Dialektliteratur in Spanien
Dialektliteratur in Spanien
Dialektliteratur in Spanien
»Dialektliteratur« in Spanien?
Dieser Artikel will nicht primär eine exhaustive Darstellung spanischer Dialekt
literatur liefern. Er versteht sich vielmehr als Beitrag innerhalb eines K
olloquiums,
das Bedingungen und Ausgestaltung der Gattung » Dialektliteratur« komparatis-
tisch zu erforschen sucht. Meine Darstellung iberischer Dialektliteraturen soll
dabei vor allem als Vergleichsfolie dienen, mit deren Hilfe ich zu zeigen versu-
che, welche linguistischen, kulturellen und politischen Faktoren in Spanien da-
für sorgen, dass die dortige Situation sich radikal von derjenigen in Deutschland
und vergleichbaren Ländern unterscheidet.
Schon die historische Ausgangssituation könnte im Vergleich zwischen
Deutschland und Spanien unterschiedlicher kaum sein: Während Deutschland
kulturell stets einen historisch gewachsenen und tief verwurzelten Föderalismus
gelebt hat, der de facto bis in die Zeit des Heiligen Römischen Reichs deutscher
Nation zurückreicht, ist Spanien tief geprägt durch etwas, das man am besten
als »gescheiterten Zentralismus« bezeichnen kann. Zwar hatte die absolutisti-
sche Bourbonenmonarchie seit Beginn des 18. Jahrhunderts alles daran gesetzt,
Spanien nach französischem Vorbild zentralistisch zu vereinheitlichen, doch
muss dieses Projekt heute im 21. Jahrhundert als weithin gescheitert angesehen
werden. Scheitern musste der spanische Zentralismus (der stets nur eine unvoll-
kommene Kopie des französischen war) aus mindestens zwei Gründen: Zum
einen war Spanien mit seinen großen nicht-spanischsprachigen Territorien von
Anfang an schwerer zu vereinheitlichen als das sprachlich homogenere Deut-
sche Reich; besonders die Integration der baskischsprachigen Provinzen und
der katalanischsprachigen Territorien der Aragonesischen Krone war dabei pro-
blematisch. Zum anderen war aber Kastilien als Hegemonialmacht schon mit
Beginn des 18. Jahrhunderts im Niedergang begriffen und sollte im Laufe der
folgenden Jahrhunderte weiter massiv an Macht – und damit auch an kultureller
Kohäsionskraft – verlieren. Der Verlust der letzten überseeischen Kolonien Spa-
Radatz: »Dialektliteratur« in Spanien? 2
Deutschland Spanien
Verwurzelter historischer Föderalismus Gescheiterter Zentralismus
Autochthone Sprachminderheiten: Autochthone Sprachminderheiten:
Nordfriesisch 10.000 Sprecher Katalanisch 8.000.000 Sprecher
Sorbisch 20.000 Sprecher Galicisch 2.000.000 Sprecher
Dänisch 20.000 Sprecher Baskisch 700.000 Sprecher
Asturianisch 450.000 Sprecher
Aragonesisch 12.000 Sprecher
Aranesisch 4.000 Sprecher
= 0,06 % der Bevölkerung = 23,9 % der Bevölkerung
Eine einzige unbestrittene Schrift-, Ver Mindestens vier Schrift- und Amtsspra
waltungs- und Kultursprache: Deutsch. chen: Neben Spanisch sind regional
Katalanisch (»Valencianisch«), Galicisch,
Baskisch und Okzitanisch (»Arane
sisch«) Amts- und Kultursprache, Astu
rianisch normierte Schriftsprache mit
Sprachakademie.
Tabelle 1: Vergleich der Ausgangsbedingungen in Deutschland und Spanien
Radatz: »Dialektliteratur« in Spanien? 3
Die bourbonische Monarchie hatte nach ihrer Machtergreifung als Ergebnis des
Spanischen Erbfolgekriegs (1701–1714) alles darangesetzt, das Spanische als al-
leinige Schrift- und Umgangssprache durchzusetzen und alle anderen Sprachen
des Königreichs auszumerzen. Doch während dieses Bestreben im Bereich des
schriftlichen und öffentlichen Gebrauchs durchaus erfolgreich war, gelang es
andererseits aber nicht, die betreffenden Sprachen auch als Umgangssprachen
zu verdrängen. Anders als in Frankreich, wo die Aufgabe der eigenen Regional-
sprache zumindest mit beruflichen und sozialen Aufstiegschancen innerhalb
eines erfolgreichen und modernen (vgl. die Französische Revolution) nationa-
len Projekts belohnt wurde, gelang es dem spanischen Staat unter kastilischer
Führung nicht, ein vergleichbar attraktives Projekt zu schaffen. Mit dem Ver-
lust der letzten Kolonien (Kuba, Philippinen, Guam und Puerto Rico) durch
die desaströse Niederlage im Spanisch-Amerikanischen Krieg (1898) wurde der
Niedergang offenkundig. Die Romantik mit ihrer Rückbesinnung auf regionale
und lokale Kulturen hatte ein neues und beständig wachsendes Interesse an den
regionalen Sprachen entstehen lassen und die Sprachpflegevereine in Kataloni-
en, Galicien und dem Baskenland entwickelten sich nun zu regionalistischen,
nationalistischen und separatistischen Bewegungen, in denen die Eigensprach
lichkeit das zentrale Identifikationsmerkmal war. Zwar brachte nach dem Spa-
nischen Bürgerkrieg die Franco-Diktatur (1939–1975) noch einmal eine gewalt-
same sprachliche Vereinheitlichung Spaniens mit sich, doch zeigte sich nach
dem Tod des rechtsklerikalen Diktators, dass die reale Kohäsionskraft des Staa-
tes nicht ausreichte, die sprachlichen Unabhängigkeitsbewegungen dauerhaft
zum Schweigen zu bringen. Die neue demokratische Verfassung mündete in
den oben beschriebenen Autonomienstaat mit den genannten regionalen Amts-
und Kultursprachen Katalanisch, Baskisch und Galicisch.
Auch wenn das Phänomen der Regionalsprachigkeit im modernen Spanien
durch die Verfassung und die verschiedenen Autonomiestatuten heute admi
nistrativ im Sinne der Regionalsprachen geregelt ist, bleibt das Thema im öffent-
lichen Diskurs Spaniens nach wie vor sehr lebendig. Der traditionelle Diskurs
unterscheidet weiterhin die zwei Positionen des traditionellen Kulturkampfs,
also zwischen einem zentrifugalen Lager, das für die Regionalsprachen und
stärkere regionale Autonomie eintritt, und einem zentripetalen Lager, das die
Idee eines kulturell und sprachlich monolithischen Spanien unter kastilischer
Hegemonie verteidigt.
Radatz: »Dialektliteratur« in Spanien? 4
Sprachvarietäten in Spanien
Das Englische ist in Spanien offensichtlich nur anekdotisch präsent; es ist Amts-
und Umgangssprache in Gibraltar, wirkt aber nicht über die engen Grenzen
dieses kolonialen Anachronismus hinaus. Auch Portugiesisch hat in Spanien
keinerlei Status und existiert prekär im Umkreis des Städtchens Olivenza, das
1801 durch Grenzverschiebungen von Portugal von Spanien annektiert wurde.
Das Spanische schließlich ist in ganz Spanien Amtssprache – im überwiegenden
Teil des Territoriums als alleinige, in Katalonien, València, den Balearen, Gali
cien, dem Baskenland und Teilen Navarras dagegen als kooffizielle Amtssprache
neben der jeweiligen Regionalsprache.
Es ist vor allem die Existenz dieser drei regionalen Amtssprachen, die Spaniens
Sprachkultur prägt und so deutlich von Deutschland unterscheidet.
Das Katalanische ist eine westromanische Sprache, die zwischen dem Okzi
tanischen und dem Aragonesischen bzw. Kastilischen steht. Während es im Mit-
telalter noch so viele Gemeinsamkeiten mit seiner Schwestersprache Okzita
nisch aufwies, dass die frühe Romanistik Katalanisch für einen okzitanischen
Dialekt hielt, hat es sich im Laufe der Jahrhunderte in Wortschatz, Morphologie
und Syntax dem Spanischen angenähert, ohne dabei allerdings alle galloroma-
nischen Züge verloren zu haben. In folgenden Gebieten wird Katalanisch ge-
sprochen: im eigentlichen Katalonien, dem Principat de Catalunya; im größten
Teil des ehemaligen Königreichs València, der heutigen Comunitat Valenciana;
in einem Streifen Aragóns entlang der katalanischen Grenze (der sogenannten
Franja de Ponent); auf den Balearen und Pityusen, das heißt den Inseln Mallorca,
Menorca, Eivissa (span. Ibiza) und Formentera, die zusammen die autonome
Gemeinschaft Illes Balears bilden; außerhalb Spaniens zudem im französischen
Département Pyrenées-Orientales (auch Nordkatalonien genannt); im Pyre-
näenzwergstaat Andorra, wo es Staatssprache ist, und in der sardischen Stadt
L’Alguer (it. Alghero). Das gesamte Sprachgebiet wird von katalanischen Nati-
onalisten Països Catalans (Katalanische Länder) genannt – eine Bezeichnung,
die eine ideelle Einheit eher stiften soll, als dass sie die völlig verschiedenartige
sozio-kulturelle Wirklichkeit der einzelnen Gebiete widerspiegelte. Amtsspra-
che ist das Katalanische im Principat, auf den Inseln, in Andorra und in Valèn-
cia, wo es allerdings offiziell als »Valencianisch« bezeichnet wird.
Wenn das Katalanische an Bedeutung auch sicherlich hinter großen romani-
schen Sprachen wie Spanisch, Französisch oder Italienisch zurücktritt, so nimmt
es unter den Regionalsprachen Westeuropas bezüglich seines demographischen,
kulturellen und wirtschaftlichen Gewichts doch eine Ausnahmestellung ein. Das
Sprachgebiet umfasst etwa 69.000 km2, was ungefähr der Fläche der Niederlande
und Belgiens zusammen entspricht und etwa 12 % des spanischen Territoriums
ausmacht. Es hat eine Gesamtbevölkerung von nahezu 11 Millionen Einwohnern,
was 27 % der spanischen Gesamtbevölkerung entspricht. Die Gesamtsprecherzahl
des Katalanischen beträgt nach niedrigsten Schätzungen 8, nach den höchsten
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1 Damit hat Katalanisch auf jeden Fall mehr Sprecher als: Dänisch und Finnisch mit
je 5 Millionen, Albanisch (4,5), Slowakisch (4,4), Norwegisch (4), Litauisch (3), Galicisch
(2,8), Slowenisch (1,8), Makedonisch (1,5), Lettisch (1,5), Estnisch (1), Walisisch (0,5), Bas-
kisch (0,5) und Isländisch (0,3).
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Aranesisch Ah! petit prince, atau comprení, pòga pòc, era tua petita
vida melancolica. En molt de temps non auies agut per
distracion qu’era doçor deth solei quan se cògue … Sabí
aguest nau detalh, eth quatau dia ath maitin, quan me
diguís: M’agrade veir quan eth solei se cògue.
Durch einen Irrtum bei der Grenzziehung zwischen Frankreich und Spanien
1659 (das Tal liegt auf der nord-östlichen und nicht, wie geglaubt, auf der süd-
westlichen Wasserscheide der Pyrenäen) fiel das Aran-Tal im 17. Jahrhundert
an Spanien, genauer: an Katalonien. Durch diesen historischen Zufall befindet
sich heute ein okzitanischsprachiges Hochgebirgstal auf katalanischem Territo-
rium, wo seine Sprache heute eine exemplarische Förderung erfährt. Das kleine
Katalonien will damit nicht zuletzt Spanien und der Welt zeigen, wie man sich
dort eine ideale Minderheiten- und Sprachpolitik vorstellt. Die Sprachbezeich-
nung Aranesisch ist sicher willkürlich und irreführend, denn der Ortsdialekt ist
eindeutig eine Variante des Gaskognischen und damit des Okzitanischen. Die
kuriose Konsequenz dieser exterritorialen Lage ist, dass Aranesisch die einzige
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okzitanische Varietät ist, die offiziellen Charakter erhalten hat. Das eigentliche
Herzland des Okzitanischen liegt dagegen in Frankreich, wo die Sprache keiner-
lei offizielle Anerkennung genießt.
Trotz des offensichtlich okzitanischen Charakters des Aranesischen hat man
aber nicht dafür optiert, im Aran-Tal einfach das Standard-Okzitanische nach
Maßgabe des Institut d’Estudis Occitans einzuführen. Man hat vielmehr aus dem
Taldialekt selbst eine Schrift- und Standardsprache entwickelt, die dort nun
unter der Bezeichnung »Aranesisch« kooffizielle Verwaltungssprache ist – ne-
ben dem Katalanischen und dem Kastilischen. Darin spiegelt sich, im Kleinen,
die typisch spanische Tendenz, das Dialektale durch Ausbau und Normierung
auf die Höhe einer selbstständigen Sprache anheben zu wollen.
Die Extremadura ist von ihrer Fläche her (41.000 km2) die fünftgrößte der spa-
nischen Autonomien. Sie besteht aus den Provinzen Cáceres und Badajoz, in
denen zusammen knapp über eine Million Menschen lebt. Die Mehrheit der
sprachlichen Varietäten, die in der Extremadura gesprochen werden, fasst man
gern unter der Bezeichnung Extremeño zusammen. Unter diesen Sammelbegiff
fallen allerdings so unterschiedliche Phänomene, dass der Status des Extremeño
als eigenständiger Dialekt des Spanischen in der Literatur umstritten ist.
Die jahrhundertelange Orientierung auf das Kastilische erklärt einerseits das
weitgehende Fehlen einer normativen Verschriftlichung und einer Literatur-
sprache, andererseits aber auch das gering ausgeprägte Sprachbewusstsein. Erst
in allerjüngster Zeit ist ein minoritäres, aber zugleich enthusiastisches Eintreten
für das Studium und die Pflege der extremeñischen Dialekte zu beobachten,
deren wichtigstes Organ APLEX (Asociación »Estudio y Divulgación del Patri-
monio Lingüístico Extremeño«) 2003 gegründet wurde. Wie der Name schon
deutlich macht, ist diese extremeñische Regionalsprachigkeit nun allerdings
nicht zu vergleichen mit den Entwicklungen in Katalonien, Galicien, Asturien
oder selbst Andalusien, deren Vorbild überhaupt erst dazu geführt hat, dass
man auch in der Extremadura an eine Verschriftlichung des heimischen Idioms
gedacht hat. Dieser deutlich schwächere Status der »Regionalsprache« in der Ex-
tremadura liegt vor allem an einer jahrhundertealten Tradition der Angleichung
an das Kastilische und der daraus resultierenden geringen Differenzierung vom
Standardspanischen. Insofern ist es nicht erstaunlich, dass die literarische Pro-
duktion in Extremeño sehr gering und spät war. Bis zum Beginn der Demokra-
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tie und dem Entstehen des modernen Autonomienstaates beschränkte sie sich
im Wesentlichen auf die kostumbristisch-bukolische Dichtung eines José María
Gabriel y Galán (1870–1905) und die regionalistisch-epischen Gedichte eines
Luis Chamizo (1896–1944). Erst im Kontext der neu aufflammenden regional-
sprachlichen Dynamik in vielen anderen spanischen Autonomien ist in den
letzten Jahrzehnten ein verstärktes Interesse der Extremeños an ihrer eigenen
sprachlichen Identität entstanden, das sich in einer beginnenden literarischen
Aktivität widerspiegelt. Es gibt allerdings keine feste normative Orthographie
oder gar eine morphosyntaktische Normierung, sodass wir es dabei letztlich
mit einer Dialektliteratur zu tun haben. Interessant ist diese nicht zuletzt in der
Zusammenschau mit den anderen regionalsprachlichen Literaturen Spaniens.
Aus dem Geschilderten wird deutlich, dass das Konzept »Dialekt« in Spanien
insgesamt als problematisch angesehen wird und dass als Konsequenz viele Va-
rietäten, die in Deutschland gewiss als Dialekte angesehen würden, in Spanien
als eigenständige Sprachen eingeklagt und ausgebaut werden. Das hat sicher
viel damit zu tun, wie die zentripetale Position in Spanien traditionell gegen alle
nicht-spanischen Varietäten auf spanischem Territorium vorgegangen ist: Der
Begriff des Dialekts war der zentrale Kampfbegriff, mit dessen Hilfe die angeb-
lich inhärent überlegene kastilische Sprache sich über die regionalen »Dialekte«
erhob – wobei nicht nur das Asturianische oder das Galicische, sondern auch
das Katalanische und sogar das Baskische als Dialekte bezeichnet wurden. Die
Zwangsdialektalisierung war neben dem offenen Verbot das wichtigste ideolo-
gische Mittel zur Unterwerfung der Regionalsprachen unter das Diktat Madrids.
Das lässt sich exemplarisch daran zeigen, wie das franquistische Spanien
mit zwei bedeutenden spanischen Schriftstellern umging, die einerseits zum
festverwurzelten spanischen Kulturerbe gezählt werden mussten, andererseits
allerdings inopportunerweise nicht auf Spanisch, sondern auf Katalanisch bzw.
Galicisch geschrieben hatten: Rosalía de Castro und Jacint Verdaguer.
Die katalanischen und galicischen Autoren des 19. Jahrhunderts wurden in
Spanien vielfach noch als »Dialektdichter« wahrgenommen. Die galicische Nati-
onaldichterin Rosalía de Castro empfand ihr Galicisch gar selbst noch als spani-
schen Dialekt. Der andalusische Lyriker und Dramatiker Federico García Lorca
schrieb 1935 seine Seis poemas gallegos als Hommage an Rosalía de Castro auf
Galicisch – also in einer Sprache, die er selbst eigentlich gar nicht beherrschte.
Diese »Dialektalisierung« ermöglichte es der Franco-Diktatur, die katalanischen
und galicischen Autoren für die »spanische« Nation zu vereinnahmen. Es ist
sicher kulturpolitisch kein Zufall, dass die Porträts der beiden genannten Au-
toren die Rückseite des wichtigsten spanischen Geldscheins der Vor-Euro-Zeit
schmückten:
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Rosalía de Castro (* 21. Februar 1837 in Santiago de Compostela; † 15. Juli 1885 in
Padrón, Galicien) finden wir auf dem 500-Peseten-Schein:
mehr als »Spanier«, sondern vielmehr als Klassiker der galicischen bzw. der
katalanischen Literatur. Jacint Verdaguer ist nicht nur ein bedeutender Dichter
der katalanischen Renaixença sondern auch der (Mit‑)Begründer einer neuka-
talanischen Nationalliteratur. Dasselbe gilt auch für de Castro: Ihre galicischen
Gedichte werden heute oft in galicischer Normorthographie gewissermaßen
entdialektalisiert und gelten als Gründungsdokumente einer galicischen Nati-
onalliteratur, die nichts mehr mit der portugiesischen zu tun hat, sondern sich
ausschließlich aus den eigenen regionalen Wurzeln speist. Die Überwindung des
Dialektalen mithilfe von Sprachausbau, Normierung und Normalisierung ist in
Spanien zur Standardstrategie regionaler Emanzipationsbewegungen geworden.
Bemerkenswert ist vielmehr, dass man die Dialektliteratur vor allem in den
Dialekten der spanischen Regionalsprachen findet! Im Katalanischen sind dies vor
allem die beliebten Märchensammlungen in den katalanischen Dialekten Balea-
risch und Valencianisch. Doch auch im Baskischen ist (neben der relativ jungen
Einheitssprache euskara batua) die literarische Produktion in den Dialekten Gi-
puzkoanisch, Biskainisch, Labortanisch und Suletinisch nicht unbedeutend.
Im Vergleich der Bedingungen für Dialektliteratur hat sich gezeigt, dass die
Rahmenbedingungen in Spanien völlig anders gelagert sind als in Deutschland.
Insgesamt lässt sich wohl sagen, dass das Konzept »Dialekt« in einem mehr-
sprachlich geprägten Land ganz andere Implikationen mit sich bringt als in
einem monlolingualen Land ohne echte Sprachkonflikte, wie es die Bundes-
republik sicher ist. Was unter Dialektliteratur zu verstehen sei, muss für jede
Sprachkultur aufs Neue erforscht und definiert werden. Man sollte sich hüten,
durch die trügerische Einheitlichkeit des Oberbegriffs »Dialektliteratur« zu ver-
gessen, dass sich darunter in jeder neuen Sprachenkonfiguration etwas radikal
anderes verbergen kann.
Weiterführende Literatur
Bernecker, Walther L. / Discherl, Klaus (Hrsg.) (42004): Spanien heute – Politik, Wirtschaft,
Kultur, 4., vollst. neu bearbeitete Auflage, Frankfurt am Main: Vervuert.
Born, Joachim (1989): »Die Kodifizierung des Aragonesischen: zur Problematik der Stan-
dardisierung von Minoritätensprachen (mit Anmerkungen zum Aranesischen)«, in:
Reiter, Norbert (Hrsg.): Sprechen und Hören, Tübingen: Niemeyer 81–90.
Hualde, José Ignacio / Lakarra, Joseba A. / Trask, Robert Lawrence (Hg.) (1995): Towards a
History of the Basque Language, Amsterdam / Philadelphia: John Benjamins (Current
Issues in Linguistic Theory; 131).
Kasper, Michael (1997): Baskische Geschichte in Grundzügen, Darmstadt: Wissenschaftliche
Buchgesellschaft.
Lüdtke, Jens (1984): Katalanisch: eine einführende Sprachbeschreibung, München: Hueber.
Luyken, Michaela (1994): Das Galicische. Eine Fallstudie zur Verschriftlichung romanischer
Minderheitensprachen, Wilhelmsfeld: Gottfried Egert Verlag.
Radatz, Hans-Ingo / Torrent-Lenzen, Aina (Hrsg.) (2006): Iberia polyglotta. Zeitgenössische
Gedichte und Kurzprosa in den Sprachen der Iberischen Halbinsel, Titz: Axel Lenzen
Verlag.