt Lefort die Einsicht, dass auch die moderne Gesell-
schaft ihr Fundament nicht in sich trägt. Deswegen müsse aber keine »Gestalt
des Anderen« als unhintergehbares religiöses Fundament der Gesellschaft
behauptet werden. Es gehöre vielmehr zur konstitutiven Form der demokrati-
schen Gesellschaft, dass sich ihr Fundament entziehe und sie eine »Gesell-
schaft ohne positive Determination«49 darstelle.
Leforts Bemerkungen über die Triebkräfte hinter theologisch-politischen
Formationen sind zwar vor einem christlichen Hintergrund geschrieben und im
43 Martin Terpstra meint, dass man es bei Leforts Konzeption der Demokratie mit einer
negativen politischen Theologie, genauer: mit einer »negativen Theokratie« zu tun
habe, die Terpstra von Spinoza her denkt (vgl. Terpstra, Fortdauer der theologia po-
litikè? [wie Anm. 16]).
44 Lefort, Fortdauer des Theologisch-Politischen? (wie Anm. 29), S. 54.
45 Ebd., S. 56.
46 Vgl. ebd.
47 Ebd., S. 53.
48 Die generierenden Prinzipien der Instituierung der Gesellschaft können nicht in der
Gesellschaft liegen (vgl. ebd., S. 37). Denn die Beziehungen zwischen den Klassen,
Gruppen oder Individuen werden erst denk- und erfahrbar durch ein In-Form-Setzen,
das einen gemeinsamen Raum instituiert, in dem sich eine Ausdifferenzierung und
ein In-Beziehung-Setzen der Klassen, Gruppen und Individuen vollziehen kann.
49 Ebd., S. 50.
210 Teil II
Engeren auf die französische Geschichte bezogen, sie sind aber auch für unse-
ren Zusammenhang fruchtbar. Denn zwischen der Wiederherstellung des Pols
der Einheit, der Dimension des Anderen und der Gestalt des Anderen bewegen
sich auch die im Folgenden zu untersuchenden politisch-theologischen Forma-
tionen. So beginnt Franz Rosenzweigs Stern der Erlösung mit der Kritik an
dem Denken geschlossener Totalität, die den »Mensche[n] in der schlechthin-
nigen Einzelheit« (SdE 10) nicht begreifen kann. Im Politischen stellt diese
Form geschlossener Totalität für Rosenzweig der Nationalstaat dar, dessen
gewaltsame »messianische Politik«50 er im dritten Teil des Sterns der Erlö-
sung untersucht. Gegen diese totalitäre Einheit macht Rosenzweig im zweiten
Teil des Sterns der Erlösung die Dimension des Anderen stark, weniger in
konstitutionstheoretischer Hinsicht wie Lefort als in ethischer Hinsicht, indem
er ein singulares Du adressiert (s. o., Kap. I.2.2, I.2.3). Im dritten Teil des
Sterns der Erlösung fundiert er dann allerdings die ethische »Dimension des
Anderen« in einer religiösen »Gestalt des Anderen«, nämlich in der kollekti-
ven religiösen Existenz des Judentums, das er in absoluter Identität mit sich
selbst beschreibt. Damit wiederholt Rosenzweig aber nur das Modell einer
geschlossenen Totalität auf anderer Ebene, nämlich der Religion statt der Poli-
tik, wie wir noch genauer in Kapitel II.5 sehen werden. Diese Ambivalenz von
Öffnung und erneuter Schließung im Denken kollektiver Identität wird uns, in
verschiedenen Formen, immer wieder begegnen.
In den folgenden Kapiteln werden wir uns mit messianischen Figurationen
und Defigurationen von Kollektiven im zionistischen, anarchistischen, sozia-
listischen und religiösen Kontext beschäftigen. Blumenbergs Ansatz, die Poe-
tik und Rhetorik politisch-theologischer Formationen in den Blick zu nehmen,
soll dabei aufgegriffen und modifiziert werden. Blumenberg kritisiert Schmitts
politische Theologie als Beispiel einer substantialistischen Säkularisierungs-
theorie. Diese unterstelle ein Übertragungsgeschehen von einem (eigentlich)
Religiösen in ein (uneigentlich) Profanes, so dass etwa die Souveränität als
Säkularisat göttlicher Allmacht oder die Fortschrittsgeschichte als Säkularisat
der Heilsgeschichte ausgegeben wird. Blumenberg meint, eine solche Argu-
mentation würde die »Legitimität der Neuzeit« immanent bestreiten, indem sie
sie bei der Religion, deren Konzepte sie entwendet haben soll, verschulde.
Damit verengt Blumenberg jedoch das Säkularisierungstheorem auf eine be-
stimmte ideologische Position. Die Behauptung einer Übersetzung von Religi-
on in Profanes muss nicht zwangsläufig mit einer geheimen oder offenbaren
theologischen Intention einhergehen. Es kann auch im Gegenteil damit gesagt
werden, dass die Religion qua Übersetzung durch das Profane überboten wird
– das dürfte Carl Schmitts Position im Übrigen sogar näherkommen. Die
»Rhetorik der Säkularisierung« ist also komplexer, als es Blumenberg an-
nimmt, und es gilt das gleiche für die Rhetorik »politischer Theologie«. Blu-
menbergs Kritik an einem substantialistischen Säkularisierungskonzept geht
von einem Metaphernverständnis aus, das die metaphorische Sprache als unei-
gentliche Sprache versteht, als bloßes Substitut.51 Für Blumenberg unterstellt
das substantialistische Säkularisierungsparadigma, dass aus Eigentlichem
Uneigentliches werde; als säkularisierte Heilsgeschichte sei die Fortschrittsge-
schichte eben nur uneigentliche Heilsgeschichte und bleibe die Säkularität bei
der Theologie verschuldet. Säkularisierung als metaphorische Operation der
Übertragung kann aber auch bedeuten, dass ein Bekanntes in einen neuen
Kontext eintritt und dadurch eine ganz neue Bedeutung gewinnt.52
Wer die Säkularisierung als metaphorischen Prozess der Übertragung be-
trachtet, muss mithin nicht zwangsläufig die Legitimität des Säkularisierungs-
prozesses in Frage stellen. Die Frage, ob die Übertragung von Religion in Profa-
nes als uneigentliche Übersetzung (Verschuldung der Politik bei der Theologie)
oder als Entstehung eines neuen Sinns zu verstehen ist, ist zentral, wenn es um
die Auseinandersetzung um das Verhältnis zwischen Messianismus und Zionis-
mus geht, um das sich religiöse und säkulare Parteien streiten (vgl. Kap. II.2.1).
Hier zeigt sich, dass politisch-theologische Formationen Theologie und Politik
nicht nur mit Hilfe poetischer Verfahren ins Verhältnis setzen, sondern dieses
Verhältnis oft selbst nach einem rhetorischen Modell gedacht wird,53 das zu
analysieren mehr als literaturwissenschaftliche Muße ist.
Jenseits vom Modell der metaphorischen Übertragung versucht Walter Ben-
jamin die Beziehung von Theologie und Politik zu denken, indem er im
»Theologisch-politischen Fragment« das Paradox einer dynamischen Entge-
gensetzung und gleichzeitigen Beförderung von profaner und religiöser Stre-
bung entfaltet. Diese »gegenstrebige Fügung« geht bei Benjamin mit einer
perspektivischen Schreibweise einher (vgl. Kap. II.4). Demgegenüber aktiviert
Bloch in seiner politischen Philosophie vorbehaltlos und unmittelbar eine
messianische Symbolik, um das revolutionäre Kollektiv zu figurieren und
revolutionäre Gewalt zu rechtfertigen. Im Zusammenhang mit Rosenzweigs
Stern der Erlösung verschiebt sich der Fokus der Analyse von der Rhetorik zur
Zeichentheorie. Denn im Hintergrund von Rosenzweigs Analyse der Säkulari-
sierung des jüdischen Erwähltheitsgedankens zu einer gewaltförmigen histo-
risch-politischen Idee in der »christlichen Weltzeit« (SdE 367) steht ein Zei-
chenmodell, das auch Rosenzweigs Ansatz einer Resakralisierung trägt: Im
Judentum hätten sich Land, Sprache und Gesetz zu liturgische Zeichen trans-
formiert, die dem Widerspruchs von Zeitlichem und Ewigem entgingen, der
die christlichen Völker in den Krieg treibe (vgl. Kap. II.5). Rosenzweig imagi-
51 Vgl. Daniel Weidner: Zur Rhetorik der Säkularisierung. In: Deutsche Vierteljahrs-
schrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 78/1 (2004), S. 95–132, be-
sonders S. 106f., S. 129–131.
52 Vgl. ebd., S. 130.
53 Vgl. ebd., S. 132.
212 Teil II
niert dabei das jüdische Volk als »heiligen Rest«, der eine biblische Figur
vorstellt, die auch bei Buber begegnet, der sie freilich ganz anders deutet (vgl.
Kap. II.2.3). In Landauers Aufruf zum Sozialismus erscheint der prophetische
Ruf als Modell eines literarischen Sprechens, das zugleich ein politisches ist
(vgl. Kap. II.3). Und Scholem schließlich setzt ein messianisches Konzept von
Tradition als sprachlicher Überlieferungsform voraus, was verhindert, dass er
seinen Zionismus je vom Messianismus hätte trennen können, so sehr er sich
darum inhaltlich auch immer wieder bemühte.
In den nachstehenden Kapiteln wird die Analyse von Argumenten, die die
unterschiedlichen politisch-theologischen Formationen tragen, also auf die
eine oder andere Weise mit Fragen der Rhetorik, der Ästhetik, der Literatur,
der Sprache und der Zeichentheorie verbunden. Man mag es für »höchst prob-
lematisch« halten, dass das Wort »messianisch« von der Person des Messias
ab- und an die verschiedensten Begriffe angekoppelt werden kann.54 Es gehört
dies aber zur messianischen Tradition des Judentums, schon vom Talmud an.
Die Figur des Messias ist immer schon in Figuren des Messianischen aufge-
löst. Mit der Frage, wie diese logisch und sprachlich in unterschiedlichen poli-
tisch-theologischen Textformationen funktionieren, werden sich die folgenden
Kapitel befassen.
54 Vgl. Manfred Voigts: Jüdischer Messianismus und Geschichte. Ein Grundriß. Ber-
lin: Agora 1994 (Erato-Drucke; 27), S. 15.
2 Messianische Figuren und Figurationen
messianischer Gemeinschaft bei Martin Buber
»Zur Geschichte des Messianismus« lautet der Titel des wohl frühesten Textes,
in dem Martin Buber sich zusammenhängend mit dem jüdischen Messianismus
beschäftigt.1 Im Zentrum dieses unveröffentlichten Manuskriptes stehen Leben
und Wirken Sabbatai Zwis im 17. Jahrhundert. Dass Buber sich am Anfang
seiner lebenslangen Beschäftigung mit dem jüdischen Messianismus gerade
mit dem umstrittenen Messias-Prätendenten und Apostaten Sabbatai Zwi be-
fasst, hat weniger mit einer Faszination für einen religiösen Antinomismus zu
tun,2 für den der (radikale) Sabbatianismus berühmt und berüchtigt wurde. So
1 Vgl. Martin Buber: Zur Geschichte des Messianismus. MS, JNUL MBA Arc. Ms.
Var. 350 65 He. Margot Cohn, die noch für Buber als Sekretärin gearbeitet und das
Martin-Buber-Archiv in der Jewish National and University Library in Jerusalem
aufgebaut hat, ist der Meinung, dass der Text um 1900 zu datieren ist. Für eine sol-
che frühe Datierung spreche das Schriftbild sowie der Umstand, dass der Text noch
mit schwarzer und nicht mit blauer Tinte geschrieben ist, die Buber später benutzt
hat. Für diese Auskunft möchte ich mich an dieser Stelle noch einmal bei Margot
Cohn bedanken.
2 Dem religiösen Antinomismus hat Gershom Scholem in seinen verschiedenen wis-
senschaftlichen Arbeiten zum Sabbatianismus seine besondere Aufmerksamkeit ge-
schenkt (vgl. Gershom Scholem: Die Theologie des Sabbatianismus im Lichte Ab-
214 Teil II
raham Cardosos. In: Ders.: Judaica 1. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1986 [Bibliothek
Suhrkamp; 106], S. 119–146; Erlösung durch Sünde. In: Ders.: Judaica 5. Frankfurt
a. M.: Suhrkamp 1992 [Bibliothek Suhrkamp; 1111], S. 7–116; Sabbatai Zwi. Der
mystische Messias. Frankfurt a. M.: Jüdischer Verlag 1992). Die Vorstellung einer
»Heiligkeit der Sünde« speist sich aus verschiedenen Motiven. »Neben der Mei-
nung, dass manche Taten notwendigerweise den äußeren Schein der Sünde an sich
tragen, die in Wirklichkeit ihrem Wesen nach rein und heilig sind, findet sich die
andere, wonach eben das wirklich Schlechte, indem es eben mit religiöser Inbrunst
geübt wird, von innen her aufgesprengt und verwandelt wird« (Gershom Scholem:
Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen. 4. Aufl., Frankfurt a. M.: Suhrkamp
1991 [Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft; 330], S. 348–349). Wichtiger aber
noch ist die Theorie der verschiedenen Aspekte der Thora. Der Messias steht am
Übergang zwischen der alten Welt und der Welt der Erlösung und »verwirklicht in
der messianischen Freiheit ein neues Gesetz« (ebd., S. 342). Dieses neue Gesetz ist
noch immer die Thora – aber die Thora in einem ganz neuen Verständnis, insofern
diejenigen Aspekte, die im Exil allein wahrgenommen werden können, zusammen-
brechen, und eine ganz neue Schicht des Sinnes an der Thora sichtbar wird.
3 Buber, Zur Geschichte des Messianismus (wie Anm. 1), S. 10.
4 Ebd., S. 10.
5 Ebd., S. 25.
6 Ebd., S. 25.
2 Messianische Figuren bei Martin Buber 215
Das Judentum, das auserwählte Volk des Leidens, hat die ganze Nacht des Exils nie
aufgehört, diesen königlichen Traum [einer Rückkehr ins »Heilige Land«; Anm.
E. D.] zu träumen. Aber es gab Zeiten, da ward das Mass des Elends voll, und der
Traum ward Leben. Denn jede starke geistige Bewegung erschafft sich ihre Wirk-
lichkeit, und die Epoche gebiert sich selbst den Mann, der sie überwindet. So ent-
standen dem Judentum die Männer, welche man Gesalbte des Herrn, ȋȡȚıIJȠȚ,7 Mes-
siasse nannte. Es waren Männer des Heils unter ihnen, die ihre Liebe ausgossen über
die ganze Menschheit, Männer des Kampfes, die der gepeinigten Nation Augenbli-
cke des Lichts brachten, aber auch Männer der Verzückung und Trunkenheit […],
die für die harte Wirklichkeit zu schwach waren und statt die Bewegung, aus der sie
hervorgingen, zu meistern, von ihr zermalmt wurden. […] Ihre Kraft zerbricht, und
das Volk, das sie retten sollen, kehrt wieder für Jahrhunderte in die furchtbare Nacht
des dumpfen Duldens zurück.8
Sabbatai Zwi gilt Buber als ein solcher »Träumer«,9 ja, sogar als »kranke[r]
Träumer«,10 der den Augenblick für die »grosse That«11 ungenützt vorüberge-
hen lassen habe und »die beste Kraft des Judentums auf Jahrhunderte hin
gebrochen«12 habe. Denn als der Sultan ihn schließlich vor die Alternative
stellte, zu konvertieren oder zu sterben, trat Sabbatai zum Islam über. Auch
wenn Sabbatais Anhänger versuchten, seinen Übertritt als messianisches Mys-
terium zu deuten, »[griff] das furchtbare Gefühl der Enttäuschung […] doch
um sich«.13 So habe Sabbatai die »beste Kraft des Judentums auf Jahrhunderte
hin gebrochen, aber er hat doch das Geheimste, die ruhelos drängenden In-
stinkte aus der durch das Leiden verschüchterten[,] ihr Eigenstes scheu verber-
7 Mit der Nennung der griechischen Übersetzung des hebräischen Maschiach spielt
Buber natürlich auf Jesus Christus an. Buber wird bei der Strategie bleiben, Jesus in
eine Reihe mit anderen messianischen Figuren des Judentums zu stellen, rechnet er
doch Jesus und das ganze Urchristentum zu einem »Ur-Judentum« (DR 82). Buber
steht mit dem Versuch, Jesus als eine Gestalt des Judentums und nicht als ersten
Christen zu begreifen, keineswegs allein da. Anders akzentuiert begegnet diese The-
se auch in der Wissenschaft des Judentums. So betrachtet etwa Abraham Geiger Je-
sus schlicht als Pharisäer, der keine anderen Ziele verfolgt habe als die übrigen Pha-
risäer auch: Demokratisierung und Liberalisierung des Judentums. Die christlichen
Dogmen über Jesus wie Jungfrauengeburt, Menschwerdung Gottes und Auferste-
hung seien demgegenüber spätere theologische Erfindungen (vgl. Susannah He-
schel: Wissenschaft des Judentums als Gegengeschichte. In: Michael Brenner, An-
thony Kauders, Gideon Reuveni und Nils Römer [Hg.]: Jüdische Geschichte lesen.
Texte der jüdischen Geschichtsschreibung im 19. und 20. Jahrhundert. München:
Beck 2003, S. 392–404, besonders S. 399ff.; sowie dies.: Der jüdische Jesus und das
Christentum. Abraham Geigers Herausforderung an die christliche Theologie. Ber-
lin: Jüdische Verlagsanstalt 2001 [Sifria; 2]).
8 Buber, Zur Geschichte des Messianismus (wie Anm. 1), S. 1f.
9 Ebd., S. 1.
10 Ebd., S. 25.
11 Ebd., S. 19.
12 Ebd., S. 24.
13 Ebd., S. 23.
216 Teil II
genden Seele eines Volkes herausgelockt und offenbart, wie viel Lebensfülle,
wie viel Kraftüberschwang in diesen entarteten Mengen lebte.«14
Für die Moderne ist der Sabbatianismus in zweierlei Hinsicht wichtig ge-
worden. Zum einen hat er zur inneren Vorbereitung von Aufklärung und Re-
form im Judentum beigetragen, was Scholem besonders hervorhebt.15 Zum
anderen ist der Bezug auf Sabbatai Zwi für den Zionismus bedeutsam gewor-
den.16 Hiermit werden wir uns auch noch im Zusammenhang mit Gershom
Scholems Position befassen (s. Kap. II.4.5). Theodor Herzl selbst stellt in sei-
nen Tagebüchern, aber auch in dem utopischen Zukunftsroman Altneuland
(1902) wiederholt eine Verbindung zwischen Sabbatai Zwi und dem Zionis-
mus her. Im zweiten Buch von Altneuland, das in einem imaginären Haifa von
1923 spielt, wird ein Opernbesuch geschildert. Auf dem Programm steht »Sab-
batai Zwi«, das »schönste jüdische Tonwerk der letzten Jahre«,17 wie es heißt.
Auf die Frage, warum »solche Abenteurer immer wieder Glauben finden konn-
ten«,18 entgegnet David Littwak, die positive zionistische Identifikationsfigur
des Romans:
Mir scheint, das hat einen tiefen Grund. Das Volk glaubte nicht, was sie sagten, son-
dern sie sagten, was das Volk glaubte. […] Die Sehnsucht macht den Messias. Nun
müssen Sie bedenken, was das für arme dunkle Zeiten waren, in denen ein Sabbatai
oder seinesgleichen erschienen. Unser Volk war noch nicht imstande, sich auf sich
selbst zu besinnen, und da brauchte es solche Gestalten. Spät erst, am Ende des
neunzehnten Jahrhunderts, als schon alle anderen zivilisierten Völker ihr Selbstbe-
wußtsein erlangt hatten und es betätigten, kam auch unser verstoßenes Volk zu der
Erkenntnis, daß es das Heil nur von der eigenen Kraft und nicht von phantastischen
14 Ebd., S. 24.
15 »Jenes Gefühl der echten Befreiung, das sich den ›Gläubigen‹ in dem großen Auf-
schwung des Jahres 1666 mitgeteilt hatte, suchte, als es auf der historischen und po-
litischen Ebene widerlegt wurde, auf der moralischen und religiösen seinen Aus-
druck. Anstatt umwälzend nach außen zu wirken, was ihm durch die Katastrophe der
Apostasie des Messias versagt wurde, schlug es nach innen und bereitete in vielen
Seelen jene Stimmung vor, aus der dann, als der Mythos von der Sendung des Mes-
sias zu den Toren der Unreinheit zu verblassen begann, Aufklärung und Reform ih-
ren Nutzen ziehen konnten« (Scholem, Die jüdische Mystik [wie Anm. 2], S. 349).
16 Vgl. Christoph Schmidt: Vor dem Gesetz. Zur Dialektik von jüdischer Moderne und
politischer Theologie. In: Ashraf Noor (Hg.): Erfahrung und Zäsur. Denkfiguren der
deutsch-jüdischen Moderne. Freiburg: Rombach 1999 (Rombach-Wissenschaften/
Reihe Litterae; 67), S. 115–140. Schmidt macht einen inneren Widerspruch des Zio-
nismus aus: »Um der jüdischen Identität willen muss er sich auf die religiöse Tradi-
tion stützen, die die politische Souveränität auf die messianische Erlösung vertagt
und negiert. Die (Um)schreibung der jüdischen Geschichte aus der Perspektive der
politischen Souveränität stößt daher nicht zufällig immer wieder auf den Namen von
jenem Schabtai Zwi, der im Namen der messianischen Erlösung hier und jetzt das
halachische Gesetz des Moses suspendiert« (ebd., S. 131).
17 Theodor Herzl: Altneuland. In: Ders.: Gesammelte Zionistische Werke. Bd 5. Tel
Aviv: Hozaah Ivrith 1935, S. 125–420, hier: S. 218.
18 Ebd., S. 227.
2 Messianische Figuren bei Martin Buber 217
Wundertätern erwarten dürfe. Nicht eine einzelne Person, wohl aber die erwachte
und rührige Volkspersönlichkeit müsse das Erlösungswerk vorbereiten. Auch die
Frommen sahen endlich ein, dass in dieser Auffassung nichts Gottwidriges enthalten
sei. Gesta Dei per Francos, hieß es einst bei den Franzosen – Gottes Taten durch die
Juden! sagen unsere echten Frommen, die sich nicht durch parteiische Rabbiner ver-
hetzen lassen.19
Der Bezug auf Sabbatai Zwi hat bei Herzl Methode. Der Widerstand, den
Sabbatai von Seiten der Orthodoxie erfahren hat,20 lässt sich parallel führen
mit dem Widerstand, den das orthodoxe Judentum bis weit ins 20. Jahrhundert
hinein dem politischen säkularen Zionismus entgegengebracht hat. Denn die
Position, die David Littwak den »echten Frommen« in den Mund legt, »die
sich dem nationalen Befreiungswerk begeistert anschlossen«,21 repräsentierte
zu Herzls Zeiten alles andere als die Mehrheit. In der ersten Phase des Zionis-
mus im 19. Jahrhundert opponierte die Orthodoxie größtenteils gegen den
politischen Zionismus.22 Einflussreiche Ausnahmen stellten Rabbi Zwi Hirsch
Kalischer (1795–1874) und später besonders Rabbi Avraham Isaac HaKohen
Kook (1865–1935) dar, die eben die Vorstellung vertraten, die Herzl seinen
Protagonisten David Littwak als das »geklärte Räsonnement unserer From-
men«23 verkünden lässt: Das »nationale Werk« bereite das »Erlösungswerk«
vor.24
In dem Konsens zwischen religiösem Zionismus und einem politischen sä-
kularen Zionismus, wie ihn Herzls Figur imaginiert, begegnet sich die Rheto-
rik der Säkularisierung als Ersetzung der Religion durch die Politik, in der die
Religion zugleich ihre Erfüllung finden soll, mit einer religiösen Rhetorik, die
die Politik als Mittel oder Vorbereitung eines religiösen Zwecks betrachtet.25
19 Ebd., S. 227–228.
20 Der Widerstand der Orthodoxie war historisch wohl nicht so groß, wie er im Nach-
hinein dargestellt wurde (vgl. Scholem, Sabbatai Zwi [wie Anm. 2], S. 27).
21 Herzl, Altneuland (wie Anm. 17), S. 228.
22 Vgl. Jacob Katz: Zwischen Messianismus und Zionismus. Zur jüdischen Sozialge-
schichte. Frankfurt a. M.: Jüdischer Verlag 1993, S. 34.
23 Herzl, Altneuland (wie Anm. 17), S. 228.
24 Erst nach der Shoah etablierte sich eine zionistisch-orthodoxe Strömung als Mehr-
heit, und wiederum erst nach dem Sechstagekrieg von 1967 entstand ein radikaler
messianischer Nationalismus bei National- wie auch Ultraorthodoxen (vgl. Yossef
Schwartz: Zionismus als säkularer Messianismus. Der Fall deutsch-jüdische Intel-
lektuelle. In: Eveline Brugger und Martha Keil [Hg.]: Die Wehen des Messias. Zei-
tenwende in der jüdischen Geschichte. Berlin, Wien: Philo 2001, S. 193–212, be-
sonders S. 194f.; Katz, Zwischen Messianismus und Zionismus [wie Anm. 22], be-
sonders S. 35; zu der Problematik allgemein Aviezer Ravitzky: Messianism, Zio-
nism, and Jewish Religious Radicalism. Chicago: Univ. of Chicago Press 1996).
25 Jody Elizabeth Myers betont ebenfalls die Rolle der Rhetorik im Verhältnis von
säkularem Zionismus und Messianismus (vgl. Jody Elizabeth Myers: The Messianic
Idea and Zionist Ideologies. In: Jonathan Frankel [Ed.]: Jews and Messianism in the
Modern Era: Metaphor and Meaning. New York, Oxford: Oxford Univ. Press 1991
[Studies in contemporary Jewry; 7], S. 3–13). Grundsätzlich steht für Myers der Zi-
218 Teil II
onismus im Gegensatz zum messianischen Denken. Denn der Zionismus gehe davon
aus, dass Geschichte nur von Menschen gemacht werde, die Mittel einer Rückkehr
aus dem Exil ganz in menschlicher Hand liegen, dass die post-exilische Zeit im
Rahmen der natürlichen Ordnung bleibe und Institutionen der prä-exilischen Zeit
(wie z. B. der Tempel) in der post-exilischen Zeit nicht wiederbelebt werden müss-
ten. Daher sei der Gebrauch messianischen Vokabulars von säkularen Zionisten als
Taktik zu begreifen. Für Myers besteht die Taktik darin, »to show that Zionism and
messianism are not opposed to, but are compatible with, one another – or else to
show that Zionism has continued and renewed, not replaced, traditional messianic
beliefs« (ebd., S. 8). Auch wenn der säkulare Zionismus sich ›nur‹ als Fortsetzung
und nicht zugleich als Ersetzung des traditionellen Messianismus ausgibt, um ihren
Gegensatz zu entschärfen, bleiben die grundsätzlichen Spannungen doch unter-
schwellig erhalten.
26 Seffi Rachlevsky hat in seinem in Israel kontrovers diskutierten Buch Messiah’s
Donkey argumentiert, dass die gegenwärtige messianische orthodoxe Strömung die
säkulare israelische Mehrheit als Esel betrachte, der, solange er seinen Dienst am
messianischen Ziel verrichte, von Nutzen sei, jedoch Agressionen gewahren müsse,
sobald er sich den messianischen Zielen nicht beuge. Prominentestes Opfer dieser
Aggressionen sei Jizchak Rabin geworden (vgl. Schwartz, Zionismus als säkularer
Messianismus [wie Anm. 24], S. 195f.).
27 Herzl, Altneuland (wie Anm. 17), S. 227–228.
28 Ebd., S. 228.
29 Vgl. zu Herzls Leidenschaft für die Oper und speziell für Richard Wagner: Philipp
Theisohn: Die Urbarkeit der Zeichen. Zionismus und Literatur – eine andere Poetik
der Moderne. Stuttgart: Metzler 2005, besonders S. 129–131.
30 So schreibt Herzl in seinem Tagebuch: »Schiff sagt: das hat im vorigen Jahrhundert
Einer zu machen versucht. Sabbathai! Ja, im vorigen Jahrhundert war es nicht mög-
lich. Jetzt ist es möglich. Weil wir Maschinen haben.« (Theodor Herzl: Briefe und
2 Messianische Figuren bei Martin Buber 219
lich macht, schreibt Buber den entscheidenden Fehler Sabbatai selbst zu. Zwar
habe Sabbatai eine »ekstatische, wild und regellos waltende Triebmacht«31 im
jüdischen Volk »erweckt«,32 die dem »ausführenden festen unbeugsamen
Willen«33 vorarbeiten müsse. Aber es habe Sabbatai gerade
der Wille [gefehlt], der aus dem wogenden Dunkel des Unbewussten heraus grosse
monumentale Werke ans Tageslicht fördert, die Hand, die sich auf Jahrtausende
drückt wie auf Wachs, auf Jahrtausenden schreibt wie auf Erz: das Mannestum fehl-
te ihm. Mögen die kommen, die es im jüdischen Volk entdecken, die die jüdische
Seele in ihren Tiefen erschüttern und das höchste aus ihr herausholen: das Man-
nestum.34
Tagebücher. Hg. von Alex Bein, Hermann Greive, Moshe Schaerf und Julius H.
Schoeps. Bd 2 [Zionistisches Tagebuch 1895–1899], bearbeitet von Johannes Wach-
ten und Chaya Harel. Berlin, Frankfurt a. M., Wien: Propyläen 1983, S. 139). Dass
Herzl und Friedrich Schiff das Auftreten Sabbatai Zwis auf das 18. statt auf das 17.
Jahrhundert datieren, führen die Bearbeiter von Herzls Tagebüchern auf die lang an-
haltende Wirkung der sabbatianischen Bewegung zurück (vgl. ebd., S. 794).
31 Buber, Zur Geschichte des Messianismus (wie Anm. 1), S. 25.
32 Ebd.
33 Ebd.
34 Ebd.
35 Ebd.
36 Ebd., S. 24.
37 Ebd.
38 Ebd.
39 Ebd., S. 8.
40 Ebd., S. 25.
41 Martin Buber: Jüdische Renaissance. In: Ders.: Die Jüdische Bewegung. Bd 1. 2.
Aufl., Berlin: Jüdischer Verlag 1920, S. 7–16, hier: S. 9.
42 Ebd., S. 16.
220 Teil II
43 Ebd., S. 12.
44 Martin Buber: Von Jüdischer Kunst. In: Ders.: Die Jüdische Bewegung. Bd 1. 2.
Aufl., Berlin: Jüdischer Verlag 1920, S. 57–66, hier: S. 64, sowie Martin Buber: Die
Schaffenden, das Volk und die Bewegung. In: Jüdischer Almanach. Berlin 1902, S.
24–30, hier: S. 28–29.
45 Buber, Jüdische Renaissance (wie Anm. 41), S. 15.
46 Buber, Zur Geschichte des Messianismus (wie Anm. 1), S. 25.
47 Martin Buber: Wege zum Zionismus. In: Ders.: Die Jüdische Bewegung. Bd 1. 2.
Aufl., Berlin: Jüdischer Verlag 1920, S. 39–44, hier: S. 42–43. Die Metapher der
»Statue« taucht auch in dem Artikel »Jüdische Kunst« auf (in: Die Welt, 6/3 (1902),
S. 9–11, hier: S. 10).
48 Buber, Jüdische Kunst (wie Anm. 47), S. 10.
49 Vgl. Barbara Schäfer: Einleitung. In: Martin Buber: Werkausgabe. Hg. von Paul
Mendes-Flohr und Peter Schäfer. Bd 3 (Frühe jüdische Schriften 1900–1922), hg.,
eingeleitet u. kommentiert von Barbara Schäfer. Gütersloh: Gütersloher Verl.-Haus
2007, S. 13–50, besonders S. 25–30. Vgl. zur zionistischen Nietzsche-Rezeption all-
gemein: Jacob Golomb: Nietzsche and Zion. Ithaca: Cornell Univ. Press 2004; ders.
(Hg.): Nietzsche und die jüdische Kultur. Übers. von Helmut Dahmer. Wien: WUV-
Univ.-Verlag 1998.
2 Messianische Figuren bei Martin Buber 221
wenn diese nie völlig gelingen mag. Die Gewalt, die in der Vorstellung liegt,
Gemeinschaft als Werk herzustellen, Gemeinschaft als Gemeinschaft von
Wesen zu denken, »die wesenmäßig ihre eigene Wesenheit als ihr Werk her-
stellen und darüberhinaus genau diese Wesenheit als Gemeinschaft herstel-
len«,50 hat Jean-Luc Nancy in Auseinandersetzung mit der deutschen romanti-
schen Tradition, die auch auf Buber einen großen Einfluss ausübte, untersucht
und als »Immanentismus« bezeichnet. Die Vision einer Gemeinschaft, die zu
sich selbst im Verhältnis der Immanenz steht, kann man bei Buber bis in den
Ersten Weltkrieg hinein, also bis hin zu seiner Kriegsbegeisterung, verfolgen.
Der zionistischen Subjektbildung, der »Hebung des jüdischen Selbstbe-
wusstseins«,51 dient beim frühen Buber in erster Linie die Ausbildung einer
»nationalen Kunst«,52 worin sich seine kulturzionistische Position begründet,
die ihn schließlich in einen Prioritätenstreit mit den »Vätern« des politischen
Zionismus, mit Max Nordau und Theodor Herzl, bringt.53 In dem »künstleri-
schen Schaffen«, so Buber, »sprechen sich die specifischen Eigenschaften der
Nation am reinsten aus«54 und finden »lebendige Gestalt«.55 Aber auch die
»Stärkung von Körperkraft und Gewandtheit«56 steht, neben der »Verbreitung
der Kenntnisse in jüdischer Geschichte und Literatur«,57 auf dem Programm
der »Vereinigung Jüdischer Studierender« in Leipzig, die von ihm im Winter
1899 ins Leben gerufen wurde. Es geht Buber in seinen frühen zionistischen
Texten um das »einheitliche, ungebrochene Lebensgefühl des Juden«,58 das er
als »Losungswort gegen die reine Geistigkeit«59 ausgibt, um die »einheitliche
50 Jean-Luc Nancy: Die undarstellbare Gemeinschaft. Übers. von Gisela Febel und
Jutta Legueil. Stuttgart: Ed. Schwarz 1988, S. 13f. Die Prämissen dieser Vorstellung
charakterisiert Nancy wie folgt: »Die Gemeinschaft als Werk oder die Gemeinschaft
als auf Werke begründet würde voraussetzen, dass das gemeinsame Sein als solches
(in Orten, Personen, Gesellschaftsordnungen, Diskursen, Institutionen, Symbolen,
kurz: in Subjekten) objektivierbar wäre« (ebd., S. 69). Eine ästhetische Objektivie-
rung jüdischen Wesens schwebt dem jungen Buber vor.
51 Buber, Jüdische Renaissance (wie Anm. 41), S. 12.
52 Buber, Jüdische Kunst (wie Anm. 47), S. 10f.
53 Vgl. Christina Ujma: Political versus Cultural Zionism. Reflections on Herzl and
Buber. In: Ritchie Robertson (Hg.): Theodor Herzl and the Origins of Zionism.
Edinburgh: Edinburgh Univ. Press 1997 (Austrian studies; 8), S. 96–106; Schäfer,
Einleitung (wie Anm. 49), S. 20–25; Martin Treml: Einleitung. In: Martin Buber:
Werkausgabe. Hg. von Paul Mendes-Flohr und Peter Schäfer. Bd 1 (Frühe kulturkri-
tische und philosophische Schriften 1891–1924), bearb., eingeleitet u. kommentiert
von Martin Treml. Gütersloh: Gütersloher Verl.-Haus 2001, S. 13–91, besonders
S. 39–45.
54 Buber, Jüdische Kunst (wie Anm. 47), S. 11.
55 Ebd., S. 11.
56 Zitiert nach Treml, Einleitung (wie Anm. 53), S. 39.
57 Ebd.
58 Buber, Jüdische Renaissance (wie Anm. 41), S. 13.
59 Ebd.
222 Teil II
60 Ebd., S. 14.
61 Vgl. Buber, Von jüdischer Kunst (wie Anm. 44), S. 65: »[N]ur ganze Menschen
können ganze Juden sein«, sowie Buber, Jüdische Renaissance (wie Anm. 41),
S. 15: »Sie [die nationale Bewegung; Anm. E. D.] wird uns vor einer äußeren eine
innere Heimat schaffen: dadurch daß sie das Judentum zu neuer Einheit zusammen-
schließt.«
62 Vgl. Steven E. Aschheim: Culture and Catastrophe. German and Jewish Confronta-
tions with National Socialism and Other Crises. New York: New York University
Press 1996, S. 36.
63 Vgl. zu dem Thema allgemein: George L. Mosse: Jüdische Intellektuelle in Deutsch-
land. Zwischen Religion und Nationalismus. Übers. von Christiane Spelsberg.
Frankfurt a. M., New York: Campus 1992.
64 Buber, Zur Geschichte des Messianismus (wie Anm. 1), S. 19.
65 Vgl. Buber, Wege zum Zionismus (wie Anm. 47), S. 41–42: »Wenn ich für mein
Volk zu wählen hätte zwischen einem behaglichen, unfruchtbaren Glück, wie es in
alten Zeiten manchem seiner Nachbarn zuteil geworden war, und einem schönen
Tod in letzter Anspannung des Lebens, ich müßte diesen wählen. Denn er würde,
und sei es auch nur einen Augenblick, etwas Göttliches schaffen, jenes aber nur et-
was Allzumenschliches.«
66 Vgl. Martin Buber: Die Geschichten des Rabbi Nachman. Frankfurt a. M.: Rütten &
Loening 1906, S. 13.
2 Messianische Figuren bei Martin Buber 223
Ebene der »messianischen Bewegung«,67 der »That«, und der »Erlöser«, die
bei Buber keine Götter oder Halbgötter sind, sondern Menschen, besser gesagt:
Männer, die sich anschicken, den »königlichen Traum« einer »Rückkehr ins
heilige Land« zu erfüllen. Die »Bewegung«, die »Schaffenden« und das
»Volk« stellt Buber als überzeitliche, »ursprünglich[] waltende[] Kräfte«68 dar,
die in der Geschichte teils latent und unsichtbar bleiben, teils manifest und
sichtbar werden. Die »Schaffenden« sollen der »Bewegung« des »Volks« –
Buber beschreibt die »Bewegung« als »Fruchtbarwerden des Volks«69 – »Ges-
talt«70 geben. Die »Ghettokultur« habe Schaffen und Bewegung niedergehal-
ten, »bis die zu Schaffenden Geborenen ohnmächtige Ketzer und die ewig
aufflammenden Flammen der Bewegung taumelnde Epidemien wurden«.71
Messianismus und Zionismus gelten dem frühen Buber beide als Ausdruck
eines »uralten Dranges nach nationalem Sich-Ausleben«, der sich in den Jahr-
hunderten des Exils »entweder in dumpf sehnsüchtiger Klage oder in milden
messianistischen Ekstasen geäussert hatte«, um sich »nun in der modernen
Form zu entfalten, die wir Zionismus nennen«.72
Buber interpretiert den Zionismus nicht wie Herzl als ins Säkulare übertra-
genen Messianismus, um so dessen Legitimität zu bestärken. Statt den Zionis-
mus auf den Messianismus zurückzuführen und ihn als dessen moderne Gestalt
zu deuten, führt Buber beide, Zionismus und Messianismus, auf einen tiefer
liegenden Ursprung zurück, auf die der Geschichte unterlegten »ursprünglich[]
waltenden Kräfte«:73 »Volk«, »Bewegung« und »Schaffende«. Diese Kräfte
werden wiederum religiös aufgeladen, so wenn Buber, wie bereits zitiert, die
»Heiligkeit« des Wortes »Schaffen!« rühmt,74 oder dem »Volk« eine religiöse
Qualität/Dimension verleiht, die der traditionelle Glaube verloren habe.
Der Glaube hat die Macht verloren, Seelen in den Arm zu nehmen und an das Herz
der Welt zu legen. Heute lügt er dem Leben und thut deinen wogenden Sinnen Ge-
walt an. Aber wer seinen Gott verloren hat, mag tief verwaist sein. Auf seinem neu-
en Weg kann da das Volk eine erste Station werden.75
schaft des Gesetzes«77 abwertet. Das »Programm der Selbsterlösung in und mit
einer Gemeinschaft«78 ist für diese Texte leitend.
Bubers Ansichten zu Messianismus und Zionismus werden sich im Laufe
der Jahre erheblich ändern. So wird er die pauschale Verwerfung der Diaspora-
Kultur revidieren, je mehr er sich überhaupt mit den jüdischen Quellen einge-
hend beschäftigt, etwa ab 1904 mit der chassidischen Literatur. Seine Nacher-
zählungen chassidischer Geschichten in den beiden Bänden Die Geschichten
des Rabbi Nachman (1906) und Die Legende des Baalschem (1908) machen
ihn schnell berühmt. Statt Religion pauschal als lebensfeindlich abzuwerten,
wird Buber später versuchen, einen Begriff von Religion zu entwickeln, der
sich von Religion als Konfession, als Ritus und Dogma unterscheidet, sei es
nun, indem er zwischen Religiosität und Religion differenziert wie in den Drei
Reden über das Judentum (1911), sei es, dass er Religion als existentielle Le-
benseinstellung versteht wie in seiner dialogischen Philosophie nach dem
Ersten Weltkrieg (vgl. Kap. I.3.2; II.2.2).79
Die Gemeinschaft und Führergestalten bleiben allerdings Bezugspunkte von
Bubers Messianismus. Wenn Buber später80 auf unterschiedliche Weise ver-
sucht, das Verhältnis von nationaler und universaler Gemeinschaft über messi-
anische Konzeptionen zu denken, so geht der Messianismus beim frühen Bu-
ber noch nicht über den Zionismus hinaus. In dem Text »Zur Geschichte des
Messianismus« etwa interpretiert Buber den Messianismus noch ganz als nati-
onale jüdische Bewegung. Das Verhältnis von nationaler und universaler Ge-
meinschaft wird beim frühen Buber durch die Auffassung bestimmt, in einer
Epoche allgemeiner Völkerrenaissance, der »Selbstbesinnung der Völkersee-
len«81 zu leben, an der die »Jüdische Renaissance« teilhabe.82 Messianismus
Bubers geistige Entwicklung bis hin zu »Ich und Du«. Übers. von Dafna A. von
Kries. Königstein i. Ts.: Jüdischer Verlag 1979, S. 183–188, hier: S. 185).
77 Buber, Jüdische Renaissance (wie Anm. 41), S. 14.
78 Treml, Einleitung (wie Anm. 53), S. 47.
79 In einem Gespräch über »Religion und Politik« in Stuttgart am 17.02.1929 definiert
Buber Religion wie folgt: »Religion ist die unbedingte Annahme des Lebens […] in
seiner ganzen, realen Doppelseitigkeit, d. h. des Lebens, insofern es sich uns antut,
und des Lebens, insofern es von uns getan wird […].[…] Das sagt zugleich, daß […]
ich dieses Leben in meiner ganzen Unzulänglichkeit dennoch dialogisch zu leben
versuche […]. […] Also es ist nichts anderes als die Konkretheit, die mit jeder Stun-
de, mit jeder mir entgegentretenden Situation eine neue Gestalt, einen neuen Aus-
druck findet. Es gilt also nichts ein für allemal. Denn so, wie ich nicht die Situation
vorauszusehen vermag, die im nächsten Augenblick an mich herantritt bezw. meine
Bereitschaft von mir fordert, so kann ich mich schlechthin nicht vorbereiten, kann
ich nirgends nachsehen, was werde ich nun im nächsten Augenblick tun« (Martin
Buber: Stuttgarter Gespräch. 17.02.1929, TS, JNUL MBA Arc. Ms. Var. 350
43a/Zajin, S. 9–11).
80 So bereits in den Drei Reden über das Judentum.
81 Buber, Jüdische Renaissance (wie Anm. 41), S. 7.
82 Vgl. Schäfer, Einleitung (wie Anm. 49), S. 25–28.
2 Messianische Figuren bei Martin Buber 225
und Zionismus bleiben bei Buber zeitlebens eng miteinander verbunden. Wenn
Buber allerdings in »Zur Geschichte des Messianismus« den Messianismus als
nationale Bewegung und damit in der Perspektive auf den Zionismus hin inter-
pretiert, so wird er später umgekehrt den Zionismus vom Messianismus her
deuten. Damit verändert sich aber auch die Weise, wie Buber die jüdische
Nation imaginiert. In den Texten nach dem Ersten Weltkrieg stellt Buber die
Nation, im Anschluss an Deuterojesaja und die Rückkehr aus dem Babyloni-
schen Exil, als Rest vor, der weder Teil noch Alles ist und sich solcherart der
Gestalt entzieht.
Bubers Rhetorik, eine äußerliche, abgeleitete von einer inneren, unmittelba-
ren Gemeinschaft zu unterscheiden, erhält sich bis hin zu seinen späteren Tex-
ten nach dem Ersten Weltkrieg, wenngleich hier die Gemeinschaft weniger
positiv beschworen wird als Positivierungsbestrebungen entgegenläuft und
zum Hebel einer immanenten Kritik an den unpersönlichen Strukturen öffent-
licher Institutionen wird. Die berühmten Drei Reden über das Judentum (1911)
versuchen allerdings noch, eine hypostasierte innere Gemeinschaft positiv zu
benennen. Buber rekurriert in diesem Zusammenhang auf das »Blut« als Me-
dium einer transgenerationalen nationalen Gemeinschaft, was gemeinhin als
Metapher abgetan wird. Ich möchte demgegenüber im folgenden Kapitel der
Spur eines unausgesprochenen Lamarckismus in Bubers Reden nachgehen.
2.2 Auf der Suche nach der Substanz: Bubers Drei Reden über
das Judentum
Bubers Drei Reden über das Judentum (veröffentlicht 1911), auf Einladung
des Vereins Jüdischer Hochschüler »Bar Kochba« in Prag gehalten, übten auf
seine Zeitgenossen eine große Wirkung aus. Gershom Scholem erinnert sich,
dass er zu denjenigen gehöre,
die in ihrer Jugend, als diese Reden erschienen, tief von ihnen bewegt wurden, und
die – wie es auch ihrem Autor selber geschah – diese Seiten viele Jahre später nur
noch mit dem Gefühl tiefer Entfremdung lesen können. […] Und dennoch ging von
diesen Worten seinerzeit eine bedeutende Magie aus. Ich wüßte aus jenen Jahren
kein Buch über das Judentum zu nennen, das auch nur annähernd solche Wirkung
gehabt hat – nicht bei den Männern der Wissenschaft, die diese Reden kaum gelesen
haben, sondern bei einer Jugend, die hier zum Aufbruch gerufen wurde, mit dem
viele Ernst gemacht haben.83
Die Drei Reden kreisen um das Problem jüdischer Identität und appellieren
daran, sich auf ein Jüdischsein zu besinnen, das nicht in einer »immer geistes-
leerer werdenden Tradition« (DR 51), in »Dogma und Norm, Kult und Regel«
83 Gershom Scholem: Martin Bubers Auffassung des Judentums. In: Ders.: Judaica 2.
Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1970 (Bibliothek Suhrkamp; 263), S. 133–193, hier:
S. 148f.
226 Teil II
(DR 12f.) oder »Erbgewohnheit« (DR 11) aufgehe. Ein solches Judentum
kennzeichnet Buber als abstrakt und stellt ihm die Forderung entgegen, »wahr-
haft von innen heraus Jude zu sein« (DR 27), aus der Bejahung »jüdische[r]
Existenz« (DR 28) heraus. Denn nicht auf ein Bekenntnis käme es an, sondern
darauf, »dass der, der seine Wahrheit in sich aufgenommen hat, sie lebe« (DR
30). Rhetorisch dürfte die große Wirkung von Bubers Drei Reden darauf beru-
hen, dass Buber ein Jüdischsein jenseits von Religion und den äußeren Charak-
teristika einer Nation (territoriale Heimat, Sprache und Sitte) postuliert und
damit gerade auch ein überwiegend akkulturiertes Prager Publikum anzuspre-
chen vermag.
Bubers Reden bauen auf einer antithetischen Argumentation auf. Auf ver-
schiedenen Ebenen setzt Buber Dynamik und Erstarrung, »innere[] Wirklich-
keit« (DR 12) und äußere Form, einander entgegen. In der ersten Rede, »Das
Judentum und die Juden«, fragt Buber danach, welcher Art die Gemeinschaft
sei, »von der wir Zeugnis ablegen, wenn wir uns Juden nennen« (DR 11).
Zwei Antworten liegen bereit: Religion oder Nation. Nun existiere, so Buber,
eine »unmittelbare jüdische Religiosität« (DR 14) nur noch als Erinnerung
oder Hoffnung, wobei Buber als Religiosität ein Leben in einem »eigentümli-
che[n] Verhältnis zum Absoluten« (DR 13), als »elementares Gottgefühl« (DR
14) versteht. Eine solche Religiosität soll den Gegensatz zu Religion als
»Dogma und Norm, Kult und Regel« bilden (DR 12f.).84
In den Drei Reden betrachtet Buber das Judentum weder als Religion noch
als Religiosität. Stattdessen beruft er sich auf eine »nationale Existenz« (DR
15) als »lebendige«, »dauernde Substanz« (DR 16) jenseits der äußeren natio-
nalen Merkmale territoriale Heimat, Sprache und Sitte. Diese fehlten dem
Judentum, so dass ihm Umwelt und die »Welt der Substanz« (DR 22) ausei-
nanderfielen. Die »dauernde«, »bleibende[] Substanz« (DR 17), die das »inne-
re[] Judentum« (DR 15) ausmachen soll, finde, wer in der
Unsterblichkeit der Generationen die Gemeinschaft des Blutes [fühlt] […] als das
Vorleben seines Ich, als die Dauer seines Ich in der unendlichen Vergangenheit. Und
dazu gesellt sich, von diesem Gefühl gefördert, die Entdeckung des Blutes als der
wurzelhaften, nährenden Macht im Einzelnen, die Entdeckung, daß die tiefsten
Schichten unseres Wesens vom Blute bestimmt, daß unsere Gedanken und unser
Wille zutiefst von ihm gefärbt sind. Jetzt findet und empfindet er: die Umwelt ist die
Welt der Eindrücke und Einflüsse, das Blut ist die Welt der beeindruckbaren,
beeinflußbaren Substanz, die sie alle in ihren Gehalt aufnimmt, in ihre Form verar-
beitet. Und nun fühlt er sich zugehörig nicht mehr der Gemeinschaft derer, die mit
ihm die konstanten Elemente des Erlebens haben [d. h. territoriale Heimat, Sprache
und Sitte; Anm. E. D.], sondern der tieferen Gemeinschaft derer, die mit ihm die
gleiche Substanz haben (DR 19).
84 Die Unterscheidung zwischen Religion und Religiosität hat Buber offenbar von
Georg Simmel übernommen (vgl. Paul Mendes-Flohr: Von der Mystik zum Dialog.
Martin Bubers geistige Entwicklung bis hin zu »Ich und Du«. Übers. von Dafna A.
von Kries. Königstein i. Ts.: Jüdischer Verlag 1979, S. 83–85).
2 Messianische Figuren bei Martin Buber 227
Auch wenn Buber sich in der dritten Rede gegen evolutionäre Denkweisen
ausspricht,85 wird man wohl schwer umhinkommen, in einer über das Blut
erfolgenden Vererbung der »Disposition, Eindrücke zu verarbeiten« (DR 23),
eine Nähe zu lamarckistischen Vorstellungen zu bemerken.86 Man macht es
sich dann doch zu leicht, wenn man Bubers Rede vom »Blut« nur in einem
übertragenen Sinne als »Symbol der geistigen Volkspersönlichkeit«87 verstan-
den wissen will. Wohl kein reiner Lamarckismus kennzeichnet Bubers Ge-
dächtnistheorie des Blutes, wohl aber eine Gemengelage aus Lamarckismus,
d. h. der Vorstellung einer Vererbung erworbener Eigenschaften und Disposi-
tionen,88 und mystischer Geschichtsvorstellung, die die Zeitschranken ignoriert
und alle Zeitalter miteinander in aktuale Verbindung bringt.89 Die Verqui-
ckung von Mystik und Evolutionsbiologie ist uns bereits in Landauers frühen
Texten begegnet (vgl. Kap. I.3.1). Landauer behauptet eine universale Körper-
und Blutsgemeinschaft mit allen menschlichen und tierischen Vorfahren, eine
»große Gemeinschaft der Lebendigen«,90 die die lineare Zeitfolge überschreite
und einen dynamischen Zusammenhang bilde, den Landauer einem Staat und
Gesellschaft zugeschriebenen mechanischen Determinismus entgegenstellt.
85 Buber wendet sich mit der propagierten »Erneuerung des Judentums« gegen die
Vorstellung eines gesetzmäßigen, allmählichen Fortschritts, den er mit dem Begriff
der Evolution verbindet. Ein heroisches Leben werde hierdurch verhindert (vgl. DR
59–63).
86 Vom Blut als »Disposition« spricht Buber auch in: Die hebräische Sprache. In:
Ders.: Die Jüdische Bewegung. Bd 1. Berlin: Jüdischer Verlag 1916, S. 175–191,
besonders S. 180.
87 Ernst Simon: Martin Bubers lebendiges Erbe. In: Was kann uns Martin Buber heute
lehren? Hg. vom Didaktischen Zentrum der Johann Wolfgang Goethe-Universität
Frankfurt a. M. Frankfurt a. M. 1976, S. 17–51, hier: S. 20, zitiert nach: Treml, Ein-
leitung (wie Anm. 53), S. 59.
88 Mit Jean Lamarck und dessen Philosophie Zoologique (1809) werden gemeinhin
zwei von der späteren Evolutionstheorie verworfene Thesen verbunden: die These
vom allmählichen Wandel der Arten aufgrund der Anforderungen der Umwelt, der
Darwin die sprunghafte Veränderung entgegensetzt, und die These von der Verer-
bung derjenigen organischen Modifikationen, die durch den Gebrauch entstanden
sind. Unter Lamarckismus wird insbesondere diese »Vererbung erworbener Eigen-
schaften« verstanden. Eine kritische Auseinandersetzung mit der Rezeption La-
marcks als Vorläufer der Evolutionstheorie findet sich bei Sigrid Weigel, die auf den
Schwellencharakter von Lamarcks Werk zwischen Klassifikation der Arten und de-
ren Genealogie hinweist (vgl. Sigrid Weigel: Genea-Logik. Generation, Tradition
und Evolution zwischen Kultur- und Naturwissenschaften. München: Fink 2006, S.
209–215).
89 Über die Zeitschranken setzt sich nicht erst die Mystik, sondern auch schon der
Talmud hinweg (vgl. Yosef Hayim Yerushalmi: Zachor: Erinnere Dich! Jüdische
Geschichte und jüdisches Gedächtnis. Übers. von Wolfgang Heuss. Berlin: Wagen-
bach 1996 [Wagenbachs Taschenbücherei; 260], S. 50ff.).
90 Gustav Landauer: Skepsis und Mystik. Versuche im Anschluß an Mauthners
Sprachkritik. Berlin: Fleischel 1903, S. 38.
228 Teil II
Es sei dahingestellt, ob für Freud selbst das Rätsel seiner jüdischen Identität
mit der Theorie einer »ererbte[n] Tradition«102 gelöst war. Wäre dem so, dann
hätte Freud dieses Rätsel auf eine Weise gelöst, die Bubers Argumentation in
den Drei Reden überraschend ähnlich ist. Was den Textbefund angeht, so lässt
sich sagen, dass Buber und Freud, bei allen Unterschieden, von der Wirksam-
keit einer ererbten, »nicht durch Mitteilung fortgepflanzte[n]«103 Tradition
ausgehen, die zur »Bildung eines Volkscharakters«104 beitrage. Freud und
97 Ebd., S. 547.
98 Vgl. ebd.
99 Vgl. Richard J. Bernstein: Freud und das Vermächtnis des Moses. Übers. von Dirk
Westerkamp. Hamburg: Europ. Verl.-Anst. 2008 (Eva-Taschenbuch; 253), S. 96.
Bernstein kritisiert die Annahme eines starken Lamarckismus bei Freud. Dadurch
werde der Blick auf Freuds eigentliche theoretische Errungenschaft: das Konzept
einer kulturellen Überlieferung, die die Dynamik des Unbewussten berücksichtigt,
verstellt. Freud habe uns einen »angemessene[n] Begriff von Tradition« gelehrt,
der »auch die Lücken und Brüche in der Überlieferung der Tradition dar[]stell[t].
Wir haben anzuerkennen, daß das, was bei der Weitergabe übermittelt wurde, nicht
immer das bewußt und direkt Mitgeteilte ist. Wir können nicht einmal angemessen
begreifen, was direkt mitgeteilt wurde, solange wir nicht verstehen, wie sehr und
wie häufig es durch die Dynamik unbewußter Vorgänge beeinflußt und entstellt
worden ist« (ebd., S. 107).
100 Yerushalmi fingiert im letzten Kapitel seines Buches einen »Monolog mit Freud«.
101 Yosef Hayim Yerushalmi: Freuds Moses. Endliches und unendliches Judentum.
Übers. von Wolfgang Heuss. Frankfurt a. M.: Fischer-Taschenbuch-Verlag 1999
(Fischer; 12336), S. 137.
102 Freud, Der Mann Moses (wie Anm. 93), S. 547.
103 Ebd.
104 Ebd.
230 Teil II
Ketzer, schließlich die Chassidim. Das Erbe des Urjudentums sollen dabei die
folgenden drei Dispositionen darstellen: eine Tendenz zur Einheit, zur Tat112
und zur Zukunft. Statt von drei Tendenzen spricht Buber auch von drei Ideen,
beeilt sich aber, hinzuzufügen, dass mit Ideen »nicht abstrakte Begriffe, son-
dern natürliche Tendenzen des Volkscharakters« (DR 71) gemeint seien. Be-
reits in der ersten Rede, »Das Judentum und die Juden«, thematisiert Buber die
Einheit als nationale Einheit der Juden in der Diaspora, in einer Situation, in
der Umwelt und die von ihm hypostasierte Innenwelt auseinanderfallen. Es
gelte, »aus der Zwiespältigkeit zur Einheit zu kommen« (DR 25), indem man
eine Wahl treffe zwischen »Umwelt und Innenwelt, zwischen der Welt der
Eindrücke und der Substanz, zwischen Atmosphäre und Blut, zwischen dem
Gedächtnis seiner Lebensspanne und dem Gedächtnis von Jahrtausenden« (DR
26). Dabei könne es nicht darum gehen, sich von der umgebenden Kultur frei-
zumachen, »die ja von unseres Blutes innersten Kräften verarbeitet und uns
eingeeignet worden ist. Wir wollen und dürfen uns bewußt sein, daß wir in
einem prägnanteren Sinne als irgendein anderes Volk der Kultur eine Mi-
schung sind. Aber wir wollen nicht die Sklaven, sondern die Herren dieser
Mischung sein« (DR 26f.). Diese Sätze markieren den Abstand zwischen Bu-
bers Konzeption zu rassebiologischen Vorstellungen bzw. rassebiologischen
Reinheitsphantasien, auch wenn man Bubers Ansatz einen Lamarckismus nicht
absprechen kann.113
Buber beschließt die erste Rede mit einem Vergleich, dessen theologisch-
politische Logik von seiner Kenntnis der modernen Religionssoziologie zeugt:
[W]ie die Juden der Urväterzeit, um sich aus der Entzweiung ihrer Seele, aus der
›Sünde‹ zu befreien, sich ganz an den nichtentzweiten, den einen einheitlichen Gott
hingaben, so sollen wir, die wir in einer andern, besonderen Zweiheit stehen, uns
daraus befreien, nicht durch Hingabe an einen Gott, den wir nicht mehr wirklich zu
machen vermögen, sondern durch Hingabe an den Grund unseres Wesens, an die
Einheit der Substanz in uns, die so einig und einzig ist, wie der einige und einzige
Gott, den die Juden damals aus ihrer Sehnsucht nach Einheit hinaufgehoben haben
an den Himmel ihres Daseins und ihrer Zukunft (DR 30f.).
112 Die Tat definiert Buber als »lebendige[], mit Gott verbindende[] Tat« (DR 81), die
sich nicht inhaltlich, sondern durch die »Intention auf das Göttliche« (DR 87)
bestimme und sich gegen das »Zeremonialgesetz« (DR 80) auflehne. Die Idee der
Einheit und die Idee der Zukunft, die für Buber die Idee des Messianismus ist, wer-
den im Folgenden noch ausführlicher analysiert.
113 Alfred Rosenberg hat in den Nürnberger Prozessen versucht, sich unter Berufung
auf Passagen aus Bubers Drei Reden auf einen Zeitgeist hinaus- und vom Antise-
mitismus freizureden (vgl. Schäfer, Einleitung [wie Anm. 49], S. 37). In seinem
berüchtigten Mythus des 20. Jahrhunderts (1930) hatte Rosenberg Buber noch als
einen Exponenten des »jüdischen Mythus« behandelt, den er als »schmarotzerhaf-
ten Weltherrschafts-Traum« verunglimpfte (vgl. Alfred Rosenberg: Der Mythus
des 20. Jahrhunderts. Eine Wertung der seelisch-geistigen Gestaltenkämpfe unserer
Zeit. München: Hoheneichen-Verl. 1935, S. 459–466).
232 Teil II
Buber hat 1898 und 1900/1901 bei Georg Simmel in Berlin studiert.114 Nicht
nur dessen Unterscheidung zwischen Religiosität und Religion, sondern auch
dessen These, dass die göttliche Einheit die Sublimation und Idealisierung der
sozialen Einheit darstelle,115 macht sich Buber für seine Strategie der kulturel-
len Affirmation, der »Selbstbejahung des Juden« (DR 29), zu Nutze und inter-
pretiert sie auf seine Weise. Die Funktion, die früher die Religion erfüllt habe,
nämlich Repräsentation von Einheit zu sein, komme nun dem Volk zu. In
obigem Zitat verortet Buber, mit Lefort formuliert, die Bedeutung der Religion
in der wesentlichen Repräsentation des Einen, welche auf die politische Verei-
nigung übertragen wird.116 Wo die Religion mit der Sehnsucht nach substan-
tieller gesellschaftlicher Einheit im Bunde steht, sieht Lefort das Potential für
ein »totalitäre[s] Abenteuer«117 – das der Erste Weltkrieg eine Zeit lang in der
Tat für Buber werden sollte, als er deutschnationale und jüdische Einheit kom-
plementär denkt.118
Als allgemeine psychologische Problematik thematisiert Buber das Streben
nach Einheit in der zweiten seiner Reden über das Judentum, »Das Judentum
und die Menschheit«. Buber erklärt es hier zu einer »Grundtatsache der psy-
chischen Dynamik, daß die Vielfältigkeit seiner Seele dem Menschen immer
wieder als Zweiheit erscheint« (DR 40), die eine Wahl erforderlich mache.
Diese Grundform betreffe jeden Einzelnen und damit die Menschheit schlecht-
hin, soll es doch um das »Mysterium der Urzweiheit […] [als] Wurzel und
114 Vgl. zu Bubers Studienjahren Treml, Einleitung (wie Anm. 53), S. 29–35.
115 Vgl. Georg Simmel: Die Religion. Frankfurt a. M.: Rütten & Loening 1906 (Die
Gesellschaft; 2), S. 52f. (in Bubers Reihe Die Gesellschaft erschienen; in der über-
arbeiteten Fassung von 1912 erweist Simmel Buber seine Reverenz, indem er eine
chassidische Geschichte einfügt), sowie ders.: Die Soziologie der Religion. In:
Neue deutsche Rundschau 9 (September 1898), S. 111–123, besonders S. 114,
S. 118. Paul Mendes-Flohr ist dem Zusammenhang von Bubers und Simmels Tex-
ten eingehender gefolgt. Er vertritt freilich die These, dass Buber die Tendenz ha-
be, soziologische Termini ihres spezifischen Inhalts zu berauben, um sie in den Be-
reich der metaphysisch fundierten Persönlichkeit zu transferieren (vgl. Mendes-
Flohr, Von der Mystik zum Dialog [wie Anm. 84], S. 83–87).
116 Vgl. Claude Lefort: Fortdauer des Theologisch-Politischen? Übers. von Hans
Scheulen. Wien: Passagen-Verlag 1999, S. 56.
117 Ebd., S. 62.
118 Vgl. Martin Buber: Die Tempelweihe. In: Ders.: Die Jüdische Bewegung. Bd 1.
Berlin: Jüdischer Verlag 1916, S. 230–243, hier: S. 241: »Jetzt aber hat der Jude in
dem katastrophalen Vorgang, den er in den Völkern miterlebte, bestürzend und er-
leuchtend das große Leben der Gemeinschaft entdeckt. Und es hat ihn erfaßt. Er
blieb nicht Atom; er wurde mitgerissen; er schloß sich glühend der Gemeinschaft
an, die ihm so ihr Leben offenbarte, – der Gemeinschaft, die ihn in diesem Augen-
blick am stärksten brauchte. Wird ihn das der Gemeinschaft, die ihn in der Ewig-
keit braucht, der tiefen Gemeinschaft seines Blutes und seiner Art, entfremden?
Ich glaube, daß es ihn ihr wiederbringen wird. Gemeinschaftsgefühl ist in ihm er-
glommen, er fühlte in sich etwas entbrennen, wovor aller Nutzzweck zusammen-
fiel, er erlebte den Zusammenhang.«
2 Messianische Figuren bei Martin Buber 233
Sinn allen Geistes« (DR 41) gehen. In keinem Menschen sei die Grundform
jedoch so stark wie »im Juden« (DR 41).119 Nirgends, so Buber weiter, habe
die Grundform der Zweiheit aber »etwas so Ungeheures, so Paradoxes, Heroi-
sches, so Wunderbares geschaffen wie dieses Wunderbare: das Streben des
Juden nach Einheit« (DR 41). Aus der Entzweiung der Welt habe der Jude das
»messianische Ideal [geschaffen], das eine spätere Zeit, auch wieder unter
führender Mitwirkung von Juden, verendlicht und Sozialismus genannt hat«
(DR 47).
Bereits im Zusammenhang mit Bubers Erlebnis-Mystik hatten wir gesehen,
wie Buber verschiedene Einheiten ineinanderblendet (vgl. Kap. I.3.2). Auch in
den Drei Reden lässt Buber unterschiedliche Einheiten sich ineinander spie-
geln: die Einheit des Selbst, die Einheit der Nation, die Einheit der Mensch-
heit. In der ersten Rede repräsentieren sich der Einzelne und das Volk wech-
selseitig in der rhetorischen Figur des pars pro toto. Das Volk wird als ein
»Stück[] von mir« (DR 29) figuriert und als »Volk in mir« (DR 29) apostro-
phiert, und umgekehrt wird der Einzelne als ein »Glied« in der »Kette« der
»Gemeinschaft von Toten, Lebenden und Ungeborenen« vorgestellt (vgl. DR
20). Dieses Verhältnis spiegelt sich in der sprachlichen Performanz des Vor-
trags wider, insofern Buber teils in der Form des »wir« oder »wir Juden«
spricht, teils vom Einzelnen in der Form von »er« oder »der Jude« und zwi-
schen diesen Formen übergangslos gleitet. In der zweiten Rede lässt Buber
»den Juden« die »innere Dualität« (DR 42–44) par excellence personifizieren,
die er zu einer allgemein menschlichen psychischen Realität erklärt. In der
dritten Rede schließlich repräsentiert (oder aber verfehlt) ein endliches, relati-
ves Judentum ein unendliches, absolutes Judentum, das Buber mit dem »Ju-
dentum als geistige[m] Prozess« (DR 70) zusammenfallen lässt und durch die
bereits erwähnten drei unterstellten »natürlichen Tendenzen des Volkscharak-
ters« (DR 71) (die Idee der Einheit, der Tat, der Zukunft) charakterisiert. Das
Judentum als »geistiger Prozess« partizipiere wiederum am »wandernden und
suchenden Menschengeist[]« (DR 72).120
Mit Hilfe dieses Systems von Repräsentationen nimmt Buber immer von
neuem Anlauf, substantielle Einheiten zu konstruieren. Buber bemüht sich
nun, nicht nur über Einheit zu reden, sondern sie unmittelbar zu evozieren.121
119 Dieses allgemeine Reden über den Juden zieht sich durch alle drei Reden, worin
sich sprachlich Bubers Versuch einer phänomenologischen Volkspsychologie nie-
derschlägt.
120 Vgl. DR 72: »Jedes Volk von starken spezifischen Gaben hat solche ihm eigen-
tümlichen Tendenzen […], so daß es gleichsam zweimal lebt, das eine Mal flüchtig
und relativ in der Folge der Erdengeschlechter, der kommenden und schwindenden
Geschlechter, das zweite Mal – gleichzeitig – bleibend und absolut in der Welt des
wandernden und suchenden Menschengeistes. […] Das relative Leben bleibt der
Besitz des Volksbewußtseins, das absolute geht unmittelbar oder mittelbar in das
Bewußtsein der Menschheit ein«.
121 Vgl. zu Bubers Rhetorik der Evokation unmittelbarer »Erlebnisse« auch Kap. I.3.2.
234 Teil II
Die virtuose Schlusssequenz des ersten Vortrags ist dafür ein hervorragendes
Beispiel. Handelt Buber in der Rede von der transgenerationalen Gemein-
schaft, so identifiziert er im letzten Absatz in einer geschickten Rhetorik seine
Zuhörer und sich selbst mit Personen aus dem Talmud:
Als ich ein Kind war, las ich eine alte jüdische Sage, die ich nicht verstehen konnte.
Sie erzählte nichts weiter als dies: ›Vor den Toren Roms sitzt ein aussätziger Bettler
und wartet. Es ist der Messias.‹ Damals kam ich zu einem alten Mann und fragte ihn:
›Worauf wartet er?‹ Und der alte Mann antwortete mir etwas, was ich damals nicht
verstand und erst viel später verstehen gelernt habe; er sagte: ›Auf dich.‹ (DR 31)
Die Geschichte aus dem Talmud,122 die Buber zitiert, umfasst in Wirklichkeit
nicht nur die zwei Sätze, sondern auch noch den Fortgang, den Buber als per-
sönliches Kindheitserlebnis ausgibt. Tritt das Kind Buber in die talmudische
Geschichte ein und übernimmt die Position des Rabbi Josua Ben Levi, der im
Talmud den »alten Mann« – das ist in der talmudischen Geschichte kein ande-
rer als der Prophet Elias – fragt, wann der Messias kommt, so ist Buber zum
Zeitpunkt seiner Rede im Vergleich zu seinen Zuhörern selbst bereits ein – im
Verhältnis – älterer Mann von 33 Jahren. Mit der Antwort »Auf dich«,123 mit
der Buber die erste Rede schließt und unmittelbar seine Zuhörer in der aktuel-
len Vortragssituation adressiert, schlüpft der ältere Mann Buber in die Rolle
des Propheten Elias, der darüber hinaus noch der Tradition nach als Vorläufer
des Messias gilt und die Menschen versöhnen soll, bevor der Messias
kommt.124 Der Messianismus ist in Bubers Reden mehr als nur ein Verspre-
chen auf eine »absolute Zukunft«, tritt Buber doch als Prophet eines zur messi-
anischen Gemeinde stilisierten Publikums auf.
Vor allem über den Messianismus verhandelt Buber auch das Verhältnis
von Universalität und Partikularität in der kulturellen Selbstaffirmation des
122 Vgl. Der Babylonische Talmud. Übers. von Lazarus Goldschmidt. Bd 9. Berlin:
Jüdischer Verlag 1934, S. 71 (Sanhedrin 98a). Vgl. hierzu auch Emmanuel Levi-
nas: Messianische Texte. In: Ders.: Schwierige Freiheit. Versuch über das Juden-
tum. Übers. von Eva Moldenhauer. Frankfurt a. M.: Jüdischer Verlag 1992, S. 58–
103, hier: S. 74.
123 Buber variiert hier die talmudische Geschichte, in der der Prophet Elias in Anspie-
lung auf Ps 95,7 sagt, dass der Messias noch am gleichen Tag käme, »wenn ihr
h e u t e auf seine Stimme hören werdet«. Auch Bubers Schwiegersohn Ludwig
Strauß hat die bekannte talmudische Geschichte in seinem Fragment gebliebenen
Versepos Messianische Wanderschaft poetisch modifiziert und ihr wie Buber eine
dezidiert innerweltliche Pointe gegeben (vgl. hierzu Hans Otto Horch: »Inseln der
messianischen im Meer der unerlösten Zeit«. Messianische Spuren bei Ludwig
Strauß. In: Jens Mattern, Gabriel Motzkin und Shimon Sandbank [Hg.]: Jüdisches
Denken in einer Welt ohne Gott. Festschrift für Stéphane Mosès. Berlin: Vor-
werk 8 2001, S. 205–223, besonders S. 218).
124 Vgl. Mal 3,23f.: »Siehe, ich sende euch Elijah, den Propheten, bevor eintrifft der
Tag des Ewigen, der große und furchtbare. Und er wird zurückführen das Herz der
Väter zu den Kindern, und das Herz der Kinder zu ihren Vätern, dass ich nicht
komme und schlage die Erde mit Bann.«
2 Messianische Figuren bei Martin Buber 235
sich gegen den Vorwurf Cohens, der Zionismus gebe den universalen An-
spruch des jüdischen Messianismus auf. Sieht Cohen in der Zerstreuung der
Juden eine Vorbereitung der messianischen Menschheit, so hält Buber dage-
gen:
In der m e s s i a n i s c h e n Menschheit mag das Judentum dereinst aufgehen, mit ihr
verschmelzen; nicht aber vermögen wir einzusehen, daß das jüdische Volk in der
h e u t i g e n Menschheit untergehen müsse, damit die messianische erstehe: vielmehr
muss es eben darum mitten in ihr […] verharren […] als ein sein Ideal um dieser
Menschheit willen und ihr gegenüber frei und ungehindert verwirklichendes Volks-
tum.129
In der Diaspora soll die Berufung auf den Messianismus also dazu dienen, das
Nationalgefühl der Juden zu stärken und sie zur Sammlung in Palästina zu
animieren. In Palästina dagegen soll das messianische Bewusstsein die Gren-
zen dieser Nation, die es wesentlich mit begründet hat, transzendieren: »Das
Streben nach der ›Heimstätte‹ ist ein nationales; ihr eigenes Streben, das Stre-
ben des jüdischen Gemeinwesens in Palästina wird ein übernationales sein
müssen.«130 In seiner dialogischen Phase wird Buber dieses messianische
übernationale Streben als ein dialogisches erkennen. So kann sich Buber später
gerade auf den jüdischen Messianismus beziehen, um für eine binationale
politische Lösung in Palästina zu plädieren. Buber wird schließlich in den
1920er Jahren konzeptuell an eine historische Form des jüdischen Messianis-
mus anschließen, die das messianische Paradox, eine Nation zu begründen wie
zu transzendieren, figuriert: Im Rückgriff auf den biblischen Deuterojesaja, der
vor dem Hintergrund der Rückkehr aus dem Babylonischen Exil geschrieben
hat, erscheint die Nation als Rest, weder Teil noch alles, ein Nicht-Alles,
Nicht-Ganzes, dem wir im Folgenden nachzugehen haben.
129 Martin Buber: Völker, Staaten und Zion. Ein Brief an Hermann Cohen und Be-
merkungen zu seiner Antwort. Berlin, Wien: Löwit 1917, S. 18 (im Original ge-
sperrt).
130 Ebd., S. 19.
131 Gustav Landauer: Zum Thema »Gott« und zum Thema »Revolution«… MS,
JNUL, Gustav-Landauer-Archiv, Arc. Ms. Var. 432/157, S. 3. Die Sätze gehören
zu handschriftlichen, undatierten Notizen Landauers zu Buber und dem ersten
Weltkrieg.
2 Messianische Figuren bei Martin Buber 237
In diesem Brief geht Landauer mit dem »Kriegsbuber«133 hart ins Gericht, was
offenbar zu der Änderung von Bubers Ansicht über den Krieg ab 1916 geführt
hat. Bubers Kriegsbegeisterung hat nicht nur etwas mit der »dunkle[n] Sei-
te«134 des Messianismus zu tun, mit der »katastrophalen und destruktiven
Natur der Erlösung«,135 die, nach apokalyptischer Vorstellung, die Vernich-
tung des alten Äons voraussetzt. Indem Landauer Bubers Gemeinschaftshypo-
stase ästhetisch und formalistisch nennt, legt er seinen Finger auf das für sie
beide zentrale Konzept – die Gemeinschaft –, das für Bubers messianisches
Denken ein ständiger Bezugspunkt ist und bleibt. Die Analogie zu einem äs-
thetischen Werk – Statue, Denkmal, Monument –, in der der frühe Buber die
Gemeinschaft mit Vorliebe gedacht hat, wird man in den späteren Schriften
nach dem Ersten Weltkrieg so nicht mehr finden. Der Erste Weltkrieg mag
Buber vor Augen geführt haben, dass eine »Gemeinschaft der menschlichen
Immanenz«,136 in der der Mensch seinen eigenen Werken gleich geworden ist,
eine Todesgemeinschaft darstellt, um noch einmal Jean-Luc Nancys philoso-
phische Analyse der Gemeinschaft zu bemühen. Denn die Immanenz als »ein-
heitsstiftende Verschmelzung […] birgt keine andere Logik in sich als die des
Selbstmordes der Gemeinschaft«,137 des gemeinsamen Todes, gelte es doch,
noch den Tod in die Immanenz einzuholen. Im Durchgang durch die messiani-
sche Tradition des Judentums findet Buber nach dem Ersten Weltkrieg schließ-
lich eine Figur, die sich geradezu als das Gegenteil seiner früheren Konzeptio-
nen ausnimmt – die Gemeinschaft nicht als Werk, sondern als »heiliger Rest«
(JCM VII 8, 10). Auch diese Figur ist nicht unproblematisch und lässt unter-
schiedliche Lesarten zu. Dass Buber in seinen späteren Texten versucht, die
132 Gustav Landauer an Martin Buber, 12.05.1916. In: Martin Buber: Briefwechsel aus
sieben Jahrzehnten. Hg. von Grete Schaeder. Bd 1. Heidelberg: Schneider 1972,
S. 436f.
133 Ebd., S. 433.
134 Treml, Einleitung (wie Anm. 53), S. 75.
135 Gershom Scholem: Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum. In:
Ders.: Über einige Grundbegriffe des Judentums. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1970
(Edition Suhrkamp; 414), S. 121–167, hier: S. 130.
136 Ebd., S. 33–34.
137 Ebd., S. 32.
238 Teil II
»Zuerst ist der Messianismus der Glaube an Gott als den König der Welt«
(JCMZ 26; vgl. auch JCM VIII 4). Das Königtum Gottes verweise auf kein
Jenseits, sondern bilde eine »Urvorstellung, ein Ur- und Grundwollendes des
ganzen Volkslebens« (JCM III 3). Es sei »so ernsthaft, so politisch real« zu
verstehen, »wie nur irgend ein Volk es meinen kann, wenn es von einem Kö-
nig spricht und von einem Königtum und von einem Königreich« (ebd.). Die
Königsproklamation nach dem Durchgang durchs Schilfmeer (»König bleibt er
in Weltzeit und Ewigkeit« (Ex 15,18, übersetzt nach Buber: JCM III 3) und
Gottes Annahme des Volkes als eines »Königsbereichs von Priestern« stellen
für Buber die zwei Seiten des »theopolitischen Akt[es]« (JCMZ 8; JCM IV 1)
dar, als den er den Bund zwischen Gott und Volk interpretiert:
Andere semitische, nomadische Stämme hatten den Glauben: es gibt den Gott, der
uns aus diesem Land in ein anderes führt. Dieser Gott wird vorgestellt als der göttli-
che Führer der Landnahme und mit dem Grundwort malk oder milk genannt, hebrä-
isch melek. […] Auch Israel hat die Vorstellung des Führergottes, des Gottkönigs,
des melek. Aber hier geschieht etwas besonderes: Israel versucht damit Ernst zu ma-
chen, dass es von Gott geführt wird. Es proklamiert mit beispiellosem Ernst und
stärkster Unmittelbarkeit Gott selber zum unmittelbaren König: ›König bleibt ER in
Weltzeit und Ewigkeit!‹140 Dazu V.Mos.33, wo es um denselben Vorgang der Kö-
nigsproklamation, aber in Form eines Rückblicks geht: ›So ward in Jeschurun ein
König, da sich scharten die Häupter des Volks, in eins Israels Stäbe.‹ D. h. damals
wuchsen die Stämme zu einem Volk zusammen und dies ist geschichtlich identisch
mit der Proklamation Gottes zum König. Das findet vollgültigen Ausdruck im Bund
zwischen Gott und König, der ein echter Königsbund ist (JCMZ 6).
Das Königtum Gottes beruht auf der Vorstellung, dass »Herrschaft […] nicht
das Amt des Menschen« (JCMZ 10) sei und dass »es auf eine menschliche
Gemeinschaft ohne jedes andere Recht als das göttliche, ohne jede andere
Herrschaft als nur die göttliche ankomme« (JCMZ 22). Die Unmittelbarkeit
der Herrschaft Gottes widerstrebt der Repräsentation durch einen oder mehrere
Menschen. Das israelitische Königtum Gottes fasst Buber als unmittelbaren
Gegenentwurf zur ägyptischen repräsentativen Herrschaftsordnung des Phara-
onentums auf. Aber auch von einer hierokratischen Verfassung, einer Priester-
herrschaft, unterscheidet Buber die ursprüngliche Theokratie in Israel.141 Der
ausschließlichen und unvermittelten Herrschaft Gottes entspricht die Figurati-
on des Volkes als eines »Königsbereichs von Priestern«, wie Buber Exodus
19,5–6, die erste Rede Gottes vom Sinai, übersetzt.142 Der Königsbereich ver-
weise, so Buber, auf den nächsten Umkreis, der den König umgibt; und die
Auch der erste moderne Theoretiker der Theokratie, wie man Baruch de Spi-
noza – im Unterschied zu Buber ein kühler Denker more geomatrico, weswe-
gen sie bisher kaum verglichen wurden – nennen kann, hat hervorgehoben,
dass in der ersten Form der Theokratie in Israel keine Repräsentation der gött-
lichen Macht in irdischen Machtträgern vorgelegen habe. In dem 17. Kapitel
seines Theologisch-politischen Traktates, »Der Staat der Hebräer«, vergleicht
Spinoza diese erste Theokratie sogar mit der Demokratie:
Da die Hebräer ihr Recht143 auf keinen anderen übertrugen, sondern gerade wie in
der Demokratie alle gleichmäßig darauf verzichteten und wie aus einem Mund rie-
fen: ›Was Gott spricht (ohne einen Vermittler dabei zu bezeichnen), das wollen wir
tun‹, so ergibt sich daraus, dass alle auch nach diesem Vertrag völlig gleich blieben
und alle das gleiche Recht besaßen, Gott zu befragen, Gesetze anzunehmen und aus-
zulegen, dass überhaupt alle in gleicher Weise an der Regierungsverwaltung teil-
nahmen. Aus diesem Grunde traten beim ersten Male alle zugleich vor Gott, um zu
hören, was er befehlen wollte.144
Als die Israeliten Gott sprechen hörten, gerieten sie jedoch in Todesangst,
weswegen sie Moses baten, an ihrer Stelle mit Gott zu sprechen und als Über-
träger der Botschaft Gottes zu fungieren (vgl. Dtn 5,23–33). »Damit haben sie
offenbar den ersten Vertrag aufgehoben und ihr Recht, Gott zu befragen und
seine Erlasse auszulegen, auf Moses übertragen.«145 Die oberste Befehlsgewalt
lag nach Moses bei Josua, den Moses auf Gottes Geheiß zu seinem Nachfolger
ernannte, der aber nicht wie er die ganze Staatsverwaltung innehatte. Denn das
143 Im Kontext von Spinozas Philosophie bedeutet dieses Recht das natürliche Recht
zu allem, was einer vermag (vgl. Baruch de Spinoza: Theologisch-politischer Trak-
tat. Hg. von Günter Gawlick. Übers. von Carl Gebhardt. 3. Aufl., Hamburg: Mei-
ner 1994 [Philosophische Bibliothek; 93], S. 253).
144 Ebd., S. 255.
145 Ebd.
2 Messianische Figuren bei Martin Buber 241
Recht zur Gesetzesauslegung wurde auf Moses’ Bruder Aaron als Oberstem
der Leviten übertragen, dessen Söhne wiederum zu seinen Nachfolgern be-
stimmt wurden. Gleichzeitig waren die Leviten jedoch von allen Regierungs-
geschäften ausgeschlossen (wechselseitige Machtbeschränkung). Nach Josua
blieb die Stelle der obersten Befehlsgewalt vakant; es existierte hierfür kein
dauerhaftes, institutionelles Amt. Oberste Befehlshaber gab es nur in Notzei-
ten, die so genannten »Richter«. Sie wurden von Gott unmittelbar erwählt.
Schließlich brachen »die Israeliten das göttliche Recht völlig […] und [woll-
ten] einen sterblichen König«.146
Die Geschichte der Theokratie im alten Israel gibt Spinoza zu lesen als Ge-
schichte der Aufhebung eines ersten Vertrags, der einen Vergleich der The-
okratie mit der Demokratie erlaubt. Sobald Repräsentanten Gottes eingesetzt
wurden – zuerst Moses, dann, wenngleich mit auf die Auslegung der Gesetze
beschränkter Macht, die Leviten und schließlich der König –, wurde dieser
erste Vertrag aufgehoben. Die Theokratie im alten Israel birgt nach Spinoza
den Widerspruch, dass einerseits allein Gott als Herrscher und alle Menschen
als gleich gelten im Hinblick auf das Recht, auf öffentliche Pflichten, patrioti-
sche Aufgaben und Eigentumsrechte. Andererseits bleibt der Platz Gottes nicht
leer, sondern verschiedene Personen oder soziale Gruppen verstehen sich als
Repräsentanten Gottes (Priester, König) und behaupten ihre Legitimität durch
ihren Bezug auf ihn.
Im Lichte des Vergleichs mit der Demokratie erscheint die Theokratie bei
Spinoza als imaginäre Methode der Errichtung einer Demokratie, wie man mit
Étienne Balibar sagen kann: »[C]ette modalité imaginaire d’institution de la
démocratie – seule forme sous laquelle elle peut commencer d’exister? – sup-
pose précisément une figuration, un déplacement de la souverainité collective
sure une ›autre‹ scène: la place de Dieu […] doit y être matérialisée et vacante
pour une autorité qui métamorphose les règles de la vie sociales en obligations
sacrées.«147 In der Tat schreibt Spinoza selbst, dass die Theokratie mehr auf
Meinung als Wirklichkeit beruht habe,148 wobei man sich unter Meinung eine
konstitutive, handlungsrelevante Fiktion denken muss. Denn insofern dieser
Fiktion zufolge die Menschen ihr natürliches Recht nicht auf einen anderen
Menschen, sondern allein auf Gott übertragen, evoziert sie die Vorstellung
eines Gemeinwesens, das frei von menschlicher Herrschaft ist, in dem es aber
auch keinen Unterschied zwischen bürgerlichem Recht und Religion gibt:
»[W]er von der Religion abfiel, hörte auf, ein Bürger zu sein, und wurde allein
deshalb als Feind angesehen«.149 Die Feinde des Staates mussten der theokrati-
schen Fiktion gemäß als Feinde Gottes erscheinen.
154 Martin Buber: Staat und Gemeinschaft. Februar 1924, TS, JNUL MBA Arc. Ms.
Var. 47e/Beth, S. 9.
155 Ebd., S. 18.
156 Ebd., S. 14.
244 Teil II
dar: »Gott beruft einen, den SEIN Geist ergreift und den er an die Spitze des
Volkes stellt« (JCMZ 9).157 In der vorköniglichen Zeit gibt es eine oberste
Befehlsgewalt nur so lange wie der göttliche Auftrag dauert; so benennt Josua,
unter dem die Kriege der Landnahme geführt wurden, keinen Nachfolger. Das
Volk fällt in der Zeit der Interregna jedoch immer wieder von Gott als seinem
König ab; und »indem es von ihm, nämlich von dem, der sie eint, von dem, um
den sich einst die Stämme scharten in eins, Israels Stämme, indem das Volk
von ihm abfällt, fällt es von seiner Einheit ab« (JCM III 10). Die Theokratie
als eine Form (durch göttliche Satzung und Bund) regulierter Anarchie fällt in
die offene Anarchie. Das biblische Buch »Richter« erzählt, wie dieses ab- und
zerfallende Volk nun Mal um Mal Beute der Nachbarvölker wird. In dieser
Situation kehrt das Volk um. Hierauf »beruft Gott je und je einen Menschen,
den er mit seinem Geist, mit Mut, mit Kraft begabt, den sein Geist ergreift und
nun an die Spitze des Volkes stellt und gegen den Feind ausschickt in den
Sieg, in die Befreiung. Dieser Mensch heißt Schofet, Rechtschaffer« (JCM III
11). Der Rhythmus von Abfall und Umkehr bestimme das Buch »Richter«, das
»die Geschichte […] des versagenden Volkes« (JCMZ 11) enthalte.
In der 1932 erschienenen Monographie »Königtum Gottes«, die als erster
Teil von »Das Kommende. Untersuchungen zur Entstehungsgeschichte des
messianischen Glaubens« angekündigt ist, geht Buber in seiner Analyse nicht
über die »Epoche der unmittelbaren Theokratie« hinaus, »die erst in Jerusalem
von der eines die Gottessalbung tragenden, aber zugleich dynastisch verbürg-
ten Königtums abgelöst wird«.158 Nur noch fragmentarisch ist der zweite
Band, »Der Gesalbte«, erschienen. Demgegenüber verfolgt die unveröffent-
lichte Vorlesung über »Jüdischen und christlichen Messianismus« weiter, wie
die »messianische Konzeption« (JCMZ 28) sich im Exil wandelt (Deuterojesa-
ja), wie später die Apokalyptik in den Messianismus eindringt, worin der
christliche Messianismus an den jüdischen anschließt und worin er abweicht.
Als »starker Kern« des jüdischen Messianismus unter den »wandelbaren Vor-
stellungen«, die »sich je und ja daran knüpften«, gilt Buber der Glaube an das
»menschliche auf-Gott-zu-treten dürfen und ihm helfen dürfen« (JCM VIII
14).159 Insofern der jüdische Messianismus auf dem Glauben an »den Anteil
157 Die charismatische Herrschaft der Richter versteht Buber nun mit Max Weber als
Herrschaft von Menschen, die kraft einer eigentümlichen göttlichen »Gabe« (vgl.
griechisch charizomai: schenken) »führerisch wirken« (Buber, Königtum Gottes
[wie Anm. 139], S. 144). Das Charisma begabt zu einem begrenzten göttlichen
Auftrag, nicht zur dauernden Macht (vgl. ebd., S. 179). »[D]as Charisma hängt hier
an der Charis und an nichts anderem; es gibt kein ruhendes Charisma, nur ein
schwebendes, keinen Geistesbesitz, nur ein ›Geisten‹, ein Kommen und Gehen der
Ruach; keine Machtsicherheit, nur die Ströme einer Vollmacht, die sich schenkt
und sich entzieht« (ebd., S. 145).
158 Ebd., S. 153.
159 Vgl. auch Martin Buber: Das messianische Mysterium. In: Daat Nr 5 (1980),
S. 119–133, hier: S. 124: »Das zentrale jüdische Theologumenon, umformuliert,
2 Messianische Figuren bei Martin Buber 245
des Menschen an der Erlösung der Welt« (JCMZ 24) beruhe, kenne er eine
»menschliche[] Messianität« (JCMZ 23). Der jüdische Messianismus verdeut-
licht für Buber, dass sich Politik und Religion im Judentum nicht strikt vonein-
ander unterscheiden lassen im Sinne einer öffentlichen und einer privaten,
innerlichen Sphäre. Wenn Buber am Ende der Vorlesung meint, dass »unserer
Zeit […] eine Erneuerung des messianischen Glaubens« (JCM VIII 14) Not
tue, so kann dies dementsprechend nicht allein eine innerliche, spirituelle Er-
neuerung betreffen, sondern hat politische Implikationen. »Keine messianische
Politik, aber messianismusbestimmtes politisches Schauen und Handeln«,160
notiert Buber auf einem Blatt, das innerhalb eines Dossiers mit handschriftli-
chen Skizzen und Bemerkungen zum »Messianismus« überliefert ist, »keine
relig. Sanktion d. politischen Ziele (Identifizierung), aber auch keine religiöse
Indifferenz dieser Ziele«.161 Mit dieser Art der Beziehung zwischen Politik
und Religion ist weder die unmittelbare Einheit von Religion und Politik ge-
meint, wie Buber sie im Hinblick auf die unmittelbare Theokratie bis zur Rich-
terzeit untersucht, noch ein repräsentatives Verhältnis, das die Zeit des bibli-
schen Königtums charakterisiert. Beide sind letztlich Formen von Gewalt- und
Machtpolitik.
Denn die unmittelbare Theokratie ist die Zeit des »›heiligen‹ Krieges«, der
»von seinen Kämpfern als ein von JHWH befohlener und befehligter verstan-
den worden ist«.162 Es sind die Richter, die »charismatischen Volksführer«,163
die das Volk, das von Gott ab- und in sich zerfallen war, nach seiner Umkehr
gegen den Feind im »JHWH-Krieg« anführen, der »seinem Wesen nach der
gemeinsame Krieg und der Krieg der Gemeinsamkeit gewesen [ist]«.164 Nur
während der charismatischen Herrschaft der Richter – und das heißt, nur so
lange jeweils der JHWH-Krieg andauert – bleibe das »Paradox der Theokra-
tie«165 verhüllt.166
Anders als Spinoza sieht Buber eine Form repräsentativer politischer Theo-
logie erst mit der Königsherrschaft beginnen. Denn von Moses bis zu den
Wesen. In den ersten drei Evangelien findet Buber nun durchaus noch »altjü-
disch gefärbten« (JCM VIII 3) Messianismus. Die drei synoptischen Evange-
lien würden zeigen, dass Jesus sich in der Tradition des leidenden Gottes-
knechts (Deuterojesaja) verstanden habe, das heißt als Mensch, der in seinem
Leiden Gott entgegenkomme. Zu der Vorstellung des Gottesknechtes gehöre
aber die »Verborgenheit dieser leidenden Menschen, die die messianische
Funktion durch die Geschichte tragen bis in die Erfüllung hinein« (JCMZ 30).
Aus der Verborgenheit sei Jesus aber im Vorgang bei Caesarea-Philippi (vgl.
Matth. 16,13ff.) hervorgetreten. Die Erfüllung muss nun als bereits gekommen
gelten – auch wenn sie sich erst mit Jesu Wiederkunft sichtbar durchsetzen
sollen würde. »In diesem Augenblick verbinden sich die beiden Vorstellungen:
hier der Knecht Gottes, der leidende, entgegenkommende Mensch, dort […]
der nach seinem Tode wiederkehrende Gottesgesandte, verklärt auf den Wol-
ken des Himmels (Matth. 16,27 und 24,30). Hier der altjüdische messianische
Glaube, dort die Apokalypse« (JCMZ 31).
Beide Vorstellungen gehören für Buber zum Judenchristentum, setzen sie
doch einerseits den klassischen, andererseits den apokalyptischen jüdischen
Messianismus fort. Das hellenistische Christentum bildet die dritte Schicht des
Christentums als Heidenchristentum. Dieses habe unter griechischem Einfluss
die Eschatologie, »die lebensmäßige, tiefe Befassung mit der absoluten Zu-
kunft der Welt überhaupt zurück[ge]wies[en]« (JCM VIII 3) und sich mit der
unerfüllten Geschichte gleichsam abgefunden. Die »dogmatische Resignation«
(JCM VIII 13), die Buber dem »klassische[n] Christentum« (ebd.) zuschreibt,
das er, wie gezeigt, vom Leben Jesu unterscheidet, sieht Buber begünstigt
durch die »Wandlung der Konzeption des Gott helfenden, Gott unterstützen-
den Menschen zur Konzeption eines von Gott gleichsam gesandten göttlichen
Wesens. […] Und wie der Mensch als Träger der Erlösung hier aufgegeben
wird, als Träger dieser Handlung, so die Welt als Gegenstand dieser Hand-
lung« (ebd.). Anstelle des »Weltkönigtums Gottes, eines Königtums, das sich
erfüllen soll in der Welt und an der Welt« (ebd.), trete das Reich, das im Jen-
seits sei und sich in der Seele verwirkliche.
Buber betont in seiner Gegenüberstellung von klassischem jüdischem und
klassischem christlichem Messianismus immer wieder, dass in ersterem das
menschliche Handeln Agent der Erlösung sei. Die messianische Konzeption,
an die Buber nach dem Ersten Weltkrieg unmittelbar anschließt, die er als
Folie benutzt, um politische Phänomene seiner Gegenwart zu interpretieren,
sieht nun allerdings auf den ersten Blick geradezu quietistisch aus: Es ist die
deuterojesanische, in deren Zentrum kein charismatischer Führer und kein
König, sondern der leidende Gottesknecht, der Ewed JHWH, steht. Im Baby-
lonischen Exil habe sich das messianische Bild des »zentralen Menschen, der
Gott entgegenkommt« (JCMZ 21), und des Volks gewandelt:
Diese kleine Schar in Babylonien, die wirklich litt, was zu leiden war, wird von den
Propheten erkannt als dieser verheissene Rest [den der erste Jesaja mehr als 150 Jah-
248 Teil II
re zuvor angesagt hatte; Anm. E. D.]. […] Und nun […] erkennen die Propheten das
eigentümliche Amt dieses kleinen Restes, des heiligen Restes, am Kommenden, an
den kommenden Dingen. Es kann kein herrscherliches Amt mehr sein. […] Nicht
umsonst wird in der grossen Botschaft, die das Ende des Exils ankündigt, nicht mehr
einer aus Israel, sondern der Völkerherr Cyrus, der den Rest Israels in die Heimat
zurückbringt, als Gesalbter gezeigt. Die Herrschaft ist also jetzt nicht mehr das Amt
Israels. […] Also ist es nicht mehr der gesalbte König, auf den erwartend geschaut
wird. Aber der Messias, der Gesalbte ist doch, wenn er auch nicht mehr so genannt
wird, […] auch jetzt noch in der Mitte der prophetischen Schau als der der Tat Got-
tes entgegenkommende, auf sie zuwirkende Mensch, der zentrale Mensch. […]
[D]er Rest hat die messianische Essenz, die in ihm selbst ruht, erkannt, und zwar in
seinem Leid (JCM VII 8f.).
Was ist nun von diesem messianischen Leiden des Gottesknechtes – der von
Geschlecht zu Geschlecht wiederkehrenden einzelnen zentralen Menschen,
»die in der Verborgenheit die messianische Funktion bis zur Erfüllung tra-
gen« – und dem Leiden des »heiligen Restes« zu halten? Jacob Taubes sieht
hierin nichts anderes als eine weitere Ausprägung der bereits von Hegel in
Verruf gebrachten passiven »schönen Seele«. Beschrieben sei ein Geist, der
darauf bedacht sei, sich selbst in ›ursprünglicher‹ Reinheit zu bewahren und
sich aus Furcht, den Glanz seines inneren Daseins durch Handeln zu befle-
cken, zu selbstgewollter Ohnmacht verdamme. Geschuldet sei die (Apotheo-
se der) Ohnmacht der Feindschaft Bubers gegenüber jeder Form der Instituti-
onalisierung.170
Die Vorträge, die Buber in den 1920er Jahren zu dem Thema Politik und
Religion hält, dokumentieren jedoch, dass Bubers Bezugnahme auf den Got-
tesknecht und den »heiligen Rest« nicht nur im Sinne einer Leidensmetaphysik
interpretierbar ist. Religion, so definiert Buber in dem Vortrag »Religion und
Politik« (um 1929), sei die »faktische Verbundenheit mit einem Seienden, das
nicht aufgezeigt […], aber erfahren werden kann«.171 Die »faktische Verbun-
denheit« setzt Buber einer »vorgestellte[n], gemeinte[n], gefühlte[n], visionä-
re[n]«172 entgegen. Sie soll die »unbedingte Annahme des Lebens«,173 nicht
170 Vgl. Jacob Taubes: Martin Buber und die Geschichtsphilosophie. In: Ders.: Vom
Kult zur Kultur. Hg. von Aleida Assmann, Jan Assmann und Wolf-Daniel Hart-
wich. München: Fink 1996, S. 50–67, hier: S. 65–67. Taubes bringt dies mit Bu-
bers romantischer Sehnsucht »nach Zuständen unmittelbarer charismatischer Er-
fahrung in der Geschichte« (ebd., S. 65), nach den »begeisterten Augenblicke[n] in
der Geschichte, in denen das menschliche Leben in der Unmittelbarkeit einer un-
veräußerten Beziehung gelebt wird« (ebd.), in Zusammenhang. Die Überführung
des persönlichen Charismas in eine unpersönliche Institution – sei es das König-
tum in Israel, sei es die sakramentale Kirche, seien es die Dynastien der Zaddikim
– müsse demgegenüber als Verfall erscheinen.
171 Martin Buber: Religion und Politik [1929]. TS, JNUL MBA Arc. Ms. Var.
43a/Zajin (um 1929), S. 2.
172 Ebd.
173 Ebd.
2 Messianische Figuren bei Martin Buber 249
174 Ebd.
175 Ebd., S. 3. Vgl. auch ebd., S. 4.
176 Ebd., S. 5.
177 Buber, Das messianische Mysterium (wie Anm. 159), S. 122.
178 Ebd., S. 126.
179 Hierin ist Buber, auch wenn er eine ganz spezifische Deutung vornimmt, nicht der
Einzige. Die osteuropäische Bewegung Chibbat Zion etwa hat bereits Ende des 19.
Jahrhunderts eine Parallele zwischen der Gegenwart und der Rückkehr unter Ky-
ros, einem fremden Völkerherrn, gezogen. Später wurde die Balfour-Deklaration
von 1917 mit Kyros’ Proklamation von 538 v. Chr. verglichen, die den Wiederauf-
bau des Tempels in Jerusalem erlaubte (vgl. Yaacov Shavit: Realism and Messia-
nism in Zionism and the Yishuv. In: Jonathan Frankel [Ed.]: Jews and Messianism
in the Modern Era: Metaphor and Meaning. New York, Oxford: Oxford Univ.
Press 1991 [Studies in contemporary Jewry; 7], S. 100–127, besonders S. 106
[Chibbat Zion], S. 111 [Kyros/Balfour]).
250 Teil II
Was ist die Situation dieses namenlosen Propheten? Der Moment, wo sich die
Heilsprophetie sichtbar zu erfüllen beginnt, er aber knüpft an diese Erfüllung eine
neue, jene weit überbietende Verheißung. Deuterojesaja steht in dem Moment, da
sich die alte Weissagung der Volksbefreiung […] zu verwirklich beginnt. […] Und
ebenso wird das neue, das ich jetzt prophezeie Wirklichkeit werden. Aber das ist
nicht mehr die Befreiung eines Volks, sondern die Erlösung der Welt.180
Der Rest als Figur, in der Buber die aus dem Exil zurückehrende Nation ima-
giniert, gibt dem messianischen Paradox Ausdruck, das wir oben bereits be-
nannt haben: Die Berufung auf den Messianismus begründet die jüdische Na-
tion und überschreitet sie zugleich. Zum privilegierten Medium dieser Über-
schreitung avanciert bei Buber nach dem Ersten Weltkrieg der Dialog, dessen
Philosophie wir oben bereits beschrieben haben. In Bubers Texten zum jüdi-
schen Messianismus schlägt sich seine Dialogphilosophie in der Imagination
Israels als eines Restes nieder. Der Rest ist weder Teil eines Ganzen noch ist er
alles.181 Er ist bei Buber als Nicht-Alles geöffnet auf ein Außen, ein Anderes,
ohne dieses Andere und ohne sich selbst als feste Identität zu setzen. Damit
verweist er auf ein Neues, das man eine werdende Universalität nennen kann.
Das Neue dieser werdenden Universalität konkretisiert sich zum Beispiel dar-
in, von traditionellen Vorstellungen nationaler Souveränität abzurücken, um
»die notwendige Selbstständigkeit mit der möglichen Gemeinsamkeit [zu ver-
knüpfen]«.182 Mit diesen Worten plädiert Buber für einen binationalen jüdisch-
arabischen Staat in Palästina. Nicht die kulturelle Verschmelzung und auch
keine abstrakte globale Identität schweben Buber hierbei vor, sondern eine
werdende Universalität, die sich im dialogischen Beziehungsgeschehen zwi-
schen den verschiedenen Kulturen realisiert.183
1 Martin Buber: Landauer und die Revolution. In: Masken 14 (1919), H. 18/19,
S. 282–291, hier: S. 290.
2 Vgl. Michael Löwy: Der romantische Messianismus Gustav Landauers. In: Hanna
Delf und Gert Mattenklott (Hg.): Gustav Landauer im Gespräch. Tübingen: Nie-
meyer 1997 (Conditio Judaica; 18), S. 91–104, besonders S. 92, sowie Adam
Weissberger: Gustav Landauers mystischer Messianismus. In: Aschkenas. Zeit-
schrift für Geschichte und Kultur der Juden 5/2 (1995), S. 425–439, besonders
S. 425f.
3 Gustav Landauer: Religion. MS, JNUL, Gustav-Landauer-Archiv, Arc. Ms. Var. 432
82a, S. 6a. Es handelt sich bei diesem Manuskript um den ersten Teil eines Vortrags,
den Landauer am 18.12.1890 vor dem Neu-Philologischen Verein in Heidelberg
gehalten hat. Nur der zweite Teil des Vortrags wurde veröffentlicht (vgl. Gustav
Landauer: Religiöse Erziehung. In: Freie Bühne für modernes Leben 2 [11.02.1891],
H. 6, S. 134–138). Landauer war besonders von jüdischen Kommilitonen wegen des
Vortrags kritisiert worden (vgl. Hanna Delf: »Prediger in der Wüste sein…«. Gustav
Landauer im Weltkrieg. In: Gustav Landauer: Werkausgabe. Hg. von Gert Mat-
tenklott und Hanna Delf. Bd 3, hg. von Hanna Delf. Berlin: Akademie-Verlag 1997,
S. XXIII–LIII, hier: S. XLIII [Fn. 89]).
252 Teil II
Diese Zeilen lassen verständlich werden, warum Landauers Aufruf zum Sozia-
lismus, neben Heinrich Manns »Geist und Tat«, als programmatische Schrift
für das intellektuelle Selbstverständnis des Expressionismus gilt.5 Nicht nur
Landauer ist kein Irrationalist. Der Geist steht bei ihm für die Einheit der Ver-
mögen des menschlichen Gemüts: Er vereinigt Gefühl, Wille und Vernunfter-
kenntnis. Geist bezeichnet aber nicht nur das ganzheitliche Zusammenspiel der
Vermögen des Gemüts, sondern wird von Landauer inhaltlich bestimmt als
»Gemeingeist« oder »verbindender Geist« (AS 9, 13, 14, 131, passim). Als
solch inhaltlich bestimmten Geist nennt Landauer ihn auch »natürliche Sympa-
thie« (AS 36), die durch die gesamte Natur gehe, wobei allerdings »alle Men-
schen im Vorzug vor der übrigen Natur sinnlich miteinander verbunden sind«
(AS 36). Landauers Annahme, dass sich eine natürliche Sympathie in der gan-
zen Natur finde, geht unter anderem auf Peter Kropotkins gegen den (Sozial-)
Darwinismus gerichtete Studie Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschen-
welt zurück, die Landauer 1904 ins Deutsche übersetzt hat.9 Aber auch Ferdi-
nand Tönnies hat seinem ungemein wirkungsreichen soziologischen Gemein-
schaftsbegriff eine natürliche Grundlage untergeschoben: »Gemeinschaft
überhaupt ist zwischen allen organischen Wesen, menschliche vernünftige
Gemeinschaft zwischen Menschen. […] Zusammenbleiben [ist] das von Natur
Gegebene«.10
Ist die Gemeinschaft bei Tönnies noch deskriptiv-analytisch gemeint, als ein
»Grundbegriff der reinen Soziologie«, so wird bei Landauer der vermeintlich
natürliche Gemeinschaftsgeist zum politischen Programm. Nur »aus dem Geis-
te« (AS 11) kann für Landauer die Wendung zum Sozialismus erfolgen, den er
zum ethischen Imperativ erhebt. Der Sozialismus sei kein Resultat einer
zwangsläufigen Gesetzmäßigkeit in der historischen Entwicklung, wie der
Marxismus ihn missverstehe, sondern ein »Sollen« (AS 28) bzw. ein »Wollen«
(AS 34), das »gleich jetzt« (AS 34) umzusetzen sei. Auch könne nicht der
Staatssozialismus das Ziel sein. Denn die »ungeheure Gewalt und Bureaukra-
tenödigkeit des Staates« sei nur nötig geworden, »weil unserem Mitleben der
Geist verloren gegangen ist, weil Gerechtigkeit und Liebe, die wirtschaftlichen
Bünde und die sprossende Mannigfaltigkeit kleiner gesellschaftlicher Orga-
nismen verschwunden sind« (AS 56).
Landauers politisches Ideal stellt eine dezentralisierte Gesellschaft, »eine
Gesellschaft von Gesellschaften von Gesellschaften« (AS 131), dar, deren
Kern die »selbstständig wirtschaftende Gemeinde« (AS 130) ist. Am Ideal
einer »freien« (AS 122) und »gerechten Tauschwirtschaft« (AS 82) sollen die
Gemeinden selbst wie auch der »Bund« der untereinander tauschenden Ge-
meinden orientiert sein.11 Der Sozialismus Landauers geht vom Individuum,
9 Vgl. AS 105: »Die Gegenseitigkeit stellt die Ordnung der Natur wieder her«.
10 Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Sozio-
logie. 4. Aufl., Darmstadt: Wiss. Buchges. 2005, S. 21.
11 Vgl. AS 132f.: »Das ist die Aufgabe des Sozialismus: die Tauschwirtschaft so zu
ordnen, dass auch unter dem System des Tausches jeder nur für sich arbeitet; dass
die Menschen in tausendfältiger Verbindung miteinander stehen, und dass doch kei-
nem in dieser Verbindung etwas entzogen, jedem nur gegeben wird. Gegeben nicht,
indem einer den andern beschenkt; der Sozialismus sieht keinen Verzicht wie keinen
Raub vor; jeder erhält den Ertrag seiner Arbeit und hat die Nutznießung aus der
durch Arbeitsteilung und Tausch und Arbeitsgemeinschaft entstandenen Verstär-
kung aller in der Extraktion der Produkte der Natur.«
3 Sozialismus und Religion bei Gustav Landauer 255
seinem Bedürfnis und seiner Arbeit aus. Landauers Aufruf wird letztlich von
der Idealvorstellung bestimmt, dass die Menschen unter freiem Himmel ihre
selbst produzierten Güter tauschen.12 Dementsprechend sei die Tauschwirt-
schaft einzurichten, indem etwa eine »Tauschbank« (AS 104, 139), wie bereits
von Pierre Joseph Proudhon vorgeschlagen, gegründet werde. Das Kapital soll
durch den Geist, durch gegenseitige Kreditierung, ersetzt werden (vgl. AS
130). Eine Bodenreform sei dabei zur Gründung der ländlichen Wirtschafts-
gemeinden oder »Konsumproduktivgenossenschaften« (AS 141) unvermeid-
lich: »Land und Geist also – das ist die Losung des Sozialismus« (AS 140). So
naiv Landauers Programm angesichts von modernen, bürokratisch verwalteten
Massengesellschaften anmuten mag, so hat es doch Wirkung gehabt: auf die zu
jener Zeit sich entwickelnde Kibbuzbewegung in Palästina13 sowie auf ver-
schiedene Reform- und Siedlungsbewegungen in Deutschland.14
Wie verhält sich nun der von Landauer vielfach beschworene natürliche
»verbindende Geist« zur Religion im Allgemeinen? Wie zum »christlichen
Geiste« (AS XI),15 wie zum »jüdischen Geist[]«?16 Bezeichnenderweise
kommt Landauer auf die Sprache zurück, um das Verhältnis von Gemeingeist
und Religion zu bestimmen.
[D]as ganze gemeinsame Leben der früheren Kulturzeit, der wir entstammen [damit
meint Landauer das christliche Mittelalter; Anm. E. D.] war wie umwunden und ein-
gewickelt in Himmelswahn. Untrennbar verbunden war da dreierlei: erstens der
12 Vgl. ebd., S. 104: »[S]orgt für die Einrichtung, daß ihr ohne schmarotzende und
aussaugende Zwischenglieder mit den Produkten eurer Arbeit an einander heran-
kommt«. Vgl. auch ebd., S. 83: »[D]er Arbeiter [ist] kein freier Mann, der auf den
Markt des Lebens tritt und Güter tauscht«.
13 Vgl. Bernhard Braun: Die Siedlung. In: Delf und Mattenklott (Hg.), Gustav Landau-
er im Gespräch (wie Anm. 2), S. 191–201, besonders S. 196, sowie Kauffeldt, Die
Idee eines ›Neuen Bundes‹ (wie Anm. 5), S. 135.
14 Vgl. Gertrude Cepl-Kaufmann: Gustav Landauer im Friedrichshagener Jahrzehnt
und die Rezeption seines Gemeinschaftsideals nach dem I. Weltkrieg. In: Delf und
Mattenklott (Hg.), Gustav Landauer im Gespräch (wie Anm. 2), S. 235–275. Cepl-
Kaufmann zeigt unter anderem Landauers Einfluss auf den Marburger Neukantianer
Paul Natorp, der am volks- und jugenderzieherisch ausgerichteten »Bund der Som-
merhalde« beteiligt war und für Cepl-Kaufmann ein Beispiel für die Bereitschaft
deutscher Intellektueller nach dem Ersten Weltkrieg darstellt, »aus einem bisher
staatsgläubigen Lager zu einer Zusammenarbeit mit Landauers Sozialismuskonzept«
(ebd., S. 260) zu finden.
15 Im Zusammenhang lautet die Passage wie folgt: »Wie sollte es in unsrer Aera, der
vom christlichen Geiste her in den Gewissen die Gleichheit aller Menschenkinder
nach Ursprung, Anspruch und Bestimmung feststeht, ein Gemeinwesen aus wahren
Gemeinden, wie sollte es ein freies öffentliches Leben, durchwaltet von dem alles
bewegenden Geist vorwärts befeuernder Männer und innig starker Frauen geben,
wenn in irgendwelcher Form und Maskierung die Sklaverei, die Enterbung und Ver-
stoßung aus der Gesellschaft besteht?«
16 Gustav Landauer: Judentum und Sozialismus. In: Ders., Werkausgabe (wie Anm. 3),
Bd 3, S. 160f., hier: S. 161.
256 Teil II
Geist des verbindenden Lebens, zweitens die Bildersprache für die unnennbare Ein-
heit, Unsinnlichkeit und Bedeutsamkeit des in der Seele des Einzelmenschen wahr-
haft erfaßten Weltenalls und drittens der Aberglaube (AS 96).
Der Grund der Religion wird von Landauer als ein anthropologischer veran-
schlagt; es ist der »Geist« als »Trieb zum Ganzen, zum Bunde, zur Gemeinde,
zur Gerechtigkeit« (AS 99). Landauers Rede vom »natürlichen Zwang zur
freiwilligen Vereinigung der Menschen untereinander« (AS 99) schreibt das
Paradox fort, das uns auch schon im Zusammenhang mit Landauers Sprach-
theorie begegnet ist: Der Voluntarismus der Individuen schafft und entscheidet
sich für den Gemeingeist, der ihnen zugleich vorangehen soll als »natürlicher«,
nicht »aufgelegter Zwang« (AS 6) zur »freiwilligen Vereinigung«, der zuzei-
ten verborgen, zu anderen Zeiten aus den Individuen hervorbreche. Der ver-
bindende Geist lasse sich als »unnennbare Einheit« nur in der »Bildersprache«
ausdrücken, die zum »Aberglauben« werde, wenn man sie wörtlich oder dog-
matisch verstehe (vgl. AS 6). Für Landauer ist die religiöse »Bildersprache«
eine Kunstform, als deren Matrix das Kunstsymbol der Goethezeit durch-
scheint. Als ästhetischer Ausdruck einer unaussprechlichen Idee ist das Kunst-
symbol von unerschöpflichem Sinn. Im symbolischen Bild des Besonderen
bleibe, so Goethe, die Idee »immer unendlich wirksam und unerreichbar […]
und, selbst in allen Sprachen ausgesprochen, doch unaussprechlich«.17 Das
Symbol ist Produkt der (künstlerischen) Konstruktion und doch kein bloßes
Zeichen. Das Paradox einer nicht-willkürlichen Konstruktion oder konstruier-
ten Unwillkürlichkeit wird ontologisch abgefedert, indem eine Analogie zwi-
schen natürlicher und künstlerischer Produktion behauptet wird. Diese Analo-
gie beruht nicht auf einem Repräsentationsprinzip, sondern auf einem Kon-
struktionsprinzip, insofern schaffende Natur und Kunst einander zugeordnet
werden.18 Landauers Vorstellung eines schöpferischen »Gemeingeistes«, der
als »natürliche Sympathie« (AS 36) durch die ganze Natur reiche und sich nur
symbolisch ausdrücken lasse, ohne je in seinem Sinn ausgeschöpft werden zu
können, bleibt dieser goethezeitlichen Symbolkonzeption verpflichtet. Lan-
dauer erkennt die Zeichenhaftigkeit, Historizität und Veränderlichkeit der
religiösen Bildersprache als einer Kunstform, in der sich der Gemeingeist
ausdrückt, unbedingt an. Und doch ist die symbolische Bildersprache, solange
sie nicht zum Dogma erstarrt, mehr als bloßes zeichenhaftes Konstrukt. Sie
kann als Darstellung des Gemeingeistes gelten, insofern sie sich mit ihm im
schöpferischen Prinzip trifft.
17 Johann Wolfgang von Goethe: Maximen und Reflexionen. In: Ders.: Werke. Ham-
burger Ausgabe. Hg. von Erich Trunz. München: Beck 1998, Bd 12, S. 365–547,
hier: S. 470.
18 Vgl. zur para-semiotischen Struktur des goethezeitlichen Symbols: Peter Kobbe:
Symbol. In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Bd 4. Hg. von Klaus
Kanzog und Achim Masser. 2. Aufl., Berlin: de Gruyter 1984, S. 308–333, beson-
ders S. 315–319.
3 Sozialismus und Religion bei Gustav Landauer 257
kelt« (R 32) sei – ohne weitere Bedeutung für Landauers eurozentrische Ge-
schichtsphilosophie. Nachdem die Kirche und die offizielle Theologie das
Christentum mit ihren Dogmen um Leben und Sinn gebracht hätten, seien die
»eigentlichen Christen zu Mystikern, Ketzern und bald auch zu Revolutionä-
ren« (R 53) geworden. Bei diesen liegt für Landauer das christliche Erbe, das
er für »unsere Geschichte« anerkennt. Damit will Landauer das noch namenlo-
se neue Zeitalter, in dem sich die Völker Europas befänden – das Zeitalter der
Revolutionen seit Reformation und Renaissance – nicht auf das Christentum
als Religion festlegen.21 Nicht Rückkehr zu den alten Religionen ist Landauers
Devise, sondern »das Alte in neuer Gestalt«, wobei mit dem »Alten« nicht der
»Geist des Christentums« gemeint ist. Dieser stellt selbst doch nur eine Inter-
pretation des »Alten«: des natürlichen »verbindenden Geistes« als der eigentli-
chen natürlichen, anthropologischen Konstante, dar. Landauers Theorie, dass
jede Utopie »die Erinnerung an sämtliche bekannte frühere Utopien« (R 15)
enthalte, mag erklären helfen, warum er weiterhin die überkommene religiöse
»Bildersprache« benutzt.
Wenn Landauer im Aufruf nun auch die »mosaische Gesellschaftsordnung«
als Utopie erinnert, kann man das als Zeichen für seine Hinwendung zum
Judentum deuten, die sich ab 1908, unter dem Einfluss der Lektüre der von
Martin Buber neu erzählten und ins Deutsche übersetzten chassidischen Le-
genden, beobachten lässt. Nur mit Einschränkungen sollte man jedoch eine
»jüdische Wendung«22 bei Landauer behaupten. Was Landauers ›bekennende‹
Schriften angeht, auf die weiter unten noch näher eingegangen werden soll, so
kann man gewiss eine solche Wendung feststellen. Was seine theoretischen
Schriften anbetrifft, ist jedoch zu bedenken, dass die Ausbildung seiner »we-
sentlichen geschichtsphilosophischen und gesellschaftstheoretischen Positio-
nen bereits abgeschlossen war, als die Tradition des Judentums und aktuelle
jüdische Problematik Landauer intensiver zu beschäftigen begannen.«23 Auch
gegenüber der These, dass ein ›unbewusstes Judentum‹ Landauers gesell-
schaftstheoretische Schriften informiert habe,24 ist Vorsicht angebracht, zumal
man dieses Argument leicht umdrehen kann, so dass dann Landauers Ver-
ständnis des Judentums als christlich – nämlich durch die vorangegangene
Beschäftigung mit der christlichen Mystik – geprägt erscheinen würde. Wenn
man den Blick auf der Textoberfläche belässt, dann ist schlicht zu konstatieren,
21 Vgl. ebd., S. 39: »Nicht Vorläufer, sondern verspätete Epigonen sind die, die uns
jetzt da und dort zuverlässige, fertige und erprobte Weltanschauungen als Religionen
anbieten, um den Drang nach dem Positiven zu befriedigen.«
22 Löwy, Der romantische Messianismus Gustav Landauers (wie Anm. 2), S. 99.
23 Norbert Altenhofer: Tradition als Revolution. Gustav Landauers ›geworden-werden-
des‹ Judentum. In: David Bronsen (Hg.): Jews and Germans from 1860 to 1933.
Heidelberg: Winter 1979 (Reihe Siegen; 9), S. 173–206, hier: S. 173.
24 Vgl. Bernd Witte: Zwischen Haskala und Chassidut. Gustav Landauer im Kontext
der deutsch-jüdischen Literatur- und Geistesgeschichte. In: Delf und Mattenklott
(Hg.), Gustav Landauer im Gespräch (wie Anm. 2), S. 25–41, hier: S. 34.
3 Sozialismus und Religion bei Gustav Landauer 259
25 Ernst Käsemann: Geist und Geistesgaben im NT. In: Die Religion in Geschichte und
Gegenwart. Hg. von Kurt Galling. 3., völlig neu bearbeitete Aufl., Tübingen: Mohr
1958, Bd 2, Sp. 1272–1279, hier: Sp. 1272.
260 Teil II
chen Sprache den Propheten offenbart,26 gibt auch Landauer der »Bilderspra-
che« den Vorzug vor der wissenschaftlich begrifflichen Sprache. Damit hul-
digt er allerdings nicht mehr dem göttlichen Geist, sondern dem medialen
Sprachgeist.
Wieder lässt sich allerdings eine Remythologisierung bei Landauer feststel-
len, die schon oben (vgl. Kap. I.3.1) beobachtet wurde. Der Geist ist eben nicht
nur medialer Sprachgeist, sondern wird von Landauer inhaltlich gedeutet als
»natürliche Sympathie«, die sich in vermeintlich natürlichen Verbänden aus-
drücke wie der Familie, dem Volk (»Volksgeist« (AS 8)) oder einem (Ur-
)»Kommunismus« in »sagenhaften epischen Zeiten« (AS 12). Landauer wan-
delt nun auch nicht einfach das prophetische Sprechen in ein poetisches um,
sondern das Sprechen »im Namen des Geistes« (AS 154) gibt sich als eine
Autorisierungsstrategie zu verstehen. Letztlich baut Landauer den Geltungsan-
spruch seines Aufrufs zum Sozialismus auf dem Mythos des Dichters als Pro-
pheten und Führers des Volks auf, wie wir im Folgenden noch genauer sehen
werden.
Um Landauers Berufung auf den Geist als rhetorische, durch keine Institu-
tion abgesicherte Strategie der Selbstautorisierung deutlicher zu erkennen, ist
es hilfreich, sich die Funktionsweise der prophetischen Berufung in der Bibel
zu vergegenwärtigen. Die Berufung durch den göttlichen Geist legitimiert den
Anspruch der Propheten, als autoritative Heils- oder Unheilsverkünder aufzu-
treten. Der Prophet spricht als ein vom Geist (hebräisch »ruach«, griechisch
»pneuma«) ergriffener Redner, und nur als ein solchermaßen Berufener ist er
Rufer, wie die Etymologie des hebräischen Nabi (Prophet) zeigt:
Der Begriff nabî' ist wurzelverwandt mit akkad. nabu ›rufen, berufen‹ und kann
entweder ›Rufer‹ oder besser ›Berufener‹ (akkad. nabî'um) bedeuten. Er gewinnt je-
doch erst Farbe durch die verbalen Ableitungen, die in den Texten unserer Periode
[der ältesten Phase der israelitischen Prophetie; Anm. E. D.] vor allem im Hitpa'el in
der Bedeutung ›sich in prophetischer Ekstase befinden‹, ›als Prophet weissagen‹
oder auch einfach ›rasen‹, daneben im Nif'al im Sinne von ›in prophetischem Zu-
stande sein‹, ›sich als Prophet aufführen‹ und ›in prophetischer Begeisterung reden‹
begegnen.27
durch Gott. Daher ist die Berufung wichtiger Bestandteil der Prophetenge-
schichten.28 Der Prophet tritt oft als Kritiker der institutionellen Herrschafts-
träger seiner Zeit auf. Lange Zeit hat sich das Bild der Propheten als der »gro-
ßen Einsamen, d[er] entschiedenen Neuerer, gar wohl ›Revolutionäre‹«29
gehalten, das auch im Hintergrund von Landauers Aufruf zum Sozialismus
steht.30
Anders als in der Bibel muss der Geist, auf den sich Landauer beruft, selbst
erst angerufen und solchermaßen im Aufruf sprachlich erzeugt werden. Er kann
nicht, wie in der Bibel, als vorhanden vorausgesetzt werden. Bei Landauers
Berufung auf den Geist handelt es sich um eine Form der »rhetorischen Selbst-
ermächtigung«,31 mit der er im Kampf gegen die Marxisten – für Landauer
»die Pest unsrer Zeit und der Fluch der sozialen Bewegung« (AS 42) – um das
Erbe des Sozialismus streitet.32 Landauer polemisiert unermüdlich gegen den
marxistischen »Wissenschaftsaberglauben« (AS 32). Dieser schiebe der Ge-
schichte objektive Entwicklungsgesetze unter, denen zufolge der Kapitalismus
an seinem eigenen Zusammenbruch arbeite und am Ende zum Sozialismus
führe. Darüber hinaus verherrlichten die Marxisten die Arbeiter als »revolutio-
näre Klasse« (AS 72), als »von der Vorhersehung erkorene Erlöser und Ver-
wirklicher des Sozialismus« (AS 71).33 »Die großen, ungeheuren Menschen-
massen, die Proletarisierten, haben wirklich fast nichts mehr für den Sozialis-
mus zu tun. Sie müssen nur warten, bis es so weit ist« (AS 40). Mit dieser
Theorie aber lähmten die Marxisten »die Gewalten der Gestaltung und die
Schöpferkraft« (AS 109). Der Marxismus sei »nicht eine Beschreibung und
eine Wissenschaft, wofür er sich ausgibt, sondern ein negierender, zersetzen-
28 Vgl. Johannes Fichtner: Propheten. II. In Israel C. Seit Amos. In: Die Religion in
Geschichte und Gegenwart. Hg. von Kurt Galling. 3., völlig neu bearbeitete Aufl.,
Tübingen: Mohr 1961, Bd 5, Sp. 618–627, hier: Sp. 622: »Sie [die Berichte über die
Berufung; Anm. E. D.] begegnen im AT als Selbstberichte der Propheten (Am
7,1ff.; 8,1ff.; 9,1ff. [?]; Hos 3; Jes 6; Jer 1; Ez 1–3; Jes 40,6ff.), als Fremdberichte
(Am 7,10ff.; Hos 1; vgl. Ex 3,7; Ri 6,11ff.) und in der Form der Vorstellung des zu
Berufenden durch Jahwe selbst (Jes 42,1ff.).«
29 Ebd., Sp. 623.
30 Die Forschung geht demgegenüber seit geraumer Zeit davon aus, dass die Propheten
stärker in der Tradition verwurzelt waren als lange angenommen wurde, auch wenn
sie ihr sehr selbstständig gegenübertraten (vgl. ebd., Sp. 623f.).
31 Delf, »Prediger in der Wüste sein…« (wie Anm. 3), S. XXXVI.
32 Vgl. AS 32f.: »[D]er Sozialismus muß zu seinen rechten Erben kommen […]. Und
weil die Erben noch schlummern und in fernen Landen des Traums und der Form
weilen, und weil doch endlich einer anfangen muß, die Hand aufs Erbe zu legen,
muß ich es sein, der die Erben zusammenruft und der sich als einer der ihren legiti-
miert.«
33 Vgl. AS 112: »[D]ie Arbeiterschaft [ist] nicht aufgrund geschichtlicher Notwendig-
keit das auserwählte Volk Gottes, der Entwicklung […], sondern eher der Teil des
Volkes, der am schwersten leidet und infolge der seelischen Veränderungen, die das
Elend mit sich bringt, am schwersten zur Erkenntnis zu bringen ist.«
262 Teil II
der und lähmender Appell an die Ohnmacht, die Willenlosigkeit, die Ergebung
und das Geschehenlassen« (AS 109).
Landauer weist nicht nur wissenschaftliche Aussagen über den Sozialismus
zurück, sondern deklariert jedes Sprechen über den Sozialismus zu einem
performativen Sprechakt. Dies macht er auch für die Marxisten geltend: Sie
beschrieben nicht einfach nur objektive Entwicklungsgesetze, sondern vollzö-
gen einen »Appell an die Ohnmacht« (AS 109), indem sie einen geschichtli-
chen Determinismus behaupteten, der das Tun der Einzelnen gleichgültig wer-
den lasse. Im Unterschied hierzu erscheint die Sozialismus-Hoffnung bei Lan-
dauer als »höchst fragile Konstruktion«, wie Hanna Delf treffend schreibt:
»[D]ie Idee des Sozialismus muß sich sozusagen sprachlich bewähren. Sie
erweist sich als Willen und Hoffen eines Einzelnen im Moment ihrer Kommu-
nikation.«34 Für Landauer sind »Aussagen über den Sozialismus […] folglich
eine radikal subjektive Sache. Sie bedürfen der Zustimmung durch alle übrigen
Subjekte, sonst gelten sie nicht.«35
Dem marxistischen »Appell an die Ohnmacht« stellt Landauer seinen pro-
phetischen Ruf entgegen, der sich auf den – im Aufruf sprachlich erst erzeug-
ten – verbindenden Geist beruft. Weder Institution noch Rang verbürgen die
Legitimität von Landauers Aufruf. Vielmehr macht Landauer, wie die Prophe-
ten, allein den inspirierenden Geist geltend, der bei den Propheten Geist Gottes
und bei Landauer Gemeingeist heißt. Doch nicht nur den berufenden Geist
erzeugt Landauer erst sprachlich im Aufruf, sondern auch den Sozialismus als
Gegenstand des Aufrufs sowie die Angerufenen, die Adressaten seiner Rede.
Immer wieder streut Landauer Leser-Adressen36 in seinen Aufruf ein und
kommt auf die Thematik des Rufs, des Rufens und der Gerufenen zurück. In
der Vorrede zur ersten Ausgabe des Aufrufs zum Sozialismus schreibt Landau-
er, dass er die Form des Vortrags37 gewählt habe, »weil unter den Aufgaben
der Sprache immer die sein wird, andere zu sich heranzurufen […]. Freilich
spreche ich hier anders als in einer Versammlung, spreche ich vor dem weiten,
unbestimmten Kreise, den der Einsame in nächtlichen Arbeitsstunden vor sich
sieht« (AS XX). Angerufen werden von Landauer die »Täter, die Beginnen-
den, die Erstlinge« (AS 153), die sich zum Sozialismus aufgerufen fühlen. Die
Anrufung des Lesers zeigt sich bei Landauer als ein perlokutionärer Sprechakt,
der die »kürzere oder längere Kette von ›Wirkungen‹«,38 welche der Sprechakt
auf einen Rezipienten ausübt, betrifft.39 Angerufen werden die, die sich zum
»Beginnen« aufgerufen fühlen.
Landauers Aufruf zum Sozialismus verhält sich letztlich wie ein literarischer
Text, der die Bedingungen der Kommunikation mit dem Leser, der Leserin erst
selbst herstellt. Denn folgt man Wolfgang Iser, so repräsentiert die fiktionale
Rede einen Sprechakt, der »nicht mit einem gegebenen Situationskontext rech-
nen kann und folglich alle die Anweisungen mit sich führen muß, die für den
Empfänger der Äußerung die Herstellung eines solchen situativen Kontexts
erlauben«.40 Damit soll nicht gesagt sein, dass Landauers Aufruf nicht ernst
gemeint sei. Allein das Gelingen seines Aufrufes ist, wie bei einer fiktionalen
Rede, nicht über textexterne Konventionen abgesichert. Keine Institution ver-
bürgt die Legitimität von Landauers Aufruf – nur die poetische Evokation des
Geistes in der literarisch gebrochenen Tradition prophetischen Sprechens. Man
kann Landauers Aufruf unter diesem Aspekt auch als literarische Machtphanta-
sie lesen, die sich Effekte im Realen darüber zu sichern versucht, dass sie auf
den Mythos vom Dichter als Propheten und Führer des Volkes rekurriert. Denn
im modernen Zeitalter der atomisierten Masse habe sich der Geist in die Ein-
zelnen zurückgezogen:
Einzelne, innerlich Mächtige waren es, Repräsentanten des Volks, die ihn dem Vol-
ke geboren hatten; jetzt lebt er in Einzelnen, Genialen, die sich in all ihrer Mächtig-
keit verzehren, die ohne Volk sind: vereinsamte Denker, Dichter, Künstler, die halt-
los, wie entwurzelt, fast wie in der Luft stehen. Wie aus einem Traum aus urlang
vergangener Zeit heraus ergreift es sie manchmal: und dann werfen sie mit königli-
cher Gebärde des Unwillens die Leier hinter sich und greifen zur Posaune, reden aus
dem Geiste heraus zum Volke und vom kommenden Volke (AS 6f.).
»[W]ir sind Dichter« (AS 34), ruft Landauer aus und macht mit diesem Ruf
mobil gegen die marxistischen »Wissenschaftsschwindler« (AS 34). Für Lan-
dauer verwirklicht sich die »freie Gemeinschaft als ein Verein individueller
Sprecher«,41 den die »Denker, Dichter, Künstler« mit der »Posaune« – der
lutherischen Übersetzung für den Schofar, das Blasinstrument aus einem aus-
gehöhlten Widderhorn, das in biblischen Zeiten als Signalinstrument im Krieg
oder bei Gefahr sowie im Tempeldienst verwendet wurde – ins Leben rufen
sollen. Landauer ersetzt die Arbeiterklasse als Repräsentanten des Volkes
durch die »Denker, Dichter, Künstler«. Ihnen schreibt er das Vermögen zu, das
39 Vgl. zur Unterscheidung von illokutionären und perlokutionären Sprechakten auch
Uwe Wirth: Der Performanzbegriff im Spannungsfeld von Illokution, Iteration und
Indexikalität. In: Ders. (Hg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kul-
turwissenschaften. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2002 (Suhrkamp-Taschenbuch Wis-
senschaft; 1575), S. 9–60, besonders S. 12–17.
40 Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung. 4. Aufl., Mün-
chen: Fink 1994 (UTB für Wissenschaft: Uni-Taschenbücher: Literaturwissenschaft;
636), S. 106.
41 Gert Mattenklott: Gustav Landauer. Ein Portrait. In: Landauer, Werkausgabe (wie
Anm. 3), Bd 3, S. VII–XXII, hier: S. XV.
264 Teil II
den Arbeitern fehle: für die Interessen der Gesamtheit sprechen zu können
(vgl. AS 77). Solange »es die Arbeiter nicht verstehen, aus dem Kapitalismus
auszutreten« (AS 77), würde der Kapitalismus selbst durch den Kampf der
organisierten Arbeiterschaft in Gewerkschaften nur weiter befestigt. Dagegen
hält Landauer die »völlige Umgestaltung der Grundlagen der Gesellschaft«
(AS 111), auf die sein föderativer Gemeindesozialismus zielt. Man muss es
wohl letztlich Landauers ungenügender politischer und gesellschaftlicher
Machtanalyse im Verein mit einer Überhöhung der dichterischen Macht zu-
schreiben, dass er es überhaupt nicht in Betracht zieht, dass seine kulturrevolu-
tionäre Strategie sich auch nur, wie der Kampf der Arbeiter, weiterhin »im
zwingenden Kreise des Kapitalismus« (AS 77) bewegen könnte. Helmuth
Plessner setzt hier einen Hebel seiner berühmten Gemeinschaftskritik von
1924 an. Ohne Landauer explizit zu erwähnen, macht Plessner auf die Grenzen
der Taktik aufmerksam, durch die Bildung kleiner Gemeinschaften die Umges-
taltung der ganzen Gesellschaft initiieren zu wollen. Der »Panarchie der Ge-
meinschaft« stünde die »Unaufhebbarkeit der Öffentlichkeit« entgegen, so
Plessner.42 Diese Öffentlichkeit sei der »wesensnotwendige Gegenspieler« der
Gemeinschaft, »der Inbegriff von Leuten und Dingen, die nicht mehr dazuge-
hören, mit denen aber gerechnet werden muß«.43 In Plessners Augen ist die
Grenze zwischen Gemeinschaft und Öffentlichkeit konstitutiv für affektgetra-
gene Gemeinschaften. Löse man diese Grenze auf, so löse man die Gemein-
schaft auf.44 Landauer hält die Entgegensetzung der kleinen, vorbildlichen
Gemeinschaften und der »Menschenmassen« für vorläufig,45 Plessner hinge-
gen für konstitutiv und unaufhebbar.
In der zweiten Hälfte dieses Kapitels möchte ich auf das Verhältnis von So-
zialismus und Judentum eingehen, wie Landauer es in seinen ›bekennenden‹
Schriften ab 1910 darstellt. Landauer entdeckt erst spät das Judentum bewusst
für sich. Bei der grundsätzlichen »Diskontinuität in Landauers jüdischem
Selbstverständnis«46 bleibt der Kampf gegen den Antisemitismus als alleinige
Konstante in Landauers Bezugnahme auf das Judentum übrig. 1901 schreibt er
noch, dass es »Zufall«47 sei, ob einer Jude sei oder nicht. Dabei meint Landau-
er hier mit Zufall eine »historische Tradition, die durch besondere Umstände,
42 Helmuth Plessner: Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalis-
mus. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2002 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft;
1540), S. 55.
43 Ebd., S. 48.
44 Vgl. ebd., S. 56.
45 Vgl. Gustav Landauer: Durch Absonderung zur Gemeinschaft. In: Ders.: Zeit und
Geist. Kulturkritische Schriften 1890–1919. Hg. von Rolf Kauffeldt und Michael
Matzigkeit. Regensburg: Boer 1997, S. 80–99, hier: S. 98.
46 Altenhofer, Tradition als Revolution. Gustav Landauers ›geworden-werdendes‹
Judentum (wie Anm. 23), S. 174.
47 Gustav Landauer: In Sachen Judentum. In: Ders., Werkausgabe (wie Anm. 3), Bd 3,
S. 156–158, hier: S. 156.
3 Sozialismus und Religion bei Gustav Landauer 265
Wieder begegnet man dem Paradox, dass Landauer eine vermeintlich natürli-
che Entität setzt – das Judentum als »unverlierbare innere Eigenschaft« –, die
erst durch Mittel der Kunst – durch einen »Anstoß von Außen«, das »Denken
und Dichten Martin Bubers« – hervorgebracht wird. In dem Aufsatz »Juden-
tum und Sozialismus« kommt Landauer Martin Bubers kulturzionistischer
Position, wie dieser sie in den Drei Reden über das Judentum formuliert hat,
am nächsten. Landauer spricht wieder vom Judentum als »natürlicher Eigen-
schaft derer, die da Juden sind […]. Man ist Jude, auch wenn man es nicht
weiß oder es nicht bekennen will.«50 Die Tatsächlichkeit dieser Nation lasse
sich aber – wie die jeder anderen Nation – nicht ohne weiteres in Begriffe
fassen und definieren. Dennoch müsse versucht werden, »das scheinbar Un-
sagbare in Worte zu bringen. Denn wenn eine Nation wieder einmal an einem
Wendepunkt steht, wenn sie das erst werden soll, was sie ihrer Möglichkeit
nach ist, dann sind die Dichter, dann die Propheten nötig.«51 Landauer versteht
hier auf der Linie Bubers die jüdische Nation als dynamische Größe, die sich
nicht in Begriffen fest-stellen lasse, sondern nur in der Sprache der Dichter und
Propheten auszudrücken sei. Diese dichterische Sprache fällt mit der Sprache
des Symbols zusammen, das nicht wörtlich, aber doch als »etwas Leibhaftes zu
nehmen und zu erleben« (R 53) sei. Das Symbol soll im Gesagten das Unsag-
bare ›leibaft‹ vermitteln. In Bubers Drei Reden findet Landauer nun »das Aus-
sprechen dessen […], was das Judentum seinem Wesen nach sein soll, weil es
im tiefsten Grunde nach unserem Wissen das ist.«52 Das Judentum sei eine
Forderung, eine Aufgabe, ein »[S]oll«, das seinen »Grund« in einem vermeint-
lich natürlichen Sein hat. Landauer überträgt die Figur, mit der er zuvor den
Gemeingeist beschrieben hat, nun auf das Judentum: Wie der Voluntarismus
der Individuen sich für den Gemeingeist entscheidet, der ihnen zugleich als
»natürlicher Zwang« vorausgehen soll, so begreift er nun das Judentum als
Verwirklichung eines Sollens, einer Forderung, die ihren Grund habe in »et-
was, das uns Juden von Natur aus zu einander bindet«.53
48 Ebd., S. 157.
49 Gustav Landauer: Die Legende des Baalschem. In: Ders., Werkausgabe (wie Anm.
3), Bd 3, S. 158–159, hier: S. 158.
50 Landauer, Judentum und Sozialismus (wie Anm. 16), S. 160.
51 Ebd.
52 Ebd.
53 Ebd.
266 Teil II
In dem Artikel »Judentum und Sozialismus« kann man nun verfolgen, wie
die beiden Ansprüche natürlicher Zusammenhänge auf Verwirklichung, d. h. der
Anspruch des Judentums und der Anspruch des Sozialismus, miteinander in
Konkurrenz treten. Auch wenn Landauer hier das Bestreben, den »verbindenden
Geist« als Grundlage einer sozialistischen Gesellschaft anzusetzen, »etwas Jüdi-
sches«54 nennt und in dieser Hinsicht vom »jüdischen Geist«55 spricht, bleibt
doch die Frage: Ist der Sozialismus die Grundlage für das Judentum oder das
Judentum als Nation die Grundlage für den Sozialismus?
Der Sozialismus ist zunächst eine Zusammenfassung eines großen Wollens und es
ist natürlich, dass die nationale Gemeinschaft die Grundlage für die Bildung einer
neuen Gesellschaft abgeben wird. Also, werden viele jüdische Sozialisten daraus
schließen, brauchen wir zunächst die jüdische Gemeinschaft. Aber für andere wird
die Galuth, das Exil als innere Stimmung der Vereinsamung und der Sehnsucht, das
Allererste sein, was ihnen Judentum und Sozialismus verbindet. Für diese wird Ju-
dentum und Sozialismus dasselbe sein, sie werden wissen, dass ihnen als Juden wie
Sozialisten auferlegt ist, die Einheit, die Gerechtigkeit zu verlangen.56
Die erste der von Landauer genannten Optionen hat der Zionist und Sozialist
Moses Hess bereits im 19. Jahrhundert propagiert. Die zweite wird Landauer
ein Jahr später in dem Aufsatz »Sind das Ketzergedanken?« vertreten, den er
im berühmten, vom Verein jüdischer Hochschüler Bar Kochba in Prag heraus-
gegebenem Sammelbuch Vom Judentum veröffentlichte. In diesem Artikel
verhält sich Landauer nicht nur ketzerisch gegenüber den von Bubers kulturzi-
onistischem Programm inspirierten Prager Studenten,57 sondern auch gegen-
über seinem eigenen früheren Aufsatz. In dem früheren Artikel, der auf einen
Vortrag zurückgeht, den Landauer in der zionistischen Ortsgruppe West-Berlin
am 07.02.1912 gehalten hat, tendiert Landauer zur ersten Option, wenngleich
auch in etwas gewundener Weise. Gegenüber den jüdischen Sozialisten, die
eine jüdische Gemeinschaft als Grundlage des Sozialismus reklamieren, gibt
Landauer zu bedenken, dass »es […] kein Volk gebe, auch kein jüdisches,
solange nicht die Grundlage jeglichen Volks gegeben ist: die auf der Gerech-
tigkeit basierte freie Wirtschaftsgemeinde.«58 Dennoch verleiht Landauer am
Schluss der »starken Meinung« Ausdruck, es könne sich das sozialistische
Leben »als unmöglich erweisen in einer aus mehreren Nationen gemischten
Gesellschaft. […] Es wird sich also bei den sozialistischen Versuchen als Al-
lerdringlichstes herausstellen, daß das Recht auf unsere Art doch nur wird
verwirklicht werden können unter uns.«59
54 Ebd.
55 Ebd., S. 161.
56 Ebd., S. 160.
57 Vgl. Delf, »Prediger in der Wüste sein…« (wie Anm. 3), S. XLV.
58 Landauer, Judentum und Sozialismus (wie Anm. 16), S. 161. Vgl. auch Gustav
Landauer: Sozialismus und Judentum. In: Ders., Werkausgabe (wie Anm. 3), Bd 3,
S. 161f., hier: S. 162: »Ohne Sozialismus gibt es kein ›Volk‹.«
59 Landauer, Judentum und Sozialismus (wie Anm. 16), S. 161.
3 Sozialismus und Religion bei Gustav Landauer 267
60 Vgl. Kauffeldt, Die Idee eines ›Neuen Bundes‹ (wie Anm. 5), S. 175–179, sowie
ders.: Zur jüdischen Tradition im romantisch-anarchistischen Denken Erich Müh-
sams und Gustav Landauers. In: Bulletin des Leo Baeck Instituts 69 (1984), S. 3–28,
besonders S. 18–20.
61 Ebd., S. 20.
62 Ebd.
63 Gustav Landauer: Rechenschaft. Berlin: Cassirer 1919, S. 88.
64 Vgl. Gustav Landauer: Die 12 Artikel des Sozialistischen Bundes [Erste und Zweite
Fassung]. In: Thomas Anz und Michael Stark (Hg.): Expressionismus. Manifeste
und Dokumente zur deutschen Literatur 1910–1920. Stuttgart: Metzler 1982, S.
250–253, hier: S. 253: »Während des Aufbaus des Sozialistischen Bundes kommt es
mit Notwendigkeit zu einer Abwanderung des Proletariats aus den Industriestädten
aufs Land, zu einer Verbindung aus Landwirtschaft, Industrie und Handwerk, von
geistiger und körperlicher Arbeit und zu den starken Gefühlen der Arbeitsfreude und
Gemeinschaftsinnigkeit, durch die wir Menschen zu Gemeinden und zum Volk er-
hoben werden.«
65 Kauffeldt summiert: »Landauers Volks- und Nationenbegriff war antiautoritär,
libertär, föderalistisch und universal« (Kauffeldt, Die Idee eines ›Neuen Bundes‹
[wie Anm. 5], S. 175).
268 Teil II
Zeit lang imaginieren, verträgt sich ebenfalls gut mit der neuromantischen
Nationalmystik um 1900. Mosse macht aber auch auf Unterschiede aufmerk-
sam: »The Volkish influence on German Zionism did not, in the end, trans-
form the belief in a Jewish Volk into an aggressive, exclusive belief. But the
German Volkish movement did lead in this direction«.66 Die Vorstellung einer
unmittelbaren Gemeinschaft begründet bei Buber und Landauer nicht nur das
»Volk« wie bei vielen ihrer Zeitgenossen, sondern transzendiert es auf die eine
oder andere Weise in universaler Richtung, woraus sich notwendig Spannun-
gen und Paradoxien ergeben. Für Mosse macht das die typisch jüdische Inter-
pretation der Gemeinschaftsideologie aus.67
Der Aufsatz »Sind das Ketzergedanken« von 1913 enthält nun eine selbst-
kritische Wendung gegenüber dem ein Jahr zuvor veröffentlichten Artikel »Ju-
dentum und Sozialismus«, die in der Forschung in der Regel übersehen wird.68
Auch hier nennt Landauer das Judentum eine »Tatsächlichkeit«, die aber erst
dann
volles, schönes, strömendes und all unser Wesen erfüllendes Leben hat, wenn wir es
nicht mehr nötig haben, sie mit dem Bewußtsein zu halten und zu umklammern. Die
starke Betonung der eigenen Nationalität, auch wenn sie nicht in Chauvinismus aus-
artet, ist Schwäche. Schreibt ein Deutscher über die Romantik oder den Sozialismus
oder die Erhaltung der Energie, so schreibt er eben über die Romantik oder den So-
zialismus oder die Erhaltung der Energie. Der bewußte Jude schreibt über Romantik
und Judentum, über Sozialismus und Judentum, über die Erhaltung der Energie und
das Judentum und auch noch über das Radium und das Judentum.69
Über »Sozialismus und Judentum« wie über »Judentum und Sozialismus« hat
Landauer aber selbst noch im Jahr zuvor Vorträge gehalten und einen Artikel
geschrieben. In dem Aufsatz »Sind das Ketzergedanken?« verwahrt sich Lan-
dauer gegen die Vorstellung von Nation als einer absoluten Einheit, die rein
für sich bestünde. Schon heute sei nicht mehr eine, sondern seien verschiedene
Nationen für die Individuen konstitutiv. Sich selbst versteht Landauer nicht als
deutscher Jude oder jüdischer Deutscher, sondern als Deutscher und Jude
66 George L. Mosse: The Influence of the Volkish Idea on German Jewry. In: Ders.:
Germans and Jews. The Right, the Left, and the Search for a »Third Force«. Lon-
don: Orbach & Chambers 1971, S. 77–115, hier: S. 93.
67 Ebd., S. 89.
68 So entgeht z. B. Michael Löwy der Unterschied in der Argumentation zwischen den
beiden Aufsätzen (vgl. Löwy, Der romantische Messianismus Gustav Landauers
[wie Anm. 2], S. 103). Auch Schmidt-Bergmann vernachlässigt die feinen Unter-
schiede zwischen beiden Artikeln und rückt Landauer an die Seite Bubers, ohne de-
ren Differenzen zu berücksichtigen (vgl. Hansgeorg Schmidt-Bergmann: »Judentum
und Sozialismus«. Über Kontinuität und Bruch in Gustav Landauers anarchisti-
schem Denken. In: Eveline Goodman-Thau und Michael Daxner [Hg.]: Bruch und
Kontinuität. Jüdisches Denken in der europäischen Geistesgeschichte. Berlin: Aka-
demie-Verlag 1995, S. 151–161).
69 Gustav Landauer: Sind das Ketzergedanken? In: Ders., Werkausgabe (wie Anm. 3),
Bd 3, S. 170–174, hier: S. 171f.
3 Sozialismus und Religion bei Gustav Landauer 269
hen.78 Vielmehr gibt Landauer in »Sind das Ketzergedanken?« die Nation als
bewusst unbewusste »Tatsächlichkeit« zu denken, die er mit Meister Eckhart
»göttliches Unwissen« nennt. Als solche erscheint sie ihm unverlierbar: »Mein
Judentum spüre ich in meiner Mimik, in meinem Gesichtsausdruck, meiner
Haltung, meinem Aussehen und so geben diese Zeichen mir die Gewißheit,
dass es in allem lebt, was ich beginne und bin.«79 Ein Judentum, das nicht als
bewusst unbewusste, sondern als bewusste Tatsächlichkeit sprachlich themati-
siert wird, lässt Landauer demgegenüber mit der werdenden Menschheit, der
»neu werdende[n] Als-ob-Nation«, zusammenfallen:
Wir Juden nun, die wir geworden-werdende Juden sind, können da nicht zweierlei
und getrenntes in uns finden; die neu werdende Als-ob-Nation, von der hier gespro-
chen wird, und das, was uns eint, wenn wir aussprechen wollen, was wir als Juden
sind, das beides ist ein und dasselbe. […] der [D]ienst an der Menschheit treibt uns
[…]. So daß, je mehr wir unsere Nation aus der verborgenen Stille bloßer Tatsäch-
lichkeit zu Worten des Willens und der Wandlung erheben, je mehr wir bewußte Ju-
den werden, die unter Judentum unser Wesen verstehen, Judentum zusammenfällt
mit einer sachlichen Richtung einer Erfüllung zu. […] Wie ein wilder Schrei über
die Welt hin und wie eine kaum flüsternde Stimme in unserem Innersten sagt uns ei-
ne unabweisbare Stimme, daß der Jude nur zugleich mit der Menschheit erlöst wer-
den kann und daß es ein und dasselbe ist: auf den Messias in Verbannung und Zer-
streuung zu harren und der Messias der Völker zu sein.80
Mit dem messianischen »Dienst an der Menschheit« weist Landauer dem Ju-
dentum eine universale Aufgabe zu, nämlich die, in der Diaspora die Schran-
ken der Nationalitäten zu überwinden. Die plurale nationale Identität, die Lan-
dauer für sich als Juden und Deutschen behauptet, wertet er als Kennzeichen
überhaupt des Judentums, das sich nicht wie die anderen Nationen in einem
Nationalstaat abgegrenzt habe. Was für ihn als Deutschen und Juden gelte,
treffe auch auf das (von Buber) glorifizierte Ostjudentum als den vermeintlich
»wahren Juden« zu. Auch in ihnen kämen vielfache Nationalitäten zusammen:
»Russische oder polnische Juden gibt es nicht, wohl aber zumindest dreifach
mit Nationalität Gespeiste: denn sie, die Östlichen, sind Juden und sind Russen
oder Polen oder Litauer und sind Deutsche eines besonderen Schlages (Mittel-
78 Vgl. Landauer, Judentum und Sozialismus (wie Anm. 16), S. 160: »Dieses Judentum
ist zunächst eine große Tatsächlichkeit, eine natürliche Eigenschaft derer, die da Ju-
den sind, etwas, das uns Juden von Natur aus zu einander bindet. Man ist Jude, auch
wenn man es nicht weiß oder es nicht bekennen will. Trotzdem oder gerade deswe-
gen ist davor zu warnen, daß man glaubt, diese Tatsächlichkeit definieren zu kön-
nen. Es ist nicht ohne weiteres in Begriffe zu fassen, was ein Alemanne oder Fran-
zose ist. Und dasselbe gilt von uns. Dennoch müssen wir uns heiß bemühen, dieses
scheinbar Unsagbare in Worte zu fassen. Denn wenn eine Nation wieder einmal an
einem Wendepunkt steht, wenn sie das erst werden soll, was sie ihrer Möglichkeit
nach ist, dann sind die Dichter, dann die Propheten nötig.«
79 Landauer, Sind das Ketzergedanken? (wie Anm. 69), S. 173.
80 Ebd.
3 Sozialismus und Religion bei Gustav Landauer 271
81 Ebd., S. 174.
82 Ebd.
83 Paul Breines: The Jew as Revolutionary, the case of Gustav Landauer. In: Year
Book of the Leo Baeck Institute 12 (1967), S. 75–84, hier: S. 82.
84 Löwy, Der romantische Messianismus Gustav Landauers (wie Anm. 2), S. 102.
85 Landauer, Sozialismus und Judentum (wie Anm. 58), S. 162.
86 Vgl. George L. Mosse: Jüdische Intellektuelle in Deutschland. Zwischen Religion
und Nationalismus. Übers. von Christiane Spelsberg. Frankfurt a. M., New York:
Campus 1992, S. 90–111 (»Die Linksintellektuellen«).
87 Ebd., S. 91.
88 Ebd.
272 Teil II
rale Rolle im revolutionären Prozess zusprach. Über die Frankfurter Schule ist
dieser Teil des jüdisch-deutschen Erbes bis heute lebendig geblieben.
Wie sehr Landauer dem Bildungsideal der Aufklärung verpflichtet geblie-
ben ist, zeigt sich insbesondere an seiner 1917/18 entstandenen Interpretation
von Shakespeares Der Kaufmann von Venedig. Shakespeare habe mit Shylock
»den Juden im Verkehr mit der Welt, die ihn zu dem gemacht hat, was er
ist«,89 auf die Bühne gebracht. »Er ist nichts als Verkehr; er kann nicht mit
sich allein umgehen. Vermöchte er es, täte er es, er mit seinen reichen ver-
schütteten Gaben wäre ein anderer als der er erscheint, er wäre er selbst, er
käme zu sich.«90 Shylock sei aber keine Selbstentfaltung gestattet. Er sei »fürs
Leben geprägt und verdorben, er ist fertig und gestempelt. Das Große aber an
Shakespeares Erkenntnis ist, daß dieser Teufel nicht einfach der Teufel ist,
sondern daß er geworden ist, was er ist, durch Schuld vor allem derer, die – im
Gegensatz zu ihm – noch wandelbare Menschen sind«,91 durch Schuld derer,
denen es möglich ist, »in ihrer eigenen Individualität hinaufgebildet«92 zu
werden. Shylock ist von den Möglichkeiten und Institutionen der individuellen
Entwicklung abgeschnitten, seine Gaben – Landauer sieht in ihm verschiedene
Talente angelegt, vor allem das Talent zum Künstler, das unter dem gesell-
schaftlichen Druck zur Kunst der Rache verkümmert sei – können nicht zur
Entfaltung kommen: Der »große Bann ist über ihn gesprochen«,93 denn ihm ist
der Zugang zum Reich der Bildung, der Kunst, vor allem der Musik, das in
Shakespeares Stück das Schloss Belmont verkörpert, verwehrt. Shylocks
Tochter Jessika jedoch finde im letzten Akt durch ihren christlichen Geliebten
Zutritt zu diesem Reich der Musik, in dem Geist und Natur eins seien.
Komm, Jessika! Dieser Zuruf des Liebenden an Shylocks Tochter […], dieser Ruf
zum gemeinsamen Aufstieg – Komm, hebe dich zu höhern Sphären – ist mir die er-
greifend schönste Stelle der ganzen Dichtung. Das ist Jessikas wahre Taufe im
Geist; das ist der Aufstieg der Tochter Shylocks aus dem Ghetto, im Flug über alle
geschichtlich relativen Stufen hinweg, zur Höhe der vom Geist beflügelten, im Geist
einigen Menschheit.94
Nicht die christliche, sondern die »wahre Taufe im Geist« soll die Schranken
der Konfessionen, der Nationen und der Geschlechter überwinden. Landauer
formuliert hier noch einmal das klassische Programm der Aufklärung, die
Emanzipation durch Bildung versprach. Die exponierte Stellung, die Landauer
der Musik in diesem Programm zuschreibt, charakterisiert er selbst als eine
89 Gustav Landauer: Der Kaufmann von Venedig. In: Ders., Werkausgabe (wie Anm.
3), Bd 3, S. 194–221, hier: S. 203.
90 Ebd.
91 Ebd., S. 209.
92 Ebd.
93 Ebd., S. 210.
94 Ebd., S. 219.
3 Sozialismus und Religion bei Gustav Landauer 273
Idee der Romantik.95 Freilich geht Landauers Ansatz nicht einfach in dem
Emanzipations- und Bildungsideal der Aufklärung auf. Zum einen nimmt bei
ihm eben der Sozialismus die Stelle wahrer Humanität ein. Zum anderen
spricht sich Landauer mit seiner Konzeption des Judentums als unverlierbarer
»Tatsächlichkeit« dagegen aus, das Judentum als Nation einfach aufzugeben.
Landauer setzt sich sowohl von der Assimilation als auch vom politischen
Zionismus ab. Aber auch gegenüber dem Kulturzionismus Bubers, dem Lan-
dauer als einem »erweckenden Zionismus«96 mit nachhaltiger Sympathie ge-
genübersteht, wahrt Landauer eine eigene Position, insofern er der Fixierung
auf das Ideal des ›wahren‹, ›ganzen‹ Juden eine Absage erteilt zugunsten plu-
raler nationaler Identität. Auch Bubers Konzentration auf Palästina folgt Lan-
dauer nicht, sondern weist die messianische Aufgabe einem Diaspora-
Judentum zu.
Soll man nun in einer »spezifische[n] Auslegung des jüdischen Messianis-
mus«97 die Matrix für Landauers Anarchismus sehen oder gar annehmen, dass
»der jüdische Messianismus die verbindende unbewusste Struktur in Landau-
ers Werk war«,98 wie Positionen der Forschung lauten? Der Grund, warum
diese Frage erst so spät aufgeworfen wird, liegt in Landauers Texten selbst:
Äußerst spärlich sind die expliziten Bezüge auf die messianische Tradition, die
man in ihnen finden kann. Landauer ist der messianischen Tradition gegenüber
ambivalent eingestellt. Im Gegensatz zur positiven Referenz in »Sind das Ket-
zergedanken« auf eine messianische Aufgabe der jüdischen Nation bei der
Verwirklichung des internationalen Sozialismus, kann man in den Notizen zu
einem Vortrag über »Sozialismus und Judentum« lesen: »nicht drittes Reich
und Messianismus, sondern schlichte Verwirklichung nach Möglichkeit; nicht
›Religion‹, sondern Sehnen und Mitleben.«99 Wie ein Echo hierauf nimmt sich
eine Passage im Aufruf zum Sozialismus aus:
Sorge jede Generation tapfer und radikal für das, was ihrem Geist entspricht: es
muss auch später noch Grund zu Revolution geben […]. Keinerlei Sicherheitsvor-
kehrungen fürs tausendjährige Reich oder die Ewigkeit sollen hergestellt werden,
sondern eine große und umfassende Ausgleichung und die Schaffung des Willens,
diesen Ausgleich periodisch zu wiederholen (AS 135f.).
95 Vgl. ebd., S. 209: »[F]ür sie [die anderen Personen des Stücks; Anm. E. D.] gibt es,
und für Shylock nicht, – einen fünften Akt, eine mondbeglänzte Zaubernacht, ein
Reich der Romantik. Was unterscheidet sie, mögen sie sonst sein, wie sie wollen,
von Shylock? Musik!«
96 Gustav Landauer: Zur Poesie der Juden. In: Ders., Werkausgabe (wie Anm. 3),
Bd 3, S. 175–177, hier: S. 176.
97 Schmidt-Bergmann, »Judentum und Sozialismus« (wie Anm. 68), S. 152.
98 Weisberger, Gustav Landauers mystischer Messianismus (wie Anm. 2), S. 433.
99 Landauer, Sozialismus und Judentum (wie Anm. 58), S. 162.
274 Teil II
Umgestaltung und Umwälzung als ein für allemal vorgesehene Regel, die
Ordnung durch den Geist als Vorsatz« (AS 136) instituiert habe. Ganz ähnlich
interpretiert Buber, wie wir gesehen haben, in seinen späteren »Vorlesungen
über Judentum und Christentum« sowie in seiner Studie Königtum Gottes den
Sinai-Bund als eine »Gemeinschaft aus Freiwilligkeit«,100 die sich nicht durch
das Gesetz, sondern durch den Widerstand gegen jede Form institutionalisier-
ter Herrschaft auszeichne. Buber nennt dies den jüdischen »Urmessianismus«
(JCM VIII 5) – anders als Landauer, der die »mosaische Gesellschaftsord-
nung« von der messianischen Tradition trennt. Es ist der apokalyptische As-
pekt der messianischen Tradition, der Landauer zur Vorsicht anhält.101 Es
bleibt ein fragwürdiges Unternehmen, Landauers gesamtem Werk einen unbe-
wussten strukturellen Messianismus zu unterstellen, indem man wie Weisber-
ger mit einem Idealtyp des jüdischen Messianismus operiert und diesem Ideal-
typ, mit dem späten Gershom Scholem, drei Charakteristika zuordnet: »Kol-
lektivismus, Diesseitigkeit, die Verbindung konservativer und utopischer Kräf-
te«.102 Diese Charakteristika dürften auf eine Vielzahl utopischer Entwürfe
zutreffen; ohne dass ein expliziter Bezug auf die jüdische messianische Tradi-
tion vorliegt, sind sie viel zu unspezifisch, um den jüdischen Messianismus als
»verbindende unbewußte Struktur in Landauers Werk«103 zu reklamieren.
Stattdessen sollte man Landauers Zurückhaltung gegenüber dem messiani-
schen Vokabular ernst nehmen: Es scheint sich für ihn um eine Tradition zu
handeln, die sich schwer kontrollieren lässt und apokalyptisch ausschlagen
kann.
Positiv bezieht sich Landauer auf die Tradition des jüdischen Messianismus
in dem ganz bestimmten Sinne, dass er sie, wie in »Sind das Ketzergedan-
ken?«, als messianisches Amt der jüdischen Nation interpretiert, eine im So-
zialismus geeinte Menschheit zu verwirklichen. Dass dieses Amt nicht nur ein
jüdisches Amt ist, sondern dass an ihm andere Nationen teilhaben, drückt er in
seiner Interpretation von Strindbergs Historischen Miniaturen aus, die er als
eine große Geschichtsdichtung von der Zeit Israels in Ägypten bis zur Franzö-
sischen Revolution vorstellt. Diese Geschichtsdichtung sei von der Verheißung
an Abraham geprägt: »In deinem Namen sollen alle Geschlechter gesegnet
werden!«, die Landauer als Verheißung liest, »daß die Menschheit in diesem
Geiste, der vom Judentum kommt« geeint werde.
Messianisch ist die Anschauung, der Glaube, der Wille, der hier zum Ausdruck
kommt. Frage keiner, was solche Geschichtsdichtung, die vom jüdischen Geist aus-
geht und in jüdischen Geist mündet, dem Juden solle. Wir Juden haben nicht bloß
unser Amt an der Menschheit; die Wege, die die Menschheit nimmt, Umwege, Irr-
wege, schwere und gefährliche Wege, die Wege der andern Völker werden auch um
unsertwillen gegangen, sind auch unsre Wege. Sind nicht unser ganzer Weg, neh-
men uns nichts von unserer besonderen Aufgabe ab, sind auch unser Weg. Unser
Weg ist auch der Weg Europas bis zum 18. Brumaire, unser Weg auch, was dann
kam bis März 1848, unser Weg auch, was anschloß und weitergeht über unsre Zei-
ten hinweg.104
Landauer bleibt bis zu seinem Lebensende ein Prophet des Gemeingeistes, den
er nach 1908 zwar wiederholt, aber keineswegs ausschließlich, mit dem »jüdi-
schen Geist« identifiziert, welcher sich aber nicht auf die jüdische Nation oder
auf Juden als seine Botschafter beschränkt. Wie in »Sind das Ketzergedan-
ken?« tragen auch in Landauers Strindberg-Interpretation alle die, die sich
»durch das Band des Geistes verbunden«105 fühlen, auch wenn sie aus ver-
schiedenen Nationen stammen, zur sozialistisch vereinigten Menschheit und
damit zur Erfüllung der Verheißung an Abraham bei. Aber auch Landauer
kann die Spannung zwischen Universalität und Partikularität nicht vermeiden:
Einerseits partizipieren alle »durch das Band des Geistes [V]erbund[en]« ge-
wissermaßen am jüdischen Geist und am jüdischen Amt an der Menschheit;
andererseits fällt doch wieder dem Judentum als Nation eine »besondere[]
Aufgabe« zu. So äußert sich auch bei Landauer das messianische Paradox,
dass der Rückgriff auf die messianische Tradition einerseits der jüdischen
Identitätsbildung dienen und andererseits alle nationalen Identitäten über-
schreiten soll.106 Dieses Paradox ist aber anders gelagert als bei Buber. Denn
im Rekurs auf die messianische Tradition konstituiert sich bei Landauer das
Diaspora-Judentum. Im Unterschied zu Buber geht Landauer immer schon von
einer pluralen nationalen Identität aus, die das Diaspora-Judentum kennzeich-
ne. Die jüdische Identität ist daher bei Landauer immer schon plurale Identität.
Hierin begründet sich für ihn die messianische Aufgabe des Judentums. Lan-
dauer setzt im Hinblick auf die jüdische Identität voraus, was bei Buber der
Rückkehr aus dem Exil folgt bzw. mit dieser einhergeht: die Überschreitung
nationaler Grenzen.
1 Dieses Kapitel stellt eine überarbeitete und erweiterte Fassung einer Aufsatzpublika-
tion dar (vgl. Elke Dubbels: Zur Logik der Figuren des Messianischen in Walter
Benjamins »Theologisch-politischem Fragment«. In: Daniel Weidner [Hg.]: Profa-
nes Leben. Walter Benjamins Dialektik der Säkularisierung. Berlin: Suhrkamp 2010,
S. 39–65).
2 Werner Hamacher: Das Theologisch-politische Fragment. In: Burkhardt Lindner
(Hg.): Benjamin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, Weimar: Metzler
2006, S. 175–192, hier: S. 175. Zur Frage des unsicheren Titels und der Datierung
des Fragments vgl. Hermann Schweppenhäuser und Rolf Tiedemann: Anmerkungen
der Herausgeber. In: GS II 946–948.
3 Schweppenhäuser und Tiedemann, Anmerkungen der Herausgeber (wie Anm. 2), S. 946.
4 Ebd., S. 948.
5 Sigrid Weigel: Entstellte Ähnlichkeit. Walter Benjamins theoretische Schreibweise.
Frankfurt a. M.: Fischer-Taschenbuch-Verlag 1997 (Fischer; 12964), S. 71.
6 Sigrid Weigel: Souverän, Märtyrer und ›gerechte Kriege‹ jenseits des Jus Publicum
Europaeum. Zum Dilemma Politischer Theologie, diskutiert mit Carl Schmitt und
Walter Benjamin. In: Daniel Weidner (Hg.): Figuren des Europäischen. Kulturge-
schichtliche Perspektiven. München: Fink 2006, S. 101–129, hier: S. 123.
7 Wohlfarth schreibt z. B. dem »Theologisch-politischen Fragment« und Benjamins
Denken überhaupt eine bruchstückhafte politische Theologie zu (vgl. Irving Wohl-
278 Teil II
sich der »Untergang« (GS II 204) alles Irdischen, der in Benjamins Fragment
eine paradox dynamische Beziehung zu dem »Kommen des messianischen
Reiches« unterhält, zu einer apokalyptischen Gewaltpolitik? Hat der »Unter-
gang« überhaupt irgendetwas mit intentional brachialer Gewalt zu tun?
Statt aus Benjamins Texten einen ›Messianismus‹ herauszupräparieren und
ihn durch Epitheta zu spezifizieren,8 möchte ich das Arrangement der unter-
schiedlichen theoretischen und sprachlich-rhetorischen Figuren des Messiani-
schen untersuchen, die in Benjamins Text begegnen. Wie funktionieren diese
Figuren logisch, wie funktionieren sie sprachlich? Im »Theologisch-
politischen Fragment« zeigt Benjamin über verschiedene Figuren des Messia-
nischen unterschiedliche Möglichkeiten auf, wie Politik und Theologie ins
Verhältnis gesetzt werden können, wobei apokalyptische, mystische und pro-
fane Figuren des Messianischen auftauchen. Wie werden diese perspektivisch
arrangiert und welches historische Wissen über Formen und Funktionen des
jüdischen Messianismus rufen sie auf?
Was das historische Wissen um die Formen und Funktionen des jüdischen
Messianismus angeht, dürfte Gershom Scholem die maßgebliche Auskunfts-
quelle für Benjamin gewesen sein. Statt nun wie üblich vom späten Scholem
und dessen Arbeiten zum Messianismus auf den jungen zurückzuschließen,
werde ich mich auf Scholems Notizen zum jüdischen Messianismus von
1918/1919 beziehen, die im Zusammenhang mit der oben bereits vorgestellten
messianischen Zeit- und Sprachphilosophie des jungen Scholem stehen (vgl.
Kap. I.4.2). Insofern das »Theologisch-politische Fragment« sich im Span-
nungsfeld von mystischen und apokalyptischen Figuren des Messianischen
bewegt, positioniert es sich gegenüber Scholem einerseits, Ernst Bloch ande-
rerseits, dessen Geist der Utopie Benjamins Fragment explizit nennt. Form und
farth: Nihilismus kontra Nihilismus. Benjamins ›Weltpolitik‹ aus heutiger Sicht. In:
Bernd Witte und Mario Ponzi [Hg.]: Theologie und Politik. Walter Benjamin und
ein Paradigma der Moderne. Berlin: Schmidt 2005, S. 107–136, hier: S. 132).
8 Unterschiedliche Spezifikationen von Benjamins ›Messianismus‹ sind im Umlauf:
Wohlfarth spricht von Benjamins »nihilistische[m] Messianismus« (Irving Wohl-
farth: Nihilistischer Messianismus. Zu Walter Benjamins Theologisch-politischem
Fragment. In: Ashraf Noor [Hg.]: »Jüdische« und »christliche« Sprachfigurationen
im 20. Jahrhundert. Paderborn: Schöningh 2002, S. 141–214), Hamacher vom
»Messianismus der Ironie« (Hamacher, Das Theologisch-politische Fragment [wie
Anm. 2], S. 191), Weigel von einem »negativen oder inversen Messianismus« (Sig-
rid Weigel: Zu Franz Kafka. In: Burkhardt Lindner [Hg.]: Benjamin-Handbuch. Le-
ben – Werk – Wirkung. Stuttgart, Weimar: Metzler 2006, S. 543–556, hier: S. 543),
Rabinbach von »messianic anarchism« (Anson Rabinbach: In the Shadow of the Ca-
tastrophe. German Intellectuals between Apocalypse and Enlightenment. Berkeley,
Los Angeles, London: Univ. of California Press 1997 [Weimar and now; 14], S. 59)
und Schulte meint, »Walter Benjamins Messianismus ist apokalyptisch« (Christoph
Schulte: Der Messias der Utopie. Elemente des Messianismus bei einigen modernen
jüdischen Linksintellektuellen. In: Menora. Jahrbuch für deutsch-jüdische Geschich-
te 11 [2000], S. 251–278, hier: S. 272).
4 Mystische, apokalyptische und profane Figuren des Messianischen 279
das »Reich Gottes« (ebd.) kategorisch voneinander zu trennen. »Erst der Mes-
sias selbst vollendet alles historische Geschehen, und zwar in dem Sinne, daß
er dessen Beziehung auf das Messianische selbst erst erlöst, vollendet,
schafft.« (ebd.) Mit dieser These beginnt Benjamin und folgert daraus in einer
syntaktisch durch ein viermaliges »darum« strukturierten Sequenz, dass
»nichts Historisches von sich aus sich auf Messianisches beziehen wollen«
(ebd.) könne; dass das Reich Gottes nicht das Telos der historischen Dynamis
sei und nicht zum Ziel gesetzt werden könne, denn historisch gesehen sei es
»Ende« (ebd.), nicht Ziel; dass die »Ordnung des Profanen nicht am Gedanken
des Gottesreichs aufgebaut werden« (ebd.) könne und darum die »Theokratie
keinen politischen sondern allein einen religiösen Sinn« (ebd.) habe.
Die Position, die Benjamin im ersten Absatz des »Theologisch-politischen
Fragments« thesenhaft vertritt, stimmt mit dem klassischen orthodoxen Stand-
punkt des rabbinischen Judentums überein. Diesem zufolge kann das Kommen
des Messias nicht erzwungen und soll das Ende nicht »bedrängt« werden.
Stattdessen gilt der Grundsatz des »talmud tora li-schmah«, womit das Lernen
der Thora um ihrer selbst willen bezeichnet wird.9 Wer die Weisung, d. h. die
Thora und ihre Mitzwot, erfüllt, nimmt das ›Joch des Himmelreiches‹ auf sich.
Das ist Theokratie im religiösen Sinn, den Benjamin im ersten Absatz des
Fragments im Gegensatz zum politischen Sinn der Theokratie zugesteht. Von
religiöser Warte aus betrachtet heißt dies, dass die Theokratie im »religiösen
Sinn« nicht politisch ist und sich nicht zum Mittel der Politik funktionalisieren
lassen soll. Aus politischer Perspektive bedeutet dies, dass das Gottesreich
kein politisches Ziel ist.
Bemerkenswert ist es, dass Benjamin in seiner Argumentation für eine strik-
te Trennung der Ordnung des Gottesreiches und des Profanen nicht die Per-
spektive der Aufklärung wählt, die einen Anspruch auf Emanzipation von
religiöser Bevormundung erhebt, sondern die Perspektive der Orthodoxie. Es
zeichnet sich das charakteristische Profil von Benjamins dialektischem Denken
darin ab, dass er einen stark mit der Aufklärung verbundenen Standpunkt –
Trennung der religiösen und politischen Ordnungen – mit Argumenten der
jüdischen Orthodoxie vertritt. Damit schreibt Benjamin der Orthodoxie nicht
nur ein aufklärerisches Potential zu. Indirekt legt seine Art der Argumentation
vielmehr auch nahe, dass der Aufklärung allein nicht zuzutrauen ist, die Tren-
nung zwischen den Ordnungen zu vollziehen und aufrechtzuerhalten. Damit
die Trennung zwischen den Ordnungen gelingt, ist es notwendig, die theologi-
sche Perspektive in ihrer Eigenständigkeit und Differenz zur politischen Per-
spektive wahrzunehmen und zu würdigen. Sonst droht die Politik zu verken-
nen, was sie ist – nämlich Politik, und nicht Theologie – und sich unbemerkt
religiös aufzuladen.
9 Vgl. Yeshayahu Leibowitz: Lishmah and Not-Lishmah. In: Ders.: Judaism, Jewish
Values, and the Jewish State. Ed. by Eliezer Goldman. Cambridge (Mass.), London:
Harvard Univ. Press 1992, S. 61–78, sowie Scholem, T II 371.
4 Mystische, apokalyptische und profane Figuren des Messianischen 281
Die »Beziehung« (GS II 203) zwischen den beiden Ordnungen, das stellt
der erste Absatz des Fragments heraus, geht in keiner Mittel-Zweck-Relation
auf. »Erst der Messias selbst« (ebd.) »schafft« (ebd.) die »Beziehung« (ebd.)
zwischen »alle[m] historische[n] Geschehen« und dem Messianischen.
»[N]ichts Historisches [kann] von sich aus sich auf Messianisches beziehen
wollen« (ebd.; Hervorhebung E. D.). Vom Messias aus gesehen ist die Bezie-
hung zwischen Historischem und Messianischem Erlösung und Vollendung,
wie der erste Satz zu verstehen gibt. Historisch gesehen ist sie hingegen Ende
– nicht Ziel – alles Historischen. Dieses Arrangement von Perspektiven ist
kennzeichnend für Benjamins Schreibweise im Umgang mit dem theologisch-
politischen Komplex.10 Jacob Taubes hat richtig bemerkt, dass mit einem »En-
de«, das weder ein historisch immanentes noch historisch zu setzendes Telos
darstellt, eine apokalyptische Zeitvorstellung angesprochen wird. Das »Ende«
bezeichnet einen »Bruch« mit der Geschichte. »Da ist nichts vom Immanenten.
Von daher kommt man zu nichts. Die Fallbrücke ist von der anderen Seite.
Und ob man geholt wird oder nicht, […] das liegt nicht an einem selbst. […]
Deshalb der klare Bruch.«11
Taubes’ Interpretation ist insofern problematisch, als er nicht zwischen den
unterschiedlichen Perspektiven und Sprecherpositionen des ersten und zweiten
Absatzes vom »Theologisch-politischen Fragment« differenziert. Das führt
dazu, dass er von der apokalyptischen Sichtweise, die der erste Absatz ein-
nimmt, einen politischen Standpunkt ableitet, und so nicht den strategischen
Wert erkennt, der in Benjamins Arrangement der Perspektiven liegt. Im ersten
Absatz des »Theologisch-politischen Fragments« wird wohl die apokalypti-
sche Vorstellung des Endes als eines Bruches mit allem Historischen evoziert.
Allein, Benjamin spricht dieser Vorstellung dezidiert jede politische Bedeu-
tung ab, indem er sich auf den orthodoxen Standpunkt stellt. Die Apokalyptik,
will dies besagen, ist nur religiös von Belang; politisch ist sie unfruchtbar,
egal, ob man sie politisch nun in einem anarchistisch-nihilistischen Sinne in-
terpretiert wie Taubes oder revolutionär wie Ernst Bloch.
Spricht im ersten Absatz der Theologe, so im zweiten der Theoretiker des
Profanen als Theoretiker des Politischen. Die »Ordnung des Profanen« (GS II
203) habe sich aufzurichten an der »Idee des Glücks« (ebd.). »Die Beziehung
dieser Ordnung auf das Messianische ist eines der wesentlichen Lehrstücke der
Geschichtsphilosophie. Und zwar ist von ihr aus eine mystische Geschichts-
auffassung bedingt« (ebd.). Hat der erste Absatz die Beziehungslosigkeit zwi-
schen den Ordnungen des Profanen und des Gottesreiches herausgestellt, so
hat sich damit offenbar nicht die Frage der Beziehung zwischen den Ordnun-
gen erledigt. Sie ist eine Frage der Perspektive. Der Theologe geht von der
Beziehungslosigkeit aus, wie sie in der apokalyptischen Zeitvorstellung zum
Ausdruck kommt, die das Ende als Bruch vorstellt. Für den politischen Denker
stellt sich die Frage nach der Beziehung zwischen der »profanen Ordnung des
Profanen« (GS II 204) und dem »messianische[n] Reich« (ebd.) aber offenbar
weiterhin. Durch den Theologen ist er belehrt worden, wie die Beziehung nicht
zu denken sei: als eine Mittel-Zweck-Relation. Auch die apokalyptische Zeit-
vorstellung, so lehrt der Theologe, kann der politische Denker sich nicht zu
eigen machen, da er nicht eigenmächtig, »von sich aus«, den Bruch mit allem
Historischen anstreben kann. Dem politischen Denker, vom Theologen in die
Schranken gewiesen, bleibt die mystische Geschichtsauffassung, um eine Be-
ziehung zwischen den Ordnungen zu denken. In einem »Bilde« (ebd.) sei de-
ren Problem darzulegen:
Wenn eine Pfeilrichtung das Ziel, in welchem die Dynamis des Profanen wirkt, be-
zeichnet, eine andere die Richtung der messianischen Intensität, so strebt freilich das
Glückssuchen der freien Menschheit von jener messianischen Richtung fort, aber
wie eine Kraft durch ihren Weg eine andere auf entgegengesetzt gerichtetem Wege
zu befördern vermag, so auch die profane Ordnung des Profanen das Kommen des
messianischen Reiches. Das Profane also ist zwar keine Kategorie des Reichs, aber
eine Kategorie, und zwar der zutreffendsten eine, seines leisesten Nahens. Denn im
Glück erstrebt alles Irdische seinen Untergang, nur im Glück aber ist ihm der Unter-
gang zu finden bestimmt. – (GS II 203f.)
Um die Beziehung zwischen der »profane[n] Ordnung des Profanen« und dem
»messianische[n] Reich« denken zu können, müssen die beiden Ordnungen
von ihrer Zeitlichkeit her verstanden werden. Dem »Kommen des messiani-
schen Reiches« korrespondiert der »Untergang« der »profanen Ordnung des
Profanen«. Dieses Verhältnis ist aber nicht als zeitliche Abfolge zu denken,
sondern als Gleichzeitigkeit. Anders als die apokalyptische Zeitauffassung, die
zwischen diesem Äon und dem kommenden Äon, zwischen Geschichte (als
Mangel) und Erlösung (als Fülle), streng scheidet und einen radikalen Bruch
zwischen beiden annimmt,12 widerspricht die »mystische Geschichtsauffas-
sung« einem mechanischen Zeitverständnis des Nacheinanders verschiedener
isolierter Abschnitte auf einer Zeitachse. Der »Untergang« der »profanen Ord-
nung des Profanen« ist nicht einmalig, kein Bruch als Ende eines alten und
Anfang eines neuen Äons, sondern ein ›ewiger Untergang‹:
Der geistlichen restitutio in integrum, welche in die Unsterblichkeit einführt, ent-
spricht eine weltliche, die in die Ewigkeit eines Untergangs führt und der Rhythmus
dieses ewig vergehenden, in seiner räumlichen, aber auch zeitlichen Totalität verge-
henden Weltlichen, der Rhythmus der messianischen Natur ist Glück (GS II 204).
fanen«, die er – mit einem Begriff der jüdischen Mystik und zugleich jenseits
ihrer Denkmöglichkeiten – als weltliche »restitutio in integrum« (Wiederher-
stellung eines Ganzen) bezeichnet. Der ›ewige Untergang‹ ist also keinesfalls
mit dem apokalyptischen Untergang gleichzusetzen, wovon z. B. Taubes aus-
geht, der nicht zwischen dem »Ende«, das der erste Absatz des »Theologisch-
politischen Fragments« benennt, und der »Ewigkeit eines Unterganges«, die
der zweite Absatz beschreibt, differenziert. Taubes zieht beide Absätze zu-
sammen, um Benjamins »Weltpolitik, deren Methode Nihilismus zu heißen
hat« (GS II 204), als nihilistische Entwertung der »Dinge der Welt« vor dem
Horizont des baldigen Weltuntergangs zu deuten – im Sinne von Paulus’ Rö-
merbrief und erstem Korintherbrief. Taubes verkennt damit den Wert der stra-
tegischen Verschiebung, die Benjamin vornimmt, der den »Untergang« vom
apokalyptischen »Ende« trennt, ihn stattdessen in Permanenz erklärt und einer
»mystische[n] Geschichtsauffassung« (GS II 203) zuschreibt. Diese entwertet
aber nicht auf apokalyptisch-nihilistische Weise die Geschichte sowie die
»Dinge der Welt« in Erwartung eines baldigen Weltuntergangs.13 Vielmehr
gibt die Vorstellung der »Ewigkeit eines Unterganges« den zeitlich-
geschichtlichen Modus des Weltlichen als Aufschub des Endes zu denken –
und zwar als Aufschub des Endes im permanenten Enden.
Der Übergang vom zweiten zum dritten Absatz des »Theologisch-
politischen Fragments« verläuft zwischen einer messianischen Natur und einer
nicht-messianischen Natur. Messianisch sei die Natur »aus ihrer ewigen und
totalen Vergängnis« (GS II/1 204), postuliert Benjamin am Ende des zweiten
Absatzes, und zieht hieraus praktische, politische Konsequenzen im dritten
Absatz: »Diese zu erstreben, auch für diejenigen Stufen des Menschen, welche
Natur sind, ist die Aufgabe der Weltpolitik, deren Methode Nihilismus zu
heißen hat« (GS II/1 204). Die unheilvolle Ordnung, gegen die sich der welt-
politische Nihilismus richtet, wird durch eine Natur repräsentiert, die nicht-
messianisch ist und die in eine »messianische[] Natur« der »ewigen und tota-
len Vergängnis« zu überführen ist. Die nicht-messianische Natur lässt sich nun
als Chiffre für die »Ordnung des Rechts« (II/1 174) lesen, die Benjamin mit
Schicksal, Mythos und Schuld assoziiert. Dies legt zumindest ein vergleichen-
der Blick auf die frühe Skizze »Schicksal und Charakter« nahe, in der die
Natur auch, ganz analog zum »Theologisch-politischen Fragment«, unter zwei
Aspekten erscheint: unter dem Banne des »Schuldzusammenhang[s] des Le-
bendigen« (GS II/1 175), den das Recht etabliere, und im Licht der »Freiheit«
(GS II/1 178) des Charakters. Den Schuldzusammenhang des Lebendigen lässt
Benjamin einer »natürlichen Verfassung des Lebendigen« (GS II/1 175) ent-
sprechen, die Freiheit des Charakters verbindet sich ihm mit der »Vision der
natürlichen Unschuld des Menschen« (GS II/1 178). Schicksal und Freiheit
betreffen also beide die »Natur im Menschen« (GS II/1 176). Benjamin denkt
Freiheit mithin nicht als Befreiung von der Natur, sondern als befreite »Natur
im Menschen«, der nach der hier vorgeschlagenen Lesart die »messianische
Natur« im »Theologisch-politischen Fragment« korrespondiert. Freiheit gibt
sich als Freisetzung natürlicher »Vergängnis« zu verstehen, die den Bann des
Schuldzusammenhangs des Lebendigen löst, den die schicksalhafte Rechts-
ordnung errichtet.14
14 Auf dieser Linie interpretiert Eric Santner Benjamins Messianismus, den er in Bezug
setzt zum Konzept der Kreatur, das Benjamin erst später, im Zusammenhang mit
seiner Beschäftigung mit den Barockdramen, gewinnt: »Benjamin’s messianism,
which was a constant throughout his career, must in turn be understood in direct re-
lation to this figure of the creaturely, of life captured in the (ever shifting and muta-
ting) threshold of the juridicopolitical order. For Benjamin, the only possibility for
genuinely new social, political, and ethical relations in human life – for genuine
creativity in these domains – emerges where this capture/captivation can be inter-
rupted« (Eric Santner: On Creaturely Life. Rilke, Benjamin, Sebald. Chicago: Univ.
of Chicago Press 2006, S. 86).
4 Mystische, apokalyptische und profane Figuren des Messianischen 285
Zwei Strömungen des Messianismus lassen sich theoretisch wie historisch unter-
scheiden: eine revolutionäre und eine verwandelnde. Die erstere stellt sich so dar:
der Messias am Ende der Tage, ungeheure Kriege und Edom gegen Moab, Weltge-
richt = Weltuntergang, Rückkehr der Seelen in jene Welt. Gleichung von ʠʡʬ ʣʩʺʲ
[’atid la-vo, die Zukunft, die kommt (messianische Zeit)] und ʠʡʤ ʭʬʥʲ [’olam ha-ba,
die zukünftige Welt (neue Schöpfung)]. Grundlage wortwörtlicher Verstand der Zu-
kunft als empirischer Zukunft.
Die zweite besagt: Reinigung der Seelen, Verwandlung der Natur ganz innerlich,
Weltgericht neutralisiert, jedenfalls kein Untergang, Unterscheidung von ʠʡʬ ʣʩʺʲ
[’atid la-vo, die Zukunft, die kommt (messianische Zeit)] und ʠʡʤ ʭʬʥʲ [’olam ha-ba,
die zukünftige Welt (neue Schöpfung)].
Resultante: das Ende der Tage – heute. Jene Welt ist diese Welt. Messianische Zu-
kunft ist keine empirische Zukunft.
Diese Anschauungen stufen sich in unendlich vielen Graden ab. Erlösung durch
Einzelne – Erlösung durch alle (Lurja – Bescht). Demokratie und Aristokratie inner-
halb der Theokratie. ›Athid labo‹ heisst wörtlich: bereit zu kommen! Das ist noch
die richtige Terminologie der messianischen Zeit als der stets bereiten Zeit (TII
380f.).
16 Vgl. Andreas Kilcher: Die Sprachtheorie der Kabbala als ästhetisches Paradigma.
Die Konstruktion einer ästhetischen Kabbala seit der Frühen Neuzeit. Stuttgart,
Weimar: Metzler 1998, S. 254. Der Rezeption Molitors durch Scholem ist auch
Christoph Schulte nachgegangen. Schulte konzentriert sich dabei besonders auf
Ähnlichkeiten und Unterschiede in Molitors und Scholems spekulativer Geschichts-
philosophie auf der Grundlage kabbalistischer Vorstellungen (vgl. Christoph Schul-
te: »Die Buchstaben haben... ihre Wurzeln oben.« Scholem und Molitor. In: Eveline
Goodman-Thau, Gert Mattenklott und Christoph Schulte [Hg.]: Kabbala und Ro-
mantik. Tübungen: Niemeyer 1994 [Conditio Judaica; 7], S. 143–164).
4 Mystische, apokalyptische und profane Figuren des Messianischen 287
Messianisch wäre der Zionismus, wenn er die Thora als religiöse Ordnung
unmittelbar verwirklichen wollte. Aber auch wenn für Scholem der Zionismus
dies nicht beabsichtigt bzw. nicht beabsichtigen sollte, behält er in seiner Dar-
stellung einen Bezug zur Thora als Lehre, die »die letzte, elastische und un-
endlich tragfähige Schicht« (T II 621) des jüdischen Lebens sei. Als solche
könne sie sich nur in Verwandlungen aussprechen. Mehr noch: Sie könne zwar
»aus unserm Leben in all seinen Bezirken strahlen, aber auch im Worte bleibt
sie nur mehr Strahl« (T II 621). Aus der Thora erstreckt sich wohl ein
»Strahl«, der auf die ›Blendung der Offenbarung‹ (s.o., Kap. I.4.3) voraus-
weist, in alle Bezirke des Lebens; als solcher »Strahl« gibt die Thora aber kein
Gesetz vor, sondern ihr Verhältnis »aufs Pragmatische muss ein anarchisches«
(T II 622) sein.17 Eben dies nennt Scholem den »messianische[n] Gesichts-
punkt« (T II 622), aus dem er positiv das »Schweben zwischen Zweifel und
Tat« (T II 622), negativ die Missbilligung der Maßregeln der Regierung fol-
gert. Hieraus ergibt sich für Scholem, dass die »Lehre von Zion […] die Eli-
mination der Herrschaft aus den Handlungen (Anarchismus) zugunsten der
Elevation der neuen Schöpfung, die die ältere ist ((ʸʩʤʡ) ʠʡ ʸʡʫʹ ʠʡʤ ʭʬʥʲ)
[’olam ha-ba sche-kvar ba (bahir), die kommende Welt, die schon gekommen
war (Bahir)]«18 (T II 622), betreffe.
An dem Manuskript »Die Lehre von Zion« lässt sich nachvollziehen, wie
Scholem über seinen »Zionismus in gewisser Weise zugleich messianisch und
unmessianisch«19 spricht. Der Zionismus ist nicht messianisch, weil er keine
17 Scholem nennt diese Form des religiösen Anarchismus auch »theokratischen Anar-
chismus« (Gershom Scholem: Walter Benjamin – die Geschichte einer Freund-
schaft. 4. Aufl., Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1997 [Bibliothek Suhrkamp; 467],
S. 108).
18 Über das kabbalistische Buch Bahir hat Scholem seine Doktorarbeit geschrieben
und es auf Deutsch herausgegeben (vgl. Das Buch Bahir. Ein Schriftdenkmal aus der
Frühzeit der Kabbala. Hg. von Gershom Scholem. Leipzig: W. Drugulin 1923).
19 Daniel Weidner: Gershom Scholem. Politisches, esoterisches und historiographi-
sches Schreiben. München: Fink 2003, S. 99.
288 Teil II
20 Vgl. hierzu Amnon Raz-Krakozkin: The Golem of Scholem. Messianism and Zion-
ism in the Writings of Rabbi Avraham Isaac HaKohen Kook and Gershom Scholem.
In: Christoph Miething (Hg.): Politik und Religion im Judentum. Tübingen: Nie-
meyer 1999 (Romania Judaica; 4), S. 223–238, besonders S. 231f.
4 Mystische, apokalyptische und profane Figuren des Messianischen 289
21 In dieser Konzeption der »messianischen Zeit« als ewig naher Zukunft ist Benja-
mins Fragment auch Franz Rosenzweigs Stern der Erlösung verwandt, mit dem er
durch Scholem vertraut gemacht wurde: »[D]as Reich, die Verlebendigung des Da-
seins, kommt von Anfang an, es ist immer im Kommen. […] Es ist immer zukünftig
– aber zukünftig ist es immer. Es ist immer ebenso da wie zukünftig. Es ist einfüral-
lemal noch nicht da. Es kommt ewig. Ewigkeit ist nicht eine sehr lange Zeit, sondern
ein Morgen, das ebensogut Heute sein könnte. Ewigkeit ist eine Zukunft, die ohne
aufzuhören Zukunft zu sein, dennoch gegenwärtig ist. Ewigkeit ist ein Heute, das
aber sich bewußt ist, mehr als Heute zu sein« (SdE 250). Vgl. zur losen Verbindung
zwischen Rosenzweig und Benjamin: Stéphane Mosès: Walter Benjamin and Franz
290 Teil II
Rosenzweig. In: Gary Smith (Ed.): Benjamin. Philosophy, History, Aesthetics. Chi-
cago, London: Univ. of Chicago Press 1989, S. 228–246.
22 Uwe Steiner: Der wahre Politiker. Walter Benjamins Begriff des Politischen. In:
Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 25 (2000),
S. 48–92, hier: S. 54f.
23 Ebd., S. 85. Vgl. auch Wohlfarth, Nihilistischer Messianismus (wie Anm. 8), S. 212:
»Die Politik des Ziel- und Recht-Setzens ist auszusetzen; der ›weltpolitische Nihi-
lismus‹ setzt nichts. […] ›Teleologie ohne Endzweck‹, ›Methode‹ ohne ›Endziel‹,
der Nihilismus zielt auf die Unterbrechung, und Annihilierung politischer Zielset-
zungen.«
24 Steiner, Der wahre Politiker (wie Anm. 22), S. 85.
25 Ebd., S. 76.
4 Mystische, apokalyptische und profane Figuren des Messianischen 291
zu zelebrieren.29 Von einer solchen Profanierung als Mittel zum Zweck unter-
scheidet sich Benjamins »profane Ordnung des Profanen«, die eine Ordnung
sui generis und keine heilige Ordnung des Profanen vorstellt.30 Die »profane
Ordnung des Profanen« definiert sich bei Benjamin nicht über die Profanie-
rung von Heiligem. Mit der weltlichen »restitutio in integrum«, die schließlich
mit einer »messianischen Natur« (GS II/1 204) zusammenfällt, gibt Benjamin
die kategorische Unterscheidung zwischen Profanem und Messianischem auf,
die den Gang der Argumentation bis dahin bestimmt hatte. Die Figur der welt-
lichen »restitutio in integrum« – identisch mit einer Natur, die messianisch
»aus ihrer ewigen und totalen Vergängnis« (GS II/1 204) ist –, stellt eine pro-
fane Figur des Messianischen dar. Das ganz Profane, die ewige und totale
Vergängnis, gewinnt messianische Qualität. Benjamin geht es darum, messia-
nische Potenzen im gänzlich Profanen zu entdecken. Auch wenn dies nicht als
religiöse Selbstermächtigung der Politik gemeint ist, tut sich hier doch ein
Einfallstor für die religiöse Aufladung profaner Ordnung in Benjamins Frag-
ment auf, das vielleicht mehr als alles andere zeigt, wie schwierig es ist, profa-
ne und religiöse Kräfte in einem austarierten Kräftegleichgewicht zu halten.
Benjamin übernimmt den Begriff der »restitutio in integrum« (hebräisch
»Tikkun«) wohl aus der mystischen Tradition, aber nur im Hinblick auf eine
geistliche »restitutio in integrum« finden sich Vorbilder. Der lurianischen
Kabbala zufolge wirkt der Mensch durch Vollzug der Thora an der »Wieder-
herstellung seiner geistigen Urgestalt«,31 die durch den Bruch der Gefäße, die
kosmische Urkatastrophe im Entstehungsprozess der Welt, beschädigt wurde.
Eine profane, weltliche restitutio in integrum hat demgegenüber keine religi-
onsgeschichtlichen Vorläufer. Entgegengesetzt gerichtete, gleichwohl sich
befördernde Dynamiken, die auf unterschiedliche »restitutiones«, Wiederher-
stellungen, hinarbeiten, finden sich jedoch in einer profanen, spekulativen
Lehre über die (nicht nur menschliche) Natur, deren Urheber selbst zugeben
musste, dass sie einen »mystischen Eindruck«32 mache: Gemeint ist Sigmund
Freuds Theorie über den Lebens- und den Todestrieb, die er erstmals 1921 in
Jenseits des Lustprinzips vorstellte. Lebenstrieb und Todestrieb streben beide
die »Wiederherstellung eines früheren Zustandes«33 an. Für Freud ergibt sich
34 Ebd., S. 250.
35 Ebd., S. 267.
36 Ebd., S. 250.
37 Ebd., S. 258 (Hervorhebung E. D.).
38 Vgl. Weigel, Entstellte Ähnlichkeit (wie Anm. 5), S. 72, sowie dies.: Walter Benja-
min. Die Kreatur, das Heilige und die Bilder. Frankfurt a. M.: Fischer-Taschenbuch-
Verlag 2008 (Fischer; 18018), S. 53f.
39 Steiner, Der wahre Politiker (wie Anm. 22), S. 77.
294 Teil II
40 Mit diesen Ausdrücken beschreibt Benjamin seine Kritik zu Ernst Blochs Geist der
Utopie, welche ungedruckt geblieben ist und als verschollen gilt: »Meine Kritik
werden Sie hoffentlich in absehbarer Zeit gedruckt finden: höchst ausführlich,
höchst akademisch, höchst entschieden lobend, höchst esoterisch tadelnd« (Walter
Benjamin an Ernst Schoen, 02.02.1920. In: Ders.: Gesammelte Briefe. Bd 2. Hg.
von Christoph Gödde und Henri Lonitz. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1996, S. 72).
Vgl. zu Benjamins Kritik an Bloch auch Astrid Deuber-Mankowski, die besonders
auf Blochs gnostische Ablehnung der materiellen Welt, seine Christologie und er-
kenntnistheoretische Mängel im Geist der Utopie abhebt, auf die sie Benjamins Kri-
tik bezieht (Astrid Deuber-Mankowsky: Walter Benjamin’s Theological-Political
Fragment as a Response to Ernst Bloch’s Spirit of Utopia. In: Year-Book of the Leo
Baeck Institute XLVII [2002], S. 3–19).
41 So Joseph Vogl im Hinblick auf Kleists Erzählung »Das Erdbeben in Chili« (vgl.
Joseph Vogl: Einleitung. In: Ders. [Hg.]: Gemeinschaften. Positionen zu einer Philo-
sophie des Politischen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1994 [Edition Suhrkamp; 1881 =
N.F.; 881], S. 7–27, hier: S. 7).
4 Mystische, apokalyptische und profane Figuren des Messianischen 295
42 Vgl. Gershom Scholem: Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum. In:
Ders.: Über einige Grundbegriffe des Judentums. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1970
(Edition Suhrkamp; 414), S. 121–167, hier: S. 142f.
43 Vgl. 1. Kor 12,12: »Wie nämlich der Leib nur einer ist, jedoch viele Glieder hat, alle
Glieder des Leibes aber trotz ihrer Vielheit einen einzigen Leib bilden, so ist es auch
mit Christus. Denn in einem Geist sind auch wir alle zu einem Leibe getauft wor-
den« (zitiert nach: Die Bibel. Nach der Übersetzung Martin Luthers. Stuttgart: Deut-
sche Bibelgesellschaft 1985).
296 Teil II
In dem Kapitel »Über das Gewaltrecht des Guten« in der drei Jahre später
erschienen Monographie Thomas Münzer als Theologe der Revolution schreibt
Bloch Christus den »Zorn, den peitschentragenden, verfluchenden Zorn als
einzigen Affekt neben der Liebe«44 zu und versucht auf diese Weise, Christus
als Figur einer »gewalttätigen Gegenbewegung gegen die Gewalt«45 zu profi-
lieren.
Blochs Darstellung revolutionärer Gewalt bedient die Logik des gerechten
Zweckes, der Gewalt als Mittel rechtfertigen soll. Eine solche Logik kenn-
zeichnet, so Benjamins Analyse in »Zur Kritik der Gewalt«, die naturrechtli-
che Argumentation. Denn das Naturrecht strebe, »durch die Gerechtigkeit der
Zwecke die Mittel zu ›rechtfertigen‹, das positive Recht durch die Berechti-
gung der Mittel die Gerechtigkeit der Zwecke zu ›garantieren‹.« (II/1 180)
Allerdings geht das Naturrecht, folgt man weiter Benjamins Darstellung, von
der Gewalt als »natürlicher Gegebenheit« (ebd.) aus, dessen »Verwendung
keiner Problematik unterliegt, es sei denn, dass man die Gewalt zu ungerechten
Zwecken mißbrauche« (ebd.), wogegen Bloch postuliert, dass das
Herrschen und die Macht an sich böse [sind], aber es ist nötig, ihr ebenfalls macht-
mäßig entgegenzutreten, als kategorischer Imperativ mit dem Revolver in der Hand,
wo sie nicht anders vernichtet werden kann; und danach erst des Herrschens, der
›Macht‹ auch des Guten, der Lüge der Vergeltung und des Rechts sich so reinlich als
möglich zu entledigen (GU 406).
Die naturrechtliche Legitimation der Gewalt als Mittel zum gerechten Zweck,
die bereits »dem Terrorismus der Französischen Revolution zur ideologischen
Grundlage diente« (II/1 180), findet sich bei Bloch in einer gnostisch-
apokalyptischen Abwandlung wieder, insofern sich die Gewalt im revolutionä-
ren Vollzug selbst abschaffen soll. Beansprucht Bloch ein göttliches Mandat
für die revolutionäre Gewalt, so gilt für Benjamin, dass die »göttliche Gewalt
[…] niemals Mittel heiliger Vollstreckung ist« (GS II 203). Welche Relevanz
für das menschliche Handeln hat dann aber die »göttliche reine Gewalt« (GS II
200), die Benjamin in seinem Essay »Zur Kritik der Gewalt« (1921) als »rei-
ne[] unmittelbare[] Gewalt« (GS II 199) interpretiert?
Benjamin definiert die revolutionäre Gewalt als »höchste Manifestation rei-
ner Gewalt durch den Menschen« (GS II 202). Die meisten Interpreten haben
aufgrund dieses Satzes zwischen der »reinen Gewalt« und dem proletarischen
Generalstreik à la Sorel, den Benjamin zuvor thematisiert hat, kurzgeschlos-
sen. Wenn man aber annimmt, dass Benjamin »eine metaphysische Begrün-
44 Ernst Bloch: Thomas Münzer als Theologe der Revolution. In: Ders.: Gesamtausga-
be. Bd 2. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1977, S. 115.
45 Ebd., S. 113.
4 Mystische, apokalyptische und profane Figuren des Messianischen 297
46 Chryssoula Kambas: Benjamin, Walter. In: Simone Barck, Silvia Schlenstedt und
Tanja Bürgel (Hg.): Lexikon sozialistischer Literatur. Ihre Geschichte in Deutsch-
land bis 1945. Stuttgart, Weimar: Metzler 1994, S. 57–59, hier: S. 57.
47 Ebd.
48 Vgl. hierzu Jacques Derrida: Gesetzeskraft. Der »mystische Grund« der Autorität.
Übers. von Alexander García Düttmann. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991, S. 110–
112.
298 Teil II
sei denn in den unvergleichlichen Wirkungen, weil die entsühnende Kraft der Ge-
walt für Menschen nicht zutage liegt. (GS II 203)
Ob die revolutionäre Gewalt eine Manifestation der göttlichen Gewalt ist, zeigt
sich erst darin, was sie gewesen sein wird, d. h. in ihren »unvergleichlichen
Wirkungen«. Eine solche unkalkulierbar in die Zukunft weisende »göttliche
Gewalt« eignet sich wahrlich nicht zu Zwecken der Legitimation menschlicher
Handlung. Diese geschichtsphilosophische Perspektive stellt jeden Machtan-
spruch nachhaltig in Frage. Denn durch die geschichtsphilosophische Perspek-
tive bleibt die Frage lebendig, ob die revolutionäre Gewalt vielleicht nur eine
»mythische Manifestation« (GS II 198) gewesen sein wird, deren Prinzip die
Macht- und Rechtsetzung ist. Eben diese Dimension der unkalkulierbaren
Zukünftigkeit unterscheidet das Göttliche vom Mythischen.
Das »Theologisch-politische Fragment« und der Essay »Zur Kritik der Ge-
walt« treffen sich in der Tendenz, das Göttliche – die Dimension der »gerech-
ten Zwecke«, über die Gott entscheidet (vgl. GS II 198) – und das Menschliche
– die Dimension der (reinen) Mittel – voneinander möglichst »rein« zu trennen
und sie als »rein« Unterschiedene wieder aufeinander zu beziehen. Eine ähnli-
che Bewegung kennzeichnet Benjamins frühe ästhetische Reflexion.
Durch das »Bild[]« (ebd.) der zwei Pfeilrichtungen und der sich in ihrer Ent-
gegensetzung befördernden Kräfte des Profanen und des Messianischen veran-
schaulicht Benjamin weniger die Beziehung der Ordnung des Profanen auf das
Messianische, als dass er die Beziehung zwischen den Ordnungen in der ästhe-
tischen Kategorie des »Bilde[s]« (ebd.) reflektiert. Das Bild ist nicht bloß als
eine sekundäre Hülle gegenüber einem geschichtsphilosophischen Gehalt zu
werten, sondern in seiner ästhetischen Beschaffenheit ernst zu nehmen und zu
analysieren. Für das Verständnis der Geschichtsphilosophie im »Theologisch-
politischen Fragment« ist es essentiell zu fragen, welche darstellungstheoreti-
schen und politischen Implikationen das »Bild[]« als Bild hat. Insofern Benja-
min das geschichtsphilosophische Verhältnis von Politik und Theologie in
ästhetischen Kategorien reflektiert – außer dem »Bilde« kommt im zweiten
Absatz der »Rhythmus«49 ins Spiel –, zeigt sich, dass er sich bei seinen an-
fänglichen Bemühungen um eine philosophische Durchdringung der Politik
auf seine ästhetischen Essays und Fragmente zurückbezieht. Im »Theologisch-
politischen Fragment« pointiert er deren politische Implikationen.
Das Bild der zwei Pfeilrichtungen ist als »kryptisch«50 empfunden worden,
es sei »schwer […] sich graphisch vorzustellen«.51 Für Werner Hamacher
besteht das Rätsel weniger »in Benjamins Bild von den gegenstrebigen Bewe-
gungen«52 der »Dynamis des Profanen« und der »messianischen Intensität«,
das Hamacher auf die »Vorstellung eines – profanen – Zeitstrahls, der in die
Zukunft geht, und eines zweiten – messianischen –, der aus der Zukunft
kommt«,53 zurückführt. Vielmehr liege das Rätsel »in der damit verbundenen
Versicherung, ›die profane Ordnung des Profanen‹ vermöge das ›Kommen des
messianischen Reiches‹ so zu ›befördern‹ wie eine Kraft eine entgegengesetzte
andere.«54 Diese paradoxe Dynamik lasse sich mit den Kategorien einer me-
chanischen Kräftelehre, die sich an dem Gesetz der Erhaltung der Kraft orien-
tiere, nicht erfassen. Hamacher bringt Benjamins Fragment mit dem kritischen
Idealismus Kants und dessen Thematisierung des Erhabenen in der Kritik der
Urteilskraft in Zusammenhang. Benjamins Denkbild verteidige die Unvor-
stellbarkeit der Zukunft, indem es jedes Bild von der Zukunft als unstatthaft
zurückweise. Meines Erachtens reichen die darstellungstheoretischen Implika-
tionen des von Benjamin bemühten »Bilde[s]« sehr viel weiter. Der Wider-
stand, die Zukunft in ein Bild zu bannen, ist genauer zu fassen als Widerstand
gegen eine Gestaltgebung der Zukunft. Dieser Widerstand drückt sich also
weniger in einem Bilderverbot als in der »Auflösung des Gestalteten« (GS VI
114), in der »Entstaltung der Gebilde« (GS VI 115) aus. Die Dynamiken des
Profanen, das im Glück seinen Untergang erstrebt, und des Messianischen
entsprechen sich in der Tendenz, das Gestaltete aufzulösen, wenn auch aus und
in entgegengesetzter Richtung: einmal in Richtung eines Glücks der Ver-
gängnis (Dynamik des Profanen, des kollektiven politischen Subjekts in der
»Entstaltung«), das andere Mal in Richtung der Unsterblichkeit (»geistliche[]
restitutio in integrum«). Im Kontext von Benjamins zeitgenössischen Reflexi-
onen zu Malerei, Farbe und Phantasie lassen sich die darstellungstheoretischen
Implikationen von Benjamins paradoxem, geschichtsphilosophischem »Bild[]«
noch weiter erhellen. Denn das Bild steht auf der Grenze zwischen Graphik
(Pfeile) und ungegenständlicher Malerei (»Untergang« als »Entstaltung«), die
im Zusammenhang mit Benjamins ästhetischen Reflexionen auch als Grenze
zwischen Semiotischem und Nicht-Semiotischem, »Zeichen und Mal« (vgl.
GS II 603–607) lesbar wird.
Bereits seit 1914/15 verfolgt Benjamin ästhetische Fragen der Farbe und der
Malerei, der Phantasie und der Kindheit, die ihn jahrelang beschäftigen wer-
den. Nachdem Benjamin bereits 1915 von einer Arbeit zum Thema Phantasie
und Farbe berichtet hat,55 greift er das Thema zwischen 1918 und 1921 wieder
verstärkt auf.56 Aus dieser Zeit ist eine Gruppe von Aufzeichnungen überlie-
fert, zu der das Fragment »Phantasie« zählt, das frappierende motivische Paral-
lelen zum »Theologisch-politischen Fragment« aufweist. Die Phantasie äußert
sich für Benjamin in der »Entstaltung des Gestalteten« (GS VI 114), denn sie
treibe ein auflösendes Spiel um die Gestalten. Wo die Phantasie entstalte,
zerstöre sie dennoch niemals, denn die Erscheinungen der Phantasie entstün-
den vielmals »in jenem Bereich der Gestalt, da diese sich selbst auflöst« (GS
VI 115). Von dem »zerstörerischen Verfall der Empirie« (ebd.) unterscheide
sich die phantasievolle Entstaltung der Gebilde dadurch, dass sie zwanglos sei,
»frei und daher schmerzlos, ja leise beseeligend« (ebd.), sowie dadurch, dass
sie niemals in den Tod führt, sondern […] den Untergang [verewigt] den sie herauf-
führt, in einer unendlichen Folge von Übergängen. […] Diese Entstaltung zeigt […]
die Welt in unendlicher Auflösung begriffen, das heißt aber: in ewiger Vergängnis.
Sie ist gleichsam das Abendrot über dem verlassnen Schauplatz der Welt mit seinen
entzifferten Ruinen. Ebenso wie der Schein rein ist in seiner Auflösung ist er es in
seinem Werden. [Hier fügt Benjamin eine Fußnote an: »Diese Reinheit der verge-
henden Natur correspondiert der untergehenden Menschheit.«] Im Morgenrot er-
scheint er anders aber nicht uneigentlicher als im Abendrot. So gibt es einen reinen
Schein, den werdenden, auch im Morgenalter der Welt. Es ist der Glanz, der über
den Dingen im Paradies liegt (GS VI 115).
Das Medium der Phantasie, welches die Gebilde entstaltet, ist die Farbe. Der
»Farbe in ihrer eignen Welt« trete der Mensch nur »im selbstvergessnen We-
ben der Phantasie gegenüber« (GS VI 118); diesen ästhetischen Zustand nennt
Benjamin »reine Empfängnis« (GS VI 115f.). Die Farben »entstalten« die
Gebilde, indem sie alles Objekthafte wieder ins freie Spiel der Farben auflö-
sen, denn Farben »sind nicht objektkonstitutiv, sie sind präobjektal, sie bilden
darum keine Form und haben keinerlei denotative Funktion«.57 Der Untergang
als »Entstaltung« löst die mit Bedeutung geladenen Gebilde in die reine Er-
scheinung von Farben auf – so wie im Abendrot die »entzifferten Ruinen« in
eine Welt aus unendlich ineinander übergehenden Farben diffundieren.
Wenn man sich von hier aus den Figuren der »ewigen […] Vergängnis« und
des Untergangs im »Theologisch-politischen Fragment« zuwendet, so wird
deutlich, dass die weltliche »restitutio in integrum«, welche »in die Ewigkeit
eines Untergangs« führt, nichts mit Zerstörung und intentionaler Gewalt zu tun
55 Möglicherweise stimmt diese Arbeit, die er in einem Brief an Ernst Schoen erwähnt,
mit dem Dialog »Der Regenbogen. Gespräch über die Phantasie« (GS VII 19–26)
überein, den Giorgio Agamben 1977 entdeckt hat (vgl. GS VI 693).
56 Vgl. zu Benjamins frühen ästhetischen Reflexionen Heinz Brüggemann: Walter
Benjamin über Spiel, Farbe und Phantasie. Würzburg: Königshausen & Neumann
2007.
57 Hartmut Böhme und Yvonne Ehrenspeck: Nachwort. Zur Ästhetik und Kunstphilo-
sophie Walter Benjamins. In: Walter Benjamin: Aura und Reflexion. Schriften zur
Ästhetik und Kunstphilosophie. Hg. von Hartmut Böhme und Yvonne Ehrenspeck.
Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2007, S. 445–488, hier: S. 447.
4 Mystische, apokalyptische und profane Figuren des Messianischen 301
haben kann. Die weltliche »restitutio in integrum« dient Benjamin als Bild für
eine Gemeinschaft, die sich unendlich auflöst, unendlich defiguriert. Der Ge-
dankenstrich, welcher am Ende der Ausführungen zu dem »Bilde« über die
entgegengesetzten Kräfte steht, markiert eine Leerstelle, die als Verweis auf
das Fehlen einer Gestalt gelesen werden kann. Benjamin denkt die Gemein-
schaft philosophisch nicht als Werk, sondern von ihrer entstaltenden Potentia-
lität, der »Dynamis des Profanen«, her, die der Zukunft ihre Offenheit bewahrt:
»Sehertum ist der Blick für werdende Gestaltung, Phantasie der Sinn für wer-
dende Entstaltung. Sehertum ist Genie der Ahnung. Phantasie Genie des Ver-
gessens« (GS VI 116f.).
Benjamins Reflexionen zur Farbe treffen sich mit seinem Sprachkonzept in
»Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen« darin, dass die
Farbe wie die Sprache nicht als Mittel gedacht werden, das etwas außer sich
selbst mitteilen soll. Sprache ist im paradiesischen Zustand kein bloßes Zei-
chen, das etwas anderes als es selbst bedeutet, sondern Medium der Überset-
zung, in dem (und nicht durch das) sich die Dinge mitteilen (vgl. GS II 144).
Diese Vorstellung leitet auch Benjamins Konzeption der Farbe:
Die künstlerische Ordnung ist paradiesisch, weil noch nirgends an Verschmelzung
im Gegenstand der Erfahrung aus Anregung gedacht ist, die Welt vielmehr farbig im
Zustand der Identität, Unschuld und Harmonie ist (GS VI 111f.).
58 Giorgio Agamben: Noten zur Politik. In: Ders.: Mittel ohne Zweck. Noten zur Poli-
tik. Übers. von Sabine Schulz. 2. Aufl., Zürich, Berlin: Diaphanes-Verlag 2006,
S. 95–102, hier: S. 101.
302 Teil II
Die »reinen Mittel« stellen eine profane Kategorie dar, in welcher Benjamin
den proletarischen Generalstreik genauso wie die Diplomatie, die »Unterre-
dung als eine Technik ziviler Übereinkunft« (GS II 192) und »Technik im
weitesten Sinne des Wortes« (ebd.) zu denken versucht. Die profane Kategorie
des reinen Mittels ebenso wie die paradiesische Unmittelbarkeit widerstreben
beide der Mittel-Zweck-Relation, meinen aber nicht das Gleiche. Charakteri-
siert letztere Sprache als Medium im paradiesischen Zustand, so setzt das »rei-
ne Mittel« den Sündenfall, die »Mittelbarmachung der Sprache« (GS II 154)
voraus, die nicht rückgängig zu machen ist. In Kap. I.4.1 haben wir gleichwohl
gesehen, dass man nicht trennscharf zwischen sprachlicher Unmittelbarkeit
und Sprache als reinem Mittel bei Benjamins unterscheiden kann. Ebenso
wenig stabil ist Benjamins Unterscheidung zwischen Profanem und Messiani-
schem im »Theologisch-politischen Fragment«, das am Ende das Messianische
ins gänzlich Profane verschiebt und damit deren kategorische Unterscheidung
aufgibt.
Im »Theologisch-politischen Fragment« sondiert Benjamin die Beziehung
von Politik und Theologie und probiert hierfür tentativ verschiedene Konzepte
aus. Benjamin operiert dabei hier wie auch später mit Mehrfachreferenzen,
insofern er neben Theologie und Politik den Aspekt der Ästhetik sowie der
Natur und der Psychoanalyse ins Spiel bringt. Benjamins Versuch, Theologie
und Politik in einer Beziehung wechselseitiger Ausschließlichkeit bei gleich-
zeitiger dynamischer Beförderung und Entsprechung per contrarium zu den-
ken, steht der Logik von Übertragung und Analogiebildung zwischen Theolo-
gie und Politik, wie sie etwa Carl Schmitt vertritt, entgegen. Dies verhindert
nicht, dass auch bei Benjamin die Logik der Entsprechung die der Entgegen-
setzung in den Hintergrund zu schieben vermag. Benjamins profane Figur des
Messianischen, sein Messianismus der Vergängnis, ist offen für die religiöse
Aufladung des Politischen. So nähert sich Benjamin der Bloch’schen Verein-
nahmung der Theologie für die Politik immer weiter an, je verzweifelter die
Lage und dringender die politische Aktion wird. Anders gesagt: Die profane
Mystik schlägt in politische Apokalyptik um. Im Umfeld der geschichtsphilo-
sophischen Thesen, die knapp 20 Jahre nach dem »Theologisch-politischen
Fragment« unter dem Eindruck des Nationalsozialismus entstehen, identifiziert
Benjamin im Interesse revolutionärer Politik unter apokalyptischen Vorzeichen
die messianische Zeit unmittelbar mit der klassenlosen Gesellschaft. So heißt
es dann: »Dem Begriff der klassenlosen Gesellschaft muss sein echtes messia-
nisches Gesicht wiedergegeben werden, und zwar im Interesse der revolutionä-
ren Politik des Proletariats selbst« (GS I/3 1232). Das »Theologisch-politische
Fragment« zeichnet sich demgegenüber noch durch ein Arrangement von
Perspektiven und unterschiedlichen Figuren des Messianischen aus, in dem
sich die apokalyptische Sichtweise als politisch unbrauchbar darstellt.
4 Mystische, apokalyptische und profane Figuren des Messianischen 303
Für Scholem hat der Zionismus zu früh gesiegt, weil er einerseits zu einer
Trennung zwischen der Palästina-Bewegung und der »Jüdischen Renaissance«
in der Galuth geführt habe.60 Andererseits habe er zu früh gesiegt, weil er sich
politisch unter den Schutz der Sieger des Krieges geflüchtet und sich mit der
59 Gershom Scholem: Die Verzweiflung des Siegenden. 12.04.1926, TS, JNUL, Gers-
hom-Scholem-Archiv, Arc. 40 1599/277 I 57, S. 1f.
60 Vgl. Gershom Scholem: »Um was geht der Streit«. In: Hechaluz. Deutscher Landes-
verband (Hg.): Informationsblatt 4/39 (Nov. 1931), S. 15–23, hier: S. 17: »[D]er Zi-
onismus [hat sich] seit einiger Zeit in zwei nur durch eine Fiktion verbundene Be-
wegungen gespalten, deren eine sich einer Ideologie bedient, die leer von jedem In-
halt ist. Die Palästinabewegung ist nicht mehr identisch mit der nationalen Renais-
sancebewegung, die nur scheinbar von der ersten sich nährt, aber ihre wirkliche
Kraft aus tiefen Schichten der Wirklichkeit der Golah zieht und nicht aus dem Wil-
len zur Emigration. So hat sich der Zionismus auf dem Weg eingerichtet. Dubnow,
wenn ich diesen Namen als Symbol nehmen darf, hat zusammen mit dem Zionismus
gesiegt, das ist das Paradoxon der zionistischen Bewegung.«
304 Teil II
fern sie noch nicht von einem jüdischen Staat sprach.64 Offen forderten die
Revisionisten diesen schließlich auf dem 17. Zionistenkongress 1931.65 Jabo-
tinsky hielt den Widerstand der einheimischen arabischen Bevölkerung gegen
die Bildung einer jüdischen Bevölkerungsmehrheit, die er nach dem Modell
der europäischen Kolonialpolitik dachte,66 für unausweichlich. Daher bedürfe
es einer offiziellen, starken jüdischen Legion, einer »iron wall«, die die arabi-
sche Bevölkerung schließlich zur Kooperation zwinge, weil ihr kein anderer
Ausweg bleibe. Nur dann könne man mit Vorschlägen moderater arabischer
Gruppen über gegenseitige Konzessionen rechnen, praktische Fragen betref-
fend wie etwa eine Garantie gegen Vertreibungen oder Gleichheit und nationa-
le Autonomie.
Jabotinsky, der selbst im jüdischen Bataillon der britischen Armee 1918
nach Palästina gekommen war, forderte eine jüdische Legion in Palästina, die
allerdings nicht gegen die britische Mandatsmacht gerichtet sein sollte, son-
dern mit deren Unterstützung und Billigung aufzustellen sei. Bei diesem politi-
schen Kurs blieb Jabotinsky aus Überzeugung.67 Seiner Meinung nach waren
die britischen und zionistischen Ziele im Nahen Osten letztlich identisch.68
64 Vgl. Yaacov Shavit: Fire and Water: Zeev Jabotinsky and the Revisionist Move-
ment. In: Jehuda Reinharz and Anita Shapira (Eds): Essential Papers on Zionism.
New York, London: New York Univ. Press 1996, S. 544–568, besonders S. 554.
65 Vgl. Laqueur, In Blood and Fire (wie Anm. 63), S. 12: »This position was revolu-
tionary inasmuch as it demanded the establishment of a Jewish state at a time when
it was not openly advocated by any other Zionist leader of the movement. At this
early stage [Mitte der 20er Jahre; Anm. E. D.] Jabotinsky was perhaps not thinking
of full independence. The concept state (he once said) had various meanings in po-
litical usage – France was a state, so was Nebraska and Kentucky. State did not nec-
essarily imply complete independence, but while the degree of self-government
could be discussed, there was no room for manoevring with regard to one basic fac-
tor: either there was a Jewish majority or there wasn’t.« Shavit meint, dass die unter-
schiedlichen Formulierungen, denen man bei Jabotinsky im Hinblick auf das Ziel
revisionistischer Politik begegnet, auf den wachsenden Einfluss der radikalen Frak-
tion seiner Bewegung zurückgehe (vgl. Shavit, Fire and Water [wie Anm. 64],
S. 555).
66 Vgl. Shlomo Avineri: Profile des Zionismus. Die geistigen Ursprünge des Staates
Israel. 17 Portraits. Übers. von Eileen Bayer, Perdita Schulz und Andreas Wirwalski.
Gütersloh: Kaiser/Gütersloher Verlagshaus 1998, S. 210f.
67 Die revisionistische militärische Untergrundorganisation Etzel hat sich in den 30er
Jahren nicht auf Jabotinskys Initiative gebildet, der sie dann freilich unterstützte
(vgl. Shavit, Fire and Water [wie Anm. 64], S. 562).
68 Vgl. Avineri, Profile des Zionismus (wie Anm. 66), S. 209: »Der Zionismus, daran
hält Jabotinsky fest, war ein europäischer Ableger im Nahen Osten. Deshalb wäre
eine jüdische Legion besser zur Verteidigung britisch-imperialistischer Interessen in
diesem Gebiet geeignet als irgendeine andere Streitmacht.« In dem Aufsatz »Was
möchten die zionistischen Revisionisten?« (1928) schreibt Jabotinsky, dass die »Ju-
den im Mittelmeerraum, dem Korridor Englands zum Orient, an dessen östlichen
und südlichen Ufern sich anti-europäische Gefahren vereinigen – die einzige feste
306 Teil II
Stütze [sind], die heute moralisch zu Europa gehört, und immer gehören wird« (zi-
tiert nach Avineri, Profile des Zionismus [wie Anm. 66], S. 210).
69 Vgl. Gershom Scholem: Zur Frage des Parlaments. In: Jüdische Rundschau 34/11
(08.02.1929), S. 65. In dem zitierten Artikel spricht sich Scholem für ein arabisch-
jüdisches Parlament aus, und macht den Vorschlag, die Rechte der beiden Bevölke-
rungen, unabhängig von der Mehrheitsfrage, in der Verfassung festzuschreiben:
»Wenn man in der zionistischen Diskussion ehrlicher spricht, so wendet man ein,
dass wir in einem solchen Parlament eine schwache Minderheit wären, dass wir ein-
fach all unsere Positionen verlieren würden, die Einwanderung abgeschnürt, Land-
kauf unmöglich gemacht werden würde usw. Oder aber wir würden den Arabern ein
gänzlich machtloses Parlament anbieten, was sie mehr verbittern würde als unsere
entschlossene Gegnerschaft zu dem Projekt des Parlaments überhaupt. Nun ist ja
eben das die prinzipielle Konzeption des ›Brith Schalom‹, mit der er sich vorerst in
beiden Lagern missliebig macht, dass er die Frage von Mehrheit und Minderheit
durch geeignete, in friedlichen Verhandlungen zu erstrebende, konstitutionelle Ver-
einbarungen grundsätzlich, d. h. also auch für den Fall einer eventuellen jüdischen
Mehrheit, auszuschalten sucht« (ebd.).
70 So beschreibt Mendes-Flohr die Agenda des Brith Schalom in dem von ihm heraus-
gegebenen Band von Martin Buber: Ein Land und zwei Völker. Zur jüdisch-arabi-
schen Frage. Hg. von Paul Mendes-Flohr. Zürich: Exlibris-Verlag 1985, S. 111–126,
hier: S. 105f.
71 Vgl. ebd.: »Übertriebene Vorstellungen von den Vorzüglichkeiten des Parlamenta-
rismus hegt keines seiner [des Brith Schalom; Anm. E. D.] Mitglieder. […] [W]ie
immer man den absoluten Wert parlamentarischer Einrichtungen beurteilen mag, sie
[stellen] jedenfalls in diesem Land und in der gegenwärtigen Situation einen Fort-
schritt dar[]. Freilich gibt es, wie schon gesagt wurde, logisch noch einen anderen
Weg: den der Revisionisten, die von einer auf die Legion gestützte Herrschaft –
neuerlich gern harmlos als ›kolonisatorisches Regime‹ firmiert – nicht zurückschre-
cken wollen.« Zum Brith Schalom vgl. auch Hagit Lavsky: German Zionists and the
Emergence of Brit Shalom. In: Reinharz and Shapira (Eds), Essential Papers on Zi-
onism (wie Anm. 64), S. 648–670.
72 Gershom Scholem: Ist die Verständigung mit den Arabern gescheitert? In: Jüdische
Rundschau 33/92 (20.11.1928), S. 644. Scholem schreibt: »Es bleibt nur dieser dor-
nenvolle Weg, in unserem Lager und im Lager der Araber für die Annäherung zu
4 Mystische, apokalyptische und profane Figuren des Messianischen 307
wirken. Oder es bleibt der Weg der Revisionisten, sich auf ein imaginäres Schwert
zu stützen und nicht vor der Vergewaltigung der Landesbewohner zurückzuschre-
cken, um den Judenstaat durchzusetzen. Aber dies gerade, falls es sich durchsetzen
ließe, wäre nichts anderes als der absolute Untergang des Zionismus« (ebd.).
73 Vgl. Yaacov Shavit: Realism and Messianism in Zionism and the Yishuv. In: Jona-
than Frankel (Ed.): Jews and Messianism in the Modern Era: Metaphor and Mean-
ing. New York, Oxford: Oxford Univ. Press 1991 (Studies in contemporary Jewry;
7), S. 100–127, besonders S. 104, 112ff., 123 (Fn. 10).
74 Gershom Scholem: Nach 15 Jahren: Selbstbetrug? 24.12.1930, TS, JNUL, Gershom-
Scholem-Archiv, Arc. 40 1599/277 I 72, S. 2.
75 Ebd., S. 1.
76 Gershom Scholem: Politik der Mystik. Zu Isaac Breuers »Neuem Kusari«. In: Jüdi-
sche Rundschau 39/57 (19.07.1934), S. 1f., hier: S. 2.
77 Gershom Scholem: Offener Brief an den Verfasser der Schrift »Jüdischer Glaube in
dieser Zeit«. In: Bayerische Israelitische Gemeindezeitung 8/16 (15.08.1932),
S. 241–244, hier: S. 242.
78 Vgl. Avineri, Profile des Zionismus (wie Anm. 66), S. 190.
79 Ebd., S. 204.
308 Teil II
nen waren – alle dadurch, den Zionismus immanent aus der jüdischen Traditi-
on heraus zu erklären. Sie wurden von einigen Revisionisten durchaus rezi-
piert.85 Ideologisch stand Joseph Klausner dabei den Revisionisten am nächs-
ten. Biale bezeichnet ihn als frühen Ideologen eines vom jüdischen Messia-
nismus inspirierten Revisionismus.86 Klausner war Historiker, der sich mit
allgemeiner jüdischer Geschichte, Religions- und hebräischer Literaturge-
schichte beschäftigte.87 Er promovierte in Heidelberg mit einer Arbeit über die
Messianischen Vorstellungen des jüdischen Volkes im Zeitalter der Tannaiten
(1904), in der er bereits den irdischen, national-politischen Aspekt der jüdi-
schen »Messiasidee« hervorhebt:
Die Messiasidee an sich, von einem politischen Bestreben ausgehend, von einer
Sehnsucht, die verlorene politische Macht wieder zu gewinnen und das gerechte da-
vidische Königtum wieder eingesetzt zu sehen, musste bei aller Vergeistigung und
bei allem moralischen Schwunge, doch wesentlich irdisch und politisch bleiben.88
Klausner reiht den Zionismus explizit in die Geschichte des jüdischen Messia-
nismus ein. Im Vorwort zur zweiten Ausgabe (1927) der Studie ʩʧʩʹʮʤ ʯʥʩʲʸʤ
ʬʠʸʹʩʡ (Die messianische Idee in Israel), die die Zeit von den Propheten bis
85 Vgl. ebd., S. 119ff. Yehoshua Heshel Yeivin, der mit Uri Zvi Greenberg und Abba
Ahimeir zum maximalistischen Flügel der Revisionisten gehörte, publizierte 1928
einen Artikel in der Wochenzeitschrift Ha’olam mit dem Titel »Minaftulei derekh
hegeulah« (»Die gewundene Straße der Erlösung«), der von Klausners und Dinurs
Forschungen Gebrauch machte, aber auch Buber erwähnt, um sich von ihm abzuset-
zen.
86 Vgl. David Biale: Gershom Scholem. Kabbalah and Counter-History. Cambridge
(Mass.), London: Harvard Univ. Press 1979, S. 178.
87 Scholem und Klausner waren Kollegen an der Hebräischen Universität und gerieten
hier auch persönlich aneinander, als es um die Einrichtung eines Lehrstuhls für Jid-
disch ging. Klausner war einer der Protagonisten der neuhebräischen Sprachbewe-
gung und lehnte Jiddisch ab, das für ihn »jargon, folk tongue of the galut and a sym-
bol of the ghetto« (Simcha Kling: Joseph Klausner. New York, South Brunswick,
London: Yoseloff 1970, S. 67) war. Klausner setzte sich durch – erst nach der
Staatsgründung 1948 wurde ein Lehrstuhl für Jiddisch an der Hebräischen Universi-
tät in Jerusalem etabliert. Die Ablehnung des Jiddischen stand im Zusammenhang
mit Klausners radikaler Form der Verneinung der Galuth und ihrer Tradition zu-
gunsten von nationalem Neuanfang und Unabhängigkeit. Ein Gespräch zwischen
Klausner und dem Dichter Chaim Nachman Bialik, der zwar auf Hebräisch schrieb,
dem Jiddischen aber positiv gegenüberstand, gibt Klausners radikale Negation der
Galuth auf bezeichnende Weise wieder: »Once, after a lengthy discussion about Ju-
daism and Palestine, Klausner said to Bialik: ›If Hadrian were alive today and would
decree destruction for either the Bible or the Talmud, you would weep over the Bi-
ble and choose the Talmud, whereas I would cry over the Talmud and choose the
Bible.‹ To this, Bialik responded: ›You are right‹« (zitiert nach Kling, Joseph
Klausner [wie Anm. 87], S. 39).
88 Joseph Klausner: Die messianischen Vorstellungen des jüdischen Volkes im Zeital-
ter der Tannaiten. Berlin: Poppelauer 1904, S. 119.
310 Teil II
89 Klausners Buch führt drei Einzelpublikationen zusammen (1909, 1921, 1923). Den
dritten Teil bildet Klausners frühere Doktorarbeit, die erst 1923 ins Hebräische über-
setzt worden war. Klausners Studie ist 1955 auf Englisch erschienen unter dem Ti-
tel: The Messianic Idea in Israel. From Its Beginning to the Completion of the
Mischnah. New York: Macmillan 1955.
90 Vgl. ebd., S. ix (»Preface to the Second Edition«). Vgl. auch ebd., S. x: »If this book
can succeed in giving an idea of the close connection between the political redemp-
tion of Israel in its own land and the ideal of righteousness, peace, and brotherhood
among all peoples; and if a prophetic social outlook can be gained from this idea,
and can be laid as a foundation stone in the building of our politico-spiritual Na-
tional Home, I shall know that my labor of many years has not been in vain.«
91 Vgl. ebd., S. 11f.: »And in our times and before our very eyes, the politico-national
part which is in the hope for redemption has returned to life together with the spiri-
tual-universalistic element which is in the Messianic expectation. […] Only when
the two of them flow together to make one mighty stream can the most important
Jewish movement, Zionism, consider itself to have come into possession of the in-
heritance of the Messianic idea.«
92 Vgl. ebd., S. 12. Vgl. hierzu auch Shavit, Realism and Messianism (wie Anm. 73),
S. 123 (Fn. 8): »It is important to distinguish here between the common nineteenth-
century ideas of Judaism’s universal mission as well as the Judaeo-messianic views
of revolutionary and missionary movements and an outlook such as that of Klausner.
The latter saw in national unity and national sovereignity a condition essential both
for the fulfillment of the universal messianic idea within the framework of Jewish
society and for the dissemination of the Jewish national ideal among the nations.«
4 Mystische, apokalyptische und profane Figuren des Messianischen 311
aus, die vollständige ›Erlösung‹ des jüdischen Volkes im Sinne der Rückfüh-
rung aus dem Exil zu verraten. Scholem erwiderte 1929:
I, a member of the Brit Schalom, am opposed […] to mixing up religious and politi-
cal concepts. I categorically deny that Zionism is a messianic movement and that it
is entitled to use religious terminology to advance its political aims. The redemption
of the Jewish people, which as a Zionist I desire, is in no way identical with the reli-
gious redemption I hope for in the future.93
93 Die Passage stammt aus demselben Artikel für die Zeitung Davar, aus dem ich oben
bereits zitiert habe (zitiert nach: Scholem, On Jews and Judaism in Crisis [wie Anm.
82], S. 44).
94 Vgl. Shavit, Realism and Messianism (wie Anm. 73), S. 115 und S. 146 (Fn. 46).
Shavit hebt zurecht hervor: »It is worth noting that their stance [der Standpunkt der
Revisionisten, die sich gegen den Häresie-Vorwurf wehrten; Anm. E. D.] on this is-
sue was little different from that of members in the traditional religious camp who
harbored activist messianic leanings. They, too, viewed religious revival as condi-
tional on political and territorial renewal rather than vice versa« (ebd., S. 115).
95 Weidner, Gershom Scholem (wie Anm. 19), S. 49–50.
96 Vgl. ebd., S. 53.
312 Teil II
Der Zionismus wird seine Katastrophe überleben. Die Stunde ist da, wo die Herzen
sich entscheiden müssen, ob sie den Zionismus, dessen Sinn die Vorbereitung des
Ewigen ist, gegen den Zionismus des Judenstaates, der die Katastrophe ist, aufgeben
wollen. Die Theokratie hat sich als zu schwach erwiesen, und Gottes Priester haben
sich nicht in die Bresche des Volkes gestellt. Und in die Lücke einer noch unvoll-
ziehbaren Theokratie hinein will sich nun eine weltlich-vorgestrige Zionsstaatlich-
keit stellen. Die lebendigen Kräfte des Volkes, die gerade in Palästina am wenigsten
wirken, sterben ab, fließen ab in andere Volksadern, weil wir unserer Berufung nicht
treu geblieben sind. Bei Gott – es war ja nicht dieses das was wir wollten. Wir
glaubten im Innern an die Fülle des Herzens, und jene magere und kalte Kleinbür-
gerlichkeit, die einen Chaluz mit einem Klausner verbindet […] bringt uns um. […]
So müssen wir sehend einem Zusammenbruch entgegengehen, und noch wünschen,
dass er bald käme.97
Wer sind »Gottes Priester, die sich nicht in die Bresche des Volkes gestellt«
haben? Wenn man Shmuel Hugo Bergmanns Tagebüchern trauen kann, dann
soll Scholem 1928 gesagt haben, dass nach der Balfour-Deklaration von 1917
eine messianische Stimmung geherrscht habe:
Damals hätte Kook [Rav Abraham Isaak HaCohen Kook, religiöser Zionist; Anm.
E. D.] durch eine revolutionäre Tat, durch Erleichterungen, die jüdische Religion
retten können. Die Stunde verging, Kook fand den Mut nicht dazu angesichts seiner
vielen Gegner. […] Wenn der Zionismus einmal sein Ziel erreicht hätte und eine
Gemeinschaft neu geschaffen würde, dann würde auch der Schulchan Aruch [1565
in Venedig geschriebener Gesetzeskodex von Josef Karo; Anm. E. D.] neu geschaf-
fen werden. Bis dahin müsse man zwischen zwei Stühlen sitzen, es gibt legitim vor
Gott Menschen, die zwischen zwei Stühlen sitzen.98
Die Auffassung, dass der »Sinn« des Zionismus »die Vorbereitung des Ewigen
ist«, wie es in Scholems kurzem Text von 1924 heißt, berührt sich nun in der
Tat mit Rav Kooks religiösem Zionismus. Nach Kooks Ansicht bereitet der
säkulare Zionismus die religiöse Erneuerung vor, auch wenn dessen Protago-
nisten, die zionistischen Pioniere, sich nicht mehr an die Halacha gebunden
fühlten. Ohne es selbst zu wissen, nehme der säkulare politische Zionismus am
Erlösungsprozess teil; selbst die Gesetzesübertretungen können aus dieser
97 Gershom Scholem: Der Zionismus wird seine Katastrophe überleben… Ende 1924,
TS, JNUL, Gershom-Scholem-Archiv, Arc. 40 1599/277 I 52, S. 1. Als Scholem sich
1930 in einer privaten Aufzeichnung darüber Rechenschaft ablegt, was »am Zionis-
mus uns anzog«, kommt ebenfalls auf ambivalente Weise die Religion ins Spiel:
»[O]hne messianischen Verführungen zu erliegen, waren wir uns doch des religiösen
Begriffes unserer Aufgabe gewiss« (Scholem, Nach 15 Jahren: Selbstbetrug? [wie
Anm. 74], S. 4f.). Doch die »Hoffnung auf Wiederherstellung einer Kontinuität, die
durch Europa gefährdet schien, die religio, das Bemühen um ›Wiederverbindung‹
mit den entschwindenden Lebenskräften ist in einen verlogenen Chauvinismus um-
gebogen worden, bis nur das bare Außen, mit einer messianischen Fratze verhängt,
noch blieb« (ebd., S. 1).
98 Shmuel Hugo Bergmann: Tagebücher und Briefe. Bd 1. Königstein i. Ts.: Jüdischer
Verlag, Athenäum 1985, S. 261.
4 Mystische, apokalyptische und profane Figuren des Messianischen 313
Perspektive noch als heilige Akte begriffen werden. Am Ende des Erlösungs-
prozesses würden die Buße und die Rückkehr zu einem halachischen Gemein-
wesen erfolgen. Kooks Schriften sind bis heute die Quelle der Inspiration für
rechte, religiös-nationale Siedlungsbewegungen, vor allem für die Gruppe
»Gush Emunim«.99 Die Extreme eines säkularen politischen Zionismus bzw.
einer nicht-religiösen messianischen Vision, wie wir sie bei den Revisionisten
gefunden haben, auf der einen Seite und eines religiösen Zionismus auf der
anderen Seite berühren sich. Scholem war sich dessen bewusst, wie sein an
Rosenzweig gerichteter Text »Bekenntnis über unsere Sprache« von 1926
bezeugt, in dem er sich bemüht, zwischen den Extremen eines religiösen Zio-
nismus und eines politisch säkularen Zionismus zu navigieren (s. Kap. I.4.3).
Die prästabilierte Harmonie zwischen religiösem und säkular politischem
Zionismus, die sich bei Rav Kook findet, dürfte für Scholem weniger Lösung
als Teil des Problems gewesen sein, wenn Scholem auch in prekärer Nähe zu
Rav Kooks Ansatz verbleibt. »[I]n die Lücke einer noch unvollziehbaren The-
okratie hinein«100 stellt Scholem, statt einer »weltlich-vorgestrige[n] Zions-
staatlichkeit«,101 seinen religiösen Anarchismus. Bei Rav Kook wirkt der häre-
tische, säkulare politische Zionismus unbewusst an der religiösen Erlösung
mit, so dass man geradewegs von einer List der Theologie sprechen kann.
Scholem hingegen leitet von einem bewussten religiösen Anarchismus ein
undogmatisches Verständnis jüdischer Identität her. Die Grundannahmen von
Scholems religiösem Anarchismus finden sich bereits in dem Text »Die Lehre
von Zion« (1918/1919), der weiter oben schon besprochen wurde (vgl. Kap.
II.4.2). Die »Lücke einer noch unvollziehbaren Theokratie«102 weist aber auch
schon voraus auf eine programmatische Stellungnahme von 1939, in der Scho-
lem seinen religiösen Anarchismus als Übergangsphänomen beschreibt. Hier
erklärt Scholem zwar, dass die orthodoxe Auslegung der schriftlichen Thora in
der mündlichen Thora, d. h. im Talmud und der hierauf gründenden halachi-
schen Tradition, nicht bindend sei. Damit stellt Scholem aber nicht die Thora
als offenbarten Text in Frage, sondern nur deren Lesbarkeit und Verständlich-
keit nach gegenwärtiger orthodoxer Auslegung.103 In die »Lücke einer noch
99 Vgl. hierzu Aviezer Ravitzky: Messianism, Zionism, and Jewish Religious Radi-
calism. Chicago: Univ. of Chicago Press 1996, S. 80.
100 Scholem, Der Zionismus wird seine Katastrophe überleben… (wie Anm. 97), S. 1.
101 Ebd.
102 Ebd.
103 »[W]e are unable to accept the Oral Torah of Orthodoxy. Yet with respect to the
Written Torah it is incumbent upon us to recall that nothing therein is in itself fixed
without the exegesis of the Oral Torah. We must therefore wait for our own Oral
Torah, which will have to be binding for us, leaving no room for free, non-
authoritative decision«, so Scholem laut Protokoll eines Treffens von jungen zion-
istischen Intellektuellen am 13.07.1939 auf Einladung von Judah L. Magnes, dem
ersten Präsidenten der Hebräischen Universität. Das hebräische Protokoll wurde
übersetzt und veröffentlicht von Paul Mendes-Flohr (vgl. Paul Mendes-Flohr: Law
and Sacrament: Ritual Observance in Twentieth-Century Jewish Thought. In:
314 Teil II
schien; schließlich Sabbatais Übertritt zum Islam unter Druck des türkischen
Herrschers – sind vorderhand von wissenschaftlichem Interesse für Scholem.
Vielmehr erklärt Scholem die religiöse Nachgeschichte des Sabbatianismus zu
seinem Thema. Welche Messianologie entwickelte die sabbatianische Theolo-
gie, um die diversen Gesetzesübertretungen Sabbatais bis hin zu seinem Über-
tritt zum Islam theologisch plausibel zu machen, und was implizierte diese
Theologie für die Morallehre?
Bereits in der alten jüdischen Theologie sei, so Scholem, die Frage strittig
gewesen, wie sich die Thora im messianischen Zeitalter verwirklichen werde.
Antinomistische Tendenzen zeichneten sich dabei schon in der älteren Kabbala
ab. So habe das Buch Temuna (13. Jahrhundert) sieben Konkretisationsstufen
der Thora gelehrt. Dieser Lehre zufolge gibt es einen Zyklus der Welt von
sieben mal siebentausend Jahren. In allen diesen Zyklen und Äonen bleibt die
Thora das »absolute Medium der Offenbarung. Sie ist das corpus mysticum:
der entfaltete Name Gottes. Aber wie wir die Tora lesen, ist abhängig von der
betreffenden Schemita [dem Weltzeitalter; Anm. E. D.].«109 In der sabbatiani-
schen Bewegung hätten sich diese Elemente »als Dynamit erwiesen, und in der
frankistischen Bewegung, dem letzten Stadium des Sabbatianismus, hat dies
Dynamit, durch eine kleine Verlagerung entzündet, das ganze Gebäude selbst
gesprengt.«110 Auf diese Weise erklärt Scholem den Sabbatianismus aus der
Kabbala und damit als originäres Phänomen der jüdischen Tradition.
Die sabbatianische Theologie erhellt sich Scholem in dem Werk des Marra-
nen Abraham Cardoso (1627–1706), das in Scholems Augen einen »virtuell
gnostischen Antinomismus innerhalb der Welt des Judentums«111 dokumen-
tiert. Cardoso unterscheide zwischen einer prima causa, deren Existenz schon
mit der Ratio eines Schulkindes erfassbar sei, und einem primum causatum,
dem Gott Israels als dem wahren Schöpfergott. Mit der Zerstörung des Tem-
pels habe sich die Erkenntnis Gottes verwirrt, indem die prima causa angebetet
und mit dem Gott Israels identifiziert worden sei. 1500 Jahre sei das Judentum
auf Abwegen gewesen, habe man doch nicht recht gewusst, zu wem man bete.
Denn in der Nacht des Exils habe sich die Erkenntnis Gottes verdunkelt, und
nur einige Wegzeichen seien im Talmud und im kabbalistischen Buch Sohar
gegeben, deren wahrer Sinn in der Zeit des Exils freilich dunkel bleiben müs-
se. »Mit dem Erscheinen des Messias aber wird mit einem Schlag die alte
Weisheit offenbart.«112 Der Messias sei bei Cardoso der wahre Erkennende,
der unter einem höheren Gesetz der Erlösung antrete und handle. Sein Abfall
unter die Heiden stelle kein Vorbild dar, sondern der Messias sei gesandt, die
Funken des Urlichts, die der lurianisch-gnostischen Kosmologie zufolge unter
die Macht der Materie geraten sind, aus den Völkern zu befreien. Er könne
seine Sendung nur erfüllen, indem er sich unter die Völker begebe und ihre
Handlungen ausführe.
Die Taten des Messias, sein offener Antinomismus, haben nun bei Cardoso
noch keinen Vorbildcharakter für die jüdische Gemeinde. Diesen Schluss ha-
ben erst später die Frankisten gezogen. Allerdings habe bereits die sabbatiani-
sche Theologie die Welt der Thora innerlich ausgehöhlt und den Weg für die
jüdische Aufklärung, die Haskala, geebnet. Deren theologische Vorgeschichte,
postuliert Scholem, liege im Sabbatianismus. Mit dieser starken und umstritte-
nen These zielt Scholem darauf ab, die jüdische Aufklärung als spezifisch
jüdische Aufklärung zu konzipieren. Statt die Haskala aus äußeren Gründen
herzuleiten, verschafft er ihr eine originär jüdische, religiöse Genealogie.
Scholems Ansatz, die jüdische Geschichte auf eigenen, inneren Gesetzmäßig-
keiten aufzubauen, findet hierin einen markanten Ausdruck. Die Verbindung,
die Scholem zwischen Sabbatianismus, Reform und Emanzipation herstellt,
folgt dabei nicht dem Narrativ des Fortschritts, sondern der »Krise«, die von
innen schließlich nach außen schlägt.113 Die »Erneuerung des Judentums«,114
die Scholem allein dem Zionismus zutraut,115 müsse sich auf die jüdische
Geschichte und die sie konstituierenden Kräfte besinnen. Diese sind aber für
Scholem Tradition und Apokalyptik.116 Dabei meint Scholem mit Tradition
vor allem die Tradition der jüdischen Mystik, der Kabbala (ʤʬʡʷ), die ja den
»Empfang« und solchermaßen die Tradition bedeutet. Die Apokalyptik wie-
derum sieht Scholem als Motor revolutionärer Erneuerung im Judentum, die
freilich, wie Scholem am Beispiel des Sabbatianismus zeigt, eine selbstzerstö-
rerische Seite hat.
Was seine eigene zionistische Programmatik anbetrifft, versucht Scholem,
die Apokalyptik nicht einfach zu negieren, sondern Apokalyptik und Tradition
so aufeinander zu beziehen, dass der Zionismus weder als säkularer, häretisch
apokalyptischer Bruch mit der jüdischen Tradition in toto noch als deren mes-
sianische, religiöse Erfüllung erscheint. Anders gesagt: Scholem opponiert
113 Vgl. ebd., S. 132: »Im Sabbatianismus ist jene Krise, welche die Reform nach
außen dokumentiert hat, schon 150 Jahre früher im innersten Herzen des Juden-
tums in Permanenz gesetzt worden.«
114 Ebd., S. 146.
115 Vgl. Scholem, »Um was geht der Streit« (wie Anm. 60), S. 16: »[W]enn wir aber
einmal etwa Deutschland betrachten, so war dort der Zionismus zweifellos die
Kraft, die das vertrocknete Judentum wieder belebte und vor dem geistigen und
historischen Untergang rettete.«
116 »Die Beziehung einer historischen auf eine ewige Gegenwart scheint mir nur auf
zwei Weisen realisierbar zu sei (die sich keineswegs widersprechen müssen): im
Medium der Apokalyptik oder der Tradition. Der ›biblische‹ Standort jenseits von
beiden ist eine Chimäre«, so Scholem in seiner Kritik an Julius Schoeps’ Kon-
struktion des jüdischen Glaubens aus einer die Geschichte überspringenden, unmit-
telbar »biblischen Theologie« (Scholem, Offener Brief an den Verfasser der
Schrift »Jüdischer Glaube in dieser Zeit« [wie Anm. 77], S. 244).
4 Mystische, apokalyptische und profane Figuren des Messianischen 317
117 Letztere kritisiert Scholem u. a. in »Politik der Mystik« (wie Anm. 76).
118 Gershom Scholem: Zur Neuauflage des »Stern der Erlösung«. In: Ders.: Judaica 1.
Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1963 (Bibliothek Suhrkamp: 106), S. 226–234, hier: S.
232. Die Metapher vom »apokalyptischen Stachel« begegnet immer wieder in
Scholems Geschichtsschreibung des jüdischen Messianismus.
119 Ebd.
120 Scholem, Die Theologie des Sabbatianismus im Lichte Abraham Cardosos (wie
Anm. 31), S. 123.
121 Vgl. Scholem, Nach 15 Jahren: Selbstbetrug? (wie Anm. 74), S. 4.
318 Teil II
122 Ebd., S. 3.
123 Vgl. hierzu auch Christoph Schmidt: Der häretische Imperativ. Überlegungen zur
theologischen Dialektik der Kulturwissenschaft in Deutschland. Tübingen: Nie-
meyer 2000 (Conditio Judaica; 31), S. 113–156.
124 Biale, Gershom Scholem (wie Anm. 86), S. 186.
125 Biale leiht den Begriff vom späteren Scholem, der über den Chassidismus als
neutralisierten Messianismus gesprochen hat, dies allerdings in kritischer Weise,
insofern der Chassidismus die messianische Energie vom nationalen auf den per-
sönlichen Bereich, die Heiligung des Alltags, gelenkt habe und Scholem quie-
tistisch erschien (vgl. ebd., S. 165–170 sowie S. 184–188).
4 Mystische, apokalyptische und profane Figuren des Messianischen 319
126 Scholem, Offener Brief an den Verfasser der Schrift »Jüdischer Glaube in dieser
Zeit« (wie Anm. 77), S. 244.
127 Scholem, Der Zionismus wird seine Katastrophe überleben… (wie Anm. 97), S. 1.
128 Vgl. Scholems Brief an Walter Benjamin vom 01.08.1931, in dem er schreibt, dass
er »seine Intention des Zionismus […] als eine religiös-mystische schließlich mit
Zustimmung charakterisiert« hört (zitiert nach: Scholem, Walter Benjamin [wie
Anm. 17], S. 214).
320 Teil II
these vollständig aufgelöst wird und immer wieder akut werden kann. Auf
Scholems Konzeption eines anarchischen, »mystisch-religiösen« Zionismus
bezogen, heißt dies, dass er die Gefahr, in religiöse Gewalt – sei es in eine sich
zum Vollzug anschickende Theokratie, sei es in die häretische Liquidation der
Tradition – umzuschlagen, nicht gebannt hat, sondern sie virtuell enthält. Dies
ist der eine kritische Einwand, der gegen Scholem vorgebracht werden kann.
Der andere kritische Einwand bezieht sich auf Scholems Konstruktion jüdi-
scher Identität aus inneren Gesetzmäßigkeiten, die die eigene, spezifisch jüdi-
sche Geschichte ausmachen. Zu Recht betont Daniel Weidner, dass Scholems
methodische Vorentscheidung, jüdische Identität auf der eigenen Geschichte
und der ihr unterstellten immanenten Dialektik von Kontinuität und Revolte zu
begründen, keinesfalls selbstverständlich ist. Was Scholem bei seinem Ver-
such, den Zionismus als innerjüdische Bewegung zu interpretieren, beständig
ausblendet, ist »die Dialektik von Eigenem und Fremden, also des Verhältnis-
ses der jüdischen und der europäischen Kultur«.129 Hierin zeigt Scholem sich
letztlich tiefer von Bubers Drei Reden über das Judentum (1911) beeinflusst,
als er es später selbst wahrhaben wollte. Nicht nur sind Dynamik und Erstar-
rung die beiden Pole, zwischen denen jüdische Geschichte bei Buber verläuft;
in seinen Drei Reden ruft Buber darüber hinaus dazu auf, »wahrhaft von innen
heraus Jude zu sein« (DR 27) und zwischen der Umwelt und der Innenwelt
eine Entscheidung zu treffen (vgl. Kap. II.2.2). Auch wenn sich Scholem von
Bubers Vorstellung einer »inneren Wirklichkeit« (DR 13) des Judentums, die
sich im subjektiven Erleben manifestiere, abwendet, so bleibt er doch Buber
insofern verhaftet, als er das Judentum aus inneren – freilich historischen, der
wissenschaftlichen Analyse zugänglichen – Kräften konstruiert. Bubers Kon-
zeption jüdischer Identität ändert sich nach dem Ersten Weltkrieg jedoch, und
mit ihr seine Konzeption des jüdischen Messianismus (vgl. Kap. II.2.3). Nach
dem Ersten Weltkrieg bestimmt sich bei Buber das Jüdisch-Nationale in Be-
ziehung zu einer universalen Aufgabe, der »Bildung einer neuen menschlichen
Gemeinschaft«.130 Bei Buber wird daher, wie Paul Mendes-Flohr zutreffend
bemerkt, »die arabische Frage für das Judentum die Probe aufs Exempel«.131
Bubers Mitgliedschaft im Brith Schalom steht im Einklang mit seiner nach
dem Ersten Weltkrieg vertretenen Konzeption des jüdischen Messianismus,
anders als die Mitgliedschaft Scholems, der sie im Rückblick auch nur als
»symbol of conduct«132 bezeichnet. Die Beziehung zum Anderen und das
Verhältnis von Partikularem und Universalem werden nach dem Ersten Welt-
krieg Themen der Philosophie Bubers, nicht der Philosophie Scholems. Bei
129 Weidner, Gershom Scholem (wie Anm. 19), S. 53.
130 Martin Buber: Jüdisches Nationalheim und nationale Politik in Palästina. In: Ders.:
Ein Land und zwei Völker. Zur jüdisch-arabischen Frage. Hg. von Paul Mendes-
Flohr. Zürich: Exlibris-Verlag 1985, S. 111–126, hier: S. 120.
131 Mendes-Flohr (Hg.), Martin Buber: Ein Land und zwei Völker (wie Anm. 70),
S. 112.
132 Scholem, On Jews and Judaism in Crisis (wie Anm. 82), S. 43.
4 Mystische, apokalyptische und profane Figuren des Messianischen 321
Scholem hingegen nimmt »der jüdische Mystizismus sozusagen den Platz des
Universalismus ein«.133 Dementsprechend bleibt der Messianismus – bei allen
Risiken, die er birgt – für Scholem ein jüdisches Erbe, dem er keine universale
Aufgabe zuschreibt.
Im dritten Teil des Sterns der Erlösung, dem das Motto »in tyrannos« voran-
steht, analysiert Franz Rosenzweig Politik und Religion als soziale Systeme,1
die die flüchtige, vergängliche Zeit ordnen, indem sie sie unter den Gesichts-
punkt der Ewigkeit stellen. Dies ist der Ausgangspunkt für Rosenzweigs Ana-
lyse »messianische[r] Politik«, die auf eine »Theorie des Krieges« hinaus-
läuft.2 Nation und Staat erscheinen bei Rosenzweig als die beiden Gestalten
einer »messianischen Politik«, die versuche, den »Völkern in der Zeit Ewigkeit
zu geben« (SdE 369) und unvermeidlich mit Gewalt einhergehe. Durch das
Christentum seien »Erwähltheitsgedanken über den einzelnen Völkern aufge-
gangen, und mit ihnen notwendig auch ein Anspruch auf Ewigkeit« (SdE 366).
Der Anspruch auf Erwähltheit und Ewigkeit sei den Völkern der Welt jedoch
nicht gewiss, er müsse erst historisch, »in der Zeit«, erwiesen werden. »[D]as
Bewußtsein der Einzelnen entscheidet darüber nichts; der Krieg allein […]
entscheidet« (SdE 367f.). Rosenzweig erklärt den Krieg so zur existentiellen
Bedingung »messianischer Politik«.3
Als Voraussetzung der »messianischen Politik« stellt Rosenzweig die Säku-
larisierung des jüdischen Erwähltheitsgedanken in der »christlichen Weltzeit«
1 Vgl. Franz Rosenzweig: Das neue Denken. Einige nachträgliche Bemerkungen zum
»Stern der Erlösung«. In: Ders.: Zweistromland. Kleinere Schriften zur Religion und
Philosophie. Berlin, Wien: Philo 2001, S. 210–234, hier: S. 228: »Auf soziologi-
scher Grundlage wird also hier Judentum und Christentum neben- und gegeneinan-
dergestellt.« Dazu schreibt Mosès: »In der Tat verhält es sich so, daß Rosenzweig
seine vergleichende Beschreibung dieser beiden Religionen nicht an ihren Glau-
bensüberzeugungen, ihrer Theologie und ihren Dogmen orientiert, sondern an ihrem
Gemeindeleben, das heißt an den sozialen Formen ihres religiösen Lebens. Der Sinn
von Judentum und Christentum offenbart sich ihm anhand ihrer Riten und Feste, an-
hand ihres liturgischen Kalenders« (Stéphane Mosès: Politik und Religion. Zur Ak-
tualität Franz Rosenzweigs. In: Wolfdietrich Schmied-Kowarzik [Hg.]: Der Philo-
soph Franz Rosenzweig. Bd 2. Freiburg, München: Alber 1988, S. 855–875, hier:
S. 859).
2 Rosenzweig schreibt selbst über das erste Buch des dritten Bandes des Sterns der
Erlösung, dass es mit der Darstellung einer »messianischen Politik, also einer Theo-
rie des Krieges, schließt« (Rosenzweig, Das neue Denken [wie Anm. 1], S. 229).
3 Vgl. Christoph Miething: Franz Rosenzweigs »Messianische Politik«. In: Ders.
(Hg.): Politik und Religion im Judentum. Tübingen: Niemeyer 1999 (Romania Juda-
ica; 4), S. 61–78, besonders S. 66.
324 Teil II
(SdE 367) dar, die diesen zu einer historisch-politischen Idee gemacht habe.
Hingegen habe die Erwählung beim Judentum nach dem Verlust der Staatlich-
keit nur mehr religiöse Bedeutung, so Rosenzweigs These. Im religiösen Fest-
zyklus, im liturgischen Jahr, lebe das jüdische Volk bereits in der Ewigkeit,
deren es sich historisch nicht mehr vergewissern müsse. Anders die Völker der
Welt. Solange sich diese noch, wie in der Antike der Fall, für sterblich gehal-
ten hätten, konnten sich, wie Cicero gesagt hatte, »salus« und »fides« eines
Volkes, seine Selbsterhaltung und das Einlösen eines verpfändeten Treuewor-
tes, unter Umständen widersprechen – ein Volk, das in den Krieg zog, über-
nahm die Gefahr des eigenen Todes, die Gefahr seines Untergangs: »Es ist
schließlich kein Grund zu nennen, warum Sagunt und sein Volk nicht von der
Erde verschwinden soll« (SdE 366), zitiert Rosenzweig Cicero. Augustinus
hatte diesen Widerspruch zwischen dem eigenen Heil und dem einem Höheren
getreuen Glauben für die Kirche nicht anerkannt, denn für sie seien »salus«
und »fides« eins (vgl. SdE 366). Dieser Gedanke habe sich auf die weltliche
Politik übertragen und die Idee des Krieges als selbst »kultische[r] Handlung«
befördert. Denn wenn ein Volk oder ein Staat einmal begännen, ihr eigenes
Sein unter höchstem Gesichtspunkt zu sehen, würde auch das Kriegführen, so
Rosenzweig, ein anderes Ansehen bekommen. Denn das Leben des Volkes,
das aufs Spiel gesetzt werde, wäre nun etwas,
das ernsthaft gar nicht aufs Spiel gesetzt werden darf. Woran soll denn die Welt ge-
nesen, wenn dieses Volkes Wesen aus ihr getilgt wird? Und je ernsthafter ein Volk
so die Einigung von ›Salus‹ und ›Fides‹, eigenem Dasein und Weltsinn, in sich voll-
zogen hat, um so rätselhafter wird ihm die Möglichkeit, die ihm der Krieg er-
schließt: die Möglichkeit des Untergangs (SdE 367).
Der Krieg als »religiöse Handlung«, als »Glaubenskrieg«, habe sich erst in der
»christlichen Weltzeit« etablieren können – nachdem das jüdische Volk den
»Glaubenskrieg« entdeckt habe. Die Ansicht des Krieges als »um Gottes wil-
len notwendiger Handlung« habe den »Glaubenskrieg gegen die sieben Völker
Kanaans« charakterisiert, »durch den sich das Volk Gottes den ihm notwendi-
gen Lebensraum« eroberte (vgl. SdE 367). Das jüdische Volk habe jedoch
seinen Glaubenskrieg in mythischer Vergangenheit hinter sich liegen. Ihm
seien alle Kriege nur noch »rein politische Kriege« (SdE 368).
Rosenzweigs Unterscheidung zwischen »Glaubenskrieg« und »politischem
Krieg« geht auf Dtn 20 (»Kriegsgesetze«) zurück, wo zwischen den Kriegen
gegen Städte, die sehr fern liegen, und gegen Städte, die zu den sieben Völkern
Kanaans gehören, unterschieden wird. »Politisch« nennt Rosenzweig den ers-
ten Kriegsfall, da hier ein Kriegsrecht formuliert wird, das den ›Schutz der
Zivilpersonen‹ fordert, nämlich Schonung für Frauen, Kinder und Vieh. Diese
sollen zwar als »Beute« behandelt, aber nicht getötet werden. »Jedoch von den
Städten dieser Völker, die der Ewige dein Gott dir zum Besitz gibt, sollst du
keine Seele leben lassen. Sondern bannen musst du sie, den Chitti und Emori,
5 ›Sub specie aeternitatis‹: Politik und Religion bei Franz Rosenzweig 325
den Kenaani und den Perisi, den Chiwi und Jebusi, wie dir geboten der Ewige
dein Gott« (Dtn 20,16f.).
Die Unterscheidung zwischen Glaubenskrieg und politischem Krieg verliere
ihre Distinktionskraft für die christlichen Völker, so Rosenzweig, da das Chris-
tentum auf universelle Ausbreitung ausgerichtet sei:
Dem keine Grenzen duldenden Geist des Christentums gemäß gibt es keine ›sehr
fernen‹ Völker. […] Gerade weil sie [die christlichen Völker; Anm. E. D.] nicht
wirklich Gottesvölker sind, sondern erst auf dem Wege, es zu werden, können sie
jene scharfe Grenze nicht ziehen; sie können gar nicht wissen, wie weit ein Krieg
Glaubenskrieg ist, wie weit bloß weltlicher Krieg. Aber auf jeden Fall wissen sie,
daß irgendwie Gottes Wille sich in den kriegerischen Geschicken […] [des] Staates
verwirklicht. Irgendwie – das wie bleibt rätselhaft; das Volk muß mit dem Gedanken
des Untergangs vertraut gemacht werden; ob es als Volk zu einem Stein im Bau des
Reichs gebraucht werden wird, – […] der Krieg allein […] entscheidet (SdE 367f.).
Auch wenn Rosenzweig die existentielle Interpretation des Krieges, der das
Volk mit dem Gedanken des Untergangs« vertraut mache und entscheide, ob
ein Volk »Gottesvolk« sei oder untergehe, an dieser Stelle pauschal der
»christlichen Weltzeit« zuschreibt, so lässt sich in ihr doch ein historisches
Phänomen wiedererkennen, das eng mit der Entstehung der modernen Natio-
nalstaaten zusammenhängt: das Konzept des ›totalen Krieges‹.4 Dessen Ur-
sprünge sehen Historiker in den französischen Revolutionskriegen, der ideell
die gesamte Bevölkerung erfassenden »levée en masse«. Bezüglich des Ersten
Weltkrieges kann man, was die deutsche Seite betrifft, ab 1916 von der Aus-
weitung des Krieges zum »totalen Krieg« sprechen, da Deutschland faktisch
unter der Militärregierung der Obersten Heeresleitung steht.5 Der Gedanke
»der notwendigen Ewigkeit des Volkes«, die sich im Krieg zuallererst als
solche zu erweisen hat, ist für Rosenzweig die Keimzelle des ›totalen Krieges‹.
Dass er hierbei den Ersten Weltkrieg und speziell die deutsche Seite im Auge
hat, verrät das Vokabular: »Woran soll denn die Welt genesen, wenn dieses
Volkes Wesen aus ihr getilgt wird?« (SdE 367) – in der Frage klingt das im
Kaiserreich populäre Geibel-Zitat »Und es mag am deutschen Wesen / Einmal
noch die Welt genesen« an.
Das Konzept des »totalen Krieges« auf der Grundlage einer existentiellen
Interpretation des Krieges entsteht erst mit dem »messianischen Nationalis-
4 Vgl. zur Geschichte des Begriffs »totaler Krieg«: Roger Chickering: Total War. The
Use and Abuse of a Concept. In: Manfred F. Boemeke, Roger Chickering and Stig
Förster (Eds): Anticipating Total War. The German and American Experiences,
1871–1914. Cambridge: Cambridge Univ. Press 1999 (Publications of the German
Historical Institute), S. 13–28.
5 Vgl. Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1914–1948. München:
Beck 2003, besonders S. 112–147 (»Die Dritte Oberste Heeresleitung und der Totale
Krieg«).
326 Teil II
Für Hegel verkörpert sich der Weltgeist abwechselnd in den verschiedenen Völkern;
daher wird der ›Volksgeist‹ jedes einzelnen Volkes bestimmt als die spezielle Form,
die der Weltgeist jeweils angenommen hat. Alle ›historischen Völker‹ wissen um
diese ihnen zugefallene Aufgabe; sobald ihr Schicksal sie ruft, sind sie sich ihrer
Rolle als bevorzugte Werkzeuge der Geschichte bewußt und wissen, daß sich durch
ihren ›Volksgeist‹ der Weltgeist vollendet. […] In seinem Briefwechsel von 1916–
1917 hatte Rosenzweig den Ursprung dieses messianischen Nationalismus im Geist
der Französischen Revolution gesehen. In seiner Darstellung des ›herrschenden‹
Volkes war Hegel vom Frankreich Napoleons beeinflußt. Fichte wiederum hatte für
Deutschland die Rolle eines neuen ›auserwählten Volkes‹ in Anspruch genommen.
[…] [I]m Jahre 1914 hatten sämtliche europäische Großmächte bei dieser oder jener
Gelegenheit Anspruch auf die Rolle des Herrenvolkes erhoben.11
18 Vgl. Rosenzweig, Franz: Nordwest und Südost. In: Ders., Der Mensch und sein
Werk (wie Anm. 13), Bd 3, S. 301–308.
19 Vgl. Rosenzweigs Tagebucheintrag vom 14.01.1916. In: Ders.: Der Mensch und
sein Werk. Gesammelte Schriften. Bd I/1 (Briefe und Tagebücher). Hg. von Rachel
Rosenzweig und Edith Rosenzweig-Scheinmann. Den Haag: Nijhoff 1979, S. 183.
20 Auch Derrida hebt hervor, dass der nationale Diskurs zwischen den Weltkriegen
Nationalismus und Universalismus miteinander verschränkt habe, insofern die
»Selbstbehauptung einer Identität stets den Anspruch [erhebt], auf den Anruf oder
die Anweisung des Universellen zu antworten. […] Keine kulturelle Identität stellt
sich als der undurchlässige Leib oder Körper eines Idioms dar, im Gegenteil: jede
erscheint immer als die unersetzbare Einschreibung des Universellen in das Singulä-
re, als das einzigartige Zeugnis des menschlichen Wesens und des Eigentlichen des
Menschen« (Jacques Derrida: Das andere Kap. In: Ders.: Das andere Kap. Die ver-
tagte Demokratie. Zwei Essays zu Europa. Übers. von Alexander García Düttmann.
Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1994, S. 9–80, hier: S. 54).
21 Hans-Ulrich Wehler: Nationalismus. Geschichte, Formen, Folgen. 3. Aufl., Mün-
chen: Beck 2007 (Beck’sche Reihe: C.-H.-Beck-Wissen; 2169), S. 13.
22 Ebd., S. 33.
5 ›Sub specie aeternitatis‹: Politik und Religion bei Franz Rosenzweig 329
Auch Rosenzweig meint, man gehe fehl, verstünde man Gewalt als Leug-
nung des Rechts. Vielmehr sei »der Sinn aller Gewalt, daß sie neues Recht
gründe« (ebd., 370). Die absolute Ursprünglichkeit der grund-losen Grün-
dungsgewalt wird nun, so argumentiert Derrida, durch die Iterabilität des Ge-
setzes in Frage gestellt. Denn es gehöre zur Struktur der (be)gründenden Ge-
walt, dass sie eine Wiederholung ihrer selbst erfordere, dass sie jenes
(be)gründe, was erhalten werden müsse: »Die Setzung ist bereits Iterabilität,
Ruf nach einer selbsterhaltenden Wiederholung.«27 Genau diesen Zusammen-
hang von Rechtssetzung und Rechtserhaltung hebt nun auch Rosenzweig her-
vor:
[E]s steckt ein Widerspruch in dem Gedanken eines neuen Rechts. Recht ist seinem
Wesen nach altes Recht. Und nun zeigt sichs, was die Gewalt ist: die Erneuerung
des alten Rechts. Das Recht wird in der gewaltsamen Tat ständig zum neuen Recht.
Und der Staat ist also gleichsehr rechtlich und gewaltsam, Hort des alten und Quelle
des neuen Rechts […]. [I]ndem er den Augenblick […] herrisch ergreift und nach
seinem Willen und Vermögen formt […][,] bringt der Staat den Widerspruch von
Erhaltung und Erneuerung, altem und neuen Recht, gewaltsam zum Austrag (SdE
370).
Wenn das Recht seinem Wesen nach altes Recht ist, dann lässt sich dies ent-
weder, mit Derrida, so verstehen, dass das neue Recht immer schon altes Recht
ist, weil es auf Wiederholbarkeit angelegt ist;28 oder man kann dies so interpre-
tieren, dass sich das Recht, zu Zwecken seiner Legitimation, als alt-neues
Recht ausgibt, also, wieder mit Derrida, Zuflucht zu einer »legitime[n] Fikti-
on«29 sucht, um seiner Grund-losigkeit beizukommem und sich durch die fin-
gierte »Kraft des Alten« (SdE 371) zu legitimieren. Wenn für Derrida die
Iterabilität des Gesetzes die Möglichkeit einer nicht-identischen Wiederholung
birgt – die Möglichkeit einer Einzigartigkeit, deren Bedingung die Wiederho-
lung ist –, so lässt in Rosenzweigs Darstellung der Staat keinen Raum für eine
solche singuläre Wiederholung. Denn das neue Recht, das immer schon das
alte Recht ist, bannt den einzelnen Fall und den je neuen Augenblick, indem
das Neue gewaltsam mit dem Alten verschmolzen wird (vgl. SdE 371). Eric
Santner schreibt hierzu: »In existential terms, sovereignity, is for Rosenzweig,
dentum befinde sich außerhalb der »kriegerischen Zeitlichkeit« (SdE 368) der
Staaten und Nationen, indem es in der Zeit des Kults, der »alltäglich-allwö-
chentlich-alljährlichen Wiederholung des kultischen Gebets« (SdE 324), d. h.
im liturgischen Jahr des Festkalenders, die Ewigkeit symbolisch vorwegneh-
me. Statt die Ewigkeit im Kampf gegen die Zeit immer wieder gewaltsam zu
behaupten wie der Staat, positioniert sich das Judentum bei Rosenzweig au-
ßerhalb der Zeit. Dieses Außerhalb der Zeit macht Rosenzweig zum einen an
der Zeiterfahrung des »geistlichen Jahrs« (SdE 355), des sich wiederholenden,
»alljährlichen Kreislaufes« (SdE 368) des Festkalenders, fest.40 In diesem
haben Land, Sprache und Gesetz nur als liturgische Zeichen Realität, worauf
weiter unten noch näher einzugehen sein wird. Zum anderen sieht Rosenzweig
die Ewigkeit des jüdischen Volkes in der »Gemeinschaft des Blutes« (SdE
331) garantiert. Einzig das Blut erkennt Rosenzweig als natürliches41 (nicht-
liturgisches) identitätsstiftendes Merkmal des Judentums an, das dieses mit den
Völkern der Welt teile. Das Judentum verkörpert die Blutsgemeinschaft in
Rosenzweigs Darstellung exemplarisch, weil es sich, seiner Konstruktion nach,
von allen anderen natürlichen identitätsstiftenden Merkmalen losgesagt habe.
Die »volle Wucht des Willens zum Volke« sei in dem einen Punkt gesammelt,
»der bei den Völkern der Welt nur einer unter anderen ist, dem eigentlichen
und reinen Lebenspunkt, der Blutsgemeinschaft« (SdE 333).
Rosenzweigs Metaphysik des Bluts folgt letztlich der von Buber in den Drei
Reden über das Judentum (1911) gewiesenen Richtung (vgl. Kap. II.2.2): Das
Blut erscheint als Medium eines transgenerationalen, ahistorischen Gedächt-
nisses, einer »ewig gegenwärtige[n] Erinnerung« (SdE 337), die die Erzväter
mit dem »spätesten Sproß« (SdE 331) teilen. Recht besehen ist das Blut aber
das einzige Merkmal, das das Judentum in Rosenzweigs Darstellung überhaupt
zum Volk macht. Würde Rosenzweig nicht am Blut als identitätsstiftendem
Merkmal festhalten, dann wäre das von ihm konstruierte Judentum kein Volk,
sondern – Kirche im Sinne einer liturgisch gestalteten, religiösen Existenz.
Dies hat Gershom Scholem schon früh bemerkt, spricht er doch »vom seltsam
kirchlichen Aspekt, unter dem hier [im Stern der Erlösung; Anm. E. D.]
manchmal unversehens das Judentum erscheint«.42 Die Metaphysik des Bluts
begründet bei Rosenzweig eine Metaphysik des jüdischen nationalen Selbst,
eines Selbst »jenseits des äußeren Lebens« (SdE 336). Mit der Vorstellung
einer »Verwurzelung im eigenen Selbst« (SdE 339) evoziert Rosenzweig die
»absolute Identität«43 des jüdischen Volkes mit sich selbst.
40 Vgl. SdE 369: »Ein Kreislauf, der Kreislauf des Jahres, versichert das ewige Volk
seiner Ewigkeit.«
41 Vgl. SdE 332: »[I]n der natürlichen Fortpflanzung des Leibes hat sie [die Blutsge-
meinschaft; Anm. E. D.] die Gewähr ihrer Ewigkeit.«
42 Gershom Scholem: Zur Neuauflage des »Stern der Erlösung«. In: Ders.: Judaica 1.
Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1963 (Bibliothek Suhrkamp: 106), S. 226–234, hier:
S. 232.
43 Miething, Franz Rosenzweigs »Messianische Politik« (wie Anm. 3), S. 73.
5 ›Sub specie aeternitatis‹: Politik und Religion bei Franz Rosenzweig 335
Rosenzweigs spekulative Geste zielt darauf, das Judentum als Anderes ge-
genüber den totalitären Ansprüchen von Staat und Nation einerseits, dem mis-
sionierenden Christentum andererseits zu behaupten.44 Die »absolute Identität«
mit sich selbst, die Rosenzweig dem jüdischen Volk als Blutsgemeinschaft
attestiert,45 ist nun aber selbst eine Figur geschlossener Totalität, die das Ju-
dentum nicht von den Völkern der Welt unterscheidet, sondern es geradezu zu
ihrem exemplarischen Typus macht.46 So schreibt Rosenzweig selbst: »Was
vom Volk überhaupt als der Vereinigung der Blutsfamilien gegenüber allen
Gemeinschaften des Geistes gilt, das gilt nun in besonderer Weise von dem
unsern. Das jüdische Volk ist unter den Völkern der Erde, wie es sich selbst
auf der allsabbatlichen Höhe seines Lebens nennt: das eine Volk« (SdE 332
[Hervorhebung E. D.]).
Auch in Rosenzweigs Beschreibung der liturgischen Existenz des jüdischen
Volkes kehrt die Figur geschlossener Totalität wieder. Wenn für Rosenzweig
gilt, dass das Judentum das »Bild der wahren Gemeinschaft unversehrt […]
erhalte[]« (SdE 369), dann sollte man sich die Darstellung jenes Festes näher
anschauen, bei dem, so Rosenzweig, das Judentum als »Volksgemeinschaft«
(SdE 359) zugleich die ganze Menschheit vor Gott vertrete (vgl. SdE 361) und
deren Vereinigung antizipiere: an den »gewaltigen Tagen«, Rosch Ha-Schana
und Jom Kippur, die die »Gemeinsamkeit des letzten Schweigens« (SdE 356)
liturgisch umsetzten. Denn die vollendete Vereinigung ereigne sich nicht im
Wort, sondern im gemeinsamen Schweigen:
44 Vgl. Hufnagel, »über Gräber vorwärts« (wie Anm. 37), S. 513.
45 Vgl. SdE 333: »[D]as Volk ist Volk nur durch das Volk.«
46 Den exemplarischen Status, den Rosenzweig der jüdischen »Blutsgemeinschaft«
gibt, hebt Sandra Lehmann zu Recht hervor (vgl. Sandra Lehmann: Zwei Totalitä-
ten. Zu Franz Rosenzweigs Kritik der Hegelschen Staatsphilosophie. In: Brigitta
Keintzel und Burkhard Liebsch [Hg.]: Hegel und Levinas. Kreuzungen, Brüche,
Überschreitungen. Freiburg im Breisgau u. a.: Alber 2010, S. 269–281, besonders
S. 276). Lehmanns Interpretation von Rosenzweigs »Philosophie des Blutes«
(S. 281) ist eine der wenigen, die Rosenzweigs Bezugnahme auf das Blut nicht zur
Metapher verharmlosen. Sie argumentiert, dass der Rekurs auf die jüdische »Bluts-
gemeinschaft« einen systematischen Stellenwert in Rosenzweigs Philosophie habe.
Rosenzweigs Philosophie werde von der Gefahr eines dichotomen Weltbildes be-
droht, insofern »Geschichte als politisch gestalteter Gewaltzusammenhang […] un-
verbunden mit der Ethik als meta-geschichtlicher, transzendent orientierter Lebens-
praxis« erscheint (ebd., S. 277). Um der Gefahr dieser Dichotomie zu begegnen,
konstruiere Rosenzweig das Judentum als Klammer zwischen Weltgeschichte und
Ethik: Das Judentum als »ausgezeichnetes Blut« (ebd., S. 278) habe in Rosenzweigs
System den Rang erlöster Materialität. Es biete damit die Gewähr einer Vollendung,
auf die die Ordnung des Seienden ausgelegt ist. Ich möchte Sandra Lehmann dan-
ken, dass sie mir ihren Vortragstext im Vorfeld von dessen Veröffentlichung über-
lassen hat. Jüngst hat auch Caspar Battegay eine Studie vorgelegt, in der er sich aus-
führlich mit Rosenzweigs Bezugnahme auf das »Blut« befasst und sie in einen bio-
politischen Kontext stellt (vgl. Caspar Battegay: Das andere Blut. Gemeinschaft im
deutsch-jüdischen Schreiben 1830–1930. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2011 [Reihe
Jüdische Moderne; 12], besonders S. 190–236).
336 Teil II
Weil in der Ewigkeit das Wort erlischt im Schweigen des einträchtigen Beisammen-
seins – denn nur im Schweigen ist man vereint, das Wort vereinigt, aber die Verei-
nigten schweigen – darum muß […] die Liturgie […] den Menschen ins Schweigen
einführen (SdE 342).
Daher kommt es, daß das Höchste der Liturgie nicht das gemeinsame Wort ist, son-
dern die gemeinsame Gebärde (SdE 329).
Das Medium der letzten Gemeinsamkeit ist bei Rosenzweig nicht die Sprache,
sondern die gemeinsame Gebärde, die sich »von der Fessel, unbeholfene Die-
nerin der Sprache zu sein« (SdE, 329), gelöst habe und ein »Mehr als Sprache«
(ebd.) sei. Rosenzweig erklärt nun die Gebärde des Grußes zum »höchsten
Zeichen des Schweigens« (SdE 357): »Man schweigt, weil man einander
kennt. […] Erst wenn alles schwiege, wäre das Schweigen vollkommen und
die Gemeinschaft all-gemein« (SdE 357). Um die Möglichkeit des schweigen-
den »Gruß[es] Aller an Alle« (SdE 357) zu demonstrieren, greift Rosenzweig
auf die Analogie mit der Militärparade zurück:
Das Ganze und daß man dazu gehört, erlebt sich nur in der Parade, im Fahnengruß,
im Vorbeimarsch vor dem obersten Kriegsherrn. Hier, wo salutiert wird […], wird
[…] die Gemeinsamkeit aller Angehörigen dieser Armee durch alle Zeiten [zum
Ausdruck gebracht]; denn Fahnentuch und Fürstengeschlecht, so fühlt der Soldat, ist
älter als die Lebenden und wird sie überleben. […] Und nun erkennen wir, wie allein
der Gruß Aller an Alle geschehen kann […]. Das gemeinsame Knien vor dem Herrn
der Dinge in aller Welt und der Geister in allem Fleisch öffnet der Gemeinschaft,
und freilich nur ihr und den Einzelnen nur in ihr, den Heraustritt in die Allgemein-
schaft, wo jeder jeden kennt und ohne Worte ihn grüßt – von Angesicht zu Ange-
sicht (SdE 358f.).
Nicht etwa im Bekenntnis der Schuld, nicht im Gebet um Vergebung der Sün-
de, kniet die Gemeinde an Jom Kippur, sondern beim »Aleinu« des Hauptge-
betes an Rosch Ha-Schana (und auch nur an diesem Tag),47 wenn sie den Tag,
»wo alles Geschaffene in die Knie sinkt und einen einzigen Bund bildet, Got-
tes Willen zu tun« (SdE 360), erbittet. Man würde es sich wohl zu leicht ma-
chen, wollte man Rosenzweigs Analogiebildung von (autoritärer) Politik und
47 Vgl. den Abschnitt »Aleinu« des Mussaf-Gebetes in der Übersetzung von Samson
Raphael Hirsch. In: Israels Gebete. Übers. u. erläutert von Samson Raphael Hirsch.
Frankfurt a. M.: J. Kaufmann 1906, S. 639. In Hirschs Kommentar kann man lesen,
dass das Aleinu »den entschiedenen Gegensatz unseres Gottesbewußtseins und un-
serer Gott huldigenden Stellung und Beziehung zu Gott im Vergleich mit der übri-
gen Menschheit aus[spricht] […] und sodann eben auf Grund dieses Gottesbewußt-
seins […] ebenso entschieden die Zuversicht in die einstige völlige und rückhaltlose
Rückkehr aller Menschen zur Huldigung Gottes« (ebd., S. 639f.). Eine »Rückkehr
der Menschen zu Gott« bedeute, so der orthodoxe Rabbiner Hirsch, »nach jüdischer
Lehre keineswegs den Eintritt aller Menschen ins Judentum, sondern deren Eintritt
ins reine Menschtum, […] daß alle Menschen Gott, den einzig Einen, als alleinigen
Gott im Himmel und auf Erden erkennen und ihm durch ein treugehorsames Pflicht-
leben nach dem in der jüdischen Lehre für alle Menschen niedergeschriebenen Sit-
tengesetze für immer huldigen« (ebd., S. 208f.).
5 ›Sub specie aeternitatis‹: Politik und Religion bei Franz Rosenzweig 337
Theologie nur als Zufall abtun, zumal diese Stelle kein Einzelfall ist.48 Die
Umprägung von theologischen zu politischen Begriffen kann nicht nur in die-
ser Richtung erfolgen, in der sie Carl Schmitt behauptet hat, sondern auch in
umgekehrter Richtung vor sich gehen, worauf Jan Assmann hingewiesen hat.49
Die gemeinsame Gebärde vor Gott als dem »König aller Könige« (SdE 360)
soll eine überzeitliche Gemeinschaft konstituieren wie es im Politischen die
Parade und das Salutieren vor der Fahne und dem obersten Kriegsherrn be-
zweckt. Die Sprache stellt das Medium der Zeitigung von Zeit dar und ist nicht
zur Vorwegnahme der Ewigkeit geeignet (s. Kap. I.2). Was die Gebärde vor
der verbalen Sprache bei Rosenzweig auszeichnet, ist ihre vermeintlich der
Wortsprache überhobene Anschaulichkeit,50 weswegen Rosenzweig die Ge-
bärde, anders als die Sprache, als Medium der »unmittelbare[n] Verständi-
gung« (SdE 328) interpretiert. Die Gebärdensprache als Zeichensystem der
Ewigkeit besteht bei Rosenzweig mithin aus ikonischen Zeichen, die ein »un-
mittelbar Anschauliche[s]« (SdE 328) präsentieren sollen.
Wenn Lefort im Hinblick auf Michelet bemerkt, dass dessen radikale Kritik
des Ancien Régime als theologisch-politischer Formation so geartet sei, dass
sie im Dienste einer Apologie der Modernität die scheinbar diskreditierten
Begriffe wiederverwende,51 so wird man im Hinblick auf Rosenzweig sagen
können, dass dessen Kritik an den Gewalt produzierenden Ewigkeitshyposta-
sen von Staat und Nation so beschaffen ist, dass sie im Dienste einer Apologie
der Religion die scheinbar diskreditierten theologisch-politischen Kategorien
wiederverwendet. Zeigt Lefort, dass bei Michelet eine Verlagerung des Bildes
vom Körper des Königs und seiner Doppeltheit in neue Entitäten stattfindet
(im Zentrum der Vermittlung zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtba-
ren, dem Ewigen und dem Zeitlichen komme das heilige Bild des Volkes, der
Nation, des Geistes zu stehen, worauf die Idee des Einen übertragen werde), so
53 Vgl. SdE 360: »So stellen die gewaltigen Tage, der Neujahrstag und der Tag der
Versöhnung, die ewige Erlösung mitten in die Zeit.«
54 Vgl. auch SdE 335 (Hervorhebung E. D.): »Die Heiligkeit der eigenen Sprache […]
hindert das ewige Volk […], eben durch jene Einzäunung des letzten, höchsten Le-
bens, des Gebets, in einen heiligen Sprachbezirk, jemals ganz frei und unbefangen
zu leben. Denn alle Freiheit und Unbefangenheit des Lebens beruht darauf, daß der
Mensch alles sagen kann, was er meint, und daß er weiß, daß er es kann; wo er dies
verliert, […] da ist nicht bloß die Sprachkraft eines Volks gebrochen, sondern auch
seine Unbefangenheit hoffnungslos gestört. Eben diese letzte und selbstverständli-
che Unbefangenheit des Lebens ist nun dem Juden versagt, weil er mit Gott eine an-
dere Sprache spricht als mit seinem Bruder. Mit seinem Bruder kann er deshalb
überhaupt nicht sprechen, mit ihm verständigt ihn der Blick besser als das Wort,
und es gibt nichts im tieferen Sinne Jüdisches als ein letztes Mißtrauen gegen die
Macht des Worts und ein inniges Zutrauen zur Macht des Schweigens.«
55 Vgl. Paul Mendes-Flohr: Rosenzweig and Kant. Two Views of Ritual and Religion.
In: Ders.: Divided Passions. Jewish Intellectuals and the Experience of Modernity.
Detroit: Wayne State Univ. Press 1991 (The culture of Jewish modernity), S. 283–
310, hier: S. 297.
340 Teil II
Rosenzweig bewegt sich letztlich in einem Zirkel, in dem die Öffnung der
von ihm im Ersten Weltkrieg als katastrophal erlebten politischen Totalität zu
einer neuen Schließung im Rahmen einer religiösen Totalität führt. Dieser
Zirkel beherrscht nicht nur das Verhältnis von Politik und Theologie, sondern
holt auch die Alteritätsphilosophie Rosenzweigs im dritten Teil des Sterns der
Erlösung ein. Das Recht auf Andersheit, das die Alteritätsphilosophie gegen-
über der kulturellen und religiösen Dominanz der Mehrheitsgesellschaft ein-
fordert, macht Rosenzweig im Hinblick auf das sich dem Christentum gegen-
über behauptende Judentum geltend. Hierfür hebt er auf die Figur des »Rest[s]
Israels« (SdE 449) ab, eine Figur, der wir auch bei Buber begegnen (s. Kap.
II.2.3; III.2.3). Rosenzweig deutet die Figur freilich ganz anders als Buber. Er
schreibt: »Von Israel zum Messias, vom Volk, das unterm Sinai stand, zu
jenem Tag, da das Haus in Jerusalem ein Bethaus heißen wird allen Völkern,
führt ein Begriff, der bei den Propheten auftauchte und seitdem unsere innere
Geschichte beherrscht hat: der Rest« (SdE 449). Handele alle weltliche Ge-
schichte von Ausdehnung und Macht, so erhalte sich das Judentum durch
»Subtraktion, durch Verengung, durch Bildung immer neuer Reste« (SdE
450). Der Rest ist nicht nur die Figur eines Bleibens gegenüber einem äußeren
Abfall (Apostasie), sondern zugleich die Figur einer inneren Vertiefung: Das
»Judentum scheidet immer wieder Unjüdisches von sich ab, um immer wieder
neue Reste von Urjüdischem in sich hervorzustellen« (SdE 450).
Diesem Rest spricht Rosenzweig nun eine universelle Bedeutung zu. Denn
das Judentum erhalte nicht nur das »Bild der wahren Gemeinschaft« (SdE
369), sondern trage zur Einigung Gottes bei. Rosenzweig greift hier auf die
Kabbala und die Lehre von der Schechina zurück, »des in die Welt Verstreut-
seins der Funken des göttlichen Urlichts« (SdE 456). Wie die konservative
lurianische Kabbala argumentiert Rosenzweig, dass »der jüdische Mensch […]
die unendlichen Bräuche und Vorschriften ›zur Einigung des heiligen Gottes
und seiner Schechina‹ [erfüllt]« (SdE 456). Das Leben im Gesetz bekommt so
bei Rosenzweig einen umfassenden »welterlösenden Sinn« (SdE 457).
Mit der Theorie vom »Rest Israels« soll das Judentum den vereinnahmen-
den Ansprüchen des Christentums, das »siegreich durch die Welt seinen Weg
nimmt« (SdE 459), standhalten. Auch hier bewegt sich Rosenzweig in einem
Zirkel, von dem Alteritätsphilosophie überhaupt bedroht ist. Dieser Zirkel lässt
sich mit Ulrich Wergin wie folgt begreifen:
Gemeint ist die Verlockung, der besonderen Welt, die den Rahmen der Auseinan-
dersetzung und den Ausgangspunkt des Öffnungsgeschehens bildet, […] eine
Exemplarik […] in der Übernahme der Verantwortung für eine universelle Botschaft
der Alterität zuzuschreiben. Eben das birgt wiederum die Gefahr der blinden Ver-
strickung in einen neuen Zirkel, den einer Öffnung, die der Anfang einer neuen
342 Teil II
Schließung des Horizonts ist, eines Aufbruchs, der den Rückgang in einen anderen
Ursprung bedeutet.59
59 Ulrich Wergin: Die Spur des Anderen. Levinas’ Erfahrungstheologie und die Lyrik
im Zeichen von ›Auschwitz‹. In: Karol Sauerland und Ulrich Wergin (Hg.): Litera-
tur und Theologie. Schreibprozesse zwischen biblischer Überlieferung und ge-
schichtlicher Erfahrung. Würzburg: Königshausen & Neumann 2005, S. 215–244,
hier: S. 224.
60 Franz Rosenzweig an Eugen Rosenstock, Oktober 1916. In: Ders.: Der Mensch und
sein Werk (wie Anm. 19), Bd I/1, S. 252.
61 Miething, Franz Rosenzweigs »Messianische Politik« (wie Anm. 3), S. 73.
Teil III
Für Rosenzweigs »System der Philosophie« besteht die Gefahr, in zwei Teile
auseinanderzufallen, wie wir am Ende von Kap. II.5 gesehen haben. Der Poli-
tik, die in einen unlösbaren Gewaltzusammenhang verstrickt erscheint, stellt
Rosenzweig ein metahistorisches Judentum gegenüber, das die Erlösung litur-
gisch antizipiert, ohne dass abzusehen wäre, wie diese je in die Geschichte
eindringen sollte. Rosenzweig verurteilt nun aber die Säkularisierung der Erlö-
sung keineswegs so grundsätzlich, wie es seine Kritik am messianischen Nati-
onalismus der Moderne glauben machen könnte. Rosenzweig erkennt wohl
deutlich die totalitäre Gefahr der politischen Versuche, Erlösung in die Ge-
schichte und die Immanenz des Weltlichen hineinzuholen. Gleichwohl würdigt
er im Stern der Erlösung auch die »großen Befreiungswerke« der Politik seit
dem 18. Jahrhundert, die sich der modernen Tendenz verdankten, »Forderun-
gen des Gottesreichs zu Zeitforderungen zu machen« (SdE 319). Rosenzweig
erklärt die politischen Befreiungswerke zu »notwendigen Vorbedingungen«
(SdE 319) für das Kommen des »Gottesreichs«, so wenig sie mit diesem auch
identisch seien.
Die Verendlichung der Erlösung droht zur Bildung geschlossener politi-
scher Totalitäten (Staat, politische Nation) zu führen. Daher darf die Verendli-
chung der Erlösung nicht den Horizont schließen, sondern es muss die meta-
historische Perspektive auf Erlösung gewahrt bleiben. Die metahistorische
Perspektive erinnert daran, dass keine endliche Bedeutung von Erlösung den
Zwiespalt zwischen Ich und Welt, Gegenwart und Vergangenheit auflösen
kann. Will die Politik diese Widersprüche aufheben, führt sie zu Gewalt. Statt
den Zwiespalt auflösen zu wollen, muss die Politik einsehen, dass alle ihre
Lösungen nur vorläufig sind und keine Erlösungen. Rosenzweigs Text liegt der
Gedanke zugrunde, dass der Gewalt der politischen Ewigkeitshypostasen Staat
und Nation nur so zu begegnen sei, dass diese von jedem transzendenten An-
spruch abgelöst und in diesem Sinne radikal verendlicht, verzeitlicht werden.
Rosenzweigs messianische Geschichtsphilosophie beruht, rhetorisch be-
trachtet, auf einer metonymischen Bewegung, die eine dynamische Verschie-
bung des Bedeutungsumfangs von »Erlösung« beschreibt. Das jüdische und
das christliche Erlösungsstreben verhalten sich bei Rosenzweig metonymisch
zur Erlösung im vollen Sinne. Beide verstehen sich als deren Ursache, doch
keines kann es allein sein. Die Verunendlichung der Erlösung, die Rosenzweig
348 Teil III
ohne ihn zu zerstören.3 Rosenzweig hat weder die weltliche Geschichte noch
die neuzeitliche Säkularisierung von Christentum und Judentum in Bausch und
Bogen verworfen. Dies zeigt sich vor allem in kleineren Texten und Briefen
jenseits des Sterns der Erlösung. Für Rosenzweig gilt es, die Spannung zwi-
schen dem Historischen und dem Metahistorischen, dem Zeitlichen und dem
Ewigen zu halten, die in seinen Augen zum theistischen Glauben überhaupt
gehört.4 Diese Spannung zeichnet auch Rosenzweigs Umgang mit dem Kon-
zept der »Erlösung« aus. Rosenzweig erkennt die politischen Befreiungswerke
seit dem 18. Jahrhundert als Ansätze, »Erlösung« zu säkularisieren, an, zeigt
aber auch auch, dass die Absicht, Erlösung vollständig zu säkularisieren, in
politische Gewalt mündet. Davor soll wiederum der Sinn für wahre Transzen-
denz, für die eschatologische Bedeutung von Erlösung, schützen, die Rosen-
zweig zufolge das Judentum bewahrt. Das ist Rosenzweigs geschichtsphiloso-
phische Intuition, die sich einer metonymische Logik bedient.
Rosenzweig konstruiert Judentum und Christentum als spekulative Größen,
die das Feld der Geschichte abstecken. So unterschiedlich Rosenzweig die
messianischen Zeitkonzepte, das Verständnis von Erlösung im Judentum und
im Christentum, interpretiert, so verschieden konzipiert er ihr Verhältnis zu
Geschichte und Politik. Rosenzweig denkt Judentum und Christentum nicht
einfach als entgegengesetzt, sondern als »korrelativ entgegengesetzt«:5 Beide
gelten ihm als »letzte Einsätze um die Wahrheit«.6 Ohne aufeinander reduziert
werden zu können – Rosenzweig postuliert, sie seien »Endtatsachen«7 –, stel-
len sie ihr wechselseitiges Korrektiv dar. Denn wenn Rosenzweig die Gefahr
des Christentums darin sieht, sich in der »Weltgeschichte« zu verlieren und
»substanzlos«8 zu werden, so droht das Judentum, sich in eine »weltabgekehrte
Innerlichkeit« (SdE 453) zu verschließen. Weder Judentum noch Christentum
sind die ganze Wahrheit, »Nur vor Gott selber ist die Wahrheit Eine. Irdische
Wahrheit bleibt […] gespalten«, denn sie kann nicht hinausführen »über die
3 Franz Rosenzweig: Der jüdische Mensch. In: Ders.: Der Mensch und sein Werk.
Gesammelte Schriften. Bd 3. Hg. von Annemarie Mayer und Reinhold Mayer.
Dordrecht, Boston, Lancaster: Martinus Nijhoff 1984, S. 559–575, hier: S. 575.
4 Vgl. Paul Mendes-Flohr: Säkularisierung im modernen Judentum oder zur Dialektik
von Judentum und Atheismus. In: Jens Mattern (Hg.): EinBruch der Wirklichkeit.
Die Realität der Moderne zwischen Säkularisierung und Entsäkularisierung. Berlin:
Vorwerk 8 2002, S. 129–149, besonders S. 133.
5 Franz Rosenzweig an Eugen Rosenstock (undatiert, wahrscheinlich im Dezember
1916). In: Ders.: Der Mensch und sein Werk. Gesammelte Schriften. Bd I/1 (Briefe
und Tagebücher). Hg. von Rachel Rosenzweig und Edith Rosenzweig-Scheinmann.
Den Haag: Nijhoff 1979, S. 316.
6 Franz Rosenzweig: Das neue Denken. Einige nachträgliche Bemerkungen zum
»Stern der Erlösung«. In: Ders.: Zweistromland. Kleinere Schriften zur Religion und
Philosophie. Berlin, Wien: Philo 2001, S. 210–234, hier: S. 232.
7 Ebd.
8 Franz Rosenzweig an Eugen Rosenstock, 30.11.1916. In: Ders., Der Mensch und
sein Werk (wie Anm. 5), Bd I/1, S. 303.
350 Teil III
bedeuten, dass die Vollendung ihm in der Zeit noch unerreicht bliebe, und
wäre also eine Leugnung seiner Ewigkeit« (SdE 364f.). Die Zeit des Wartens
auf den Messias hat für das Judentum, wie es Rosenzweig konstruiert, keinen
Sinn in sich, da es das Gottesreich schon symbolisch-rituell verwirklicht hat.
Bezüglich der messianischen Erwartung stellt Rosenzweig in einem Brief an
Hans Ehrenberg von 1918 Christentum und Judentum einander chiastisch
gegenüber. Das Judentum lebe hin auf das Ende der historischen Zeit, die
Rosenzweig mit dem Kirchenvater Augustinus das »Zwischenreich« nennt, das
Christentum aus dem Anfang:
Das christliche Verhältnis zum Zwischenreich ist bejahend, das jüdische verneinend.
[…] Wie bejaht man ein Zwischen? indem man einen Anfang positiv, als gewesen,
ein Ende negativ, als noch nicht gewesen setzt. Das ist […] das christliche Verhält-
nis [zum Zwischenreich; Anm. E.D.] überhaupt. […] Wie verneint man ein Zwi-
schen? Schärfer noch: wie drückt man in der Form des Zwischen aus, daß etwas
nicht zwischen ist? […] Indem man den Anfang negativ, also noch nicht gewesen,
das Ende positiv, als schon gewesen, setzt – also Anfang und Ende zwar nicht ver-
tauscht, aber umwertet. Dies ist das Judentum. Der Anfang des Zwischenreichs, die
Ankunft des Messias, ist noch nicht gewesen; das Ende, das Gottesreich, hat schon
angefangen.11
Die Umwertung von Anfang und Ende, die Rosenzweig dem Judentum zu-
schreibt, gibt sich so zu lesen, dass »das Gottesreich« historisch noch nicht
angefangen hat – der Messias ist noch nicht gekommen –, aber doch schon
›wirklich‹ sein soll. Durch die Erfüllung des Gesetzes erfahre der Jude bereits
ein unmittelbares endgültiges Verhältnis zu Gott.12 Einerseits antizipiert das
Judentum bei Rosenzweig auf diese Weise die Erlösung auf metahistorischer,
ritueller Ebene, andererseits bewahrt es aber das Bewusstsein für die Unerlöst-
heit auf historischer Ebene. So behauptet Rosenzweig wohl im Stern, dass »die
gewaltigen Tage, der Neujahrstag und der Tag der Versöhnung, die ewige
Erlösung mitten in die Zeit stellen« (SdE 360). Er beeilt sich aber hinzuzufü-
gen, dass »die Feste der unmittelbaren Erlösung den Festmonat der Erlösung
[…] nicht ab[schließen]; vielmehr folgt das Hüttenfest als das Fest der Erlö-
sung auf dem Boden der unerlösten Zeit und des geschichtlichen Volks ihnen
noch nach« (SdE 364). So bricht »dann das Bewußtsein der noch unerreichten
Erlösung wieder hervor […] und dadurch [schäumt] der Gedanke der Ewigkeit
über den Becher des Augenblicks, in den er schon abgefüllt schien, wieder
über« (SdE 364).
Trotz der symbolisch-rituellen Vorwegnahme der Erlösung erhalte sich im
Judentum also das »Bewußtsein der [historisch; Anm. E.D.] noch unerreichten
11 Franz Rosenzweig an Hans Ehrenberg, 11.05.1918. In: Ders., Der Mensch und sein
Werk (wie Anm. 5), Bd I/1, S. 560f.
12 Diese Erfüllung des Gesetzes beschreibt Rosenzweig im Stern zwar nur in litur-
gisch-ritueller Hinsicht. Der Brief an Ehrenberg und andere Zeugnisse dokumentie-
ren jedoch, dass Rosenzweigs Verständnis von einem Leben im Gesetz nicht auf
diesen Aspekt beschränkt ist.
352 Teil III
Messias vollendet nur mehr die Geschichte, das »Zwischenreich«, das eine
einzige lange Parusie ist, eine einzige ausgedehnte Gegenwart. Denn das
Christentum habe, so Rosenzweig,
die Gegenwart zur Epoche gemacht […]. Vergangenheit ist nur noch die Zeit vor
Christi Geburt. Alle folgende Zeit von Christi Erdenwandel an bis zu seiner Wieder-
kunft ist nun eine einzige große Gegenwart, jene Epoche, jener Stillstand, jene Stun-
dung der Zeiten, jenes Zwischen, worüber die Zeit ihre Macht verloren hat (SdE
375).
Das Christentum gebe der Erlösung mit Christi Geburt einen Anfang, zu dem
sich das »christliche Bewußtsein« hindränge – »zum ersten Christen, zum
Gekreuzigten« – wogegen das jüdische an dem »Manne der Endzeit« (SdE
385f.) orientiert sei.17 Insofern das Christentum Offenbarung und Erlösung
einander annähere, erfahre es die Erlösung als Teil der historischen Gegen-
wart. Das Judentum denke dagegen die Erlösung historisch als Ende – dieser
postulierte Unterschied zwischen den »beiden in aller Zeit unversöhnlichen
Messiaserwartungen […], d[er] des kommenden und d[er] des wiederkom-
menden«, skandiert Rosenzweigs gesamte chiastisch angeordnete Darstellung
von Judentum und Christentum.
Eben weil der Gedanke einer historischen Dynamik dem Christentum ein-
geschrieben sei,18 könne das »Kommen des Reichs« immer auch als »welt-
und kirchenpolitische Angelegenheit« interpretiert werden. An diesem Punkt
bewegt sich Rosenzweig, streng genommen, jenseits von Augustinus, der ja
gerade nicht die Geschicke des Christentums an die des römischen Reiches
gebunden gesehen hat. Der Protagonist von Augustinus’ Heilsgeschichte, der
»Gottesstaat«, fällt noch nicht einmal mit der sichtbaren Kirche zusammen,
sondern stellt ein mystisches Prinzip dar, dessen weltliche Repräsentation die
Kirche ist. Augustinus’ Interpretation von Geschichte als Heilsgeschichte ist
eindeutig gegen die Indienstnahme der Religion für die Politik ausgerichtet,
gegen eine politische Theologie.19 Nichtsdestotrotz hat sich Rosenzweig gera-
de für seine Interpretation der »messianischen Politik«,20 die neben der Einlei-
tung am meisten auf den Ersten Weltkrieg als Hintergrund der Entstehung des
17 Vgl. auch SdE 399: »Das Kreuz ist immer Anfang, immer Ausgangspunkt der Ko-
ordinaten der Welt. Wie die christliche Zeitrechnung dort anfängt, so nimmt auch
der Glaube von dort immer neuen Anlauf. Der Christ ist ewiger Anfänger; das Voll-
enden ist nicht seine Sache – Anfang gut, alles gut.«
18 Vgl. Stéphane Mosès: Der Engel der Geschichte. Franz Rosenzweig, Walter Benja-
min, Gershom Scholem. Frankfurt a. M.: Jüdischer Verlag 1994, S. 76.
19 Vgl. Karl Löwith: Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Zur Kritik der Geschichts-
philosophie. In: Ders.: Sämtliche Schriften. Bd 2. Hg. von Klaus Stichweh. Stutt-
gart: Metzler 1984, S. 182: »Er [Augustinus; Anm. E. D.] lehnte die traditionelle
Auffassung von Rom als dem vierten Reich der Prophezeiung Daniels ab, weil er im
Prinzip jede weltgeschichtliche, d. h. politische Eschatologie verwarf.«
20 Rosenzweig, Das neue Denken (wie Anm. 6), S. 229.
2 Messianismus der Metonymie: Franz Rosenzweig 355
Sterns hindeutet, auf Augustinus’ Lehre von »salus« und »fides« gestützt, wie
wir oben gesehen haben (vgl. Kap. II.5).
Der Staat versuche, den Widerspruch zwischen Vergangenheit und Zukunft
im Gesetz und im politischen Begriff der Nation aufzuheben, das Christentum
dadurch, dass es die Zukunft bis zum Wiedererscheinen Christi »zur Epoche
gemacht hat«. Diese Zeitvorstellung verführe dazu, das Kommen des Reiches
als »eine welt- und kirchenpolitische Angelegenheit« (SdE 409) zu behandeln,
insofern Erlösung als historisch schon begonnen begriffen werde. Dagegen
lässt Rosenzweig das Judentum im bewussten Zwiespalt leben: Es sei nie
»ganz einig mit der Zeit« (SdE 335) und stehe »immer zwischen einem Weltli-
chen und einem Heiligen« (SdE 338). Aus der Spannung zwischen dem
»Schon« und dem »Noch-Nicht«, zwischen der verweltlichenden Tendenz des
Christentums und der eschatologischen Ausrichtung des Judentums, ergibt sich
bei Rosenzweig eine dynamische Bedeutungsverschiebung von »Erlösung«.
Keine Säkularisierung von Erlösung ist endgültig, denn im Rahmen der Politik
sind allenfalls vorläufige Lösungen, aber keine Erlösung möglich. Aus dieser
Einsicht resultiert idealiter eine Verendlichung der Politik, die mit einer Ent-
säkularisierung des Erlösungsbegriffs einhergeht, den sie wieder in die Religi-
on verweist. Jede Säkularisierung von Erlösung treibt bei Rosenzweig so eine
Entsäkularisierung hervor, und umgekehrt. Rosenzweig gibt auf diese Weise
sowohl einem historischen Begriff von Erlösung als auch einem symbolisch-
rituellen Konzept von Erlösung den Status von Metonymien im Verhältnis
zum vollen Sinn von Erlösung. Denn »Erlösung« im vollen, religiösen Sinne
ist bei Rosenzweig der Punkt, wo Gott »[a]lles in Allem«21 sein wird, das heißt
der Punkt, an dem der Unterschied zwischen Profanem und Sakralem, aber
auch zwischen dem Judentum und den Völkern der Welt in einer »messiani-
schen Menschheit«22 aufgehoben wäre. Jede säkulare, aber auch jede sakrale
Bedeutung von »Erlösung« ist nur metonymisch zu verstehen, insofern hier ein
Säkulares, dort ein Sakrales für etwas – Erlösung im vollen Sinn – steht, was
letztlich über diesen Unterschied hinausführen soll.
Die Spannung zwischen Säkularisierung und Entsäkularisierung, die sich im
Stern der Erlösung aus dem Widerspiel der messianischen Zeitkonzeptionen
des Judentums und des Christentums ergibt, erkennt Rosenzweig an anderen
Stellen seines Werks auch als konstitutive Spannung des Judentums und seiner
Geschichte selbst an. Rosenzweig relativiert später den dezidiert antizionisti-
schen Standpunkt, den er noch im Stern der Erlösung vertreten hat, zu einem
nicht-zionistischen. Das bedeutet, dass Rosenzweig seinen eigenen Standpunkt
zwar als nicht-zionistisch versteht, den Zionismus aber nicht mehr grundsätz-
lich als Option der jüdischen Geschichte verwirft. Insofern der Zionismus als
21 Franz Rosenzweig an Rudolf Ehrenberg, 31.10.1913. In: Ders., Der Mensch und
sein Werk (wie Anm. 5), Bd I/1, S. 135.
22 Franz Rosenzweig: Atheistische Theologie. In: Ders., Der Mensch und sein Werk
(wie Anm. 3), Bd 3, S. 687–697, hier: S. 697.
356 Teil III
Übrigen auch im Hinblick auf das Land. Selbst wenn das jüdische Volk im
›eigenen‹ Land ist, bleibt es für Rosenzweig im Exil. Denn das jüdische Volk
sei kein »erdgboren[es]«31 Volk, sondern habe im Exil seinen Ursprung. Der
»Geist des Exils, die Erdfremdheit, der Kampf des höheren Lebens gegen das
Versinken in die Bedingtheiten des Bodens und der Zeit, [ist] von Anfang an
in diese [jüdische; Anm. E. D.] Geschichte hineingepflanzt«.32 Aus religiösen
Gründen leitet sich für Rosenzweig also kein Besitzanspruch auf das Land ab.
Selbst im ›eigenen‹ Land könne der Bezug des jüdischen Volkes zum Bo-
den/Territorium kein Besitzverhältnis darstellen, wie es bei anderen Völkern
der Fall sei.33
Bemerkenswert ist es, wie Rosenzweig mit seiner Vorstellung, das Juden-
tum erhalte das »Bild der wahren Gemeinschaft« (SdE 369), einen zentralen
Gedanken der Emanzipationsphilosophie des 19. Jahrhunderts zugleich über-
nimmt und verändert. In seinem Aufsatz »Atheistische Theologie« beschreibt
Rosenzweig das Dilemma der am Emanzipationsideal orientierten jüdischen
Religionsphilosophie des 19. Jahrhunderts, die den Begriff des »ausgewählten
Volkes« zur »idealen Menschengemeinde« umgedeutet habe, wodurch das
Judentum »zum zufälligen Träger eines an sein Dasein nicht gebundenen Ge-
dankens« zu werden drohte.34 Im Gegenzug habe die »Judenvolks-Theologie«,
die Rosenzweig als jüdisches Pendant zur Leben-Jesu-Theologie begreift, ein
jüdisches »›völkisches Wesen‹« hypostasiert und das Volk als menschliche
Wirklichkeit einem »positivistisch gewissenhaften Geschlecht zum Glaubens-
inhalt empfohlen«.35 Rosenzweig distanziert sich von beiden Positionen.
Gleichwohl bleibt er dabei, dass das Judentum »das Bild der wahren Gemein-
schaft unversehrt erhalte« (SdE 369) – allerdings in seiner Eigenschaft als
liturgisch-rituelles Gottesvolk und nicht als abstraktes Gebilde oder als natürli-
ches Volk. Als »Bild der wahren Gemeinschaft« gibt Rosenzweig, wie die
jüdische Emanzipationsphilosophie des 19. Jahrhunderts, dem Judentum den
Status eines Symbols, das er allerdings metonymisch motiviert. Zwischen
Symbol und Symbolisiertem, dem Judentum und der idealen Menschenge-
meinde soll kein zufälliges, sondern ein historisch unlösbares Verhältnis be-
stehen. Das Judentum erscheint bei Rosenzweig nicht als metaphorisches, auf
31 Rosenzweig, Geist und Epochen der jüdischen Geschichte (wie Anm. 24), S. 533.
32 Ebd., S. 537.
33 Vgl. Stéphane Mosès: Politik und Religion. Zur Aktualität Franz Rosenzweigs. In:
Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg.): Der Philosoph Franz Rosenzweig. Bd 2.
Freiburg, München: Alber 1988, S. 855–875, hier: S. 866f.
34 Franz Rosenzweig: Atheistische Theologie. In: Ders.: Der Mensch und sein Werk.
Gesammelte Schriften. Bd 3. Hg. von Annemarie Mayer und Reinhold Mayer.
Dordrecht, Boston, Lancaster: Martinus Nijhoff 1984, S. 687–697, hier: S. 690f.
Vgl. zu diesem Aufsatz auch Dana Hollander: Exemplarity and Chosenness.
Rosenzweig and Derrida on the Nation of Philosophy. Stanford: Stanford Univ.
Press 2008 (Cultural memory in the present), besonders S. 170–176.
35 Rosenzweig, Atheistische Theologie (wie Anm. 34), S. 692.
358 Teil III
einem bloßen Vergleich beruhendes Symbol der idealen Menschheit. Wäre das
Verhältnis derart kontingent, dann ließen sich genauso gut andere Symbole
denken – und man müsste nicht Jude bleiben, um ein Bild der idealen Men-
schengemeinde zu bewahren. Genau diesen existentiellen, historisch gegründe-
ten und unlösbaren Zusammenhang zwischen Judentum und Menschheit ver-
sucht jedoch Rosenzweig metonymisch herzustellen: Das Judentum ist der
historische Grund und der Garant der idealen Menschengemeinde.
Rosenzweigs Geschichtsphilosophie kennt deutlich einen Ausgangs- und
einen Endpunkt: das »Volk das am Sinai steht« und die »messianische[]
Menschheit«.36 Die Sinaioffenbarung bleibt der Orientierungspunkt von Ro-
senzweigs Philosophie. Rosenzweig verschiebt den Umfang religiöser Begriffe
dergestalt, dass sie auch zur Analyse der nicht-religiösen Lebenswirklichkeit
dienen können, die er in seiner »Hermeneutik der Existenz« in den Blick
nimmt. Das Vorgehen Rosenzweigs gehorcht dabei der Logik der Metonymie,
die ein »Grenzverschiebungstropus«37 par excellence ist. Seine »Hermeneutik
der Existenz« erweitert den Bedeutungsumfang von religiösen Konzepten wie
»Schöpfung«, »Offenbarung« und »Erlösung«, ohne dass diese zu bloßen
Metaphern würden. Die Struktur der metonymischen Bedeutungsverschiebung
liegt auch Rosenzweigs Geschichtsphilosophie zugrunde. Die Bewegung der
Geschichte versteht Rosenzweig als metonymische Dynamik, die auf einer
dynamischen Umfangsverschiebung der Bedeutung von »Erlösung« beruht.
Die Spannung zwischen einem historischen und einem eschatologischen Sinn
von Erlösung hält Geschichte bei Rosenzweig in metonymischer Bewegung.
36 Ebd., S. 697.
37 Wolfram Groddek: Reden über Rhetorik. Zu einer Stilistik des Lesens. Basel, Frank-
furt a. M.: Stroemfeld 1995 (Nexus; 7), S. 234.
3 Messianismus des Symbols
Anders als bei Rosenzweig erscheint bei Bloch und Landauer der jüdische
Messianismus als dominant metaphorisches Symbol. Beide interpretieren die
messianische Sprache als symbolische »Bildersprache« (AS 96) für die sozia-
listische Revolution, die sich genauso gut auch in anderen Symbolen ausdrü-
cken kann, was in ihren eigenen Texten ja auch zu beobachten ist. Landauer
und Bloch verstehen nicht nur die messianische, sondern die tradierte religiöse
Sprache überhaupt als symbolische Bildersprache. Ein Messianismus des
Symbols lässt sich nicht nur im Hinblick auf Landauers und Blochs Interpreta-
tion der überkommenen messianischen Sprache ausmachen, sondern auch in
Bezug auf ihre Geschichtsphilosophie. Landauer und Bloch legen der Ge-
schichte ein dynamisches Prinzip des Werdens unter, das in messianischem
Licht erscheint. Beide vertreten eine symbolische Geschichtsauffassung, inso-
fern sie die Ereignisse der Geschichte als symbolischen Ausdruck eben dieses
dynamischen Prinzips des Werdens begreifen. Wenn Landauer und Bloch
schließlich das Judentum mit seinen messianischen Potenzen als Symbol der
werdenden Menschheit auffassen, so geht die metaphorische mit der klassi-
schen synekdochischen Symbolverwendung zusammen, insofern ein Teil für
das Ganze steht.1
Von allen inhaltlichen Differenzen abgesehen, lässt sich der Unterschied
zwischen Rosenzweigs, Landauers und Blochs symbolischer Auffassung des
Judentums auch rhetorisch verdeutlichen als Unterschied zwischen einem eher
metonymisch und einem eher synekdochisch motivierten Symbol. Denn der
Metonymie wird nachgesagt, dass sie einen Zusammenhang in seine Teile
zerspaltet und äußerliche Teil-Teil-Verhältnisse konstruiert, wohingegen die
Synekdoche einen integrativen Effekt hat: Der Teil, der für das Ganze steht,
reduziert dieses nicht auf seine Bestandteile, sondern deutet auf eine Qualität
des über seine Teile hinausreichenden Ganzen, die es symbolisiert.2 Bei Ro-
senzweig sind Judentum und Christentum die beiden konstitutiven, einander
1 Zum Übergang zwischen den drei Grundtypen der Motivierung von Symbolen, dem
synekdochischen, metonymischen und metaphorischen Typ, vgl. Gerhard Kurz: Me-
tapher, Allegorie, Symbol. 4. Aufl., Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1997,
S. 80f.
2 Vgl. Hayden White: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhun-
dert. Übers. von Peter Kohlhaas. Frankfurt a. M.: Fischer 1991, S. 50–57 (»Die The-
orie der Tropen«).
360 Teil III
äußerlich bleibenden Größen des Erlösungsprozesses, die als Teile einen un-
aufhebbaren Eigenwert haben. Dem Judentum kommt dabei die Funktion zu,
die ideale Menschengemeinde zu symbolisieren, wofür es seinen Teilcharakter
bewahren und sich als liturgische Gemeinde erhalten muss. Bei Landauer und
Bloch symbolisiert das Judentum hingegen eine Qualität der Menschheit, ihr
dynamisches Werden, an dem alle Nationen teilhaben. Dieser Logik entspre-
chend, partizipieren bei Landauer alle, die »durch das Band des Geistes ver-
bunden«3 sind, am jüdischen Geist und am jüdischen Amt an der Menschheit,
auch wenn sie keine Juden sind (vgl. Kap. II.3).
Zwischen Landauers und Blochs Verständnis des jüdischen Messianismus
als metaphorisches bzw. metaphorisch-synekdochisch motiviertes Symbol gibt
es nun noch einmal Unterschiede, wie wir im Folgenden noch genauer sehen
werden. Landauer interpretiert den jüdischen Messianismus als symbolische
»Bildersprache« für die soziale Revolution und einen neuen »Gemeingeist«.
Das Diaspora-Judentum mit seiner pluralen nationalen Identität symbolisiert
für Landauer die erhoffte Einheit der Menschheit, in der nationale Grenzen
und einfache nationale Identitäten überschritten werden, ohne dass die Plurali-
tät der Nationen aufgegeben würde. Auch Bloch verwendet messianische
Symbole, um ein revolutionäres, utopisches Totum auszudrücken, das bei ihm
allerdings, anders als bei Landauer, mit einem phantasmatischen Begehren
nach einem absoluten Selbst einhergeht. Dementsprechend zielt Blochs Sym-
bolverständnis, anders als dasjenige Landauers, auf die utopische Identität von
Zeichen und Bezeichnetem. Wie sich zeigen wird, hat dies damit zu tun, dass
Landauers Symbolverständnis allegorische Momente integriert, wohingegen
Bloch das symbolische Streben nach Identität der allegorischen Sinnzerstreu-
ung gegenüberstellt.
3 Gustav Landauer: Sind das Ketzergedanken? In: Ders.: Werkausgabe. Hg. von Gert
Mattenklott und Hanna Delf. Bd 3. Hg. von Hanna Delf. Berlin: Akademie-Verlag
1997, S. 170–174, hier: S. 172.
3 Messianismus des Symbols 361
Mit dem Postulat, dass die Revolution als Ausdruck der Utopie nicht nur ei-
ne Grenze zwischen zwei Topien darstelle, sondern als »Prinzip« (R 18) eines
Grenz- und Überschreitungszustandes auch in der Topie weiterlebe, stellt Lan-
dauer die starre Opposition von Topie und Utopie in Frage. Man kann sich
Landauers Verständnis von Revolution als utopischem Prinzip mit Hilfe von
Victor Turners Konzept der Liminalität vergegenwärtigen. Turner hat den
Begriff der Liminalität mit Blick auf die Übergangsrituale in Stammesgesell-
schaften entwickelt, ihn aber dann auch für die Analyse moderner kultureller
und gesellschaftlicher Phänomene fruchtbar gemacht. Liminalität kennzeichnet
die Schwellenphase bei Übergangsritualen, in der »das rituelle Subjekt eine
Zeit oder einen Bereich der Ambiguität, eine Art sozialen Zwischenstadiums
[durchläuft]«13 und sich außerhalb der normativen Sozialstruktur befinde.
Turner schreibt: »In der Liminalität ›spielen‹ die Menschen mit den Elementen
des Vertrauten und verfremden sie. Und aus den unvorhergesehenen Kombina-
tionen vertrauter Elemente entsteht Neues.«14 Die Liminalität kehre den Status
quo in rituellen Stammesgesellschaften allerdings nur für eine bestimmte Zeit
um, ohne ihn zu untergraben. Sie bestärke vielmehr die Bedeutung der herge-
brachten kulturellen Ordnung gegenüber dem Chaos.15 In rituellen Stammes-
gesellschaften steht das Liminale somit im Dienst der normativen Sozialstruk-
tur, das Innovationspotential der liminalen Phase wird beschränkt und kontrol-
liert. In gewissen modernen Phänomenen kehre sich das Verhältnis zwischen
dem Normativen und dem Liminalen dagegen um, so Turner:
Meines Erachtens stellen, historisch gesprochen, relativ spät auftretende soziale Pro-
zesse wie ›Revolutionen‹ oder ›Rebellionen‹, ja selbst die durch formale und geisti-
ge Freiheit, Betonung des Gefühls und Originalität gekennzeichnete ›Romantik‹ in
der Kunst eine Umwertung der in ›tribalen‹ und anderen, im wesentlichen konserva-
tiven Gesellschaften zwischen dem Normativen und dem Liminalen bestehenden
Beziehung dar. Denn der im vorindustriell Liminalen immer implizit enthaltene
Keim kultureller Transformation, der Keim der Unzufriedenheit mit dem kulturell
Gegebenen und der sozialen Kritik hat in diesen modernen Prozessen und Bewe-
gungen einen zentralen Stellenwert erhalten. Er ist nicht länger auf die Nahtstelle
zwischen ›fixierten Strukturen‹ beschränkt, sondern liegt der Entwicklung insgesamt
zugrunde. […] Revolutionen mögen die totalisierenden liminalen Phasen sein, für
die die Schwellenphasen der rites de passage bloß Vorboten oder Vorwarnungen
waren.16
noza beginnt mit Definitionen von Begriffen, und schreitet über Axiome zu Lehrsät-
zen fort, denen er »Corollarien«, Zusätze, anfügt. Auf diese Methode spielt Landau-
er an, indem er mit »Gesetz« und »Corollarium« (R 13, 16) operiert.
13 Victor Turner: Das Liminale und das Liminoide in Spiel, ›Fluß‹ und Ritual. Ein
Essay zur vergleichenden Symbologie. In: Ders.: Vom Ritual zum Theater. Der
Ernst des menschlichen Spiels. Übers. von Sylvia M. Schomburg-Scherff. Frankfurt
a. M., New York: Campus 2009, S. 28–94, hier: S. 35.
14 Ebd., S. 40.
15 Vgl. ebd., S. 62.
16 Ebd., S. 69f.
3 Messianismus des Symbols 367
Neben Revolution, Rebellion und der Kunst der Romantik zählt Turner noch
ein weiteres Phänomen zu den Erscheinungen, die das Verhältnis von normati-
ver Sozialstruktur und Liminalität umkehren: die Communitas, die Turner als
die Gemeinschaftsform begreift, die mit der Liminalität korrespondiert. Bei all
diesen Phänomenen spricht Turner weiterhin vom Liminalen, auch wenn sie in
modernen Gesellschaften nach der industriellen Revolution auftreten, in denen
Liminalität ansonsten die Gestalt des privat-individuellen, freiwillig-freizeit-
lichen »Liminoiden« angenommen habe.17 Die Communitas als liminale Ge-
meinschaftsform bezeichnet für Turner eine unmittelbare und spontane Ge-
meinschaftserfahrung, die die individuellen Unterschiede nicht in einem reg-
ressiven Einswerdens auflöse. In der Communitas beziehen wir uns vielmehr
»im Hier und Jetzt direkt auf den anderen […], frei von den kulturell definier-
ten Lasten seiner Rolle, seines Status, seines Rufs, seiner Klasse, seiner Kaste,
seines Geschlechts oder anderer Strukturnischen«.18 Die Communitaserfah-
rung suspendiert mithin die normative Sozialstruktur, so dass ein spielerischer
und kritischer Umgang mit deren Kategorien möglich wird. Der Liminalisie-
rungsprozess bahnt den Weg in die Communitas; er löst das Individuum aus
den sozialen Einbindungen heraus, um ein Menschliches jenseits der normati-
ven Sozialstrukturen freizulegen.19 Turner nennt dieses Menschliche jenseits
der normativen, politisch-rechtlichen Strukturierung auch »prima materia«.20
Für Turner kann sich Communitas immer und überall spontan ereignen,21 sie
kann aber keine dauerhafte Sozialform werden. Der Versuch, Communitas zu
institutionalisieren und zu reproduzieren, verkehre die »anfänglich freie[n] und
innovativen Beziehungen zwischen Individuen in normgeleitete Beziehungen
zwischen Personen«.22 Turner nimmt die Unmöglichkeit, Communitas auf
Dauer zu stellen, nun nicht, wie z. B. Helmuth Plessner, zum Anlass, diese zu
dekonstruieren, sondern er spricht der Communitaserfahrung eine wichtige
17 Das Liminoide gehört dem Bereich der modernen »Mußegattungen« (ebd., S. 49)
vom Sport bis zur Kunst an. Liminoide Handlungen sind im Gegensatz zu liminalen
rituellen Praktiken durch Freiwilligkeit gekennzeichnet (vgl. ebd., S. 66): Sie fallen
in den Bereich der privat-individuellen Freizeit, der Muße im Gegensatz zur Arbeit.
In den liminoiden Mußegattungen treten das Ludische und das Experimentelle in
den Vordergrund. Die liminoiden Mußegattungen eröffnen einen Raum für Kritik
und für das Experimentieren mit Alternativen, aus dem Neues entstehen kann (vgl.
ebd., S. 82). Hierfür ist im rituell liminalen Bereich, der grundsätzlich auf Stärkung
der kulturellen Ordnung ausgerichtet ist, allenfalls der Keim gelegt.
18 Ebd., S. 75.
19 Vgl. Andreas Kraft: Jüdische Identität im Liminalen: Die Dichterin Nelly Sachs und
der Holocaust, S. 19f. (http://www.ub.uni-konstanz.de/kops/volltexte/2007/2630/
[Datum des letzten Zugriffs: 15.02.2011]).
20 Victor Turner: Variations on a Thema of Liminality. In: Ders.: Blazing the Trail.
Way Marks in the Exploration of Symbols. Ed. by Edith Turner. Tuscon, London:
Univ. of Arizona Press 1992, S. 48–65, hier: S. 95.
21 Vgl. Turner, Das Liminale und das Liminoide (wie Anm. 13), S. 70.
22 Ebd., S. 73.
368 Teil III
Funktion auch für größere, strukturierte Gesellschaften zu, da sie Raum biete,
die Strukturen der Gesellschaft kritisch zu bewerten bzw. Alternativen zu
entwickeln.23
Bei Landauer ist Revolution ein liminales Prinzip, das nicht nur den Über-
gang zwischen zwei relativ stabilen Gesellschaftsordnungen darstellt, sondern
auf eine liminale Gesellschaft selbst zielt, eben auf die Communitas. Dement-
sprechend plädiert Landauer dafür, dass die »Revolution […] ein Zubehör
unserer Gesellschaftsordnung, […] die Grundregel unsrer Verfassung werden«
(AS 137) müsse. Anders als Turner, für den die Communitas per definitionem
flüchtig ist, erhebt Landauer die Communitas zum Prinzip seiner anarchosozia-
listischen Gesellschaftsutopie der kleinen Siedlungen und Bünde. Für Turner
kann die Communitas gar kein Gesellschaftsprinzip werden, da sie sich als
solches notwendig in ihr Gegenteil verkehren müsse: in die normative Com-
munitas, die sich zu einem der strengsten Regime entwickeln könne.24 Com-
munitas kann bei Turner nur zusammen mit einer normativen Sozialstruktur
bestehen, die gleichwohl Nischen für diese bereitstellen kann. Für Landauer
bleibt die Communitas dagegen gesamtgesellschaftliche Utopie.
Revolution als utopisch liminales Prinzip kann nicht begrifflich eingefan-
gen, sondern nur symbolisch dargestellt werden. So erläutert Landauer die
Vorstellung, dass die Utopie Erinnerungen an sämtliche bekannte frühere Uto-
pien in sich berge und auch in der Zeit relativ stabiler Topien unterirdisch
weiterlebe, mit der Symbolik der Weinhefe. Jeder Wein erhalte seine Gärung
durch Weinhefe, die selbst aus Wein gewonnen werde. Wie jede Hefe neu ist
und doch die »Wirklichkeit oder die Kraft oder die Erinnerung (das ist alles
eins) jeder früheren Hefe« (R 17) enthalte, so erwache auch die Utopie immer
wieder alt und neu. Die Revolution gäre in der Neuzeit wie die Weinhefe.
Indem Landauer der neuzeitlichen Geschichte ein Prinzip zugrunde legt, das
sich nur symbolisch, nicht begrifflich darstellen lässt, ist es ihm möglich, Ge-
schichte als Ganzheit zu denken und ihr trotzdem die Offenheit zu bewahren.
Das Einzelne, das heißt die einzelne historische Revolution, wird nicht als
Beispiel eines allgemeinen Begriffs »Revolution« aufgefasst. Dieses Allge-
meine, das dynamisch liminale Prinzip Revolution, entzieht sich vielmehr der
begrifflichen Festlegung, ohne dass damit das Versprechen auf eine überbe-
griffliche Ganzheit aufgegeben würde, das im Einzelnen aufscheint. »Symboli-
sches Denken ist Ausdruck des Vertrauens in die bestimmte Aussagekraft von
Formen gerade dort, wo positive Inhalte sich im Unendlichen verlaufen.«25 In
einem symbolischen Verweisungszusammenhang steht die Bedeutung des
Einzelnen nicht fest, sondern dieses ist unendlich deutbar, ohne sich ins Dispa-
rate zu zerstreuen.
Die Vorstellung einer Vergangenheit, die mit der Gegenwart koexistiert und
sich mit dieser ständig modifiziert, schließt an romantische Ideen an. Man
findet sie aber auch bei einem philosophischen Zeitgenossen Landauers, Henri
Bergson, dessen Begriff der »durée« mit Landauers Vorstellung strukturell
verwandt ist. Bergsons »durée« stellt ein riesenhaftes »ontologisches Gedächt-
nis«26 dar, »wo alles […] miteinander koexistiert.«27 Die »durée« ist virtuell,
26 Gilles Deleuze: Henri Bergson zur Einführung. Übers. von Martin Weinmann. Ham-
burg: Junius 2001, S. 76. Hatte die Vorstellung der »durée« in Bergsons frühen
Schriften noch einen spezifisch subjektiven Seinsbezug vor dem Horizont der Frei-
heitsproblematik bezeichnet, so überwindet Bergson seinen subjektiven Ansatz mit
Materie und Gedächtnis (1896): »Die Idee einer virtuellen Koexistenz aller Vergan-
genheits- und Spannungsebenen wird damit auf das ganze Universum fortgeschrie-
ben. […] Das Universum […] ist gleichsam ein ungeheures Gedächtnis.« (ebd.,
S. 100) In Bergsons Abhandlung Schöpferische Entwicklung wird »das Leben selbst
mit einem Gedächtnis verglichen […] und die biologischen Gattungen und Arten
370 Teil III
aber wirklich – es ist dieser Begriff eines wirklichen Virtuellen, den Bergson
von dem Begriff des Möglichen, wie ihn die aristotelische Tradition geprägt
hat, abhebt. Virtuell ist die Vergangenheit, die »reine« Erinnerung, sofern sie
in keinem pragmatischen Kontext mehr steht: das Virtuelle ist in dem Sinne
das wesentlich Machtlose.28 Das Aktuelle ist dagegen die »reine« Wahrneh-
mung, das Gegenwärtige, das, was mich zur Tätigkeit reizt. Was Bergson aus
heuristischen Gründen »rein« trennt, wirkt in der Wirklichkeit aufeinander:
Die Virtualität aktualisiert sich, indem sie »divergenten Linien folgt […]. Dort
haben wir kein koexistierendes Ganzes mehr, lediglich Aktualisierungslinien,
die teilweise aufeinander folgen, teilweise gleichzeitig sind, aber jedes Mal
eine Aktualisierung des Ganzen in einer bestimmten Richtung verkörpern.«29
Gilles Deleuze hebt hervor, dass in Bergsons Konzeption das Aktuelle nicht
durch das Virtuelle strukturell vorgezeichnet ist, wie es bei Aristoteles’ Paar
des Wirklichen und des Möglichen der Fall ist. Die Aktualisierung des Virtuel-
len bewirkt vielmehr eine kreative Differenzierung. Das Zusammenspiel von
Aktualität und Virtualität führt zu einem sich ständig modifizierenden Ge-
dächtnis, das sich situativ anpasst und ausdifferenziert, indem es sich neu zu-
sammenzieht, sich neu ausrichtet und übersetzt. Die Erfindung des »Neuen«30
bricht bei Bergson nicht mit dem Vergangenen, sondern aktualisiert die Ver-
gangenheit entlang von immer neuen Differenzierungslinien. Die Aktualisie-
rung des Virtuellen erfolgt dabei nicht chaotisch, sondern beschreibt eine dy-
namische Kausalität, derzufolge sich die Ursachen in einer Art Rückkoppe-
lungseffekt mit den Wirkungen, die sie zeitigen, verändern und damit einen
identisch wiederholbaren Ursache-Wirkung-Mechanismus unterlaufen – ganz
so, wie es auch Landauer beschreibt.31
Die dynamische Kausalität ist ein wichtiger Bestandteil von Landauers re-
volutionärem Geschichtsdenken, in dem Kontinuität und Ganzheit mit Offen-
heit und der Möglichkeit des unberechenbar Neuen einhergehen sollen. Lan-
dauer führt diese Elemente zusammen im Symbol des »Wegs«, der »über Un-
bekanntes, Tiefbegrabenes und Plötzliches« (R 119) führe. In diesem Bild wird
eine horizontale Vorwärtsbewegung mit einem Vorstoß in eine vertikale Tie-
fendimension verbunden. Hier macht sich eine typisch frühromantische Ge-
dankenfigur bemerkbar: Jeder Schritt vorwärts in die Zukunft gibt sich als
Rückgang in die Tiefendimension der Geschichte zu verstehen, wie man es
von Friedrich Schlegel und Novalis kennt. Wie in der Frühromantik imaginiert
Landauer Geschichte als eine progredient rückbezügliche Bewegung, die sich
mit jedem Zug regeneriert und modifiziert. Die Betonung des in die Zukunft
gerichteten, offenen »Werdens« der Geschichte geht mit einer Vertiefung des
Sinns der Vergangenheit einher, der als »[t]iefbegrabene[r]« Sinn »Unbekann-
tes« und Neues enthält. Das Symbol des über »Tiefbegrabenes« führenden
Weges lässt sich zugleich als Symbol für eine frühromantische Poetik lesen,
die die offene Reihe zum poetischen Strukturprinzip erklärt. Dieses poetische
Strukturprinzip verbindet eine exzentrische oder allegorische mit einer zykli-
schen oder konzentrischen symbolischen Funktion.32 In Landauers revolutio-
närer Geschichtspoetik kehren diese Elemente der frühromantischen Poetik,
der unendliche Ausgriff und die zyklische Rückbezüglichkeit bzw. Selbstbear-
beitung, wieder.
Im Zuge seiner späteren Beschäftigung mit dem Judentum deutet Landauer
den jüdischen Messianismus als symbolischen Ausdruck für dieses revolutio-
näre Geschichtsverständnis. In einem 1917 in der Zeitschrift Der Jude erschie-
nenen Artikel interpretiert Landauer ironischerweise gerade August Strind-
bergs Historische Miniaturen (1905) als messianische Geschichtsdichtung, die
von jüdischem Geist ausgehe und in diesen münde. Landauer liest die Erzäh-
lungen Strindbergs, den er selbst als »Geschichts-Christen«33 bezeichnet, ab-
sichtlich gegen den Strich. In Landauers Lektüre stimmt wohl die manifeste
Botschaft der Historischen Miniaturen mit Hegels »Geschichtsreligion«34
überein. Landauer macht aber noch eine andere Stimme in Strindbergs Erzäh-
lungen aus, die Stimme des »ewigen Juden«,35 in der sich eine alternative
messianische Geschichtsdeutung artikuliere. Diese steht im Widerspruch zu
rung. In: Henri Bergson: Materie und Gedächtnis. Essays zur Beziehung zwischen
Körper und Geist. Jena: Diederichs 1908, S. III–IVX).
32 Vgl. Waltraud Wiethölter: Ursprünglicher Gedanken Refrain – Wiederholung. Zum
Phänomen frühromantischer Zyklik. In: DVjs 75/4 (2001), S. 587–656.
33 Gustav Landauer: Strindbergs Historische Miniaturen. In: Ders.: Werkausgabe. Hg.
von Gert Mattenklott und Hanna Delf. Bd 3. Hg. von Hanna Delf. Berlin: Akade-
mie-Verlag 1997, S. 139–151, hier: S. 148.
34 Ebd., S. 145.
35 Ebd., S. 139.
372 Teil III
36 Ebd., S. 140.
37 Ebd.
38 Ebd., S. 141.
39 Vgl. ebd., S. 148: »Absolution an den Mann des Absolutismus, an den Verbrecher,
im Namen des Absoluten, das sich in die Relation und Bewegung begeben hat, im
Namen des Gottes der Geschichte«.
40 Ebd., S. 147.
41 Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral. In: Ders.: Kritische Studienausgabe.
Hg. von Mazzino Montinari und Giorgio Colli. Bd 5. 3. Aufl., München u. a.: Dt.
Taschenbuch-Verlag 1993 (dtv; 2225), S. 245–412, hier: S. 313.
3 Messianismus des Symbols 373
ändern soll. So ergibt sich bei Landauer das Bild einer dynamisch offenen statt
einer teleologischen Geschichte.
Als Symbolfigur für die grundsätzliche Unabschließbarkeit des historischen
Kontextes und für die damit einhergehende Dynamik des historischen Gesche-
hens deutet Landauer die Figur des »ewige[n] Jude[n]«42 aus Strindbergs Er-
zählungen. Diese Figur legt Landauer als den Dritten aus, der Strindbergs
prästabilierte Harmonie zwischen bewusster und unbewusster Absicht in der
Weltgeschichte durchkreuzt. Landauer schreibt:
Zweie gehen als Gleiche in doch ewig neuen Situationen und Offenbarungen durch
dieses Werk hindurch: der Mensch und die geheime, nicht auszusprechende, nur an
den Spuren sichtbare Lenkung seines Geschicks […].
Und noch einer geht überall mit hindurch und taucht in den meisten Kapiteln auf:
der Jude, der ewige Jude in immer neuen Gestalten.
Wie kommt das? Am Schluß des Werkes spricht es einer, im Anschluß an die fran-
zösische Revolution, die sich gerade vollendet, aus: ›Sehen Sie, jetzt‹, sagt er, –
jetzt, wo die Menschheit auf dem Wege ist, eine tatsächliche Wirklichkeit zu werden
– ›jetzt ist die Verheißung an Abraham: ›In deinem Namen sollen alle Geschlechter
gesegnet werden!‹ auf dem Wege, sich zu erfüllen; auf dem Wege, sage ich.‹43
Dreimal wird das Adverb »jetzt« wiederholt, und in der Art, wie Landauer
zitiert, changiert die Betonung des historischen Augenblicks, des »Jetzt«, zwi-
schen der Referenz auf die Vergangenheit und der Referenz auf die Gegen-
wart: »›Sehen Sie, jetzt‹, sagt er – jetzt […] – ›jetzt ist die Verheißung an Ab-
raham: ›In deinem Namen sollen alle Geschlechter gesegnet werden!‹ auf dem
Wege, sich zu erfüllen; auf dem Wege, sage ich.‹«44 Jetzt sagt er, auf dem
Wege, sage ich: Nicht nur durch das doppeldeutige »jetzt« setzt Landauer, mit
Paul Celan gesprochen, den »Akut des Heutigen«,45 sondern auch, indem er
mit den Sprecherinstanzen spielt, wobei die Ich-Origo im schriftlichen Aufsatz
wohl noch zuzuordnen ist, im Vortrag aber, auf dem die Publikation beruht,
unentscheidbar zwischen der literarischen und der eigenen Person schwanken
muss.
Landauers »Jetzt«-Fuge hebt die revolutionären Chancen des jeweiligen
Augenblicks hervor, der zugleich ein vergangenes »Jetzt« aktualisiert und auf
ein zukünftiges »Jetzt« verweist. Die Geschichtsvorstellung, die das »Jetzt«,
den Augenblick, mit dem »Weg« (»auf dem Wege, sich zu erfüllen«), mit der
42 Landauer, Strindbergs Historische Miniaturen (wie Anm. 33), S. 139.
43 Ebd., S. 139 (Hervorhebungen E. D.).
44 Ebd. In Strindbergs Original erscheint demgegenüber das Adverb »jetzt« nur ein-
mal: »Sehen Sie, jetzt ist die Verheißung an Abraham: ›In deinem Namen sollen alle
Geschlechter gesegnet werden!‹ auf dem Wege, sich zu erfüllen; auf dem Wege, sa-
ge ich.« (August Strindberg: Historische Miniaturen. Übers. von Emil Schering.
München: Müller 1926).
45 Paul Celan: Der Meridian. In: Ders: Gesammelte Werke. Hg. von Beda Allemann
und Stefan Reichert. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1986, Bd 3, S. 187–202, hier:
S. 190.
374 Teil III
Auch Ernst Bloch interpretiert die religiöse Sprache als Symbolsprache, die er
auf einen anthropologischen Ursprung der Religion bezieht. Denn was die
religiöse Tradition »Gott« nenne, sei als symbolischer »Tropus unserer selbst,
[…] als das, was in uns zuletzt verborgen treibt« (GU 383), zu verstehen. Die
Besonderheit von Blochs anthropologischer Interpretation des Glaubens be-
steht darin, dass sie nicht einfach die Position des transzendenten Subjekts
(Gott) streicht, sondern sie umbestimmt: »Deus absconditus wird […] zum
homo absconditus säkularisiert«,51 »zur Transzendenz in der Immanenz«.52
Bloch entlehnt die Idee des noch verborgenen Gottes, den er zum noch verbor-
genen Menschenwesen säkularisiert, der Gnosis, die den Erlösergott vom Gott
der Schöpfung unterscheidet. Dabei weiß Bloch, dass diese Idee einen »meta-
physische[n] Antisemitismus« (GU 330) bei den christlichen Gnostikern be-
günstigt hat, die auf dieser metaphysischen Basis das Neue Testament gegen
das Alte Testament ausspielen konnten. Demgegenüber schreibt Bloch dem
Judentum selbst einen »latenten Gnostizismus« (GU 330) zu und sieht eine
Verwandtschaft besonders zwischen der gnostischen Lehre, der zufolge das
Ende des Weltprozesses erst den Anfang, die Genesis, entschlüssle, mit dem
jüdischen Messianismus. Mit diesem sei ein »ebensowohl motorische[s] als
prägnant historische[s], unbildliches, unnaturhaftes Gerichtetsein auf ein noch
nicht daseiendes messianisches Ziel über der Welt« (GU 322) gemeint.
Bloch holt das messianische Ziel über der Welt in die Welt hinein, die er
zugleich über ihren gegenwärtigen Begriff hinaustreibt. Auch wenn er im Zuge
dessen das messianische Ziel als nicht absolut definierbar deklariert, gibt es
51 Wolfram Malte Fues: Unio inquantem spes: Meister Eckhart bei Ernst Bloch. In:
Alois M. Haas und Heinrich Stirnmann (Hg.): Das »Einig Ein«. Studien zu Theorie
und Sprache der deutschen Mystik. Freiburg (Schweiz): Univ.-Verlag 1980, S. 109–
166, hier: S. 139.
52 Ebd., S. 146.
376 Teil III
doch einige Eckpunkte für sein messianisches Telos: Das messianische Reich
steht für eine zukünftige messianische Gemeinschaft, in der eine umfassende
Einheit erreicht werden soll, die über die marxistische Forderung nach dem
Ende der Entfremdung durch unfreie Arbeit und Herrschaft durch die besit-
zenden Klassen signifikant hinausgeht, insofern die Einheit des Subjekts mit
sich selbst als erlebendem und erkennenden Ich, mit der Natur und der Welt
der Dinge angestrebt wird. Das subjektive Identitätsstreben stellt sogar, wie
wir gesehen haben, den wesentlichen Antrieb von Blochs frühem Geist der
Utopie dar.53 Vom Subjektiven aus denkt Bloch das messianische Telos als
»mystische Selbsterfüllung in Totalität« (GU 294). Diese kann nicht zuletzt
deswegen nicht definiert werden, weil sich in ihr das Phantasma einer überbe-
grifflichen absoluten Identität des Subjekts mit sich selbst und mit der Welt
ausdrückt.
Wie oben bemerkt (vgl. Kap. I.5), wertet Bloch die messianische Sprache
des Judentums und des Christentums als symbolischen Ausdruck eines noch
nicht realisierten und der Erfüllung harrenden utopischen Totums, das in der –
freilich überpositivistischen – Welt liegt. Umgekehrt deutet Bloch aber auch
die ästhetische Symbolintention messianisch. Was er als Merkmal religiöser
Symbole erkennt, nämlich »Zielbestimmungen, also Bilder geglückter Identi-
tät«54 darzustellen, macht er zum quasi religiösen Kennzeichen von Symbolen
überhaupt. So richtet sich die ästhetische »Symbolintention« (GU 365) bei
Bloch selbst auf ein utopisches Ganzes. Bloch beabsichtigt nicht, die religiöse
Sprache als Trug zu desavouieren, indem er sie als ›bloß‹ symbolisch begreift.
Die symbolische, religiöse Sprache ist für Bloch in ihrer Funktion unersetzlich,
da das utopische Ganze nicht anders als symbolisch auszudrücken sei. In die-
ser Hinsicht ist es erhellend, zu verfolgen, wie Bloch im Geist der Utopie
Kants Lehre von den der unmittelbaren Anschauung entzogenen »Vernunft-
ideen« aufgreift, um deren symbolischer Darstellung eine stärkere Wertigkeit
zu verleihen, als Kant es vorsieht.
Bloch gibt die vom »messianischen Reich« bedeutete utopische Wirklich-
keit im Licht von Kants Vernunftideen (Seele, Freiheit, Gott) zu denken, die
nur »gewollt und gedacht, aber nicht erkannt werden können, weil sie zwar
unmittelbar praktisch zu ›erleben‹ aber nicht ›anzuschauen‹ sind« (GU 273).
Anders als Kant, für den diese Ideen auf eine Sphäre des moralischen Geltens
bezogen sind, das über ihr Sein keine Aussage macht, meint Bloch, dass es
»kein Gelten ohne ein wenn auch noch so bedrohtes Sein [gibt], wie es auch
kein Symbol ohne Realität gibt, und wenn es auch nur die Realität der objekti-
ven Hoffnung der Essenz wäre« (GU 276). Bloch interpretiert Kants Gelten als
53 Vgl. Arno Münster: Utopie, Messianismus und Apokalypse im Frühwerk von Ernst
Bloch. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1982 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft;
372), S. 98.
54 Heinz Paetzold: Symbolik als Konstitution von Gattungsbewußtsein und als utopi-
sche Subversion. Zu Georg Lukács’ und Ernst Blochs Theorie des Symbolischen. In:
Études Germaniques 41 (1986), S. 363–376, hier: S. 371.
3 Messianismus des Symbols 377
mischen Prinzips des Werdens, das die Festigkeit der Vergangenheit in Frage
stellt. Bei Landauer heißt dieses dynamische Prinzip »Revolution«, bei Bloch
»Noch-Nicht«. Geschichte im Zeichen des »Noch-Nicht« wird zum Raum der
utopischen »Selbstbegegnung« des Menschen, der sich Blochs Geist der Uto-
pie verschrieben hat. Anders als Landauer ist Bloch sprach- und geschichtsphi-
losophisch an Endzielvorstellungen orientiert. Das historische Telos fällt bei
Bloch mit dem Ende der zerstreuenden allegorischen Bedeutung zugunsten
letzter und höchster symbolischer Identität zusammen. Die enge Verbindung
zwischen Blochs Geschichts- und Sprachphilosophie zeigt sich besonders
eindringlich in dem kurzen Text »Rokoko des Geschicks« aus den Spuren von
1930.
Man kann »Rokoko des Geschicks« autoreflexiv als Text über Blochs Poe-
tik der kleinen Form in den Spuren lesen. In den Spuren hat Bloch kurze Pro-
satexte versammelt, in denen sich Erzählung und philosophische Reflexion die
Hand reichen.58 Es geht in »Rokoko des Geschicks« um »Zeichen des ›Klei-
nen‹«.59 Bloch unterscheidet verschiedene Zeichen des Kleinen, die einen
Umschlag von einem Extrem ins andere, etwa von Unglück in Glück, ankün-
digen. Da gibt es einmal Zeichen des Kleinen mit mechanischer Funktion, die
anzeigen, dass ein Maß voll ist, und die der bürgerlichen Moral des Maßhal-
tens entsprechen. Sodann die Zeichen des Kleinen mit qualitativer Funktion,
die ein Zu-Ende-Gehen indizieren: Rokoko als »Zeichen des Auslaufens«.60
Beide Funktionen erläutert Bloch mit einem arabischen Märchen von einem
Vezier, der jahrelang in der Gunst eines Kalifen gestanden hat, in Ungnade
fällt, lange Zeit im Gefängnis sitzt und schließlich wieder in seine alte Position
eingesetzt wird. Beide Male kündigen Zeichen des Kleinen das Umschlagen
des Geschicks an. Von den mechanischen und den qualitativen Zeichen des
Kleinen will Bloch die Kleinzeichen des »echten ›Endes‹«, das am Unschein-
baren aufblitzen kann, unterschieden wissen. Die Kleinheit sage dann keinen
Wechsel einer Serie in die andere an, sondern führe aus den Serien überhaupt
heraus. Die »staunenden Kleinzeichen« verweisen auf den »Ausweg«, die
»letzte Tür«, die »Rettung«, den »Eintritt in das möglich Schicksallose, min-
58 Es ist verschiedentlich darauf hingewiesen worden, dass Bloch sich in den Spuren
an Johann Peter Hebels Erzählweise der Kalendergeschichten orientiert. Am Anfang
steht in den Spuren häufig eine Sentenz, der eine Geschichte – oftmals eine Nacher-
zählung europäischer und orientalischer Märchen oder chassidischer Geschichten –
folgt, um schließlich mit allgemeiner, lehrhafter Betrachtung zu enden. Bereits Lu-
kács hat bezüglich Blochs Stil von einer Mischung aus Hebel und Hegel gesprochen
(vgl. Francesca Vidal: Hebel bei Bloch. Zur Bedeutung von rhetorischer Geschichts-
schreibung und inszenierter Mündlichkeit. In: Richard Faber [Hg.]: Lebendige Tra-
dition und antizipierte Moderne. Über Johann Peter Hebel. Würzburg: Königshausen
& Neumann 2004, S. 97–110).
59 Ernst Bloch: Spuren. In: Ders.: Gesamtausgabe. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1977,
Bd 1, S. 60.
60 Ebd., S. 59.
380 Teil III
destens das formbare Schicksal«.61 Man darf wohl davon ausgehen, dass Bloch
seine Kurzprosa als letztere »Zeichen des Kleinen« verstanden hat, die darauf
ausgerichtet sind, im »Jetzt« die Serie – geschichtsphilosophisch gesprochen:
die Chronologie – hin zu einer neuen Zeit der Freiheit zu durchbrechen.
Die Kleinzeichen des »echten ›Endes‹« wirkten, so Bloch, vorerst nur indi-
viduell. In der Zukunft würden sie aber auch wieder einen kollektiven Wir-
kungskreis haben wie früher »etwa als Zeichen des Christkinds, der seelischen
Freiheit gegen den dummen Riesen der Notwendigkeit«.62 Bloch assoziiert das
kollektive Kleinzeichen mit messianischer Symbolik, sinnigerweise mit dem
Christkind als messianischem Kleinzeichen. Die Kleinzeichen, die einen
Wechsel der Serie ankündigen, und die ›richtigen‹, die letzten Kleinzeichen,
nach denen der Wechsel nicht mehr weitergehe, lassen sich nun als allegori-
sche und als symbolische Zeichen lesen. Hat Bloch doch später den Unter-
schied zwischen Symbol und Allegorie eben so beschrieben, dass das »Allego-
rische […] immer wieder metaphorisch herum[schickt]«, wohingegen das
»Symbolische versucht, metaphorisch zu landen«.63 Die kritische Frage, ob die
Unterscheidung zwischen den allegorischen und den symbolischen Kleinzei-
chen überhaupt so klar zu treffen ist, blendet Bloch charakteristischerweise
aus. Bloch liefert aber in den Spuren selbst nur Fragmente von Kleinzeichen,
mit denen er Fragmente des ›echten‹ Kleinzeichens, des Symbols, gemeint
haben dürfte, die sich aber eben auch als allegorische Fragmentierung und
Sinnzerstreuung lesen lassen.
Bloch hat die messianische Sprache als symbolische Zielsprache aufgefasst.
In seiner religiöser Sprache schwingt immer wieder ein apokalyptischer Ton
mit, in dem sich die Orientierung an historischen Endzielvorstellungen aus-
drückt. Er lässt keinen Zweifel daran, dass das echte Ende kein »umschlagen-
de[s]«, sondern ein »einschlagende[s]« sei,64 mag es sich auch in unscheinba-
ren Kleinzeichen verbergen. Die Apokalypse wird vom jungen Bloch als Para-
digma eines notwendig gewaltsamen, revolutionären Umbruchs bemüht, durch
den allein das historische Telos erreicht werden könne. Auch bei Landauer hat
die messianische Sprache einen innerweltlichen, universalen, revolutionären
Gehalt. Allerdings geht Landauer sehr vorsichtig mit der messianischen Spra-
che um, da er apokalyptische Kurzschlüsse fürchtet, die Bloch bewusst provo-
ziert. Landauer ist ein dezidiert antiapokalyptischer Denker, ein pazifistischer
Anarchist und sezessionistischer Kulturrevolutionär, der Endzielvorstellungen
ablehnt. Dementsprechend kennt Landauer keine endgültige Erfüllung des
messianischen Versprechens, das sich vielmehr immer wieder kritisch zu neu-
em Versprechen potenzieren soll. Damit korrespondiert sprachphilosophisch,
3 Ebd., S. 344.
4 Martin Buber: Der Glaube der Propheten. In: Ders.: Werke. Bd 2. Heidelberg, Mün-
chen 1964: Kösel, S. 231–484, hier: S. 236.
5 Buber, Sinnbildliche und sakramentale Existenz (wie Anm. 1), S. 351.
6 Buber, Der Glaube der Propheten (wie Anm. 4), S. 456.
386 Teil III
Glaube der Propheten erst 1950 veröffentlicht wurde. Im letzten Kapitel geht
Buber hier wieder auf Deuterojesaja ein. Neben dem »Rest« ist es die Figur
des leidenden Gottesknechts, in der Buber Israels Wirken für eine gerechte
Völkerordnung bei Deuterojesaja symbolisiert findet. Der Gottesknecht leide
nicht wegen der Verfehlungen Israels, sondern trage die »schmerzlichen Übel
der Völkersünden«.7 Dem Gottesknecht obliege es, für die Befreiung der ver-
sklavten Völker der Welt zu leiden; er symbolisiere hierin die Aufgabe Israels,
für eine gerechte Weltordnung zu wirken.8 Diese messianische Konzeption
birgt eine metaphysische Sinngebung des Unheils, die vor dem zeithistorischen
Hintergrund verstörend ist.9
Das messianische Symbol des »Restes« hat aber auch einen dialogischen
Sinn, den ich in Kapitel II.2.3 stark zu machen versucht habe. Der »Rest«, der
umkehrt, kehrt bei Buber nicht zu bestimmten jüdischen Glaubenssätzen oder
Praktiken um. Nicht ein »Was« der Umkehr, sondern die Umkehr selbst macht
Bubers existentielles Glaubensverständnis aus. Denn »Umkehr« heißt auf
Hebräisch ʤʡʥʹʺ (Tschuva) und meint zugleich »Antwort«. Bubers dialogi-
sches Glaubensverständnis besagt, dass die einzige Weise, wesentlich mit Gott
zu kommunizieren, darin besteht, auf die je singuläre innerweltliche Situation
zu antworten. Der Einzelne entspreche nicht Gott, wenn er sich von der Welt
abwende, sondern wenn er »zu den ihn umlebenden Wesen mit seinem Wesen
Du sagt«.10 Das Sinnbild des »Restes«, der umkehrt, symbolisiert ein Leben
im dialogischen Glauben, der sich für Buber in keinem Regelnbuch abbilden
lässt. Der messianische »Rest« symbolisiert also eine Gemeinschaft, die in
einem Glaubensverhältnis lebt, das sich selbst nicht symbolisieren lässt, son-
dern sich je und je ereignet.
In dem Aufsatz über »Sinnbildliche und sakramentale Existenz im Juden-
tum« schreibt Buber, dass im – vergänglichen, leiblich-stofflichen – Symbol
der Sinn erscheine, im Sakrament aber der Sinn vollzogen werde.11 Was sak-
ramentale Existenz bedeutet, legt Buber an den Chassidim dar. Für Buber
meint sakramentale Existenz einen »Pansakramentalismus«,12 der nicht zwi-
schen dem heiligen und dem profanen Bereich unterscheidet, sondern dem
alles Weltliche geheiligt werden will. Hierfür gebe der Chassidismus keine
7 Ebd., S. 476.
8 Vgl. ebd., S. 478, 483.
9 Nitzan Lebovic bemerkt in Bubers Der Glaube der Propheten weniger eine Lei-
densmetaphysik als eine häretische Stimme gegen einen Gott, der durch Tod und
Vernichtung zum Leben führen will. So plausibel diese Interpretation wäre, habe ich
doch Schwierigkeiten, sie an Bubers Text nachzuvollziehen (vgl. Nitzan Lebovic:
The Jerusalem School: The Theopolitical Hour. In: New German Critique 35/105
[Fall 2008], S. 97–120, hier besonders S. 100–102).
10 Martin Buber: Die Frage an den Einzelnen. In: Ders.: Werke. Bd 1. Heidelberg,
München: Kösel 1962, S. 215–265, hier: S. 235.
11 Vgl. Buber, Sinnbildliche und sakramentale Existenz (wie Anm. 1), S. 351f.
12 Ebd., S. 356.
4 Messianismus zwischen Metapher und prophetischem Symbol: Martin Buber 387
Methoden und Mittel an. Anders als in seiner frühen Schaffensphase interpre-
tiert Buber den Chassidismus nicht mehr nach dem Paradigma des mystischen
Einheitserlebnisses. Vielmehr gibt er die sakramentale Existenz im Chassidi-
mus als dialogische Existenz zu lesen: »Dem Menschen der sakramentalen
Existenz frommen keinerlei erworbene Regeln und Rhythmen, keine überlie-
ferten Methoden der Wirkung, nichts ›Gewußtes‹, nichts ›Gekonntes‹; er hat
immer wieder den heranflutenden Augenblick zu bestehen, immer wieder im
heranflutenden Augenblick einem begegnenden Ding oder Wesen Erlösung,
Erfüllung zu reichen.«13
Eine symbolische Existenz zu führen, ist bei Buber eine paradoxe Angele-
genheit. Denn der Sinn, den die symbolische Existenz erscheinen lässt, stellt
keine feste Bedeutung dar, sondern bezieht sich auf einen je einmaligen Sinn-
vollzug. Formelhaft ausgedrückt: Buber aktualisiert messianische Symbole, die
auf einen dialogischen Messianismus verweisen, in dem sich ein je einmaliger
Sinnvollzug ereignen soll. Der »Rest«, der umkehrt (lies: der antwortet), als
messianisches Symbol für die jüdische Gemeinschaft, legt keine Identität für
diese Gemeinschaft fest, sondern bringt eine dialogische Existenz zum Aus-
druck, von der sich auch das politische Leben dieser Gemeinschaft ableiten
soll. Bubers Eintreten für einen binationalen, jüdisch-arabischen Staat in Paläs-
tina nach dem Ersten Weltkrieg muss in diesem Zusammenhang gesehen wer-
den.
Bubers dialogischer Messianismus ist nun keineswegs auf das Judentum be-
schränkt. Seine messianische dialogische Ethik ist nicht nur universal ausge-
richtet, sondern basiert auf einer dialogischen Erfahrungsstruktur, die ur-
sprünglicher als alle bestimmte Religion ist. Wir hatten dies als Unterschied
zwischen Rosenzweig und Buber erkannt: Die Dialogphilosophien beider
bauen auf einem Offenbarungsverständnis auf, das Offenbarung nicht als Aus-
sage, sondern als dialogisches Präsenzereignis interpretiert. Auf dieser Grund-
lage entwickeln beide ein neues dialogisches Seinsverständnis. Bei Buber liest
sich dieses neue Seinsverständnis als Vorstoß zu den ontologischen Ursprün-
gen von Religion überhaupt, zu dem »Bereich von Offenbarung vor jeder be-
stimmten Offenbarung«.14 Anders bei Rosenzweig: Hier ist es eine bestimmte
Offenbarung, welche Sein als dialogisches Sprachgeschehen überhaupt erst
denkbar macht. Bei Rosenzweig stehen religiöse und allgemeine philosophi-
sche Bedeutung in einem metonymischen Verhältnis zueinander: Rosenzweigs
»Hermeneutik der Existenz« erweitert den Bedeutungsumfang von religiösen
Konzepten wie »Schöpfung«, »Offenbarung« und »Erlösung«, so dass sie zur
Analyse allgemeiner Erfahrungsstrukturen dienen können, ohne darüber zu
Metaphern zu werden. Anders bei Buber. Im Kontext seiner Dialogphilosophie
hat der jüdische Messianismus in der Tat nur noch den Status einer Metapher:
13 Ebd., S. 357.
14 Bernhard Casper: Das dialogische Denken. Franz Rosenzweig, Ferdinand Ebner und
Martin Buber. 2. Aufl., Freiburg, München: Alber 2002, S. 345.
388 Teil III
Buber konstruiert die Verbundenheit von Land und Volk nicht als natürliche
oder historische, sondern als geschichtsphilosophische. Er leitet sie aus einer
messianischen Aufgabe her, die er auf Gott, nämlich auf Gottes Erwählung
von Volk und Land, zurückführt.18 Auch wenn Buber aus der messianischen
Aufgabe keinen alleinigen Anspruch des jüdischen Volkes auf das biblische
Land Israel folgert, sondern dem transnationalen messianischen Ziel gemäß
von traditionellen Vorstellungen nationalstaatlicher Souveränität abrückt,
bleibt seine messianische Konstruktion doch prekär. Denn Buber behandelt
nationalen Egoismus und ein messianisches Sendungsbewusstsein als selbst-
verständliche Gegensätze. Dabei verkennt er völlig deren mögliche machtpoli-
tische Allianz. Ein messianischer Anspruch auf das Land öffnet die Tür für
eine aggressive Politik, die Buber gerade schließen möchte.
In Bubers Geschichtsphilosophie bilden Religion und Politik in der ur-
sprünglichen Form des Messianismus, der »primitiven Theokratie«, eine un-
mittelbare Einheit. Diese wird im statthalterischen Königtum durch das Ver-
hältnis der Repräsentation zwischen Religion und Politik in einem mittelbaren
Gotteskönigtum abgelöst. In dem statthalterischen Königtum droht die sakra-
mentale Verbindung zwischen Profanem und Heiligem, die die Präsenz des
Heiligen in der Repräsentation sichern soll, in ›leere‹ Repräsentation und damit
in Machtherrschaft zu verfallen. Bei den Propheten geschieht sodann die für
Buber entscheidende Wendung des Messianismus von der Gegenwart zur
Zukunft. Die messianische Zukunftserwartung verdichtet sich in messiani-
schen Symbolen wie z. B. dem »Rest«, der umkehrt (antwortet und zurück-
kehrt), dem prophetischen Sinnbild für das jüdische Volk, das Buber für seinen
Zionismus aktualisiert. In Bubers messianischer Geschichtsphilosophie werden
in der einstigen »großen Polis Gottes […] Religion und Politik zu einem Leben
17 Ebd., S. 116f.
18 Vgl. hierzu Manuel Duarte de Oliveira: Passion for Land and Volk. Martin Buber
and Neo-Romanticism. In: Leo Baeck Institute Yearbook 41/1 (1996), S. 239–260,
besonders S. 252–254.
390 Teil III
verschmelzen, darin weder Religion noch Politik mehr besteht«.19 Auf dem
Wege zu dieser messianischen Zielvorstellung hält es Buber nichtsdestotrotz
für essentiell, zwischen Religion und Politik zu unterscheiden. Das heißt für
Buber allerdings nicht, die Religion von der Politik zu isolieren. Auf der Basis
ihrer Unterscheidung führt Buber vielmehr die Religion wieder in die Politik
ein, und zwar in Form einer dialogischen, messianischen Ethik.
Für Buber gibt es zwei Gefahren für die Religion in der Moderne: sich als
Spezialbereich vom Leben, einschließlich des politischen Lebens, abzusondern
oder sich zu politischen Zwecken einspannen zu lassen.20
Religion meint Ziel und Weg, Politik Zweck und Mittel. Der politische Zweck ist
dadurch gekennzeichnet, daß er – eben im ›Erfolg‹ – erreicht und sein Erreichtsein
historisch verbucht wird. Das religiöse Ziel bleibt auch in den höchsten Erfahrungen
dem sterblichen Weg das schlechthin Richtungverleihende; es geht nie in geschicht-
lich Gewordenes ein. […] ›Das Wort‹ siegt, aber anders, als seine Träger es erhoff-
ten. Nicht in seiner Reinheit siegt das Wort, sondern in der Zersetzung; seine
Fruchtbarkeit vollzieht sich in der corruptio seminis.21
19 Martin Buber: Gandhi, die Politik und wir. In: Ders.: Werke. Bd 1. Heidelberg,
München: Kösel 1962, S. 1079–1087, hier: S. 1086.
20 Vgl. ebd.
21 Ebd., S. 1083.
22 Hierin stimme ich mit Lebovic überein (vgl. Lebovic, The Theopolitical Hour [wie
Anm. 9], S. 99).
23 Buber, Die Frage an den Einzelnen (wie Anm. 10), S. 252.
4 Messianismus zwischen Metapher und prophetischem Symbol: Martin Buber 391
24 Ebd., S. 249.
25 Ebd., S. 255.
26 Ebd., S. 241.
27 Ebd., S. 244.
28 Ebd., S. 240.
5 Messianismus des dialektischen Bildes:
Walter Benjamin
Zwecken begreifen statt als genuinen Ausdruck der »profanen Ordnung des
Profanen«, deren anarchisches Aufbauprinzip für Benjamin gerade die De-
struktion ist. Aber auch von der anderen Seite kann das prekäre Kräftegleich-
gewicht zwischen der profanen und der messianischen Dynamik erschüttert
werden: Die profane Ordnung kann für sich religiöse Dignität beanspruchen.
Benjamin kann dieser Verführung selbst nicht widerstehen. Messianisches und
Profanes finden bei ihm in der Figur einer messianischen Vergängnis zueinan-
der. Im vollendet Profanen, der Vergängnis, scheint wieder etwas Religiöses
auf. Dies ist mit keiner überlieferten Gestalt der Mystik zu erklären und dient
auch keiner Rehabilitation der (jüdischen oder christlichen) Offenbarungsreli-
gion oder der Bibel, sondern muss als Benjamins eigene mystische Konstrukti-
on gelten.
Benjamins profane Figur des Messianischen ist ein Messianismus der Ver-
gängnis. In seinen späteren geschichtsphilosophischen Arbeiten bleibt der
Messianismus der Vergängnis in einem auf die Vergangenheit bezogenen
Messianismus enthalten. In den Paralipomena zu den Thesen Ȇber den Beg-
riff der Geschichte« (1939/40 niedergeschrieben) erklärt Benjamin, dass der
historische Materialist eine »messianische Kraft in der Geschichte« (GS I/3
1232) feststelle. Benjamin schreibt nicht der Hoffnung auf die Zukunft, son-
dern der Erinnerung eine messianische Kraft zu. Die Geschichtsschreibung
gewinne (politische) Aktualität durch die Vergegenwärtigung der Vergangen-
heit, mit der Benjamin keine Einfühlung ins Gewesene meint. Vielmehr soll
die Vergegenwärtigung ein Bild der Vergangenheit zeigen, das bisher noch
nicht bekannt war. Die Bilder der Vergangenheit seien photographischen Bil-
dern auf einer lichtempfindlichen Platte vergleichbar, die erst in einer späteren
Zeit zum Vorschein kommen können. In diesem Sinne gelte es mit Hofmanns-
thal, »was nie geschrieben wurde, [zu] lesen« (GS I/3 1238). Das Bild der
Vergangenheit stellt für Benjamin ein unwillkürliches Erinnerungsbild dar, das
dem historischen Subjekt zustößt, statt von ihm beherrscht zu werden. Es blitzt
im »Jetzt seiner Erkennbarkeit« (GS I/3 1243) auf. Im »Jetzt der Erkennbar-
keit« konstellieren sich für Benjamin Gegenwart und Vergangenheit zum »dia-
lektischen Bild«. Das »dialektische Bild« ist eine Erfindung Benjamins.1 Er
beschreibt die Konstellation von Vergangenheit und Gegenwart im »dialekti-
schen Bild« wie folgt:
Nicht so ist es, daß das Vergangene sein Licht auf das Gegenwärtige oder das Ge-
genwärtige sein Licht auf das Vergangene wirft, sondern Bild ist dasjenige, worin
die Vergangenheit mit der Gegenwart zu einer Konstellation zusammentritt. Wäh-
rend die Beziehung des Einst zum Jetzt eine (kontinuierliche) rein zeitliche ist, ist
die der Vergangenheit zur Gegenwart eine dialektische, sprunghafte (GS I/3 1243).
1 Vgl. zu den Etappen der Entwicklung des dialektischen Bildes in Benjamins Schrif-
ten: Ansgar Hillach: Dialektisches Bild. In: Michael Opitz und Erdmut Wizisla
(Hg.): Benjamins Begriffe. Bd 2. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2000 (Edition Suhr-
kamp; 2048), S. 186–229.
5 Messianismus des dialektischen Bildes: Walter Benjamin 395
Benjamin denkt nicht nur das dialektische Bild als »Vorbote und Ausblick
auf die messianische Erfüllung«,2 sondern ebenso den Messianismus nach dem
Vorbild des dialektischen Bildes. Diese Umkehrung ist wichtig, denn sie zeigt
den profanen Gehalt von Benjamins Messianismus an. Die Funktion, die bei
Bloch das Symbol hat, fällt bei Benjamin dem dialektischen Bild zu. Bloch
interpretiert das Symbol messianisch und den Messianismus symbolisch. Ana-
log dazu interpretiert Benjamin nicht nur das dialektische Bild messianisch,
sondern den tradierten Messianismus als dialektisches Bild. Das heißt, die
Figur, nach deren Logik Benjamin den überlieferten Messianismus säkulari-
siert, ist das dialektische Bild, so wie die Logik des Symbols Blochs Säkulari-
sierung des Messianismus prägt. Dass das dialektische Bild nicht nur Benja-
mins Modell des Messianismus ist, sondern auch die Figur, nach deren Logik
er den tradierten Messianismus säkularisiert, ist bisher von der Forschung so
noch nicht erkannt worden. Am Anhang A und B der Thesen Ȇber den Beg-
riff der Geschichte« lässt sich diese These nachvollziehen.
Im Anhang A beschreibt Benjamin noch einmal den Unterschied zwischen
seiner Geschichtsauffassung und dem Historismus. Statt von einem Kausalne-
xus und einem Kontinuum in der Geschichte auszugehen wie der Historismus,
habe der materialistische Historiker die »Konstellation zu erfassen, in die seine
eigene Epoche mit einer ganz bestimmten früheren getreten ist. Er begründet
so einen Begriff der Gegenwart als ›Jetztzeit‹, in welcher Splitter der messiani-
schen eingesprengt sind« (GS I/2 704). Eine solche Konstellation liefert Ben-
jamin aber selbst mit der Konstellation des Anhangs A und B der geschichts-
philosophischen Thesen. Fasst Anhang A Benjamins Geschichtstheorie zu-
sammen, so konstelliert sie Anhang B mit dem tradierten jüdischen Messia-
nismus, den Benjamin signifikanterweise in der Vergangenheitsform referiert:
[…] Bekanntlich war es den Juden untersagt, der Zukunft nachzuforschen. Die Tho-
ra und das Gebet unterweisen sie dagegen im Eingedenken. Dieses entzauberte ih-
nen die Zukunft, der die verfallen sind, die sich bei den Wahrsagern Auskunft holen.
Den Juden wurde die Zukunft darum doch nicht zur homogenen und leeren Zeit.
Denn in ihr war jede Sekunde die kleine Pforte, durch die der Messias treten konnte
(GS I/2 704).
Im Anhang A und B der Thesen »Über den Begriff der Geschichte« treten
Benjamins Geschichtstheorie und der überlieferte jüdische Messianismus zu
einem dialektischen Bild zusammen. Die »Splitter der messianischen [Zeit]«,
die in die »Jetztzeit« »eingesprengt« sind, lassen sich nicht nur als Verweis auf
eine messianische Zukunft lesen, sondern ebenso ist die Lesart möglich, dass
in der »Jetztzeit« Splitter des überlieferten jüdischen Messianismus einge-
sprengt sind. Benjamin historisiert den jüdischen Messianismus, indem er ihn
in der Vergangenheitsform darstellt. Und gleichzeitig aktualisiert er ihn in
2 Rita Bischof: Plädoyer für eine Theorie des dialektischen Bildes. In: Klaus Garber
und Ludger Rehm (Hg.): global benjamin. Internationaler Walter-Benjamin–
Kongreß 1992. München: Fink 1999, S. 92–123, hier: S. 119.
5 Messianismus des dialektischen Bildes: Walter Benjamin 397
Form eines dialektischen Bildes, das, wir erinnern uns, einen historischen
Gegenstand aus dem geschichtlichen Kontinuum sprengt. So sprengt Benjamin
auch den Messianismus aus der religiösen Tradition. Nicht mehr »Thora und
Gebet« bilden die Grundlage des messianischen »Eingedenkens«, sondern die
Geschichte als das »Buch des Lebens« (GS I/3 1238) bzw. das »Buch des
Geschehenen« (GS V/1 580).
Benjamin kehrt die traditionelle Vorstellung, die Thora ins Leben zu über-
führen,3 um, indem er der Verwandlung des Daseins in Schrift ein messiani-
sches Moment zuerkennt. Liegt nach traditioneller Vorstellung die Thora aller
Geschichte voran, so erscheint bei Benjamin der Text, der aus der Geschichte
zu lesen ist, als Ergebnis heuristischer Anstrengung.4 Erst am Ende der Ge-
schichte ist der »erlösten Menschheit […] ihre Vergangenheit in jedem ihrer
Momente zitierbar geworden« (GS I/3 694), also zu einem zitierbaren Text
geworden. Dieser ist mit dem erfüllten Archiv dialektischer Bilder identisch,
deren Medium für Benjamin die Sprache bleibt (vgl. GS V/1 577). In der
abendländischen Tradition ist die »Lesbarkeit der Welt« auf drei große Bücher
zurückgeführt worden, die im Laufe der Geschichte latent oder offen in Kon-
kurrenz miteinander getreten sind: das Buch der Offenbarung, das Buch der
Natur und das Buch der Geschichte.5 Benjamin geht es um das Buch der Ge-
schichte.6 Seine Vorstellung eines Universalarchivs dialektischer, sprachlicher
Bilder schließt an barocke Vorstellungen einer Universalbibliothek an. Solche
Vorstellungen haben beispielsweise Leibniz bewegt, auf dessen Monadenlehre
sich Benjamin in der 17. geschichtsphilosophischen These bezieht. Monadolo-
gie und Universalbibliothek stehen bei Leibniz allerdings im Widerspruch: Der
Unendlichkeitsmetaphysik der Monade steht die Wiederkehr des Gleichen
gegenüber, auf die Leibniz’ Universalbibliothek der Geschichte hinausläuft.7
Leibniz’ Idee einer Universalbibliothek, die alle faktischen wie alle mögli-
chen historischen Ereignisabläufe enthält, beruht auf der Ars combinatoria, die
mit einer endlichen Anzahl von Elementen operiert, auf denen Geschichte als
Komplex von Ereignissen und Handlungen unverkennbarer Typik beruhen
soll. Unter diesen Prämissen erscheint die Ereignisabfolge in der Geschichte
3 Vgl. Dtn 31–34.
4 Vgl. Bischof, Plädoyer für eine Theorie des dialektischen Bildes (wie Anm. 2),
S. 99.
5 Vgl. Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt. 4. Aufl., Frankfurt a. M.: Suhr-
kamp 1999.
6 Im Hinblick auf sein historiographisches Projekt über die Pariser Passagen schreibt
Benjamin: »Die Rede vom Buch der Natur weist darauf hin, daß man das Wirkliche
wie einen Text lesen kann. So soll es hier mit der Wirklichkeit des neunzehnten
Jahrhunderts gehalten werden. Wir schlagen das Buch des Geschehenen auf« (GS
V/1 580).
7 Ich orientiere mich im Folgenden an Blumenbergs Darstellung von Leibniz’ Idee
einer Universalbibliothek, die sich in dem erst 1921 veröffentlichten Fragment
»Apokatastasis« findet (vgl. Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt [wie Anm. 5],
S. 121–149).
398 Teil III
8 Ebd., S. 141f.
9 Vgl. Andreas Pangritz: Vom Kleiner- und Unsichtbarwerden der Theologie. Ein
Versuch über das Projekt einer »impliziten Theologie« bei Barth, Tillich, Bonhoef-
fer, Benjamin, Horkheimer und Adorno. Tübingen: Theol. Verlag 1996, S. 202.
5 Messianismus des dialektischen Bildes: Walter Benjamin 399
Verlauf der Geschichte auf, indem er ein bestimmtes Lebenswerk aus seiner
Epoche, ein bestimmtes Werk aus dem Lebenswerk heraussprengt. Er findet
»im Werk das Lebenswerk, im Lebenswerk die Epoche und in der Epoche
de[n] gesamte[n] Geschichtsverlauf aufbewahrt […]. Die nahrhafte Frucht des
historisch Begriffenen hat die Zeit als den kostbaren, aber des Geschmacks
entratenden Samen in ihrem Innern« (GS I/2 703). Das Enthaltensein des Grö-
ßeren im Kleineren zielt bei Benjamin auf die Zeit als das »Inner[e]« der Ge-
schichte, deren Bilder sich einmaligen, nicht wiederholbaren Konstellationen
aus Gegenwart und Vergangenheit verdanken. Das Universalarchiv dialekti-
scher Bilder, als welches Benjamin die messianische Zeit imaginiert, konser-
viert keine ewigen, sich gleich bleibenden Bilder, sondern unendlich mit-
teilbare, zitierbare Bilder. Deren Zitation stellt keine identische Reproduktion
dar, sondern eine je einmalige Aktualisierung. Benjamins messianisches Uni-
versalarchiv ist, was nach Leibniz keine Universalbibliothek sein kann: unend-
lich, nämlich unendlich mit-teilbar.
Bei Benjamin wird die Lesbarkeit der Welt, verstanden mit Blumenberg als
Metapher für das Ganze ihrer Erfahrbarkeit,10 zur Frage des »Buchs des Le-
bens« bzw. des Buchs der Geschichte.11 Die Technik des »Eingedenkens«, in
der die Thora und die Gebete die Juden unterwiesen, wird von Benjamin auf
die Geschichte bezogen, deren Text allererst herzustellen ist. Benjamin führt
die Technik des Eingedenkens, die das Glück und das Leid der Vergangenheit
zu modifizieren trachtet, zwar auf das religiöse Eingedenken zurück (vgl. GS
I/3 588f.). Das heißt aber nicht, dass die Thora bei Benjamin noch Grundlage
für das Verständnis des Buchs der Geschichte wäre. Bei Benjamin erscheint
das Buch der Geschichte nicht mehr als eine Interpretation des Buchs der Of-
fenbarung. Wenn Benjamin auch überkommene religiöse Motive und Techni-
ken aufgreift, so lassen diese doch zugleich den biblischen Text zurück, indem
sie einen »neuen Text[]« (GS II/1 363) konstituieren. Wenn man Benjamin
noch in der Auslegungstradition der Bibel verorten wollte,12 dann ist zu be-
rücksichtigen, dass Benjamins Auslegung zugleich eine Überschreibung des
biblischen Textes darstellt, wodurch dieser die Qualität des heiligen Textes
verliert: Gehört doch zum heiligen Text nicht nur seine Kommentier- und
Interpretierbarkeit, sondern auch seine unveränderliche Kodifikation.13
Gershom Scholem hat meines Erachtens genau gemerkt, dass Benjamin sich
mit seinen späten Texten über die Grenzen der jüdischen Tradition hinausbe-
10 Vgl. Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt (wie Anm. 5), S. 9–16.
11 Vgl. GS I/3 1238: »Die historische Methode ist eine philologische, der das Buch des
Lebens zugrunde liegt. ›Was nie geschrieben wurde, lesen‹ heißt es bei Hofmanns-
thal. Der Leser, an den hier zu denken ist, ist der wahre Historiker.«
12 Wie dies zum Beispiel in avancierter Weise Brian Britt unternimmt, der ein herme-
neutisches Modell religiöser Tradition für Benjamins Texte fruchtbar zu machen
versucht (vgl. Brian Britt: Walter Benjamin and the Bible. 2nd Ed., Lewiston,
Queenston, Lampeter: Mellen 2003).
13 Vgl. ebd., S. 24. Auf dieses Paradox geht Britt freilich nicht ein.
400 Teil III
wegt. Die Debatte, die Benjamin und Scholem in ihrem Briefwechsel Mitte der
30er Jahre um eine angemessene Interpretation des Werkes Kafkas führen,
kreist um eben die Frage, ob die Schrift, das heißt, ob die Thora noch Voraus-
setzung für Kafkas Werk ist oder nicht. In dem Essay »Franz Kafka« (1934),
den Benjamin im Vorfeld der Publikation an Scholem sandte, begegnet bereits
das Motiv der »Umkehr« als »Richtung des Studiums, die das Dasein in
Schrift verwandelt« (GS II/2 437). Für Benjamin stellt die »Umkehr« oder das
»Studium« Kafkas »messianische Kategorie« dar, wie er Scholem schreibt.14
Im Engeren entzündet sich der Streit zwischen Scholem und Benjamin an
Benjamins Deutung, dass Kafkas Gehilfen »Gemeindediener [sind], denen das
Bethaus, seine Studenten Schüler, denen die Schrift abhanden kam« (GS II/2
437). Die Gehilfen, die Studenten und die Narren, die »Unfertigen und Unge-
schickten« (GS II/2 415), sind aber für Benjamin die einzigen Gestalten Kaf-
kas, für die Hoffnung da sei. In Scholems Augen ist den Studenten nicht die
Schrift abhanden gekommen, sondern es soll sich um Schüler handeln, die sie
nicht enträtseln können. Dies verbindet Scholem mit seiner Theorie von der
Unvollziehbarkeit der Offenbarung, die er schon früh formuliert hat (vgl. Kap.
I.4.2). In nihilistischer Zuspitzung findet Scholem die Offenbarung bei Kafka
auf ein Nichts zurückgeführt, worunter Scholem einen Stand verstanden wis-
sen möchte, in dem die Offenbarung bedeutungsleer erscheint, »in dem sie
zwar noch sich behauptet, in dem sie gilt, aber nicht bedeutet«.15 Benjamin
vertritt demgegenüber die Ansicht:
Ob sie [die Schrift; Anm. E.D.] den Schülern abhanden gekommen ist oder ob sie
sie nicht enträtseln können, kommt darum auf das gleiche hinaus, weil die Schrift
ohne den zu ihr gehörigen Schlüssel eben nicht Schrift ist, sondern Leben. Leben
wie es im Dorf am Schloßberg geführt wird. In dem Versuch der Verwandlung des
Daseins in Schrift sehe ich den Sinn der ›Umkehr‹, auf welche zahlreiche Gleichnis-
se Kafkas […] hindrängen.16
Für Benjamin sind die messianischen Potenzen bei Kafka im Leben selbst und
nicht mehr in der Thora zu verorten. In Kafkas Texten liegt für Benjamin die
messianische Potenz darin, das unverstandene, »entstellte[] Leben« (GS II/2
432), das von einer unübersehbaren Beamtenapparatur beherrscht wird, in
Schrift zu verwandeln. Damit löst sich für Benjamin das Messianische in Kaf-
kas Texten von den Verheißungen der Thora ab (vgl. GS II/2 437). Als Ort der
Erlösung erkennt Benjamin bei Kafka das Theater, in dem die Schauspieler ihr
eigenes früheres Leben als Rolle studieren und re-zitieren: Es handelt sich um
das »Naturtheater von Oklahoma« (GS II/2 417) aus Kafkas Roman Der Ver-
schollene. Mit der »Umkehr« als »messianischer Kategorie« Kafkas verbindet
sich für Benjamin das Studium der Vergangenheit. Statt sich ein Zukunftsziel
vorzusetzen, nimmt das Studium, das umkehrt, den Weg zurück und verwan-
delt das, was nie geschrieben wurde, nämlich das Leben und die Geschichte, in
Schrift. Mit der »Umkehr« greift Benjamin eine zentrale Kategorie des Juden-
tums auf, nämlich die »Tschuva«, die traditionellerweise eine »Umkehr« bzw.
»Rückkehr« zum Glauben bedeutet. Bei Benjamin bezieht sich die »Tschuva«
nicht mehr auf den religiösen Glauben, sondern auf das Leben selbst, das um-
gekehrt wird, indem es erinnert und in Schrift verwandelt wird, die auf einem
Naturtheater zu re-zitieren ist. Damit löst sich für Benjamin der Zwang der
Identität, denn die Bewerber des Naturtheaters sollen sich nur spielen. »Daß
sie im Ernstfall sein könnten, was sie angeben, schaltet aus dem Bereich der
Möglichkeiten aus« (GS II/2 422f.).
Das Theater als profaner Ort, in dem ein profaner Text – das in Schrift ver-
wandelte Dasein – rezitiert wird, tritt bei Benjamin an die Stelle des Bethauses,
in dem die Thora und die Gebete rezitiert werden. Auch in den Paralipomena
zu den Thesen »Über den Begriff der Geschichte« imaginiert Benjamin die
messianische Welt als Sprachwelt, nämlich als »festlich begangene Universal-
geschichte« (I/3 1238). Dieses Fest sei gereinigt von aller Feier und kenne
keinerlei Festgesänge. »Seine Sprache ist die integrale Prosa, die die Fesseln
der Schrift gesprengt hat und von allen Menschen verstanden wird« (I/3 1238).
Erklärt Benjamin die »Umkehr« zu Kafkas messianischer Kategorie, so betrifft
diese Umkehr den jüdischen Messianismus selbst: Er ist nicht buchstäblich zu
nehmen, als wie auch immer zu interpretierende Verheißung der Thora, son-
dern im Modus der »Umkehr«, man könnte auch sagen: im Modus der »Wen-
dung«, in der sich der rhetorische Tropus verbirgt. Denn der Tropus leitet sich
ab vom griechischen Verb »trépesthai«, das »sich drehen«, »wenden«, »sich
ab- oder zuwenden«, aber eben auch »umkehren« bedeuten kann.17 Bei Ben-
jamin regelt kein klassischer Tropus das Verhältnis von eigentlichem, religiö-
sem und übertragenem, profanem Messianismus, sondern die Logik ist die des
»dialektischen Bildes«, das zwischen Allegorie und Symbol anzusiedeln ist.
Benjamins Messianismus des dialektischen Bildes ist sowohl im Sinne des
Genitivus subiectivus als auch im Sinne des Genitivus qualitatis zu verstehen:
Denn Benjamin schreibt dem dialektischen Bild eine messianische Wirkung
zu, insofern es die Vergangenheit ›erlösen‹ soll. Zugleich hat der Messianis-
mus bei Benjamin die Qualität eines dialektischen Bildes, nach dessen Logik
Benjamin den jüdischen Messianismus säkularisiert. Der Anhang A und B der
geschichtsphilosophischen Thesen belegen dies besonders eindrücklich, wie
ich oben zu zeigen versucht habe. Um die Logik der Säkularisierung noch
genauer zu fassen, die Benjamin am jüdischen Messianismus vollzieht, sind
17 Wolfram Groddek: Reden über Rhetorik. Zu einer Stilistik des Lesens. Basel, Frank-
furt a. M.: Stroemfeld 1995 (Nexus; 7), S. 205.
402 Teil III
weist auch allegorische Züge auf. Einerseits stellt sich das dialektische Bild
zwar spontan ein, macht es eine Bedeutung des Vergangenen flüchtig sichtbar,
die unabhängig von der Intention des Subjekts ist (vgl. GS V 578). Anderer-
seits geht das dialektische Bild aber aus einer aktiv-destruktiven Operation des
Historikers hervor.20 Diese Operation, die den historischen Gegenstand aus
dem kontinuierlichen Zusammenhang sprengt, ist aber dem allegorischen Ver-
fahren verwandt, das Benjamin im Trauerspielbuch beschreibt.
Im Unterschied zum Symbol versenke sich, so Benjamin, die Allegorie »in
den Abgrund zwischen bildlichem Sein und Bedeuten« (GS I/1 342). In der
Allegorie behaupte sich die »Demarkationslinie« (GS I/1 343) zwischen Zei-
chen und Bezeichnetem, zugleich aber besteht Benjamin darauf, dass die Alle-
gorie mehr als ein bloßes, konventionelles Zeichen sei. Denn für Benjamin ist
die Allegorie Konvention und Ausdruck zugleich, nämlich »Ausdruck der
Konvention« (GS I/1 351). Es drückt sich in der Allegorie eine »Willkürherr-
schaft über die Dinge« (GS I/1 407) aus, denn jeder Gegenstand kann einen
beliebigen anderen bedeuten (vgl. GS I/1 350). An Bedeutung kommt den
Dingen nur das zu, was der Allegoriker ihnen verleiht (vgl. GS I/1 359). Die
allegorischen Dinge sind Bruchstücke, die der Allegoriker um einer Bedeutung
willen zusammenträgt, ohne dass diese einen Anteil am Dasein der Dinge hätte
(GS I/1 364). Im Gegensatz zur Totalität des Symbols charakterisieren das
»Bruchstückhafte, Ungeordnete, Überhäufte« (GS I/1 363) die barocke Allego-
rie. In der Allegorie strahlen die Dinge keinen Sinn aus, sondern ihre Bedeu-
tung kommt durch einen konstruktiven wie destruktiven Zugriff zustande,
durch Zerstückelung und Anhäufung um ein figurales Zentrum (vgl. GS I/1
363).21
Die Absprengung des historischen Gegenstandes aus dem Kontinuum des
Geschichtsverlaufs, Konstitutionsbedingung des dialektischen Bildes, ist der
allegorischen Zerstückelung verwandt.22 Demgegenüber ähnelt die blitzhafte
Erkenntnis, die im dialektischen Bild aufscheint, der symbolischen Erfahrung,
der sich momentan ein Sinn an einem Gegenstand zeigt und im gleichen Au-
genblick verbirgt. Man könnte das dialektische Bild ein allegorisches Verfah-
das aber an Benjamins echtem Symbolbegriff vorbei, der eine paradoxe Einheit zwi-
schen Zeichen und Bezeichnetem, Sinnlichem und Übersinnlichem umschreibt.
20 Vgl. Sven Kramer: Walter Benjamin zur Einführung. Hamburg: Junius 2003, S. 119.
21 Benjamins Allegorie-Konzept kann an dieser Stelle, an der es nur um die Über-
schneidungen von Allegorie und dialektischem Bild geht, nicht erschöpfend behan-
delt werden. Vgl. zu Benjamins Konzeption der Allegorie Bettine Menke: Sprachfi-
guren. Name – Allegorie – Bild nach Benjamin. Weimar: Verlag und Datenbank für
Geisteswiss. 2001 (Medien i; 6), S. 207–310, sowie dies.: Das Trauerspiel-Buch.
Der Souverän – das Trauerspiel – Konstellationen – Ruinen. Bielefeld: transcript-
Verlag 2010 (Theater; 5), S. 169–230.
22 Einseitig betont Bischof die Nähe von Allegorie und dialektischem Bild bei Benja-
min, die sie sogar als eine Form unter zwei unterschiedlichen Aspekten begreift (vgl.
Bischof, Plädoyer für eine Theorie des dialektischen Bildes [wie Anm. 2], S. 96).
404 Teil III
Gershom Scholem hat sich sein Leben lang mit Fragen des jüdischen Messia-
nismus beschäftigt. Seine späten Texte zum jüdischen Messianismus, der be-
rühmte Aufsatz »Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum«
(1959) sowie »Die Krise der Tradition im jüdischen Messianismus« (1968)
und »Die Metamorphose des häretischen Messianismus der Sabbatianer in
religiösen Nihilismus im 18. Jahrhundert« (1963), werden oftmals »als die
Auskunftsquelle für ›den‹ jüdischen Messianismus«1 zitiert. Dass es jedoch
keine einheitliche Idee ›des‹ jüdischen Messianismus gibt, demonstrieren
Scholems Texte ironischerweise selbst: Der frühe Scholem konzipiert den
jüdischen Messianismus anders als der späte Scholem. Dies zeigt sich etwa
darin, wie er den messianischen Aufschub auffasst, noch grundsätzlicher aber
darin, wie er das Verhältnis von Messianismus und Tradition beurteilt. Der
späte Scholem spitzt den Messianismus auf eine »Katastrophentheorie«2 zu,
mit der er den revolutionären Aspekt des Messianismus würdigt, der für eine
»anarchische Lüftung im Hause des Gesetzes«3 sorge. Mit dem revolutionären
Aspekt hebt Scholem aber zugleich auch immer das destruktive Potential des
Messianismus hervor. Dieses destruktive Moment richtet sich nicht zuletzt
gegen die jüdische Tradition selbst, die im historischen Vollzug der messiani-
schen Idee, dem Beginn einer ganz neuen Zeit, liquidiert zu werden droht.
Verschiedene Gründe dürften dazu geführt haben, dass Scholem im Laufe
der Zeit mit dem revolutionären Moment des jüdischen Messianismus zugleich
auch immer dessen katastrophalen Aspekt hervorhebt: Zum einen hat hierbei
sicherlich Scholems Ende der 1920er Jahre einsetzende Beschäftigung mit den
häretischen, messianischen Bewegungen des Judentums, dem Sabbatianismus
und dem Frankismus, eine Rolle gespielt. Zum anderen haben historische Er-
fahrungen ihre Spuren in Scholems Auffassung des Messianismus hinterlassen.
Die Auseinandersetzung mit dem aggressiven messianischen Zionismus der
Revisionisten hat Scholem gewiss sensibler gemacht für das zerstörerische
Potential des Messianismus. Der katastrophale Aspekt des Messianismus ist
1 Daniel Weidner: Gershom Scholem. Politisches, esoterisches und historiographi-
sches Schreiben. München: Fink 2003, S. 369.
2 Gershom Scholem: Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum. In:
Ders.: Über einige Grundbegriffe des Judentums. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1970
(Edition Suhrkamp; 414), S. 121–167, hier: S. 130.
3 Ebd., S. 147.
406 Teil III
messianischen Idee selbst zu sehen, da sie ihm zum Wesen des Christentums zu ge-
hören schien, so argumentiert Taubes, dass »jeder Versuch, die Erlösung ohne Ver-
wandlung der messianischen Idee auf der Ebene der Geschichte zustande zu bringen,
[…] direkt in den Abgrund [führt]« (Jacob Taubes: Der Messianismus und sein
Preis. In: Ders.: Vom Kult zur Kultur. Hg. von Aleida Assmann, Jan Assmann und
Wolf-Daniel Hartwich. München: Fink 1996, S. 43–49, hier: S. 49). Es habe in der
Geschichte verschiedene Formen der Verinnerlichung gegeben, nicht nur die christ-
liche Version, sondern auch den Chassidismus, den Taubes gegenüber Scholems
ambivalenter Auffassung ganz positiv als »lebensfähige mythische Antwort« ver-
steht, »mit deren Hilfe die lurianische Kabbala die verhängnisvollen apokalypti-
schen Folgen überwinden konnte, die in der sabbatianischen Komödie der Gemeinde
des abtrünnigen Messias […] manifest geworden w[a]ren« (ebd., S. 48). Grundsätz-
lich geht Taubes von Scholems Erkenntnissen aus, wertet sie aber um. Dies betrifft
nicht zuletzt ein »grandios unterschiedliches Verständnis jüdischer Dissidenz«, wie
Macho schreibt: »Scholem hielt die Frage nach jüdischer Dissidenz für ein innerjüdi-
sches Problem […]. Taubes dagegen verstand dieselbe Frage stets als Ausdruck einer
jüdischen Thematisierung der Grenzen des Judentums, samt ihrer experimentellen
Überschreitungen – in Richtung der Stiftung einer neuen Religion (wie im Falle des
Paulus und seines Schülers Marcion), in Richtung der Konversion zu einer anderen
Religion (wie im Falle der Marranen, aber auch des Sabbatai Zwi), in Richtung der
Aufklärung und einer Säkularisierung des Messianismus zur Geschichtsphilosophie
(von Maimonides bis Spinoza, und von Marx bis zu den ›mystischen Marxisten‹ Bloch
und Benjamin)« (Macho, Zur Frage nach dem Preis des Messianismus [wie Anm. 7],
S. 147f.). Während Scholem die experimentellen Überschreitungen des Judentums
perhorreszierte, ging Taubes recht gelassen mit ihnen um.
408 Teil III
liche, Urteile in Fragen. Die messianische Zeit referiert beim frühen Scholem
nicht auf die Zukunft, sondern in ihr transformieren sich die Zeiten. Als Zeit
der Inversion ist sie die »ewige Gegenwart«. Dieser Zeitbegriff kennzeichnet
die jüdische Auslegungstradition selbst, in der entfernte Zeiten miteinander in
Beziehung gebracht werden können und Moses sich in einer berühmten Episo-
de des Talmuds von Rabbi Akiba erklären lassen muss, was seine Lehre gewe-
sen ist oder besser gewesen sein wird. Indem Scholem die messianische Zeit
als »ewige Gegenwart« interpretiert, die die Zeiten verwandelt, erscheint die
jüdische Auslegungstradition selbst, in ihrer Form als traditio, messianisch. Es
handelt sich dabei um eine Tradition pluraler, auch widersprüchlicher Deu-
tungsmöglichkeiten. Die Inversion von Urteilen in Fragen macht für Scholem
1918 den jüdischen Begriff der Gerechtigkeit wie der Tradition aus. Sie be-
gründet auch Scholems religiösen Anarchismus, den »anarchischen Suspens«8
des Gesetzes, der ihn von der orthodoxen Lebensführung fernhält, wie er Ben-
jamin 1918 zu erklären versucht.9
Der ›verwandelnde‹ Messianismus, den Scholem in der jüdischen Mystik
entdeckt und den er vom apokalyptischen, revolutionären Messianismus unter-
scheidet (vgl. Kap. II.4.2), bedroht nicht die jüdische Tradition, sondern macht
in Scholems Aufzeichnungen um 1918 geradezu ihren Begriff aus. Die Um-
kehrung der Zeiten in der messianischen Zeit, die beim frühen Scholem mit
einer anarchomystisch verstandenen jüdischen Tradition zusammenfällt, ist nur
eine der Figuren der Inversion,10 in denen Scholem den jüdischen Messianis-
mus geschichtsphilosophisch aufbereitet. Eine andere Inversionsfigur stellt die
dialektische Umkehrung von messianischer Mystik in messianische Apokalyp-
tik dar, die ab den späten 1920er Jahren das geschichtsphilosophische Narrativ
formiert, in dem Scholem die jüdische Geschichte seit der Vertreibung aus
Spanien im Jahre 1492 zu lesen gibt. Die kollektive Erfahrung des Exils habe
sich in die Kabbala des Isaak Luria eingeschrieben, der gnostische Mythologie
und jüdische Mystik zu einem vielschichtigen Mythos des Exils und der Rück-
8 Gershom Scholem: Walter Benjamin – die Geschichte einer Freundschaft. 4. Aufl.,
Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1997 (Bibliothek Suhrkamp; 467), S. 93.
9 Vgl. zur Vorstellung des »theokratischen Anarchismus« beim jungen Scholem auch
Gabriele Guerra: Judentum zwischen Anarchie und Theokratie. Eine religionspoliti-
sche Diskussion am Beispiel der Begegnung zwischen Walter Benjamin und Ger-
shom Scholem. Bielefeld: Aisthesis 2007.
10 Im engeren rhetorischen Sinn meint die Inversion die Umstellung zweier Wörter im
Satz (vgl. Wolfram Groddeck: Reden über Rhetorik. Zu einer Stilistik des Lesens.
Basel, Frankfurt a. M.: Stroemfeld 1995 [Nexus; 7], S. 181). Als Denkfigur spielt
die Inversion darüber hinaus in der Philosophie der Moderne eine tragende Rolle, als
kantische Revolution der Denkungsart, als hegelscher dialektischer Umschlag usw.
Dem Zusammenhang von philosophischen und poetischen Umkehrungen von Kant
bis Celan ist Werner Hamacher nachgegangen (vgl. Werner Hamacher: Die Sekunde
der Inversion. Bewegungen einer Figur durch Celans Gedichte. In: Ders.: Entferntes
Verstehen. Studien zu Philosophie und Literatur von Kant bis Celan. Frankfurt
a. M.: Suhrkamp 1998 [Edition Suhrkamp; 2026], S. 324–368).
6 Messianismus der Inversion: Gershom Scholem 409
gegen die säkularen Protagonisten richten kann, die ihn rhetorisch einsetzen
wie die Revisionisten. So kann sich etwa die religiöse Gewalt der Sprache
eines Tages gegen ihre säkularen Sprecher wenden, welches apokalyptische
Szenario Scholem in dem an Rosenzweig gerichteten »Bekenntnis über unsere
Sprache« entwirft (vgl. Kap. I.4.3). Scholems Begriff von religiöser Tradition,
die plurale Deutungen zulässt und selbst noch den säkularen Standpunkt integ-
riert, wird von zwei Seiten bedroht: von religionsfeindlicher, säkularer Seite,
aber auch von religiöser, theokratischer Seite, die den Spielraum der Tradition
zugunsten einer neuen, verbindlichen religiösen Gesetzesherrschaft aufhebt.
Scholem ist nun kein Gegner der Säkularisierung, sondern es kommt ihm
auf die Qualität der Säkularisierung an.13 Für Scholem gilt es, Säkularisierung
und Religion ins rechte Verhältnis zu setzen. Hiervon hängt für Scholem die
Qualität der Säkularisierung wie des Zionismus ab. Um dieses Verhältnis dar-
zustellen, spielt Scholem ab 1930 mit einer Inversionsfigur, die es ihm erlaubt,
noch das Nichtsein Gottes in der profanen Moderne als eine Form seiner Of-
fenbarung aufzufassen. Scholem greift auf die mystische Inversionsfigur des
»Zimzum« Gottes zurück, die aus der lurianischen Kabbala stammt und deren
geistesgeschichtliche Wirkungsgeschichte von Jacob Böhme über den deut-
schen Idealismus bis hin zum historischen Materialismus reicht.14 Der »Zim-
zum« Gottes beschreibt auf originelle Art die Schöpfung aus dem Nichts. Die-
ses Nichts, aus dem die Welt hervorgeht, ist keine Gott äußerliche Leere, son-
dern aus der Selbstverschränkung Gottes entstanden, der sich in sich selbst
zurückgezogen hat und so den Raum für ein von ihm Unterschiedenes, die
Welt, geschaffen hat. In diesem Schöpfungsmythos gibt es die Säkularisierung
schon von Anfang an, ist der Rückzug Gottes aus der Welt nicht erst eine mo-
derne Erscheinung, sondern schon bei ihrer Schöpfung geschehen. Scholem
hat im »Faszinosum eines sich in sich selber zurücknehmenden Gottes einen
theologischen Glaubenssatz gefunden […], der der entzauberten Moderne
Rechnung trägt, ohne ihr zu verfallen.«15 In der Figur des »Zimzum« begegnet
dem Nihilismus der Moderne, der die Religion überwunden zu haben meint,
ein religiöser Nihilismus. Hat sich Gott schon vor der Erschaffung der Welt in
sich selbst zurückgezogen, so hat sich in der Moderne ein nochmaliger Rück-
zug Gottes ereignet. Dieser Rückzug lässt sich nicht nur als Verschwinden
Gottes, sondern auch als eine besondere Form seiner Offenbarung interpretie-
13 Vgl. Irving Wohlfarth: »Haarscharf auf der Grenze zwischen Religion und Nihilis-
mus«. Zum Motiv des Zimzum bei Gershom Scholem. In: Schäfer und Smith (Hg.),
Gershom Scholem (wie Anm. 12), S. 176–256, besonders S. 196.
14 Ebd., S. 184. Vgl. zum Motiv des »Zimzum« Gottes bei Scholem im Vergleich zu
Molitor auch Christoph Schulte: »Die Buchstaben haben... ihre Wurzeln oben.«
Scholem und Molitor. In: Eveline Goodman-Thau, Gert Mattenklott und Christoph
Schulte (Hg.): Kabbala und Romantik. Tübingen: Niemeyer 1994 (Conditio Judaica;
7), S. 143–164, besonders S. 159–164.
15 Wohlfarth, »Haarscharf auf der Grenze zwischen Religion und Nihilismus« (wie
Anm. 13), S. 185.
6 Messianismus der Inversion: Gershom Scholem 411
ren.16 So wird es nicht nur möglich, noch in der gottverlassenen Welt Spuren
des Göttlichen zu finden, sondern die theologische Fundierung der von Gott
verlassenen Welt schließt die Möglichkeit seiner einstigen Rückkehr ein.17
Diese beiden Aspekte des »Zimzum« bzw. der Selbstverschränkung Gottes in
der Moderne bringt Scholem in seiner Gedenkrede auf Franz Rosenzweig aus
dem Jahr 1930 zum Ausdruck:
Offensichtlich ist also, daß die Themen der Theologie in unserer Generation un-
sichtbar wurden, verborgen sind, Lichter, die ihr Licht nach innen sandten und drau-
ßen nicht wahrgenommen wurden. Der Gott, der in der Psychologie vom Menschen
und in der Soziologie von der Welt vertrieben wurde, wollte nicht länger ausgerech-
net in den Himmeln wohnen, übergab den Thron des strengen Gerichts dem dialekti-
schen Materialismus und den Thron des liebenden Erbarmens der Psychoanalyse,
verschränkt sich ins Geheimnis und offenbart sich nicht. Offenbart er sich wirklich
nicht? Liegt vielleicht gerade in dieser seiner letzten Selbstverschränkung seine Of-
fenbarung? Vielleicht war das Verschwinden Gottes bis zum Punkt des Nicht von
höherer Notwendigkeit und wird sich nur einer Welt, die entleert ist, sein Königtum
offenbaren.18
Überlegungen »Über Jona und den Begriff der Gerechtigkeit« zurück,19 die
sich um die Unanwendbarkeit der geschriebenen Thora drehen, deren Recht
sich im Aufschub der Exekutive – gleichbedeutend mit dem Aufschub der
Tradition – zur Gerechtigkeit wandle. Hierauf begründet der junge Scholem
seinen religiösen Anarchismus. Eine etwas andere Lesart der Unvollziehbar-
keit der Offenbarung gibt Scholem in seinem offenen Brief an Schoeps von
1932. Hier schreibt Scholem, dass die »›absolute Konkretheit‹ des Offenba-
rungswortes« notwendig der historischen Konkretisierung bedürfte: »Ist doch
das absolut Konkrete das Unvollziebare schlechthin, dessen Absolutheit eben
seine unendliche Spiegelung in den Kontingenzen des Vollzugs bedingt.«20
Scholem versteht das Offenbarungswort als selbst bedeutungslos und zugleich
allererst Bedeutung gebend. In seiner absoluten Fülle wäre es zerstörend,
weswegen es der Brechung durch die Tradition bedürfe, die dem Bedeutungs-
losen historisch kontingente Deutungen abgewinnt und es mit dem Index der
Anwendbarkeit versieht. Die Inversion des Bedeutungslosen ins Bedeutsame
kennzeichnet also die symbolische Auslegungspraxis der Tradition überhaupt.
Leitet der frühe Scholem aus der Unanwendbarkeit der schriftlichen Thora
seinen religiösen Anarchismus ab, so gibt er in dem offenen Brief an Schoeps
zu bedenken, dass der Inversionsprozess die Tradition schlechthin konstituiert,
die orthodoxe Tradition eingeschlossen, die das Unanwendbare, die schriftli-
che Thora, anwendbar zu machen bestrebt ist.
Eine noch etwas andere Deutung gibt Scholem dem »Nichts der Offenba-
rung« im Rahmen seiner Debatte mit Benjamin über Kafka. Scholem erklärt
Benjamin, er verstehe darunter einen Stand, in dem die Offenbarung »bedeu-
tungsleer erscheint, in dem sie zwar noch sich behauptet, in dem sie gilt, aber
nicht bedeutet.«21 Scholem spricht eine historische Situation an, in der die
Tradition nicht mehr in der Lage ist, dem Bedeutungslosen der Offenbarung
Bedeutung abzugewinnen. In dieser Situation behauptet sich die Offenbarung
dennoch, sie gilt weiterhin, ohne zugänglich oder verständlich zu sein. Giorgio
Agamben sieht hierin eine Analogie zum politischen Ausnahmezustand, in
dem sich das Gesetz selbst suspendiert und zugleich behauptet: Es wendet sich
auf einen Einzelfall an, indem es sich von ihm abwendet.22 Agamben definiert
sonders S. 169f. Vgl. zu Agambens Theorie des Ausnahmezustands auch Eva Geu-
len: Giorgio Agamben zur Einführung. Hamburg: Junius 2005, besonders S. 73–82.
23 Vgl. Agamben, The Messiah and the Sovereign (wie Anm. 22), S. 171.
24 Eva Geulen macht in Agambens weiterer Beschäftigung mit dem Gesetz eine syste-
matische Ambivalenz aus: »Von der Paulus-Interpretation her gesehen scheint es
ihm darauf anzukommen, das Gesetz durch seine Deaktivierung zu bewahren. Aber
von der ersten homo sacer-Studie her gesehen scheint es umgekehrt darum zu ge-
hen, das Gesetz eben durch die Deaktivierung im messianisch gedachten, radikalen
Ausnahmezustand abzuschaffen« (Eva Geulen: Gründung und Gesetzgebung bei
Badiou, Agamben und Arendt. In: Eva Geulen, Kai Kauffmann und Georg Mein
[Hg.]: Hannah Arendt und Giorgio Agamben. Parallelen, Perspektiven, Kontrover-
sen. Paderborn, München: Fink 2008, S. 59–74, hier: S. 74). Auch wenn Agamben
sich in seiner Lektüre von Paulus’ Römerbrief von der Vorstellung abgrenzt, es gehe
Paulus um die Zerstörung des Gesetzes, so hebt die messianische Deaktivierung des
Gesetzes, die Agamben Paulus zuschreibt (vgl. Giorgio Agamben: Die Zeit, die
bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief. Übers. von Davide Giurato. Frankfurt
a. M.: Suhrkamp 2006, S. 111–113), das Gesetz doch auch als Gesetz auf: Es gilt
nicht mehr und bedeutet nur noch – ein kulturelles Erbe, eine Potenz ohne normative
Verbindlichkeit, wie man Scholems Diktum in Bezug auf Agamben umdrehen kann.
Vgl. zu Agambens antinomischem Messianismus auch Vivian Liska: Zur Aktualität
von Benjamins Erbe. Giorgio Agamben und andere Anwärter. In: Daniel Weidner
(Hg.): Profanes Leben. Walter Benjamins Dialektik der Säkularisierung. Berlin:
Suhrkamp 2010, S. 213–238, besonders S. 233–238.
25 Gershom Scholem: Der Zionismus wird seine Katastrophe überleben… Ende 1924,
TS, JNUL, Gershom-Scholem-Archiv, Arc. 40 1599/277 I 52, S. 1.
414 Teil III
Aufhebung des Gesetzes bleibt bei Scholem wohl unterschieden von dessen
Auflösung. Der orthodoxe, halachische Standpunkt erscheint bei Scholem
zwar nur als ein Aspekt, als eine Deutungsmöglichkeit im Rahmen der jüdi-
schen Tradition. Auf diesen Aspekt kann die Tradition in Scholems Augen
aber offenbar nicht verzichten, ohne sich selbst und damit die jüdische Identi-
tät preiszugeben.
Scholem ist nie nur Historiograph des jüdischen Messianismus gewesen,
sondern zwischen seinen zionistischen Überzeugungen und seiner Geschichts-
schreibung des Messianismus besteht genauso ein enger Zusammenhang wie
zwischen seinen zionistischen Ansichten und seinen Kabbala-Studien.26 Der
frühe Scholem macht sich noch recht vorbehaltlos einen mystischen, verwan-
delnden Messianismus zu eigen, als dessen Zeit er die »ewige Gegenwart«, die
Zeit der Inversion der Zeiten, veranschlagt, in der sich das Recht zur Gerech-
tigkeit wandle. Spätestens mit seiner Ankunft in Palästina (1923) wird Scho-
lem immer aufmerksamer für den dialektischen Zusammenhang zwischen
mystischem und apokalyptischem Messianismus. Gegenüber der rationalen,
säkularisierenden Auslegung des Messianismus als Fortschrittstheorie würdigt
Scholem stets den »apokalyptischen Stachel« des Messianismus, mit dem er
auf dessen subversive Seite anspielt. Die apokalyptische Dimension stellt
Scholem in seinem späten Aufsatz »Zum Verständnis der messianischen Idee
im Judentum« gar ins Zentrum, wenn er betont, dass der jüdische Messianis-
mus »in seinem Ursprung und Wesen […] eine Katastrophentheorie« sei. Ei-
nerseits besagt diese Formel, dass die Katastrophe der Erlösung vorangehe.
Historische Unheilserfahrungen des jüdischen Volkes verbinden sich in dieser
Vorstellung mit Bildern aus mythischem Erbe. Andererseits betont Scholem in
dieser Formel den revolutionären, anarchischen Aspekt des Messianismus, den
er für vitalisierend wie für bedrohlich hält. Das zerstörerische Potential des
Messianismus stellt nach innen eine Gefahr für die Tradition dar, nach außen
kann es sich in einem aggressiven messianischen Nationalismus manifestieren,
sei dieser nun religiös oder säkular ausgerichtet. Gerade aus zionistischer Per-
spektive ist Scholems Haltung gegenüber dem Messianismus daher ambiva-
lent. Es gelingt ihm allerdings nie, Zionismus und Messianismus zu trennen, so
sehr er sich auch in seiner Auseinandersetzung mit den Revisionisten Ende der
20er, Anfang der 30er Jahre darum bemüht. Insofern der Messianismus der
Tradition integral zugehört, Scholem seinen Zionismus aber auf der Tradition
begründet, kann ihm prinzipiell keine Scheidung zwischen Zionismus und
Messianismus gelingen.
26 Vgl. Wohlfarth, »Haarscharf auf der Grenze zwischen Religion und Nihilismus«
(wie Anm. 13), S. 193.
Schlussbemerkung
Am Anfang dieser Arbeit stand die Beobachtung, dass sich ein messianischer
Ton in der Philosophie bis heute erhalten hat. Diese Beobachtung hat einmal
den Anstoß für meine Beschäftigung mit dem jüdischen Messianismus gege-
ben. Denn ich habe mich gefragt, welche Hintergründe der Rückgriff auf den
jüdischen Messianismus in der poststrukturalistischen oder mit dem Poststruk-
turalismus verwandten Philosophie hat. Ich wollte nicht von einer poststruktu-
ralistischen Theorie über den jüdischen Messianismus ausgehen, um aus deren
Perspektive die Texte der hier behandelten Autoren zu betrachten. Vielmehr
ging es mir umgekehrt darum, die Konzepte und Positionen zeitgenössischer
Philosophen besser verstehen und einordnen zu können, indem ich mich mit
den deutsch-jüdischen Intellektuellen beschäftigte, als deren Erbe ich das Fort-
leben des messianischen Tons in der poststrukturalistisch geprägten Philoso-
phie begriff. Vor allem drei Philosophen sind zu nennen, die das messianische
Erbe der deutsch-jüdischen Autoren aus dem ersten Drittel des 20. Jahrhun-
derts bis zur Schwelle des 21. Jahrhunderts getragen haben: Derrida, Agamben
und Levinas. Die beiden letzteren berühren sich mit dem Poststrukturalismus
in wichtigen Punkten – der Kritik an der Präsenz einer autonomen Subjektivi-
tät, an stabiler sprachlicher Bedeutung, an essentialistischen Identitätsbildun-
gen und an einer Substanz-Ontologie –, ohne im Poststrukturalismus gänzlich
aufzugehen oder ihm eine eigene Wendung zu geben wie Derrida mit der De-
konstruktion. Wie erklärt und gestaltet sich der Rückgriff auf die religiöse,
messianische Tradition unter diesen poststrukturalistischen Bedingungen? An
welche Positionen schließen Derrida, Levinas und Agamben an, und wie modi-
fizieren sie sie? Am Schluss dieser Arbeit, die durch die Schriften deutsch-
jüdischer Intellektueller des Kaiserreichs und der Weimarer Republik hin-
durchgegangen ist, soll zumindest die Richtung angezeigt werden, in der eine
Antwort auf diese Frage zu suchen ist.
Wie wir gesehen haben, hatte der Rückgriff auf den jüdischen Messianis-
mus bei den deutsch-jüdischen Intellektuellen des ersten Drittels des 20. Jahr-
hunderts zwei Funktionen: Reflexionsfiguren für den jüdischen Identitätsdis-
kurs und Denkfiguren für die allgemeine Theoriebildung (Sprache, Politik,
Geschichte) hervorzubringen. Nur bei Levinas steht der Rekurs auf den jüdi-
schen Messianismus weiterhin im Zeichen dieser Doppelfunktion, wohingegen
Derrida und Agamben ihn von Fragen jüdischer Identität mehr oder minder
416 Schlussbemerkung
lösen. Levinas selbst hat sich in der Nachfolge von Rosenzweig gesehen.
Trennt Levinas von Rosenzweig auch die Erfahrung der Shoah, so nennt er ihn
doch, »trotz den deutschen Landschaften, in denen sich dieses Leben abspielt,
einen Zeitgenossen und einen Bruder«.1 Levinas teilt mit Rosenzweig den
antitotalitären Impuls, der sich gegen die reduzierenden Totalisierungen in der
Philosophie wie in der Politik richtet, die das Irreduzible, das Singuläre nicht
dulden. Dass Rosenzweig dabei zugleich nicht den Verführungen irrationaler
Lebensphilosophie erlag, macht ihn für Levinas interessant. Hier kommt die
Religion ins Spiel, denn für Rosenzweig sei die Religion, so schreibt Levinas,
»die Ordnung, die es erlaubt, sowohl dem Totalitarismus der Philosophie, die
die Beunruhigung des ›Trotzdem-Individuums‹ verkennt, als auch der Anar-
chie der individuellen Begierden zu entrinnen«.2 »Religion« erscheine bei
Rosenzweig als »Art und Weise, in der das Sein ist«,3 und theologische Begrif-
fe werden als ontologische Kategorien interpretiert, die die Zeitlichkeit und
Relationalität der Elemente des Seins explizieren. Dies kommt Levinas eige-
nem philosophischem Interesse an der »Religion« entgegen. Für Levinas be-
steht die erste Bewegung von Rosenzweig Denken darin, eine ontologische
Interpretation von »Religion« schlechthin zu vollziehen (»Religion« als Sein,
als Leben in der Beziehung); erst eine zweite Bewegung führe von der »Reli-
gion« zum Judentum. Die großen Offenbarungsreligionen treten aber nicht erst
in den Bereich von Rosenzweigs Denken, wenn dieser über die Gestaltungen
der religiösen Gemeinschaften reflektiert, wie Levinas annimmt.4 Vielmehr
wird »Religion« als ontologische Seinsstruktur ja bereits durch die zentralen
theologischen Kategorien der Offenbarungsreligionen: Schöpfung, Offenba-
rung und Erlösung begründet. Levinas beschreibt ungewollt eine petitio pri-
nicpii – ein philosophischer Begriff von »Religion« führt zum Judentum, das
in dem philosophischen Begriff aber schon vorausgesetzt ist –, wohingegen
Rosenzweig keinen Hehl daraus macht, dass sein Denken von einer bestimm-
ten Offenbarungsreligion, ja, von der Offenbarung als »historischem« Ereignis,
seinen Ausgang nimmt. Es wäre der Frage weiter nachzugehen, ob diese peti-
tio principii insgesamt für das, was bei Levinas »jüdisches Denken« heißt,
kennzeichnend ist.
Wie Rosenzweig und Buber denkt Levinas die »ethische Beziehung als reli-
giöse Beziehung«.5 Der erlösende Akt ist der ethische Akt. Anders als die
Philosophie, für die das Selbst das Tor zum Reich des Absoluten sei, lehre das
1 Emmanuel Levinas: Zwischen zwei Welten (Der Weg von Franz Rosenzweig). In:
Ders.: Schwierige Freiheit. Versuch über das Judentum. Übers. von Eva Molden-
hauer. Frankfurt a. M.: Jüdischer Verlag 1992, S. 129–154, hier: S. 132.
2 Ebd., S. 135.
3 Ebd., S. 136.
4 Vgl. ebd., S. 142.
5 Emmanuel Levinas: Eine Religion für Erwachsene. In: Ders.: Schwierige Freiheit.
Versuch über das Judentum. Übers. von Eva Moldenhauer. Frankfurt a. M.: Jüdi-
scher Verlag 1992, S. 21–37, hier: S. 27.
Schlussbemerkung 417
Judentum eine »reale Transzendenz«,6 die nicht anders als in der ethischen
Beziehung zum Anderen erfahren werden könne. Rosenzweig näher als Buber
steht Levinas in dem Primat des Anderen in seiner Dialogphilosophie. Mit
beiden gemeinsam hat er eine ethische Auslegung des jüdischen Messianis-
mus, die über die ethische Beziehung zum Anderen hinaus auf das Streben
nach einer gerechten Gesellschaft verweist.7 Anders als Rosenzweig verurteilt
Levinas nun aber nicht den politischen Messianismus, sondern stellt auch den
Staat Israel in eine messianische Perspektive. Hierin manifestiert sich wohl am
stärksten die durch die Shoah gegebene historische Differenz zwischen Rosen-
zweig und Levinas.
Für Levinas zeigt die ethische Auslegung des Messianismus auf ein »Jen-
seits des Messianismus«.8 Auf dieses »Jenseits des Messianismus« deutet für
Levinas der Ausspruch des Rabbi Hillel hin, den der Talmud überliefert: »Is-
rael hat keinen Messias mehr [zu erwarten], denn es hat die messianische Zeit
schon in den Tagen des Königs Hiskia genossen.«9 Die Position des Rabbi
Hillel drücke aus, dass der politische Messianismus nur für ein primitives
Israel tauge. Demgegenüber gehe Hillel über die Erwartung des Messias als
eines individuellen Heilsbringers und Königs hinaus, womit er zugleich den
Messianismus als Politik, als »Heil durch Stellvertretung«,10 hinter sich lasse.
Levinas schließt sich der Meinung der Kommentatoren ein, die in Hillels Aus-
spruch die Überzeugung ausgedrückt finden, dass Israel nicht mehr erwarte,
von einem Messias, sondern von Gott selbst gerettet zu werden: »Was ist ein
Volk, das nur Gott zum König hat, konkret anderes als eine Existenz, in der
nichts stellvertretend geschieht, in der jeder einzelne ganz und gar seiner Wahl
gegenwärtig ist? Unmittelbare Beziehung zwischen Gott und dem Menschen,
ohne politische Vermittlung.«11 Der Messias stelle keine mythische Figur mehr
dar, sondern werde zur »persönlichen Berufung des Menschen«,12 der seine
»universale Verantwortung«13 erkenne. Was Levinas »Jenseits des Messianis-
mus« nennt, steht Bubers Vorstellung des »Urmessianismus« als »Königtum
Gottes« sehr nahe, das ebenfalls ohne die Gestalt des Messias als Gesalbten
auskommt (vgl. JCM VIII 5; JCMZ 26). Man sollte sich den Blick für die
6 Ebd., S. 28.
7 Vgl. ebd., S. 34: »Unterordnung aller möglichen Beziehungen zwischen Gott und
den Menschen […] unter die Schaffung einer Gesellschaft, in der die Gerechtigkeit
nicht nur Wunsch der individuellen Frömmigkeit bleibt, sondern stark genug ist,
sich auf alles zu erstrecken und Wirklichkeit zu werden. Vielleicht ist es diese Geis-
teshaltung, der die Bezeichnung jüdischer Messianismus gebührt.«
8 Emmanuel Levinas: Messianische Texte. In: Ders.: Schwierige Freiheit. Versuch
über das Judentum. Übers. von Eva Moldenhauer. Frankfurt a. M.: Jüdischer Verlag
1992, S. 58–103, hier: S. 84.
9 Ebd., S. 85.
10 Ebd., S. 87.
11 Ebd., S. 88.
12 Ebd., S. 93.
13 Ebd., S. 96.
418 Schlussbemerkung
Nähe Levinas’ zu Buber nicht durch seine Kritik an Bubers Version der Dia-
logphilosophie verstellen lassen und pauschal von »Distanz zu Buber, Nähe zu
Rosenzweig«14 sprechen.
Wie verhalten sich nun ethischer und politischer Messianismus zueinander
bei Levinas? Solange das Judentum ein »Volk außerhalb der Völker«15 gewe-
sen sei, das in der Geschichte und der Politik keinen Sinn gesehen habe, habe
ein rein ethisch-religiöser Messianismus vertreten werden können. Nicht erst
mit der Gründung des Staates Israel, sondern bereits mit der Emanzipation
habe sich die Situation aber verändert, insofern sich das Judentum den politi-
schen Formen und der Geschichte der Völker geöffnet habe. Levinas versucht
nun, das Verhältnis von Ethik und Politik, ethischem und politischem Messia-
nismus, das zu reflektieren für ihn durch die Gründung des Staates Israel zur
unumgänglichen Aufgabe wird, mit der Formel eines »jenseits in« zu fassen,
eines Jenseits des Staates im Staat.16 Die Aufgabe der messianischen Politik
zielt auf ihr eigenes Jenseits, auf ein Jenseits des Staates. Der moderne Staat,
der in Israel gegründet wurde, liefert nur mehr den politischen Rahmen, um
darüber nachzudenken und herauszufinden, was eine monotheistische Politik
sein könnte, die es erst zu (er-)finden gilt: »At the heart of the daily conflicts,
the living experience of the government – and even the painful necessities of
the occupation – allow lessons as yet untaught to be detected in ancient Reve-
lation.«17 Letztlich tun sich auch bei Levinas wieder die Probleme auf, die wir
schon bei Buber feststellen konnten: die messianische Ethik, die zu einer ande-
ren Politik als der Real- und Machtpolitik führen soll, kann selbst wieder zur
Legitimation von Machtpolitik werden, wovon Levinas’ Rede von den »pain-
ful necessities of the occupation« Zeugnis ablegt.
Anders als Levinas, der für sein Konzept des Messianismus zu den jüdi-
schen Quellen zurückgeht und der den jüdischen Messianismus im Zusam-
menhang mit jüdischen Identitätsfragen diskutiert, umkreist Derrida ein »Mes-
sianisches ohne Messianismus«, das sich an keine Tradition gebunden fühlt.
Derrida definiert das »Messianische ohne Messianismus« als »universale
Struktur der Erfahrung«,18 die sich auf keinen religiösen Messianismus redu-
zieren lasse. Das Messianische richte sich auf das »Ereignis dessen, der (das)
25 Vgl. ebd., S. 91. Vgl. grundsätzlich zu diesem Thema ders.: Glaube und Wissen. Die
beiden Quellen der ›Religion‹ an den Grenzen der bloßen Vernunft. Übers. von Ale-
xander García Düttmann. In: Jacques Derrida und Gianni Vattimo (Hg.): Die Religi-
on. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001 (Edition Suhrkamp; 2049), S. 9–106.
26 Vgl. ebd., S. 80.
27 Giorgio Agamben: Die Zeit, die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief. Übers. von
Davide Giurato. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2006, S. 162.
28 Ebd., S. 11.
29 Ebd., S. 29.
30 Ebd., S. 111.
31 Ebd., S. 26.
Schlussbemerkung 421
sondern ordnet ihn der jüdischen Tradition zu, die Paulus zugleich überschrei-
te, ohne eine neue religiöse Identität zu stiften. Überhaupt meint Agamben,
dass Paulus das Leben von einer messianischen Berufung her zu denken gebe,
die kein Recht, keinen Besitz und keine Identität konstituiere: »Messianisch zu
sein, im Messias zu leben, bedeutet die Enteignung jedes juristisch-faktischen
Eigentums in der Form des Als-ob-nicht (beschnitten/unbeschnitten; Frei-
er/Sklave; Mann/Frau). Aber diese Enteignung gründet keine neue Identität:
Die ›neue Schöpfung‹ ist nur der Gebrauch und die messianische Berufung der
alten«.32 Als die paulinische Formel des messianischen Lebens erkennt Agam-
ben das »hǀs mƝ«, das »Als-ob-nicht«, aus 1. Kor 7,29–32: »Dies aber sage
ich, Brüder, die Zeit ist zusammengedrängt. Was bleibt, ist, damit die Frauen
Habende als ob nicht Habende seien und die Weinenden als ob nicht Weinende
und die sich Freuenden als ob nicht sich Freuende und die Kaufenden als ob
nicht Behaltende und die die Welt Nutzenden als ob nicht Nutzende. Es ver-
geht nämlich die Gestalt dieser Welt. Ich will aber, daß ihr ohne Sorge seid.«33
Für Agamben drückt sich im paulinischen »hǀs mƝ« keine »eschatologische
Indifferenz« aus, die sich aus der Naherwartung der ersten christlichen Ge-
meinschaft erklären würde, wie noch Max Weber meinte.34 Das »hǀs mƝ« als
Formel der messianischen Berufung setze vielmehr jedes Wesen und jeden
Ausdruck in ein Spannungsverhältnis zu sich selbst. Solcherart zu sich selbst
in Bezug gebracht, werden juristisch-faktische Zustände widerrufen und in
Frage gestellt, ohne ihre Form zu verändern. Es werden dabei die faktisch-
juristischen Zustände nicht durch andere ersetzt, sondern deaktiviert, unwirk-
sam gemacht, um sie auf ihren wahren Gebrauch hin zu öffnen.35 Agamben
sieht im paulinischen »hǀs mƝ« folglich keine Gleichgültigkeit gegenüber den
weltlichen Verhältnissen, sondern den Hinweis auf eine andere messianische
Lebenspraxis: auf einen spezifischen Gebrauch weltlicher Zustände, deren
Zufälligkeit und Uneigentlichkeit durch das messianische Ereignis zum Vor-
schein gekommen seien. Im paulinischen »hǀs mƝ« gehe es nicht um die An-
eignung des als uneigentlich Erkannten, sondern um dessen freien Gebrauch.
Als Deaktivierung, nicht als Zerstörung des Gesetzes fasst Agamben auch
den paulinischen Glauben auf. Die berühmte paulinische Gegenüberstellung
von Gesetz und Glauben beschreibe keine einfache Antithese, sondern ein
kompliziertes Verhältnis von Deaktivierung und zugleich Erfüllung des Geset-
zes im Glauben. Agamben versucht auf diese Weise, die scheinbaren Wider-
32 Ebd., S. 37.
33 Diese Übersetzung stellt die deutsche Wort-für-Wort-Übersetzung von Agambens
italienischer Interlinearübersetzung des griechischen Originals nach der von Eber-
hard Nestle besorgten kritischen Edition dar (vgl. Novum Testamentum graece et la-
tine. Hg. von Eberhard Nestle und Kurt Aland. Ed. 22. United Bible Societies, Lon-
don. Stuttgart: Priv. Württembergische Bibelanst. 1963). Vgl. Agamben, Die Zeit,
die bleibt (wie Anm. 27), S. 34.
34 Vgl. ebd., S. 33.
35 Vgl. ebd., S. 39.
422 Schlussbemerkung
Ich freue mich, an dieser Stelle all denen danken zu können, die mir während
meiner Promotionszeit mit Rat und Tat beigestanden haben. Hartmut Böhme
hat mir durch kritische methodische Reflexion geholfen, das Forschungsvor-
haben konzeptuell zu klären, Problemstellen zu erkennen und zu einer analyti-
schen Schärfe der Argumentation zu finden. Ulrich Wergin hat mich mit auf-
merksamem Verständnis in der Entwicklung der Studie begleitet und mir viele
wertvolle Denkanstöße gegeben, insbesondere im literatur- und sprachtheoreti-
schen Bereich. Ihnen beiden möchte ich danken, dass sie meine Dissertation
akademisch betreut und gefördert haben. Die Dissertation ist im Rahmen des
DFG-Graduiertenkollegs »Codierung von Gewalt im medialen Wandel« (HU
Berlin) entstanden. Von den Präsentationen im Kolleg und den Diskussionen
mit den beteiligten ProfessorInnen und den KollegiatInnen hat meine Arbeit
stark profitiert. Das Jahr, das ich in Jerusalem als Fellow am »Franz Rosen-
zweig Minerva Forschungszentrum für deutsch-jüdische Literatur- und Kultur-
geschichte« unter der Leitung von Steven Aschheim verbringen durfte, hat mir
die Gelegenheit zu einem intensiven Austausch über meine Arbeit und vieles
andere mehr gegeben. Von großem Vorteil war es, die Archivbestände der
Jewish National and University Library in meiner Arbeit berücksichtigen zu
können. Die fachlichen und freundschaftlichen Gespräche mit Leena Petersen
auf dem Balkon unserer Jerusalemer Wohnung ragen in der Erinnerung heraus.
Wichtige sachliche Anregungen hat die Arbeit außerdem in unterschiedlichen
Stadien erhalten von Brian Britt, Ilit Ferber, Jürgen Fohrmann, Nicola Gess,
Johan Hartle, Heike Krajzewicz, Arndt Kremer, Ethel Matala de Mazza, Christi-
an Nilsson, Ashraf Noor, Martin Treml, Joseph Vogl, Sigrid Weigel und Roland
Wicher. Korrektur gelesen und dabei so anregend wie kritisch kommentiert
haben Julia Anspach, Sarah Maria van Dawen, Maren Dubbels, Anna Echterhöl-
ter, Daniel Eschkötter, Claudia Hein, Katja Rothe und Anja Vieths. Sehr ge-
freut habe ich mich über die Aufnahme meiner Dissertation in die Conditio
Judaica Reihe durch Hans Otto Horch. Doris Vogel hat die Arbeit engagiert
und professionell für den Druck eingerichtet sowie lektoriert.
Abkürzungsverzeichnis
JNUL Jewish National and University Library, Jerusalem
MBA Martin-Buber-Archiv in der Jewish National and University Library,
Jerusalem
MS Manuskript
TS Typoskript
Siglenverzeichnis
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426 Literaturverzeichnis
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Buber, Martin: Staat und Gemeinschaft. Februar 1924, TS, JNUL MBA Arc. Ms. Var.
47e/Beth.
Buber, Martin: Stuttgarter Gespräch. 17.02.1929, TS, JNUL MBA Arc. Ms. Var.
43a/Zajin.
Buber, Martin: Zur Geschichte des Messianismus. MS, JNUL MBA Arc. Ms. Var. 350
65 He.
Landauer, Gustav: Zum Thema »Gott« und zum Thema »Revolution«… MS, JNUL,
Gustav-Landauer-Archiv, Arc. Ms. Var. 432/157.
Landauer, Gustav: Religion. MS, JNUL, Gustav-Landauer-Archiv, Arc. Ms. Var .432
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Scholem, Gershom: Nach 15 Jahren: Selbstbetrug? 24.12.1930, TS, JNUL, Gershom-
Scholem-Archiv, Arc. 40 1599/277 I 72.
Scholem, Gershom: Sprachbekenntnis. 1925, TS, JNUL, Gershom-Scholem-Archiv,
Arc. 40 1599/277 I 56.
Scholem, Gershom: Die Verzweiflung des Siegenden. 12.04.1926, TS, JNUL, Gers-
hom-Scholem-Archiv, Arc. 40 1599/277 I 57.
Scholem, Gershom: Der Zionismus wird seine Katastrophe überleben… Ende 1924,
TS, JNUL, Gershom-Scholem-Archiv, Arc. 40 1599/277 I 52.
2 Veröffentlichte Texte
Bibelzitate folgen, wenn nicht anders angegeben, unter Angabe von Buch, Kapitel und
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