Sprachkultur
Albrecht Greule und Franz Lebsanft (1998: 9) definieren Sprachkultur als eine Form der Sprachlenkung, die sich "auf Sprachen mit einer längeren Schrifttradition und einer zumeist bereits in der frühen Neuzeit ausgearbeiteten, seitdem immer wieder modernisierten Sprachnorm" bezieht. Dabei geht es um das Bemühen, Sprachnormen durch die Auswahl exemplarischer Sprachmittel zu erweitern und zu präzisieren, um auf diese Weise die funktional bestimmte Kommunikationsfähigkeit von Sprechern zu verbessern. Insofern leistet Sprachkultur einen Beitrag zur Kommunikationskultur. Leitend ist also die normative Frage, welche Sprachmittel der Sprecher einsetzen sollte, um in der sprachlichen Interaktion seinen Beitrag möglichst "gut", d.h. sprachlich "richtig" und dem Kommunikationszweck "angemessen" zu gestalten. Darüber, was "richtig" und was "angemessen" ist, streiten jedoch die Sprachteilhaber. Ausgangspunkt der Sprachkultur ist daher normalerweise Sprachkritik [[1]], d.h. die Bewertung der Sprachproduktion von Sprachteilhabern. Dabei geht es um Fragen der Orthographie und der Aussprache, der Grammatik, der Syntax und des Wortschatzes. Wesentlicher Gesichtspunkt der Sprachkritik ist die Differenziertheit und Genauigkeit des sprachlichen Ausdrucks im Hinblick auf das Kommunikationsziel, dem Gesprächspartner das eigene kommunikative Anliegen verständlich zu machen.
Aus diesem Grund ist Sprachkultur auf Öffentlichkeit angewiesen, denn die Diskussion, Entwicklung und erfolgreiche Implementierung von Sprachnormen ist auf den demokratischen Diskurs angewiesen, in dem die Auswahl und Bewertung von Sprachmitteln argumentativ ausgehandelt wird. Die Regelung dieser Diskurse stellt sich jedoch je nach Gesellschafts- und Sprachtradition unterschiedlich dar. Während etwa in zahlreichen romanischen Ländern Sprachakademien eine entscheidende Rolle spielen - in Italien die Accademia della Crusca [2] (Florenz), in Frankreich die Académie française [3] (Paris), in Spanien die Real Academia Española [4] (Madrid) -, gibt es z.B. weder in Großbritannien noch in den USA überhaupt vergleichbare Institutionen.
Die Autorität und das Prestige von Sprachinstitutionen beruht auf dem Ansehen ihrer Mitglieder und der von diesen Institutionen geleisteten Kodifikationsarbeit. So hat z.B. die Real Academia Española seit ihrer Gründung 1713 eine Orthographie, eine Grammatik und ein Wörterbuch vorgelegt, Werke, die durch kontinuierliche Neubearbeitungen bis in die Gegenwart zum Maßstab des guten Sprachgebrauchs geworden sind (Fries 1984). Gleichwohl werden in den Massenmedien diese Werke ergänzt durch Sprachregelungen von Zeitungen und Nachrichtenagenturen, die sogenannten "Stilbücher" (libros de estilo, engl. style books), mit denen die Lücke zwischen erstarrender Kodifikation und lebendigem Sprachgebrauch geschlossen wird (Lebsanft 1997). Ein inzwischen weit über Spanien hinaus berühmtes Beispiel ist das Libro de Estilo [5] der Tageszeitung El País [6].
Im Gegensatz zu dem Begriff Sprachpflege [[7]], der eng mit der Geschichte des z.T. engstirnigen, nationalistisch gesinnten Sprachpurismus [[8]]in Deutschland verknüpft ist, handelt es sich bei Sprachkultur um ein Konzept, das die Bemühungen um die Verbesserung des Sprachgebrauchs linguistisch stringent fundieren möchte. Pate standen dabei Überlegungen des Prager Linguistenkreises, der wiederum Impulse der russischen Sprachwissenschaft des frühen 20. Jahrhunderts aufnahm. Tatsächlich ist Sprachkultur nichts anderes als eine wohl in der DDR-Linguistik der 1970er Jahre geprägte Lehnübersetzung von russisch kul’tura reči ('культура речи)[[9]] und tschechisch jazyková kultura, die seit den 1980er Jahren auch Verbreitung in der BRD fand (Wimmer 1985). Im übrigen handelt es sich bei Kultur um nichts anderes als einen Latinismus, der wohl die Prägung des Begriffs Pflege beeinflusst hat.
Im Rahmen der Sprachplanungstheorie des US-Linguisten Einar Haugen[[10]] erscheint Sprachkultur (engl. language elaboration) als vierte und letzte Phase eines Prozesses der noch Auswahl, Kodifizierung und Implementierung einer Sprache als Kommunikationsinstrument einer Gesellschaft umfasst. Zugrunde liegt die Idee, dass eine Gesellschaft oder ein Staat die Norm einer Sprache planerisch gestalten kann. Angesichts der Tatsache, dass in vielen Staaten mehrere Sprachen gesprochen werden, würden zunächst eine oder mehrere Sprachen als National- bzw. Amtssprachen festgelegt. Danach würde diese Sprache verbindlich kodifiziert, wobei die Fixierung einer staatlich sanktionierten Orthographie eine besondere Rolle spielt. Durch schulische und nachschulische Aus- und Fortbildung werden die kodifizierten Sprachen in ihrer privilegierten Rolle durchgesetzt. Die Anpassung einer bestehenden Kodifikation an die fortschreitende Sprachentwicklung - z.B. durch Modernisierung der Orthographie oder durch Ausbau des Wortschatzes - bilden den Gegenstand der Sprachkultur.
Einen aktuellen Überblick über die sprachkulturelle Situation zahlreicher Sprachgemeinschaften liefert das Handbuch von Albrecht Greule und Nina Janich (2002).
Die Grundlagentexte des Prager Linguistenkreises bieten in deutscher Übersetzung Scharnhorst/Ising (1976). Einen guten Einblick in die Diskussionen um die Etablierung des aus der DDR übernommenen Konzepts Sprachkultur in Westdeutschland gibt Wimmer (1985).
Literatur
- Dagmar Fries: Sprachpflege in der Real Academia Española. Diss. Aachen 1984.
- Nina Janich/Albrecht Greule (Hrsg.): Sprachkulturen in Europa. Ein internationales Handbuch. Tübingen: Narr 2002.
- Albrecht Greule/Franz Lebsanft (Hrsg.): Europäische Sprachkultur und Sprachpflege. Tübingen: Narr 1998.
- Franz Lebsanft: Spanische Sprachkultur. Studien zur Bewertung und Pflege des öffentlichen Sprachgebrauchs im heutigen Spanien. Tübingen: Niemeyer 1997.
- Scharnhorst, Jürgen/Ising, Erika (Hrsg.): Grundlagen der Sprachkultur. Beiträge der Prager Linguistik zur Sprachtheorie und Sprachpflege. Berlin: Akademie Verlag 1976.
- Rainer Wimmer (Hrsg.): Sprachkultur. Jahrbuch 1984 des Instituts für deutsche Sprache. Düsseldorf: Pädagogischer Verlag Schwann-Bagel 1985.