Dialektliteratur in Spanien

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Hans-Ingo Radatz (Frankfurt am Main)

»Dialektliteratur« in Spanien?

Dialektliteratur hat in Spanien einen völlig anderen Stellenwert als in


Deutschland. Der Beitrag illustriert, wie der gescheiterte Zentralismus,
die historische Mehrsprachigkeit und die daraus entstandenen Sprach-
diskurse in Spanien den Begriff des ­Dialekts politisiert haben und so
die Entstehung von Dialektliteraturen eher behindern als begüns­ti­gen.
An deren Stelle tritt in Spanien häufig der Ausbau regionaler Varietäten
zu normierten Schriftsprachen, die mit dem expliziten Anspruch auf-
treten, eben keine Dialekte zu sein.

Dieser Artikel will nicht primär eine exhaustive Darstellung spanischer Dia­lekt­­
literatur liefern. Er versteht sich vielmehr als Beitrag innerhalb eines K
­ olloquiums,
das Bedingungen und Ausgestaltung der Gattung »­ Dialektliteratur« komparatis-
tisch zu erforschen sucht. Meine Darstellung iberischer Dialektliteraturen soll
dabei vor allem als Vergleichsfolie dienen, mit deren Hilfe ich zu zeigen versu-
che, welche linguistischen, kulturellen und politischen Faktoren in Spanien da-
für sorgen, dass die dortige Situation sich radikal von derjenigen in Deutschland
und vergleichbaren Ländern unterscheidet.
Schon die historische Ausgangssituation könnte im Vergleich zwischen
Deutschland und Spanien unterschiedlicher kaum sein: Während Deutschland
kulturell stets einen historisch gewachsenen und tief verwurzelten Föderalismus
gelebt hat, der de facto bis in die Zeit des Heiligen Römischen Reichs deutscher
Nation zurückreicht, ist Spanien tief geprägt durch etwas, das man am besten
als »gescheiterten Zentralismus« bezeichnen kann. Zwar hatte die absolutisti-
sche Bourbonenmonarchie seit Beginn des 18. Jahrhunderts alles daran gesetzt,
Spanien nach französischem Vorbild zentralistisch zu vereinheitlichen, doch
muss dieses Projekt heute im 21. Jahrhundert als weithin gescheitert angesehen
werden. Scheitern musste der spanische Zentralismus (der stets nur eine unvoll-
kommene Kopie des französischen war) aus mindestens zwei Gründen: Zum
einen war Spanien mit seinen großen nicht-spanischsprachigen Territorien von
Anfang an schwerer zu vereinheitlichen als das sprachlich homogenere Deut-
sche Reich; besonders die Integration der baskischsprachigen Provinzen und
der katalanischsprachigen Territorien der Aragonesischen Krone war dabei pro-
blematisch. Zum anderen war aber Kastilien als Hegemonialmacht schon mit
Beginn des 18. Jahrhunderts im Niedergang begriffen und sollte im Laufe der
folgenden Jahrhunderte weiter massiv an Macht – und damit auch an kultureller
Kohäsionskraft – verlieren. Der Verlust der letzten überseeischen Kolonien Spa-
Radatz: »Dialektliteratur« in Spanien? 2

niens und dessen ausbleibende Industrialisierung machten das gesamtspanische


Projekt unter kastilischer Führung für die Peripherie unattraktiv und veranlass-
ten Katalonien und das Baskenland dazu, sich von Madrid abzukehren, sich an
mitteleuropäischen Modellen zu orientieren und auf eigene Faust ihren Handel
und ihre Industrialisierung voranzutreiben.
Die administrative Struktur des modernen Spanien spiegelt diesen geschei-
terten Zentralismus wider. Der sogenannte Autonomienstaat ähnelt äußerlich
einem föderalistischen System, ist aber technisch keines. Die einzelnen, unse-
ren Bundesländern oberflächlich ähnlichen, autonomen Gemeinschaften haben
nicht denselben Status, sondern verfügen über höchst unterschiedliche Grade
der Autonomie und Finanzhoheit, wobei ihr objektiver politischer Gestaltungs-
spielraum in keinem Fall an den eines deutschen Bundeslands heranreicht;
­insofern bleibt Spanien unterhalb dessen, was man in einem föderalistischen
System erwarten würde. Andererseits ist das Identifikationspotenzial bestimm-
ter autonomer Gemeinschaften (Katalonien, Baskenland, Galicien, …) für deren
Bewohner so groß, dass man eher an quasi-staatliche Gebilde denn an Bundes-
länder denken mag. Insbesondere Katalonien und das Baskenland gerieren sich
in vielen Aspekten so, als seien sie eigenständige Staaten innerhalb einer locke-
ren paniberischen Konföderation. Die Autonomien sind demnach in manchen
Aspekten weniger, in einigen aber auch mehr als Bundesländer.
Die unterschiedliche Staatsstruktur Spaniens und Deutschlands ist in erheb-
lichem Maße ein Resultat und Abbild der sprachlichen Verhältnisse, wie die
folgende Übersicht veranschaulicht:

Deutschland Spanien
Verwurzelter historischer Föderalismus Gescheiterter Zentralismus
Autochthone Sprachminderheiten: Autochthone Sprachminderheiten:
Nordfriesisch  10.000 Sprecher Katalanisch  8.000.000 Sprecher
Sorbisch 20.000 Sprecher Galicisch  2.000.000 Sprecher
Dänisch 20.000 Sprecher Baskisch  700.000 Sprecher
Asturianisch  450.000 Sprecher
Aragonesisch  12.000 Sprecher
Aranesisch  4.000 Sprecher
= 0,06  % der Bevölkerung = 23,9  % der Bevölkerung
Eine einzige unbestrittene Schrift-, Ver­ Mindestens vier Schrift- und Amts­spra­
wal­tungs- und Kul­tur­spra­che: Deutsch. chen: Neben Spanisch sind re­gio­nal
Kata­lanisch (»Va­len­cianisch«), Gali­cisch,
Baskisch und Okzi­ta­nisch (»Ara­ne­
sisch«) Amts- und Kul­tur­spra­che, Astu­
ria­nisch normierte Schrift­spra­che mit
Sprachakade­mie.
Tabelle 1: Vergleich der Ausgangsbedingungen in Deutschland und Spanien
Radatz: »Dialektliteratur« in Spanien? 3

Bereits aus diesen Zahlen wird deutlich, dass regionale Sprachkonflikte in


Deutschland höchstens als marginale Erscheinung auftreten, während sie in
Spanien ein integraler Bestandteil des intellektuellen und politischen Lebens
sind.

Traditioneller Kulturkampf in Spanien: zentrifugal vs. zentripetal

Die bourbonische Monarchie hatte nach ihrer Machtergreifung als Ergebnis des
Spanischen Erbfolgekriegs (1701–1714) alles darangesetzt, das Spanische als al-
leinige Schrift- und Umgangssprache durchzusetzen und alle anderen Sprachen
des Königreichs auszumerzen. Doch während dieses Bestreben im Bereich des
schriftlichen und öffentlichen Gebrauchs durchaus erfolgreich war, gelang es
andererseits aber nicht, die betreffenden Sprachen auch als Umgangssprachen
zu verdrängen. Anders als in Frankreich, wo die Aufgabe der eigenen Regional-
sprache zumindest mit beruflichen und sozialen Aufstiegschancen innerhalb
eines erfolgreichen und modernen (vgl. die Französische Revolution) nationa-
len Projekts belohnt wurde, gelang es dem spanischen Staat unter kastilischer
Führung nicht, ein vergleichbar attraktives Projekt zu schaffen. Mit dem Ver-
lust der letzten Kolonien (Kuba, Philippinen, Guam und Puerto Rico) durch
die desaströse Niederlage im Spanisch-Amerikanischen Krieg (1898) wurde der
Niedergang offenkundig. Die Romantik mit ihrer Rückbesinnung auf regionale
und lokale Kulturen hatte ein neues und beständig wachsendes Interesse an den
regionalen Sprachen entstehen lassen und die Sprachpflegevereine in Kataloni-
en, Galicien und dem Baskenland entwickelten sich nun zu regionalistischen,
nationalistischen und separatistischen Bewegungen, in denen die Eigen­sprach­
lich­keit das zentrale Identifikationsmerkmal war. Zwar brachte nach dem Spa-
nischen Bürgerkrieg die Franco-Diktatur (1939–1975) noch einmal eine gewalt-
same sprachliche Vereinheitlichung Spaniens mit sich, doch zeigte sich nach
dem Tod des rechtsklerikalen Diktators, dass die reale Kohäsionskraft des Staa-
tes nicht ausreichte, die sprachlichen Unabhängigkeitsbewegungen dauerhaft
zum Schweigen zu bringen. Die neue demokratische Verfassung mündete in
den oben beschriebenen Autonomienstaat mit den genannten regionalen Amts-
und Kultursprachen Katalanisch, Baskisch und Galicisch.
Auch wenn das Phänomen der Regionalsprachigkeit im modernen Spanien
durch die Verfassung und die verschiedenen Autonomiestatuten heute admi­
nistrativ im Sinne der Regionalsprachen geregelt ist, bleibt das Thema im öffent-
lichen Diskurs Spaniens nach wie vor sehr lebendig. Der traditionelle Diskurs
unterscheidet weiterhin die zwei Positionen des traditionellen Kulturkampfs,
also zwischen einem zentrifugalen Lager, das für die Regionalsprachen und
stärkere regionale Autonomie eintritt, und einem zentripetalen Lager, das die
Idee eines kulturell und sprachlich monolithischen Spanien unter kastilischer
Hegemonie verteidigt.
Radatz: »Dialektliteratur« in Spanien? 4

Das zentripetale Element Das zentrifugale Element


Zentrum: Peripherie:
Madrid Katalonien, Baskenland, Galicien, Balearen,
Comunitat Valenciana (Kanaren), …
Spanische Einheitssprache Regionale Sprachen
Zentralismus Föderalismus bzw. Separatismus
Franquismus, Konservative Linke, Liberale
Staatsnationalismus »Emanzipatorischer Nationalismus«
Spanische Identität Alternative Regionalidentität
à Sprachliche Unterschiede werden à Sprachliche Unterschiede werden betont
zugunsten der Gemeinsprache (emblematische Verschriftlichung,
unterdrückt; Dialekt ist nur als Sprachausbau etc.); Bezeichnung als
Folkore oder zu humoristischen »Dialekt« schwächt die Normalisierung
Zwecken akzeptiert. der Regionalsprache(n).
Tabelle 2: Diskurselemente des spanischen Kulturkampfs zwischen Zentrum und Peripherie
Im Zusammenhang mit dem Thema der Dialektliteratur ergibt sich aus dieser
historischen Konfiguration der Diskurse in Spanien, dass das Sprachliche dort
bei weitem nicht in demselben Maße politisch »unschuldig« ist wie in Deutsch-
land. Vielmehr gilt der unausgesprochene Grundsatz: Wer in Spanien sprach-
liche Eigenarten hervorhebt (indem er sie zum Beispiel verschriftlicht), gerät
ideologisch unweigerlich entweder in den anti-zentralistischen oder aber in den
regional-nationalistischen Diskurs.

Sprachvarietäten in Spanien

Welche sprachlichen Varietäten Spaniens könnten nun als Träger eventueller


Dia­lekt­li­te­ra­tu­ren fungieren? Es lassen sich global fünf verschiedene Typen
unter­schei­den:

Die drei Weltsprachen:


Spanisch, Portugiesisch und Englisch
Die drei regionalen Amtssprachen:
Katalanisch, Galicisch und Baskisch
Die beiden Regionalsprachen (Kulturdialekte):

Aragonesisch und Asturianisch
Die stilisierten Schriftdialekte:
Extremeño und Murcianisch und das kaum verschriftlichte Andalusische
Die Sprachinseln:
Fala de Xálima, Mirandesisch, Olivenza-Portugiesisch, Aranesisch
Aus: Radatz / Torrent-Lenzen 2006, Umschlagklappe Radatz: »Dialektliteratur« in Spanien?
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Abb. 1: Sprachen, Regionalsprachen und Dialekte auf der Iberischen Halbinsel


Radatz: »Dialektliteratur« in Spanien? 6

Im Folgenden soll kurz der jeweilige soziolinguistische Status dieser Sprachen


auf der Iberischen Halbinsel charakterisiert werden. Um diesen Varietäten
zumin­dest exemplarisch ein Gesicht zu geben und dem Leser einen ober-
flächlichen Eindruck ihres mehr oder weniger großen Verwandtschaftsgrads
mit dem Spanischen zu vermitteln, werden die einzelnen Varietäten durch ei-
nen kurzen Ausschnitt aus Antoine de Saint-Exupérys Buch Der kleine Prinz
illustriert.

Die drei Weltsprachen Spanisch, Portugiesisch und Englisch

Spanisch ¡Ah, principito! Así, poco a poco, comprendí tu pequeña vida


melancólica. Durante mucho tiempo tu única distracción
fue la suavidad de las puestas de sol. Me enteré de este nuevo
detalle, en la mañana del cuarto día, cuando me dijiste: Me
encantan las puestas de sol.
Portugiesisch Ah, Principezinho! Assim, aos poucos, fui ficando a conhecer
a tua melancólica vidinha! Durante muito tempo, a tua única
distracção foi a beleza dos crepúsculos. Fiquei a sabê-lo na
manhã do quarto dia, quando me disseste: Gosto muito dos
pores do Sol.
Englisch Oh, little prince! Bit by bit I came to understand the secrets
of your sad little life. For a long time you had found your only
entertainment in the quiet pleasure of looking at the sunset.
I learned that new detail on the morning of the fourth day,
when you said to me: I am very fond of sunsets.

Das Englische ist in Spanien offensichtlich nur anekdotisch präsent; es ist Amts-
und Umgangssprache in Gibraltar, wirkt aber nicht über die engen Grenzen
dieses kolonialen Anachronismus hinaus. Auch Portugiesisch hat in Spanien
keinerlei Status und existiert prekär im Umkreis des Städtchens Olivenza, das
1801 durch Grenzverschiebungen von Portugal von Spanien annektiert wurde.
Das Spanische schließlich ist in ganz Spanien Amtssprache – im überwiegenden
Teil des Territoriums als alleinige, in Katalonien, València, den Balearen, Ga­li­
cien, dem Baskenland und Teilen Navarras dagegen als kooffizielle Amtssprache
neben der jeweiligen Regionalsprache.

Die drei regionalen Amtssprachen Katalanisch, Galicisch und Baskisch

Katalanisch Ah!, petit príncep, d’aquesta manera, i a poc a poc, vaig


anar entenent la teva petita vida malenconiosa. Durant molt
de temps, l’única distracció que havies tingut havia estat
la dolçor de les postes de sol. Vaig saber aquest altre detall
el matí del quart dia, quan em vas dir: M’agraden molt les
postes de sol.
Radatz: »Dialektliteratur« in Spanien? 7

Baskisch Ai printze txikia! Horrela zure bizitza tristea poliki poliki


ulertu nuen. Ez zenuen beste gozabiderik eguzkiaren
sartzeen goxotasuna besterik. Gauza berri hau laugarren
eguneko goizean jakin nuen zuk zera esan zenidanean:
Eguzkiaren sartzeak gustatzen zaizkit.
Galicisch ¡Ah, meu principiño, así fun comprendendo eu,
pouquiño a pouco, a túa vidiña melancólica! Durante
moito tempo non tiveches outra distracción que a
dozura que sentías ó contemplar o solpor. Aprendín este
novo detalle cando na mañá do cuarto día me dixeches:
Gústame moito o solpor.

Es ist vor allem die Existenz dieser drei regionalen Amtssprachen, die Spaniens
Sprachkultur prägt und so deutlich von Deutschland unterscheidet.
Das Katalanische ist eine westromanische Sprache, die zwischen dem Okzi­
ta­ni­schen und dem Aragonesischen bzw. Kastilischen steht. Während es im Mit-
telalter noch so viele Gemeinsamkeiten mit seiner Schwestersprache Okzita­
nisch aufwies, dass die frühe Romanistik Katalanisch für einen okzitanischen
Dialekt hielt, hat es sich im Laufe der Jahrhunderte in Wortschatz, Morphologie
und Syntax dem Spanischen angenähert, ohne dabei allerdings alle galloroma-
nischen Züge verloren zu haben. In folgenden Gebieten wird Katalanisch ge-
sprochen: im eigentlichen Katalonien, dem Principat de Catalunya; im größten
Teil des ehemaligen Königreichs València, der heutigen Comunitat Valenciana;
in einem Streifen Aragóns entlang der katalanischen Grenze (der sogenannten
Franja de Ponent); auf den Balearen und Pityusen, das heißt den Inseln Mallorca,
Menorca, Eivissa (span. Ibiza) und Formentera, die zusammen die autonome
Gemeinschaft Illes Balears bilden; außerhalb Spaniens zudem im französischen
Département Pyrenées-Orientales (auch Nordkatalonien genannt); im Pyre-
näenzwergstaat Andorra, wo es Staatssprache ist, und in der sardischen Stadt
L’Alguer (it. Alghero). Das gesamte Sprachgebiet wird von katalanischen Nati-
onalisten Països Catalans (Katalanische Länder) genannt – eine Bezeichnung,
die eine ideelle Einheit eher stiften soll, als dass sie die völlig verschiedenartige
sozio-kulturelle Wirklichkeit der einzelnen Gebiete widerspiegelte. Amtsspra-
che ist das Katalanische im Principat, auf den Inseln, in Andorra und in Valèn-
cia, wo es allerdings offiziell als »Valencianisch« bezeichnet wird.
Wenn das Katalanische an Bedeutung auch sicherlich hinter großen romani-
schen Sprachen wie Spanisch, Französisch oder Italienisch zurücktritt, so nimmt
es unter den Regionalsprachen Westeuropas bezüglich seines demographischen,
kulturellen und wirtschaftlichen Gewichts doch eine Ausnahmestellung ein. Das
Sprachgebiet umfasst etwa 69.000 km2, was ungefähr der Fläche der Niederlande
und Bel­giens zu­sammen entspricht und etwa 12 % des spanischen Territoriums
ausmacht. Es hat eine Gesamtbevölkerung von nahe­zu 11 Millionen Einwohnern,
was 27 % der spani­schen Gesamtbevölkerung entspricht. Die Gesamtsprecherzahl
des Katalanischen beträgt nach niedrigsten Schätzungen 8, nach den höchsten
Radatz: »Dialektliteratur« in Spanien? 8

10,5 Millionen.1 In katalanischer Sprache existieren mehrere Tageszeitungen,


zahlreiche Radio- und Fernsehsender und eine Buchproduktion, die sich durch-
aus mit der anderer Länder gleicher Größe messen kann.
Im Gegensatz zu beinahe allen anderen europäischen Regionalsprachen ist
Katalanisch eine alte Kultur- und Staatssprache, die bereits im Mittelalter voll
ausgebaut war. Es entstanden nicht nur literarische Meisterwerke der Lyrik und
der Prosa (z. B. die vier großen Chroniken oder das lyrische Werk eines A ­ usiàs
March) sondern auch Sachtexte und wissenschaftliche Werke (Ramon Llull,
­Arnau de Vilanova). Die katalanische Sprachgeschichte ist daher nicht mit der
Ga­li­ci­ens oder des Baskenlandes vergleichbar.
Baskisch ist eine Sprache, die sich in jeder Hinsicht von den sie umgeben-
den indogermanischen Sprachen abhebt. Anders als die wenigen anderen nicht-
indogermanischen Sprachen Europas (Finnisch, Estnisch, Ungarisch) wurde
das Baskische nicht durch Wanderungsbewegungen aus dem Osten eingeführt,
sondern ist offenbar der allerletzte Überrest einer autochthonen europäischen
Sprache aus der Zeit vor der indogermanischen Landnahme. Das Überleben
dieser Sprache in einem Meer aus erfolgreichen indogermanischen Konkur-
renzsprachen (Spanisch, Okzitanisch, Französisch) kann als ein ethnolinguis-
tisches Wunder gelten.
Baskisch wird heute sowohl in Spanien als auch Frankreich von insgesamt
etwa 680.000 Menschen gesprochen, wobei der deutlich größere Anteil zu Spani-
en gehört. In Spanien (Hego Euskal Herria = Südbaskenland) umfasst das Sprach-
gebiet die Autonome Gemeinschaft des Baskenlandes (Euskadi), die sich aus den
Provinzen Gipuskoa (Guipúzcoa), Biskaia (Bizkaya) und Araba (Alava) zusam-
mensetzt. Dazu kommt noch der nördliche Teil der Autonomen Gemeinschaft
Navarra (Nafarroa). Auf französischem Staatsterritorium (Ipar Euskal Herria =
Nordbaskenland) wird das Baskische in den historischen Landschaften Lapurdi
(Labourd), Zuberoa (Soule) und Benaparra (Basse Navarre) gesprochen.
Das Baskenland gehört bis heute neben Katalonien zu den industrialisiertes-
ten Gebieten Spaniens. Parteipolitisch manifestiert sich der baskische Nati­ona­lis­
mus im PNV (Partido Nacionalista Vasco), der 1876 von Sabino Arana begründet
wurde. Anfang dieses Jahrhunderts formierte sich neben dieser eher rechtskle-
rikalen Nationalbewegung die Acción Nacionalista Vasca, die sich mit der Ar-
beiterbewegung solidarisierte. Dieser Rechts/Links-Antagonismus innerhalb des
baskischen Nationalismus ist bis in die heutige Zeit erhalten geblieben.
Zu einem wichtigen Bestandteil des baskischen Nationalismus entwickel-
te sich die Sprachenfrage. Es stellte sich das Problem einer allgemeingültigen

1 Damit hat Katalanisch auf jeden Fall mehr Sprecher als: Dänisch und Finnisch mit
je 5 Millionen, Albanisch (4,5), Slowakisch (4,4), Norwegisch (4), Litauisch (3), ­Gali­cisch
(2,8), Slowenisch (1,8), Makedonisch (1,5), Lettisch (1,5), Estnisch (1), Walisisch (0,5), Bas-
kisch (0,5) und Isländisch (0,3).
Radatz: »Dialektliteratur« in Spanien? 9

überregionalen Schriftnorm, was sich bei der starken dialektalen Aufsplitte-


rung des Baskischen sehr schwierig gestaltete. Dieser Aufgabe sollte sich die
1918 gegründete Real Academia de la Lengua Vasca widmen, die eine Norm auf
der Basis des gipuskoanischen und lapurdanischen Dialekts zu erstellen be-
gann. Der Normierungsprozess (Kodifizierung) wurde in den 80er Jahren des
letzten Jahrhunderts größtenteils abgeschlossen, dauert jedoch in Detailfragen
noch bis heute an.
Erst nach dem Tode Francos wurde es möglich, die baskische Sprache zur
Amtssprache zu machen und angemessen ins Bildungssystem zu integrieren.
1979 wurde im Baskenland in einer Volksabstimmung mit 88,7 % der abgege-
benen Stimmen ein Autonomiestatut gebilligt, das die Amtlichkeit des Baski-
schen garantiert. Auch Navarra erhielt als Comunidad Foral Autonomierechte.
Das baskische und das navarresische Parlament verabschiedeten 1982 bzw. 1986
entsprechende Gesetze, die den amtlichen Gebrauch des Baskischen und den
Unterricht in baskischer Sprache regeln sollen. Die baskische Sprache und der
baskische Nationalismus finden auch bei der nicht-baskischsprachigen Bevöl-
kerung des Baskenlandes verhältnismäßig großen Rückhalt.
Die letzte der drei regionalen Amtssprachen, Galicisch, hat zwar viermal
so viele Sprecher wie das Baskische, muss aber dennoch als die schwächste die-
ser drei Sprachen angesehen werden. Bis ins 13. Jahrhundert hinein wurde auf
dem Gebiet des heutigen Galicien und in Portugal ein und dieselbe Sprache
gesprochen, deren Schriftform von den Philologen als Galaico-Portugiesisch
bezeichnet wird. Mit der Entstehung eines unabhängigen portugiesischen Kö-
nigreichs Mitte des 12. Jahrhunderts wurden die Gebiete des heutigen Portu-
gal und des heutigen Galicien jedoch voneinander getrennt und nahmen von
diesem ­Moment an eine unterschiedliche Entwicklung. Durch diese politische
Trennung entwickelte sich im Süden des ehemals gemeinsamen Sprachgebiets
das Portugiesische, im Norden entstand das Galicische (Galego).
Der sprachliche Status des Galicischen ist durch Betrachtung der linguisti-
schen Fakten allein kaum zu klären: Rein linguistisch steht es seinen beiden
Nachbarsprachen Portugiesisch und Spanisch heute so nah, dass es problemlos
auch als Varietät der einen wie der anderen betrachtet werden könnte. Es sind
daher vor allem politische und kulturelle Gründe, die dafür sprechen, Galicisch
als eigenständige »Brückensprache« anzusehen. Gegen die Einordnung als por-
tugiesischer Dialekt sprechen die jahrhundertelange Entfremdung Galiciens von
Portugal, das tief verwurzelte kastilische Element, die extreme Weiterentwick-
lung des Portugiesischen im lautlichen Bereich – vor allem aber die Tatsache,
dass die Sprache heute über eine voll ausgebaute, eigenständige Norm verfügt,
die in praktisch allen gedruckten Texten auch Anwendung findet.
Die folgende Übersichtstabelle ermöglicht einen Vergleich der verschiede-
nen sprachgeschichtlichen und soziolinguistischen Parameter dieser drei sehr
ungleichen regionalen Amtssprachen Spaniens.
Radatz: »Dialektliteratur« in Spanien? 10

Spanisch* Katalanisch Galicisch Baskisch


Sprecherzahlen
weltweit:  400 Mio. 9 Mio. 2,3 Mio. 0,6 Mio.
Europa:  46 Mio.
davon ein-
sprachig:  29 Mio.
Amtssprache in
ganz Spanien Katalonien Galicien Baskenland
Balearen Norden Navarras
València
Amtssprache seit
750 Jahre 550 Jahre 31 Jahre 27 Jahre
(seit 13. Jh.) (seit 13. Jh., mit (seit 1978) (seit 1982)
Unterbrechung im
18.–19. Jh.)
früheste literarische Werke
Cantar de mio Cid, Werk des mal­ Werk der Dich­ religiöse Literatur
12. Jh. lor­quinischen terin Rosalía de seit dem 16. Jh.;
Philosophen und Castro, 19. Jh. weltliche seit Ende
Schriftstellers des 19. Jh.
Ramon Llull,
13. Jh.
soziales Prestige
hoch hoch niedrig hoch
in Katalonien höher
als Spanisch
auf den Balearen
ähnlich wie Spanisch
in València niedriger
als Spanisch
praktische Nützlichkeit
hoch  och in Katalonien
h niedrig niedrig
* Moreno Fernández / Otero Roth (2006: 38)

mittel auf den


Balearen
gering in València
verstanden von wie viel % der Bevölkerung?
100 % über 90 % über 90 % ca. 25 %
spontane Verständlichkeit für einen gebildeten Spanischsprecher
– wie Niederländisch wie Schwäbisch wie Ungarisch
für einen für einen für einen
Deutschsprecher Deutschsprecher Deutschsprecher
Tabelle 3: Die regionalen Amtssprachen im Vergleich
Radatz: »Dialektliteratur« in Spanien? 11

Die beiden Regionalsprachen (Kulturdialekte)

Asturianisch ¡Ah, principín! Pasu ente pasu fui enterándome de que


la to vida yera de lo más murnio. En munchu tiempu
nun tuvieres otra diversión que ver atapecer el sol.
Dime cuenta d’ello al cuartu día cuandu me dixisti pela
mañanina: ¡Cómu me presten les atapecíes!
Aragonesisch Oi, prenzipet! Asinas, a moniquet, he replecada a tuya
chiqueta bida malinconica. Durán muito tiempo a tuya
unica entretenedera estió a suabura d’as clucadas de sol.
M’enteré d’iste nuebo detalle o cuatreno diya, de maitins,
cuan me diziés: Me fan muito goyo as clucadas de sol.

Das Aragonesische (8.000–12.000 Sprecher) und das Asturianische (ca. 500.000


Sprecher) sind zwei romanische Varietäten, die man aus philologischer Perspekti-
ve als primäre Dialekte des Kastilischen beschreiben könnte. Unter dem Eindruck
der Erfolgsgeschichten der spanischen Regionalsprachen, vor allem des Katala-
nischen, haben sich zu beiden Idiomen Sprachbewegungen entwickelt, die eine
Charakterisierung als spanische Dialekte ablehnen und stattdessen e­ inen Sprach-
ausbau betreiben. Im Fall des Aragonesischen handelt es sich um den Consello da
Fabla Aragonesa, in Asturien die Academia de la Llingua Asturiana. Man bemüht
sich um die Schaffung einer Literatur, um die neu geschaffenen supradialektalen
Ausbauvarietäten mit Leben zu erfüllen. Die Schriftproduktion in diesen beiden
Varietäten tritt daher explizit mit dem Anspruch an, eben keine Dialektliteratur zu
sein, sondern vielmehr der Überwindung des Dialektalen zu dienen.

Gaskognisch-Okzitanische Sprachinsel in Katalonien: Aranesisch

Aranesisch Ah! petit prince, atau comprení, pòga pòc, era tua petita
vida melancolica. En molt de temps non auies agut per
distracion qu’era doçor deth solei quan se cògue … Sabí
aguest nau detalh, eth quatau dia ath maitin, quan me
diguís: M’agrade veir quan eth solei se cògue.

Durch einen Irrtum bei der Grenzziehung zwischen Frankreich und Spanien
1659 (das Tal liegt auf der nord-östlichen und nicht, wie geglaubt, auf der süd-
westlichen Wasserscheide der Pyrenäen) fiel das Aran-Tal im 17. Jahrhundert
an Spanien, genauer: an Katalonien. Durch diesen historischen Zufall befindet
sich heute ein okzitanischsprachiges Hochgebirgstal auf katalanischem Territo-
rium, wo seine Sprache heute eine exemplarische Förderung erfährt. Das kleine
Katalonien will damit nicht zuletzt Spanien und der Welt zeigen, wie man sich
dort eine ideale Minderheiten- und Sprachpolitik vorstellt. Die Sprachbezeich-
nung Aranesisch ist sicher willkürlich und irreführend, denn der Ortsdialekt ist
eindeutig eine Variante des Gaskognischen und damit des Okzitanischen. Die
kuriose Konsequenz dieser exterritorialen Lage ist, dass Aranesisch die einzige
Radatz: »Dialektliteratur« in Spanien? 12

okzitanische Varietät ist, die offiziellen Charakter erhalten hat. Das eigentliche
Herzland des Okzitanischen liegt dagegen in Frankreich, wo die Sprache keiner-
lei offizielle Anerkennung genießt.
Trotz des offensichtlich okzitanischen Charakters des Aranesischen hat man
aber nicht dafür optiert, im Aran-Tal einfach das Standard-Okzitanische nach
Maßgabe des Institut d’Estudis Occitans einzuführen. Man hat vielmehr aus dem
Taldialekt selbst eine Schrift- und Standardsprache entwickelt, die dort nun
­unter der Bezeichnung »Aranesisch« kooffizielle Verwaltungssprache ist – ne-
ben dem Katalanischen und dem Kastilischen. Darin spiegelt sich, im Kleinen,
die ­typisch spanische Tendenz, das Dialektale durch Ausbau und Normierung
auf die Höhe einer selbstständigen Sprache anheben zu wollen.

Stilisierter Schriftdialekt »Estremeñu«

Estremeñu ¡Jai! prencipinu, asína, pocu a pocu, juí comprendiendu,


la tu vidina malincónica. Tú nu habías teníu en una tupa
tiempu más entretenencia qu‘el duzol de las posturas
de sol. Esti nuevu detalli lu engazapé, a la mañana ‚el
cuartu día, cuandu m‘ijisti: Me pilran las posturas de sol.

Die Extremadura ist von ihrer Fläche her (41.000 km2) die fünftgrößte der spa-
nischen Autonomien. Sie besteht aus den Provinzen Cáceres und Badajoz, in
denen zusammen knapp über eine Million Menschen lebt. Die Mehrheit der
sprachlichen Varietäten, die in der Extremadura gesprochen werden, fasst man
gern unter der Bezeichnung Extremeño zusammen. Unter diesen Sammelbegiff
fallen allerdings so unterschiedliche Phänomene, dass der Status des Extremeño
als eigenständiger Dialekt des Spanischen in der Literatur umstritten ist.
Die jahrhundertelange Orientierung auf das Kastilische erklärt einerseits das
weitgehende Fehlen einer normativen Verschriftlichung und einer Literatur-
sprache, andererseits aber auch das gering ausgeprägte Sprachbewusstsein. Erst
in allerjüngster Zeit ist ein minoritäres, aber zugleich enthusiastisches Eintreten
für das Studium und die Pflege der extremeñischen Dialekte zu beobachten,
deren wichtigstes Organ APLEX (Asociación »Estudio y Divulgación del Patri-
monio Lingüístico Extremeño«) 2003 gegründet wurde. Wie der Name schon
deutlich macht, ist diese extremeñische Regionalsprachigkeit nun allerdings
nicht zu vergleichen mit den Entwicklungen in Katalonien, Galicien, Asturien
oder selbst Andalusien, deren Vorbild überhaupt erst dazu geführt hat, dass
man auch in der Extremadura an eine Verschriftlichung des heimischen Idioms
gedacht hat. Dieser deutlich schwächere Status der »Regionalsprache« in der Ex-
tremadura liegt vor allem an einer jahrhundertealten Tradition der Angleichung
an das Kastilische und der daraus resultierenden geringen Differenzierung vom
Standardspanischen. Insofern ist es nicht erstaunlich, dass die literarische Pro-
duktion in Extremeño sehr gering und spät war. Bis zum Beginn der Demokra-
Radatz: »Dialektliteratur« in Spanien? 13

tie und dem Entstehen des modernen Autonomienstaates beschränkte sie sich
im Wesentlichen auf die kostumbristisch-bukolische Dichtung eines José María
Gabriel y Galán (1870–1905) und die regionalistisch-epischen Gedichte eines
Luis Chamizo (1896–1944). Erst im Kontext der neu aufflammenden regional-
sprachlichen Dynamik in vielen anderen spanischen Autonomien ist in den
letzten Jahrzehnten ein verstärktes Interesse der Extremeños an ihrer eigenen
sprachlichen Identität entstanden, das sich in einer beginnenden literarischen
Aktivität widerspiegelt. Es gibt allerdings keine feste normative Orthographie
oder gar eine morphosyntaktische Normierung, sodass wir es dabei letztlich
mit einer Dialektliteratur zu tun haben. Interessant ist diese nicht zuletzt in der
Zusammenschau mit den anderen regionalsprachlichen Literaturen Spaniens.

Die »Zwangsdialektalisierung« der Regionalsprachen unter Franco

Aus dem Geschilderten wird deutlich, dass das Konzept »Dialekt« in Spanien
insgesamt als problematisch angesehen wird und dass als Konsequenz viele Va-
rietäten, die in Deutschland gewiss als Dialekte angesehen würden, in Spanien
als eigenständige Sprachen eingeklagt und ausgebaut werden. Das hat sicher
viel damit zu tun, wie die zentripetale Position in Spanien traditionell gegen alle
nicht-spanischen Varietäten auf spanischem Territorium vorgegangen ist: Der
Begriff des Dialekts war der zentrale Kampfbegriff, mit dessen Hilfe die angeb-
lich inhärent überlegene kastilische Sprache sich über die regionalen »Dialekte«
erhob – wobei nicht nur das Asturianische oder das Galicische, sondern auch
das Katalanische und sogar das Baskische als Dialekte bezeichnet wurden. Die
Zwangsdialektalisierung war neben dem offenen Verbot das wichtigste ideolo-
gische Mittel zur Unterwerfung der Regionalsprachen unter das Diktat Madrids.
Das lässt sich exemplarisch daran zeigen, wie das franquistische Spanien
mit zwei bedeutenden spanischen Schriftstellern umging, die einerseits zum
festverwurzelten spanischen Kulturerbe gezählt werden mussten, andererseits
allerdings inopportunerweise nicht auf Spanisch, sondern auf Katalanisch bzw.
Galicisch geschrieben hatten: Rosalía de Castro und Jacint Verdaguer.
Die katalanischen und galicischen Autoren des 19. Jahrhunderts wurden in
Spanien vielfach noch als »Dialektdichter« wahrgenommen. Die galicische Nati-
onaldichterin Rosalía de Castro empfand ihr Galicisch gar selbst noch als spani-
schen Dialekt. Der andalusische Lyriker und Dramatiker Federico García Lorca
schrieb 1935 seine Seis poemas gallegos als Hommage an Rosalía de Castro auf
Galicisch – also in einer Sprache, die er selbst eigentlich gar nicht beherrschte.
Diese »Dialektalisierung« ermöglichte es der Franco-Diktatur, die katalanischen
und galicischen Autoren für die »spanische« Nation zu vereinnahmen. Es ist
sicher kulturpolitisch kein Zufall, dass die Porträts der beiden genannten Au-
toren die Rückseite des wichtigsten spanischen Geldscheins der Vor-Euro-Zeit
schmückten:
Radatz: »Dialektliteratur« in Spanien? 14

Rosalía de Castro (* 21. Februar 1837 in Santiago de Compostela; † 15. Juli 1885 in
Padrón, Galicien) finden wir auf dem 500-Peseten-Schein:

Abb. 2: 500-Peseten-Schein mit Bild Rosalía de Castros


Jacint Verdaguer i Santaló (* 17. Mai 1845 in Folgueroles bei Vic; † 10. Juni 1902 in
Barcelona) findet sich auf einer anderen Serie desselben Geldscheins:

Abb. 3: 500-Peseten-Schein mit Bild Jacint Verdaguers


Die politische Aussage war unmissverständlich: Diese beiden Autoren sind in-
tegraler Bestandteil der spanischen Nationalkultur, auch wenn sie ihre Werke
»im Dialekt« verfasst haben. Um keinen Zweifel aufkommen zu lassen, deutet
nichts an der Darstellung darauf hin, dass diese Schrifsteller in einer anderen
Sprache geschrieben haben. Selbst der Name Jacint Verdaguers wird zu »Jacinto
Verdaguer« hispanisiert.
Die franquistische Zwangsdialektalisierung ist im modernen demokrati-
schen Spanien mittlerweile überwunden und beide Autoren gelten heute nicht
Radatz: »Dialektliteratur« in Spanien? 15

mehr als »Spanier«, sondern vielmehr als Klassiker der galicischen bzw. der
kata­la­ni­schen Literatur. Jacint Verdaguer ist nicht nur ein bedeutender Dichter
der katalanischen Renaixença sondern auch der (Mit‑)Begründer einer neuka-
talanischen Nationalliteratur. Dasselbe gilt auch für de Castro: Ihre galicischen
Gedichte werden heute oft in galicischer Normorthographie gewissermaßen
entdialektalisiert und gelten als Gründungsdokumente einer galicischen Nati-
onalliteratur, die nichts mehr mit der portugiesischen zu tun hat, sondern sich
ausschließlich aus den eigenen regionalen Wurzeln speist. Die Überwindung des
Dialektalen mithilfe von Sprachausbau, Normierung und Normalisierung ist in
Spanien zur Standardstrategie regionaler Emanzipationsbewegungen geworden.

Dialektverlust durch Sprachausbau!

Im Vergleich mit Deutschland zeigt sich also, dass Dialektliteraturen in Spanien


nur geringe Konjunktur besitzen. Anders als in Deutschland, wo Dialektlitera-
turen vor allem durch die Übermacht der deutschen Standardsprache zu ver-
schwinden drohen, verliert Spanien seine Dialektliteraturen vor allem dadurch,
dass die betreffenden Dialekte zu eigenständigen Sprachen ausgebaut und nor-
miert werden und dadurch ihren Dialektcharakter verlieren. Viele Varietäten,
die zumindest ungebildeten Spaniern fraglos als »Dialekte« galten, sind heute
entweder offizielle Amtssprachen geworden oder werden zumindest von regi­
o­nalen Sprachakademien und Sprachbewegungen zu Sprachen aufgewertet.
Galicisch wurde zu einer neuen romanischen Schriftsprache ausgebaut und
zur Amtssprache der Autonomen Gemeinschaft Galicien erklärt. Katalanisch
war zwar schon von jeher eine Kultursprache gewesen, im 17. und 18. Jahrhun-
dert aber auf den Status eines nur mehr gesprochenen Idioms hinabgesunken;
mit Einführung der Demokratie wurde Katalanisch Amtssprache in Katalonien,
den Balearen und (unter dem Namen »Valencianisch«) in der Valencianischen
Gemeinschaft. Unter dem Einfluss dieser Entwicklungen wird auch der leo-
nesische Dialekt Asturiens, das bable bzw. Asturianische zur Schriftsprache
ausgebaut (Sprachakademie Academia de la Llingua Asturiana): Damit entfällt
auch die asturianische Literatur als »Dialektliteratur«! Dasselbe geschieht unter
der Ägide des Consello d’a Fabla Aragonesa auch für das Aragonesische.
Was aber verbleibt dann in Spanien überhaupt noch an »Dialekten«? Die
Antwort ist teilweise überraschend. Natürlich gibt es noch die sekundären
Dialek­te des Spanischen: Extremeñisch, Murcianisch, Andalusisch. Diese Varie-
täten kämen unserem deutschen Verständnis von Dialekten am nächsten. Deren
Schriftproduktion ist allerdings gering! Am ehesten ist dem allgemeinen Publi-
kum vielleicht noch das Andalusische geläufig, das schließlich mit emblemati-
schen Kunstformen wie dem Flamenco assoziiert wird. Allerdings ist auch das
Andalusische eher ein Charakteristikum in der wörtlichen Rede andalusischer
Romanfiguren und nur selten das eigentliche Idiom literarischer Produktion.
Radatz: »Dialektliteratur« in Spanien? 16

Bemerkenswert ist vielmehr, dass man die Dialektliteratur vor allem in den
Dialek­ten der spanischen Regionalsprachen findet! Im Katalanischen sind dies vor
allem die beliebten Märchensammlungen in den katalanischen Dialekten Balea-
risch und Valencianisch. Doch auch im Baskischen ist (neben der relativ jungen
Einheitssprache euskara batua) die literarische Produktion in den Dialekten Gi-
puzkoanisch, Biskainisch, Labortanisch und Suletinisch nicht unbedeutend.
Im Vergleich der Bedingungen für Dialektliteratur hat sich gezeigt, dass die
Rahmenbedingungen in Spanien völlig anders gelagert sind als in Deutschland.
Insgesamt lässt sich wohl sagen, dass das Konzept »Dialekt« in einem mehr-
sprachlich geprägten Land ganz andere Implikationen mit sich bringt als in
einem monlolingualen Land ohne echte Sprachkonflikte, wie es die Bundes-
republik sicher ist. Was unter Dialektliteratur zu verstehen sei, muss für jede
Sprachkultur aufs Neue erforscht und definiert werden. Man sollte sich hüten,
durch die trügerische Einheitlichkeit des Oberbegriffs »Dialektliteratur« zu ver-
gessen, dass sich darunter in jeder neuen Sprachenkonfiguration etwas radikal
anderes verbergen kann.

Weiterführende Literatur
Bernecker, Walther L. / Discherl, Klaus (Hrsg.) (42004): Spanien heute – Politik, Wirtschaft,
Kultur, 4., vollst. neu bearbeitete Auflage, Frankfurt am Main: Vervuert.
Born, Joachim (1989): »Die Kodifizierung des Aragonesischen: zur Problematik der Stan-
dardisierung von Minoritätensprachen (mit Anmerkungen zum Aranesischen)«, in:
Reiter, Norbert (Hrsg.): Sprechen und Hören, Tübingen: Niemeyer 81–90.
Hualde, José Ignacio / Lakarra, Joseba A. / Trask, Robert Lawrence (Hg.) (1995): Towards a
History of the Basque Language, Amsterdam / Philadelphia: John Benjamins (Current
Issues in Linguistic Theory; 131).
Kasper, Michael (1997): Baskische Geschichte in Grundzügen, Darmstadt: Wissenschaftliche
Buchgesellschaft.
Lüdtke, Jens (1984): Katalanisch: eine einführende Sprachbeschreibung, München: Hueber.
Luyken, Michaela (1994): Das Galicische. Eine Fallstudie zur Verschriftlichung romanischer
Minderheitensprachen, Wilhelmsfeld: Gottfried Egert Verlag.
Radatz, Hans-Ingo / Torrent-Lenzen, Aina (Hrsg.) (2006): Iberia polyglotta. Zeitgenössische
Gedichte und Kurzprosa in den Sprachen der Iberischen Halbinsel, Titz: Axel Lenzen
Verlag.

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