Dorothea Redepennig - Dostojewskij - Opernbühne
Dorothea Redepennig - Dostojewskij - Opernbühne
Dorothea Redepennig - Dostojewskij - Opernbühne
13-42
DOROTHEA REDEPENNING
Universität Heidelberg
Musik und Literatur sind seit alters her Schwestern oder Freundinnen, die,
wenn sie sich zusammentun, ihre Kreativität aus dem Spannungsfeld von
Gemeinsamkeiten und Gegensätzen entfalten. Formale Gesetzmäßig-
keiten eines Gedichts (Reimstruktur, Versmaß, Strophenbau) und die
internen Prinzipien musikalischer Formbildung (Periodizität, harmonische
und melodische Halb- und Ganzschlussbildungen), dazu die semantische
und die emotionale Dimension in textlicher und musikalischer Auslegung
– dieses Spannungsfeld findet im Lied stets neue, individuelle Lösungen.
Eine poetische Form wie das Sonett zum Beispiel fordert Komponisten
bis in die Gegenwart heraus.1 Seit den Anfängen der Oper (um 1600)
ringen Literaten und Musiker mit dem Problem, dass ihre Künste
unterschiedliche Zeitverhältnisse zu ihrer Entfaltung brauchen. Musik
kommt, um sich „ausleben“ zu können, auch ohne Text aus. Für die
1
Vgl. dazu Sara Jeffe: Modi di cantar sonetti – Zur Geschichte der Sonettvertonungen bis
ins 20. Jahrhundert, in Vorbereitung.
14 Dorothea Redepenning
Literatur heißt das, dass sie Rücksicht nehmen muss auf die Weitschwei-
figkeit der Musik – eine abendfüllende Oper braucht viel weniger Text als
ein Drama. So entwickelten sich das Libretto – das kleine Buch – und die
Scheidung von Rezitativ und Arie, also von einem formalen Ort für den
Text, in dessen Dienst sich die Musik stellt, und einen formalen Ort für
die Musik, in deren Dienst das Wort in den Hintergrund tritt. „Prima la
musica e doppo le parole“ oder umgekehrt „Prima le parole e doppo la
musica“ lautet die Streitfrage, die diskutiert wird, wann immer Musik und
Literatur sich verbinden.2
Das Libretto erscheint in solcher Perspektive als defizienter Modus
von Literatur – Gelegenheitsarbeit für Schriftsteller und kein Forschungs-
gegenstand der Literaturwissenschaft. Librettologie als literatur-
wissenschaftliche Disziplin entstand erst Ende das 20. Jahrhunderts.3 Die
Oper suchte sich ihre Stoffe zunächst nicht bei der Literatur ihrer Zeit
sondern in der Antike. Ovids Metamorphosen sind die Quelle für
ungezählte Libretti; gleichermaßen beliebt waren von Anfang an Sujets
aus der antiken Mythologie wie Orpheus und Euridike oder Dafne, auch
antike Herrscher und Feldherren wie Alexander der Große oder Kleo-
patra, ebenso Gestalten aus dem Alten Testament. Eine Lieblingsfigur der
Oper bis hinauf ins 19. Jahrhundert ist Dido, gelegentlich auch als Dido
und Äneas; Alexander Reischert nennt 148 Opern, die auf die unglück-
liche Liebesgeschichte aus Vergils Aeneis zurückgehen.4 Die Vorstellung,
ein großes und autonomes literarisches Werk als Ganzes oder gar einen
Roman als Grundlage für ein Libretto zu wählen, lag Opernkomponisten
lange Zeit fern. Erst mit der großen Walter-Scott-Mode Anfang des 19.
Jahrhunderts begann man, Romane in versifizierte Libretti zu verwandeln.
The Bride of Lammermoor, Ivanhoe, Kenilworth und andere Scott-
Romane5 beherrschten als Opern die europäischen Bühnen des 19.
2
Antonio Salieri verfasste 1786 ein „Divertimento teatrale“ mit dem Titel Prima la
musica e poi le parole; der Streit ist das Thema in Richard Strauss’ Capriccio, einem
einaktigen „Konversationsstück für Musik“ auf ein Libretto von Stefan Zweig, Joseph Gregor,
Clemens Krauss, Richard Strauss und Hans Swarowsky (Uraufführung 28.10.1942 in
München).
3
Als erste Arbeiten sind zu nennen Steven Paul Scher (Hrsg.): Literatur und Musik. Ein
Handbuch zur Theorie und Praxis eines komparatistischen Grenzgebiets. Berlin 1984; Albert
Gier (Hrsg.): Oper als Text: Romanistische Beiträge zur Libretto-Forschung. Heidelberg
1986; Hans Joachim Kreutzer: Obertöne: Literatur und Musik. Neun Abhandlungen über das
Zusammenspiel der Künste. Würzburg 1994; Albert Gier und Gerold W. Gruber (Hrsg.):
Musik und Literatur. Komparatistische Studien zur Strukturverwandtschaft. Frankfurt 1997.
4
Alexander Reischert: Kompendium der musikalischen Sujets. Kassel 2001.
5
The Bride of Lammermoor als Le Calech de W.S. von Adolphe Adam (1827), als Le
Nozze di Lammermoor von Michele Carafa (1829), als La Findanzata di Lammermoor von
Dostojewskij auf der Opernbühne 15
Jahrhunderts, und zwar deshalb, weil sich in ihnen die Option zur
Beschränkung auf eine einfache Personkonstellation, zur emotionalen
Aufladung und zu einem pittoresken Ambiente anbietet. Da ist es kein
Wunder, dass von Victor Hugos historischen Romanen allein Notre Dame
de Paris. 1482 als Libretto-Vorlage gedient hat.6 Vor einem solchen
Hintergrund muss die Vorstellung, aus Romanen wie den Brüdern
Karamasow oder Schuld und Sühne eine Oper zu machen, geradezu
absurd erscheinen.
Des Problems, dass unter den Bedingungen der Oper die Musik die
Literatur bevormundet, waren Komponisten sich sehr wohl bewusst. Sich
auf Christoph Willibald Gluck und dessen Opernreform berufend machte
sich Richard Wagner an die Aufgabe, die Operngeschichte zu revidieren
und in seiner Konzeption des Musikdramas eine Verschmelzung beider
Künste herbeizuführen, die er durch die Personalunion von Dichter und
Komponist verwirklicht glaubte.7 Beginnend mit Lohengrin ist die
Trennung von Rezitativ und Arie aufgehoben zugunsten einer Textdekla-
mation, die den Intonationen der Sprache und der emotionalen Schattie-
rung des Gesagten folgt. Ein symphonisch durchgearbeiteter und sympho-
nischen Prinzipien gehorchender Orchestersatz mit den typischen
Luigi Rieschi (1831), als Bruden fra Lammermoor von Ivar Frederik Bredal (1832 – mit
einem Libretto von Hans Christian Andersen), als La Findanzata di Lammermoor von Alberto
Mazzucato (1834), als Lucia di Lammermoor von Gaetano Donizetti (1835). – Ivanhoe als
Ivanhoé von Gioachino Rossini (1826), als Der Templer und die Jüdin von Heinrich
Marschner (1829), als Ivanhoe von Giovanni Pacini (1832), als Il Templario von Otto Nicolai
(1840), als Rebecca von Bartolomeo Pisani (1865), als Ivanhoe von Arthur Sullivan (1891). –
Kenilworth als Leichester, ou Le château de Kenilworth von Daniel F. E. Auber (1823), als
Elisabetta al castello di Kenilworth von Gaetano Donizetti (1829), als Festen paa Kenilworth
von Christoph E.F. Weyse (1836 – auch mit einem Libretto von Hans Christian Andersen), als
Fest zu Kenilworth von Eugen Seidelmann (1843), als Conte di Leicester von L. Baclia
(1851), als Amy Robsart von Isidore de Lara (1893), als Kenilworth von Bruno Oskar Klein
(1895).
6
Als La Esmeralda von Louise Bertin (1836), als ösmeral’da von Alexander
Dargomyshskij (1847), als Notre Dame de Paris von William Henry Fry (1864), als
Esmeralda von Arthur Goring Thomas (1883), als Notre-Dame von Franz Schmidt (1914).
7
Dargelegt in der Abhandlung Oper und Drama. Der Terminus Musikdrama gefiel
Wagner nicht (vgl. den Artikel Über die Benennung „Musikdrama“, in: Sämtliche Schriften
und Dichtungen, Bd. 9, auch: Digitale Bibliothek Bd. 107, Richard Wagner: Werke, Schriften
und Briefe) hat sich dennoch eingebürgert.
16 Dorothea Redepenning
Leitmotiven8 bildet die Basis für die Singstimmen. Mit diesem neuen
Opernkonzept sahen sich die russischen Komponisten konfrontiert,9 als
sie Ende der 1860er Jahre begannen, einen russischen Operntypus zu
kreieren. Weil niemand von ihnen zugleich Dichter und Komponist war,
griffen sie zu den anspruchsvollsten literarischen Werken ihrer Zeit.
Alexander Dargomyshskij vertonte 1868/69 Alexander Puschkins
Steinernen Gast, ohne den Text in ein Libretto zu verwandeln, als ein
durchlaufendes Rezitativ,10 ein Verfahren, das man Opéra dialogué
nannte. Nach dem gleichen Prinzip machte Modest Musorgskij aus
Nikolaj Gogols Komödie Die Heirat11 eine Oper. Damit begann in
Russland, deutlicher als in Westeuropa, die Tradition, anerkanntermaßen
hoch stehende Literatur, sei es mit oder ohne zwischengeschaltetes
Libretto, als Grundlage für Opern zu verwenden.12 Das gilt für Musorg-
skijs Boris Godunow (Puschkin) ebenso wie für Nikolaj Rimskij-
Korsakows Mainacht und Nacht vor Weihnachten (beide nach Gogol),
Snegurotschka (Alexander Ostrowskij), das Märchen vom Zaren Saltan
und der Goldene Hahn (beide nach Puschkin), wie für Peter
Tschajkowskijs Jewgenij Onegin und Pique Dame (beide nach Puschkin)
und viele andere Opern russischer Komponisten. Angesichts dieser
Vorliebe für die eigenen Schriftsteller ist es erstaunlich, dass niemand
8
Der Terminus geht auf Hans von Wolzogen zurück, den Herausgeber der seit 1878
erscheinenden Bayreuther Blätter; Wagner spricht von „charakterisierenden“ oder
„charakteristischen Motiven“.
9
Vgl. dazu Abram Gozenpud: Richard Vagner i russkaja kul’tura (R.W. und die russische
Kultur), Leningrad 1990; Dorothea Redepenning: Die russische Opernästhetik und Richard
Wagner. Zur Wagner-Rezeption um 1870, in: Vierzehn Beiträge (nicht nur) über Richard
Wagner, hrsg. von Christa Jost (= Musikwissenschaftliche Schriften der Hochschule für
Musik und Theater München Bd. 4). Tutzing 2006, S. 241-256.
10
Auf Dargomyshskijs Vertonung des Steinernen Gasts folgten Rimskij-Korsakows
Vertonung von Mozart und Salieri (1898), Cesar Cuis Gelage während der Pest (1900) und
Sergej Rachmaninows Geiziger Ritter (1906).
11
1868 begonnen. Die Oper blieb Fragment. Rimskij-Korsakow hat es 1908
veröffentlicht, Alexander Gauk instrumentierte es 1917; vervollständigte Fassungen stammen
von Alexander Tscherepnin (1926), Michail Ippolitow-Iwanow (1931) und neuerdings von
Gennadij Roshdestwenskij (1982).
12
Giuseppe Verdis Opern nach Schiller (Giovanna d'Arco, 1845, Masnadieri, nach den
Räubern, 1847, Luisa Miller nach Kabale und Liebe, 1849, und Don Carlos, 1867) und nach
Shakespeare (Otello, nach Othello, 1887, und Falstaff, nach The Merry Wives of Windsor,
1893) haben zwischengeschaltete Libretti. Italienische Opern wurden vom Zarenhof in
großem Stil gefördert; den russischen Komponisten galten sie als rückschrittlich, auch Verdi
wurde, anders als Wagner, nicht als Herausforderung wahrgenommen.
Dostojewskij auf der Opernbühne 17
unter den Komponisten des 19. Jahrhunderts auf die Idee kam, etwa
Erzählungen Dostojewskijs als Opernsujet zu verwenden.13
Der Terminus „Literaturoper“, den die Musikwissenschaft angesichts
von Werken wie Claude Debussys Pélleas et Mélisande (1902, Maurice
Maeterlinck) und Alban Bergs Wozzeck (1925, Jakob Michael Reinhold
Lenz) prägte,14 gilt zuerst für diese russischen Opern. Motiviert ist ihr
kompositorischer und ästhetischer Ansatz über das Bestreben, den
musikgenerierten Kontrast zwischen Rezitativ und Arie aufzuheben
zugunsten einer Textartikulation durch Gesang, bei der der Wortsinn eben
nicht durch Ornamentik und Virtuosität aller Art aufgehoben wird. Der
Schritt hin zu mehr Gleichberechtigung zwischen den beiden beteiligten
Künsten lässt sich um die Wende zum 20. Jahrhundert überall in Europa
beobachten.
17
Vgl. dazu Redepnning, Geschichte (wie Fußn. 16), Bd. 1, S. 135f.
18
In vorrevolutionärer Zeit kamen als Polnoe sobranie sočinenij F. M. Dostoevskago 12
Bände heraus, Petersburg 1894-1895; und 1904-1906. Vgl. jetzt Dostoevskij, F. M.: Polnoe
sobranie sočinenij. 30 Bde. Leningrad: „Nauka“ 1972-1990, erste komplette Gesamtausgabe
mit Werkstattnotizen, allen publizistischen Schriften und Briefen. Von 1911 bis 1958
erschienen insgesamt vier Ausgaben der Gesammelten Werke auf Russisch, davon eine bei
Ladyschnikow in Berlin. 1919-1922. Zum Detail vgl. F. M. Dostoevskij. Bibliografia
proizvedenij Dostoevskogo i literatury o nem 1919-1965. Moskau: „Kniga“ 1968. Darin auch
die Ausgaben einzelner Werke, 1918 bis 1965.
20 Dorothea Redepenning
19
Die Oper wurde während des Krieges an 20 verschiedenen deutschen Theatern
aufgeführt.
20
Gleich nach Kriesgende wurden im noch zerbombtem Darmstadt internationale
Sommerkurse eingerichtet, die als „Darmstädter Ferienkurse“, auch als „Darmstädter Schule“
ein feste Institution der neuen Musik wurden.
21
Bei der Uraufführung am 1.9.1952 bei den Berliner Festwochen übernahm Klaus
Kinsky die Titelpartie.
22
Damit beginnt die Kooperation der beiden Künstler, aus der u.a. das Hörspiel Die
Zikaden (1952) und die Opern Der Prinz von Homburg (1960) und Der junge Lord (1965)
hervorgingen. Vgl. dazu Antje Tumat: Dichterin und Komponist:Ästhetik und Dramaturgie in
Ingeborg Bachmanns und Hans Werner Henzes „Prinz von Homburg“. Kassel 2004.
23
Uraufführung dieser Fassung am 8.1.1960 in Berlin. 1990 hat Henze den Idioten
nochmals überarbeitet; Uraufführung dieser Fassung am 29.3.1996 in Basel.
Dostojewskij auf der Opernbühne 21
Notti bianche (1973), Werke die allein der Bezug zu Dostojewskij und die
Sprache verbindet. Rossinelli ist dem italienischen Opern-Realismus des
späten 19. Jahrhunderts treu geblieben; Bucchi dagegen schätzt das
Experiment und die Groteske. Il coccodrillo besteht aus 32 kurzen
Episoden, in denen heterogenste Stilmittel – gesprochene Abschnitte,
Lieder, orchestrale Partien, Filmprojektionen, Schauspiel, Tanz – zu
einem multimedialen Spektakel zusammentreten. Chailly ist ein Serialist,
dessen Schaffen sich auf „lyrische Opern“ konzentriert, auch L’idiota ist
eine opera lirica. Cortese gehört zur älteren Generation und ist stilistisch
eher dem französischen Neoklassizismus verpflichtet. Seine Entscheidung
für Dostojewskij mag auch über Viscontis Film motiviert sein.
Gänzlich anders stellen sich die beiden russischen Dostojewskij-
Opern um 1970 dar. Jurij Buzkos Weiße Nächte, 1968 entstanden, wurden
1969 in einer Rundfunkübertragung aufgeführt; Gleb Sedelnikows Arme
Leute (1973/74 entstanden) sind offenkundig eine Reaktion auf die
damals in Angriff genommene Gesamtausgabe, deren erster Band 1972
unter dem Sammeltitel Bednye ljudi. Povesti i rasskazy herauskam. Beide
Opern sind extrem klein besetzt, Buzko, der Dostojewskijs Untertitel
Sentimentaler Roman. Aus den Erinnerungen eines Träumers (Sentimen-
tal’nyj roman. Iz vospominanija mečtatelja) in Sentimentale Oper
(Sentimental’naja opera) verwandelt, sieht nur die beiden Personen und
ein Kammerorchester vor. Sedelnikow lässt die beiden Personen in Arme
Leute von einem Streichquartett begleiten. Dieses Interesse an Dosto-
jewskij steht im Zusammenhang mit einer Abkehr von der großen
repräsentativen sowjetischen Oper. Ihre Kennzeichen waren heroische
Figuren, große Volkschöre, auch Tanzeinlagen, breite symphonische
Ausführung mit großem Orchester und eine im sowjetischen Sinne
korrekte politische Botschaft. Dem setzte die Generation, die Mitte der
1960er Jahre an die Öffentlichkeit trat, ein bescheidenes Opernkonzept
entgegen, die „Mono-Oper“ (mono-opera), idealiter der Monolog einer
Person auf der Bühne, eine Konzeption also, die das Aufgehen des
Individuums im Kollektiv und die festliche Apotheose von vornherein
unterbindet. Neben Buzkos und Sedelnikows Dostojewskij-Vertonungen
steht eine ganze Reihe von Werken auf Gogol-Texte, darunter die
Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen (Zapiski sumasšedšego) 1964 von
Buzko, eine Oper darüber, wie sich Iwan Ivanovitsch und Iwan Nikiforo-
witsch zerstritten (Opera o tom, kak possorilsja Ivan Ivanovič s Ivanom
Nikiforovičem) 1971 von Gennadij Banschtschikow, Der Mantel (Šinel’)
und Die Kutsche (Koljaska), beide 1971 von Alexander Cholminow, auch
eine Vertonung des Tagebuchs der Anne Frank (Dnevnik Anny Frank)
22 Dorothea Redepenning
24
Zum Kapitel Mono-Oper vgl. Redepnning, Geschichte (wie Fußn. 16), Bd. 2, S. 624-
632.
25
Eine erste Fassung in fünf Akten entstand 1941-1943; mehrfache Überarbeitung
zwischen 1946 und 1952, eine Fassung letzter Hand existiert nicht.
26
Der Ukrainer Volodymyr Huba firmiert in sowjetischen Lexika und sowjetischen
musikwissenschaftlichen Publikationen unter Vladimir Guba, er ist hier den russischen
Komponisten zugerechnet.
Dostojewskij auf der Opernbühne 23
27
Das positive Interesse an Dostojewskij dokumentiert: Vlastitel’ dum. F. M. Dostoevskij
v russkoj kritike konca XIX – načala XX veka, Ašimbaeva, Natal’ja (Hg.). St. Petersburg
1997.
28
Sergej Šlifštejn – Sergej Schlifstein, (Hrsg.): S. S. Prokof’ev. Materialy, Dokumenty,
Vospominanja, Moskau 1956, 21962, deutsch von Felix Loesch als: Sergej Prokofjew.
Dokumente, Briefe, Erinnerungen. Leipzig 1965, S. 169.
29
Eckart Kröplin: Frühe sowjetische Oper. Schostakowitsch, Prokofjew. Berlin (DDR)
1985. S. 301.
30
Maksim Gor’kij: O karamazovščine und Eščë raz o karamazovščine, beide 1913.
31
Prokofjews Biograph Israil Nestjew geht mit der Oper, der Lesart des Sozialistischen
Realismus folgend, hart ins Gericht: „Der Komponist kehrt sehr selten zu seinen Leitmotiven
zurück, wodurch beim Publikum der Eindruck der Formlosigkeit entsteht. Die Partitur zeigt
häufig sich wiederholende, ostinate Figuren, die weniger die Details der Handlung illustireren
als vielmehr eine allgemeine Atmosphäre der Spannung oder des Spottes schaffen. Zudem
sind diese Orchesterpartien, wie überhaupt ein großer Teil der Musik des Spielers, überreich
mit komplizierten polytonalen Harmonien und absichtlich farblosen Quintklängen
ausgestattet, die das Karikaturistische des Ganzen unterstreichen.“ Nest’ev: Prokof’ev,
Moskau 1957, deutsch als I. Nestjew: Prokofjew. Der Künstler und sein Werk, übersetzt von
Christa Schubert-Consbruch. Berlin (DDR) 1962, S. 123.
24 Dorothea Redepenning
32
Šlifštejn (wie Anm. 28). S. 190f.
Dostojewskij auf der Opernbühne 25
Notenbeispiel I
26 Dorothea Redepenning
(Der General nimmt einen Stuhl und stellt ihn mit scharfem Blick vor sich hin.)
General (zum Stuhl)
33
Russischer Text nach http://az.lib.ru/d/dostoewskij_f_m/, Volltext des Spielers:
http://az.lib.ru/d/dostoewskij_f_m/text_0050.shtml (28.2.2010).
Dostojewskij auf der Opernbühne 27
да-с, вы еще не знали этого? Ja, haben Sie denn das noch nicht
gewusst?
Так вот узнаете, так вот узнаете, Jawohl, so ist es, jetzt wissen Sie’s, mein
сударь. Bester.
У нас таких старух в дугу гнут. Bei uns wird solch ein Weib geknechtet,
В дугу! В дугу! В дугу! В дугу, сударь! auf’s Rad, mein Herr!
(geht wieder zur Tür der Großmutter und stößt auf Potapyč.)
Г. Что, на конец, тебе тут надо? Was hast du, Alter, hier zu suchen?
П. Генеральша не велели вас пускать. Die Gestrenge gab Befehl, empfangen
nicht.
Г. Что-с? Was?
П. Виноват, но не велели. Wollt verzeihn, sie hat befohlen.
Г. Меня? Wieso?
П. Виноват, но не велели-с. Wollt verzeihn, sie hat befohlen.
Г. Ты пьян! Bist besoffen?
П. Так генеральша приказать Weil doch die Generalin
сейчас изволили. eben erst befohlen hat.
Г. Пошел вон! Hinweg! Fort!
(Der General ergreift den Stuhl, mit dem er sich unterhalten hat, und schwingt ihn.
Aus der Tür, Potapyč zu Hilfe kommend, erscheinen das Mädchen und die beiden
Fëdors, die dem General mit Händen wehren und ihm die Röcke der Großmutter
entgegenschwenken.)
(Scharwenzelnd)
(Scharwenzelt noch eine Zeitlang, obwohl der General schon seitwärts steht.)
(tritt seitwärts)
Г. О мерзительно! Unausstehlicher!
П. Н е велело-с ... Gestattet nicht ….
(Der General vergisst, dass Potapyč da ist. In großer Erregung wendet er sich an die
abwesende Blanche.)
Ведь это же неблагодарность! Jetzt weiß ich es: undankbar bist du.
(weinend)
(heulend)
Die Überzeichnung ins Groteske ist hier noch mehr zugespitzt. So wird
der General, auch bei Dostojewskij eine nichtswürdige Figur, bei
Prokofjew zusätzlich der Lächerlichkeit preisgegeben. Auch mit den
Mitteln der Musik verspottet der Komponist den General, indem er die
Singstimme für das Geheul chromatisch in höchste Lagen aufsteigen
lässt, das mit scharf dissonierenden Akkorden im Orchester begleitet und
den Akt im dreifachen Forte gleichsam mit einem Tusch schließt. Den
gleichen Effekt verwendet Prokofjew auch am Ende des ersten Aktes, so
dass Alexej, „ein vielseitiger, aber unfertiger Charakter“,35 und der
General, die Personifizierung von Geldgier und Selbstmitleid, musika-
lisch einander angenähert werden. Die Verachtung, die Prokofjew seinen
Figuren entgegenbringt, fand die Zustimmung seines Biographen Izrail
Nestjew, insofern sagt sein musikwissenschaftliches Urteil über die Oper
auch etwas über das sowjetische Dostojewskij-Bild aus. Angesichts der
Szene mit dem Stuhl, in der Nestjew den Geist Michail Saltykow-
Schtschedrins erblickt, kommentiert er: „Diese Einzelheiten bekunden,
dass dem jungen Prokofjew bereits in den Jahren vor der Revolution der
Zug zur sozialen Satire nicht fremd war. Doch überwiegt in dem Text
nicht das befreiende Lachen des starken Menschen, der von seinen
Idealen überzeugt ist, sondern eher der zynische Spott. Das Libretto des
Spielers ist, ungeachtet der satirischen Ansätze, im Ganzen tief
pessimistisch und vor allem ethisch verfehlt, bar jeden Glaubens an den
Menschen.“36
Der vierte Akt basiert auf dem 14. und 15. Kapitel; hier weicht
Prokofjew vom Prinzip der Opéra dialogué insofern ab, als er die
Spielszenen aus der Vorlage zu einer großen Ensembleszene mit Chor
34
Zitiert nach dem dreisprachigen Klavierauszug (russisch – französisch – deutsch),
Moskau 1967, S. 210ff., Ziffer 409ff. Die Übersetzung, die auf exakte Silbengleichheit, nicht
auf wörtliche Entsprechung zielt, wurde von dort übernommen.
35
Dostojewskijs Formulierung, hier nach Kindler-Lexikon, Art. Igrok, Bd. 4, S. 812.
36
Nest’ev (wie Anm. 31), S. 122.
Dostojewskij auf der Opernbühne 29
Notenbeispiel II
Dostojewskij auf der Opernbühne 31
38
Überspanntheit und die Neigung zu hysterischen Attacken ist charakteristisch für
Prokofjews Frauenfiguren. Das gilt für die Renata im Feurigen Engel (Ogenenyj angel, nach
Walerij Brjusow) ebenso wie für Natascha Rostowa in Krieg und Frieden (Vojna i mir, nach
Lev Tolstoj).
39
Vgl. J. Procházka: Z mrtvého doma: Janáčkův tvůrčí i lidský epilog a manifest, (Aus
einem Totenhaus: Janáčeks schöpferischer und humanistischer Epilog und Manifest) in:
Hudební věda (Musikwissenschaft) III (1966), S. 218-243 und S. 462–483. Insgesamt zu
Janáček: John Tyrrell: Janáček. Years of a Life, 2 Bde., Bd. 1 (1854 - 1914) The Lonely
Blackbird, Bd. 2 (1914 - 28) Tsar of the Forests. London 2007.
40
Jenůfa, eigentlich Ihre Stieftochter (Její pastorkyňa), nach Gabriela Preissovás
gleichnamiger Kurzgeschichte, UA 1904, Káťa Kabanová nach Alexander Ostrowskijs Drama
Das Gewitter (Groza), UA 1921, Das schlaue Füchslein nach Rudolf Těsnohlídeks
gleichnamiger Erzählung, UA 1924, Die Sache Makropulos nach Karel K. Čapeks
gleichnamigem Schauspiel, UA 1926.
41
Als konkretes Zitat läßt sich die Formulierung nicht nachweisen.
32 Dorothea Redepenning
macht Janáček:
[Gorjantschikow] Nový život! (Alej schmiegt sich weinend an ihn) [zu
Alej] A ty jistě myslíš na dálný Dagestan! [Alej] Bůh zaplatv tobě! Bůh
odplatv! [Wache]: Marrrrš! [die Gefangenen]: Hou, hou! (Freiheit!
Neubeginn! Denk auch du der Freiheit! Denk ans ferne Dagestan! – Dir
dank ich alles! Gott vergilt dir’s! – Marsch! – Hou, hou!)
42
Janáček war des Russischen mächtig und hatte eine spezielle Vorliebe für diese Kultur.
Davon zeugt auch die mehrfache Beschäftigung mit Lev Tolstojs Novelle Die Kreuzersonate
(Krejcerova sonata) in einem Klaviertrio (1908, verloren) und dem ersten Streichquartett
(1923), die beide diesen Titel tragen. Anna Karenina und Der lebende Leichnam (Živoj trup)
sind Opernprojekte (1907 bzw. 1916), die nicht verwirklicht wurden.
43
Wie Anm. 39; vgl. auch Ladislav Šíp, Einführungsessay zur Schallplattenaufnahme des
Prager Nationaltheaters, Supraphon 1966, und John Tyrrell: Janáček’s Operas: a
Documentary Account. London 1992.
44
Beide Textfassungen nach dem Klavierauszug, Universal Edition 8221, Wien
o.J.; der deutsche Text stammt von Max Brod, der russische Text nach
Dostojewskij auf der Opernbühne 33
So wird aus dem knappen „hou, hou!“ der Gefangenen nicht nur ein
opernhafter Schlusschor;45 die beiden Bearbeiter lassen die Oper auch in
strahlend ungetrübtem Dur, gesteigert bis zum vierfachen Forte, aus-
klingen. Janáčeks Fassung dagegen endet mit einem dissonierenden
Ajoutierungsklang, wie er insgesamt für die Oper charakteristisch ist, und
vor allem verlangt er für die letzten Takte, die über das Fallen des
Vorhangs hinausgehen, noch einmal Ketten-Rasseln, einen Schlagzeug-
effekt, dem die Solovioline in höchster Lage gegenübergestellt wird.
Damit richtet er den Blick auf die Realität der Gefangenen zurück und
versteigt sich nicht in die wortreiche Beschwörung einer Freiheit, die in
diesem Rahmen irreal ist und einen der Operntradition geschuldeten
Formalismus darstellt. Bakala und Chlubna haben nach bestem Wissen
und Gewissen gehandelt; auch sonst haben sie raue Stellen geglättet,
Instrumentation und harte Fügungen gemäß dem Geschmack der Zeit
angepasst. Heute ist man zu der Fassung zurückgekehrt, die Janáček
hinterlassen hat.
Janáčeks Entscheidung für die Aufzeichnungen aus einem Totenhaus
als Opernsujet ist insofern bemerkenswert, als es sich nicht um einen
Roman im strengen Sinne handelt, sondern um einen Bericht, in dem
Dostojewskij seine Beobachtungen während seiner Verbannung (1854-
1859) niederlegte. Folglich gibt es auch in der Oper keine Handlung,
keine Dramatik und keine Individuen, sondern Typen, von denen die
meisten, wie bei Dostojewskij, namenlos sind. Janáček wählt einzelne
Episoden aus, darunter natürlich die Theateraufführung, die im Zentrum
des zweiten Aktes steht; Hauptsache aber sind ihm die Schicksale der
Gefangenen, brutaler, stets gewaltbereiter Männer, unter ihnen auch
Schwerverbrecher. Über sie wird so erzählt, dass der Zuschauer ihre
Handlungsweisen, die sie ins Straflager gebracht haben, nachvollziehen,
ja sogar Verständnis aufbringen kann. Die Option zur Empathie ist bei
Dostojewskij durchaus angelegt; Janáčeks musikalische Interpretation
verstärkt das erheblich.
Mit der Verwandlung des russischen Texts in ein tschechisches
Libretto ging eine Reihe von Veränderungen einher. Dazu gehören
Kürzungen, auch das Zusammenfassen verschiedener Figuren in eine, ein
Verfahren, das dem Wechsel des Mediums geschuldet sind.46 Zu den
interpretatorischen Eingriffen, die genauer untersucht werden sollen,
47
Zitiert nach der Ausgabe Fjodor M. Dostojewski: Aufzeichnungen aus einem Totenhaus,
deutsch von E. K. Rahsin. München 1992.
Dostojewskij auf der Opernbühne 35
Die Eröffnungsszene ist eine Collage aus Passagen des zweiten Buches,
die unterschiedliche Begebenheiten so zusammenbringt, dass die ganze
Brutalität der Staatsmacht gegen die Strafgegangenen sichtbar wird. Was
an anderen Stellen über andere Personen berichtet wird, fokussiert
Janáček auf seine Hauptfigur, Dostojewskijs Ich-Erzähler. In diesem Ich,
das bei Dostojewskij beobachtend im Hintergrund bleibt, versammelt sich
alles Leid der Sträflinge. Die Kombination des entrechteten Menschen
mit dem unfreien Adler wird am Schluss der Oper wieder aufgegriffen.
Der Kommandant teilt Gorjantschikow seine Freilassung mit und befiehlt,
die Fesseln abzuschmieden. Parallel zu seinen Worten „Jetzt ist ein
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48
Hier nach dem Tyrells Janáček-Artikel in Groves Dictionary of Music and Musicians,
Online-Version.
(http://www.oxfordmusiconline.com.ubproxy.ub.uniheidelberg.de/subscriber/article/grove
/music/14122, 28.2.2010). Dieses Violinkonzert wurde von Miloš Stědroň und Leoš Faltus
komplettiert und 1988 aufgeführt.
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Dostojewskij auf der Opernbühne 39
1RWHQEHLVSLHO,,, 1RWHQEHLVSLHO,9
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VI. Fazit
49
Quellen: The New Grove. Grove’s Dictionary of Music and Musicians, online-Version
http://www.oxfordmusiconline.com.ubproxy.ub.uni-heidelberg.de/subscriber/article/grove/
music/ (28.2.2010), Die Musik in Geschichte und Gegenwart (MGG), Artikel Dostojewskij,
Personenteil, Bd. 5, Kassel 2001, Sp.1334-1337; Wikipedia (russisch) und die dort
angegebenen Links (28.2.2010).
50
Daten der Uraufführungen so weit möglich.
Dostojewskij auf der Opernbühne 41