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ADB:Schmeller, Johann Andreas

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Artikel „Schmeller, Johann Andreas“ von Edward Schröder in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 31 (1890), S. 786–792, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Schmeller,_Johann_Andreas&oldid=- (Version vom 8. Dezember 2024, 04:57 Uhr UTC)
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Schmeller *): Johann Andreas S., Germanist. Er ist im gleichen Jahre mit Jacob Grimm, 1785 am 6. August zu Türschenreut in der Oberpfalz, zwischen Böhmerwald und Fichtelgebirge, zur Welt gekommen, seine Heimath aber fand er in Altbaiern, in Rimberg bei Pfaffenhofen a. d. Ilm, wohin die kinderreichen Eltern schon im zweiten Jahre seines Lebens übersiedelten. Von den großen Meistern der Wissenschaft vom deutschen Volksthum ist S. der einzige, der aus den Kreisen des Landvolks hervorgegangen ist, – und dem entspricht recht eigentlich seine Stellung als Schöpfer der mundartlichen Grammatik und Lexicographie.

Den „Urhebern und ersten Pflegern seines Lebens“ bewahrte S. zeitlebens die innigste Liebe und Dankbarkeit und mit rührender Pietät umfaßte er ihre einfachen [787] Lebensverhältnisse und das Gewerbe des Vaters. Dieser war ein Kürbenzeuner oder Korbflechter, der nebenher etwas Landwirthschaft trieb, und er besaß Vorbildung und Geschick genug, um den Knaben Andreas selbst soweit zu bringen, daß er mit acht Jahren schon ganz ernsthaft einen kleinen Schulmeister für die Kinder des heimathlichen Weilers abgeben konnte. So wurde der Pfarrer Anton Nagel auf ihn aufmerksam, ein Mann mit lebhaftem Sinn für die Geschichte und die Volksart Baierns, der ihn zuerst in seinen eigenen Unterricht nahm und bald darauf im Seminar des Stiftes Scheyern unterbrachte. Die Begabung und die Fortschritte des Knaben erweckten in den Eltern den heißen Wunsch, in ihm einen Studirten, einen Geistlichen heranwachsen zu sehen, und als die vorübergehende Auflösung der Klosterschule beim Einbruch der Franzosen die Entziehung der Freistelle im Gefolge hatte, da scheute der Vater keine Mühen und Opfer, seinen Anderl auf ein Gymnasium zu bringen. Nach manchen Fehlgängen und Fehlbitten gelang das in Ingolstadt (1797). Auch das Ingolstädter Gymnasium wurde schon nach zwei Jahren, mit der Verlegung der Universität nach Landshut, aufgehoben: schon aber besaß der junge S. Energie und Zähigkeit genug, sich selbst den Weg zu bahnen und den gelehrten Beruf zu sichern. Brachte der Uebergang von Ingolstadt nach München auch den Verlust der letzten Unterstützung, er brachte dafür auch einen reichern Ausblick ins Leben und mit dem Regierungsantritt Maximilian Joseph’s Luft und Licht für eine freiere Entwickelung. Mit Noth und Entbehrung ringend, hat der junge Lyceist zugleich einen Kampf geistiger Befreiung gekämpft, der ihn zu dem sehnsüchtigsten Wunsche der Eltern in Gegensatz bringen mußte; und während er in Lateinisch, Philosophie und Naturwissenschaften die Fortschritte eines tüchtigen Schülers machte, in deutschen Gedichten eine fleißige Lectüre unserer schönen Litteratur bei warmer Empfindung für Natur und Freundschaft bekundete, beschäftigte ihn bereits das interessante Problem des Gegensatzes von Schriftsprache und Volksmundart, an dem die deutschen Grammatiker und Sprachmeister seit den Tagen seines Landsmannes Aventin meist gleichgültig oder hochmüthig vorübergegangen waren.

Beim Abgang von der Schule empfand S. drückender als die materielle Noth die Schwierigkeit der Berufswahl. Dem idealgestimmten Jüngling, der der Theologie bereits entsagt hatte, schien jeder Beruf verwerflich, der ohne erfolgreichen Einsatz aller Kräfte geübt wird, und im gleichmäßigen Tagewerk des Beamten konnte er keine Befriedigung erblicken. Der Medicin galt nur eine flüchtige Neigung, aber echt rousseauisch hat er es dann einen Herbst und Winter hindurch (1803/4) im schlichten Bauernhäuschen zu Rimberg mit dem Leben des Landmannes versucht, um schließlich da hinauszusteuern, wo das Evangelium von der Rückkehr zur Natur eben am sieghaftesten vorzudringen schien, zur Pädagogik. Bestimmte Aufgaben, die mit seinen späteren wissenschaftlichen Großthaten einen unleugbaren Zusammenhang haben, schweben ihm vor: „über die naturgemäßeste Art, Kinder, die eine von der Schriftsprache abweichende Mundart reden, im Schreiben und Lesen zu unterweisen“, hat der 18jährige damals im Vaterhause eine Abhandlung ausgearbeitet. Erhaltung des Volksthums bei Verbreitung von Volksbildung, das war das Ideal, das ihn im Sommer 1804 direct nach Burgdorf zu Pestalozzi hinführte. Er kam zu einer ungünstigen Stunde: Pestalozzi war eben im Begriff nach Buchsee umzusiedeln; und die Unmöglichkeit, hier unterzukommen, trieb den jungen S. geradewegs in die Arme der Werber. Wenige Wochen nach dem Abschied von Rimberg befand er sich als Soldat eines solothurnischen Regiments in der Kaserne zu Tarragona. Das Glück führte ihm in dem Hauptmann Voitel einen Vorgesetzten zu, der als gleichgestimmter Anhänger Pestalozzi’s rasch sein Freund wurde und, bald darauf [788] nach Madrid an die Spitze einer neu gegründeten Cadettenanstalt berufen, dem jungen Baiern an der kurzen Blüthe der neuen Lehrmethode in Spanien einen ehrenvollen Antheil verschaffte. Aber ein merkwürdiger Unstern waltete über den Lehrinstituten, zu denen S. als Schüler oder Lehrer in Beziehung trat: die Revolution beseitigte mit andern, weniger achtbaren, auch dies Werk des Friedensfürsten, und im Frühjahr 1808 bereits kehrte S. Spanien den Rücken.

Er wandte sich nach der Schweiz und fand zunächst bei Pestalozzi in Yverdun gastliche Aufnahme. Der Freundschaftsbund fürs Leben, den er hier mit dem Berner Samuel Hopf schloß, führte alsbald zur gemeinsamen Gründung einer Privatlehranstalt in Basel. Sie blühte rasch auf und würde S. reinere Befriedigung gewährt haben, wenn nicht die Noth des großen Vaterlandes sein ganzes Sinnen und Denken beschäftigt hätte. In tagebuchartigen Aufzeichnungen, in Gedichten und Briefen können wir Schmeller’s Stimmung und seine Interessen während der Zeit der napoleonischen Herrschaft verfolgen: die Liebe zur Heimath und den Haß gegen den corsischen Unterdrücker, dessen Triumphe er mit wachsender Erbitterung begleitet, den Glauben an die sittlichen Kräfte der Nation und die bis zur Zerknirschung gesteigerte Klage über den Mangel eines Nationalbewußtseins. Eine tiefe innere Erregung athmen besonders die lyrischen Ergüsse, die freilich nicht durch rhythmischen Wohllaut bestechen, und mit ihrer lehrhaften Rhetorik leicht ermüden. Seine litterarischen Interessen sind ungemein vielseitig und lassen die spätere Specialisirung noch nicht ahnen. Freilich sammelte er schon damals für eine „Wortstammkunde“, schrieb in Zeitschriften, welche H. Zschokke herausgab, über die Reinhaltung der Teutsprache, verspottete die Fremdwörtersucht unserer Landsleute und betonte „das Vaterländische in der Erziehung“, indem er den Blick der Jugend auf die Geschichte der Muttersprache gerichtet sehen wollte (s. Blätter für das bayer. Gymnasialschulwesen 1885, 7. Heft, S. 353 ff.). Aber dann wieder drängten dichterische Pläne diese patriotischen und pädagogischen Bestrebungen in den Hintergrund: von dramatischen Arbeiten wagte S. Anerkennung, ja materiellen Erfolg zu hoffen. Und thatsächlich läßt sich ein gewisses Geschick für dramatischen Aufbau seinem dreiactigen Schauspiel „Die Ephesier“ nicht abstreiten. Das Stück (zuerst herausgegeben von Nicklas, München 1885), welches aus dem Jahre 1811 herrührt, aber noch nach Jahren die Feile erfahren hat, gehört in das Gefolge von Goethe’s Iphigenie und Schiller’s Braut von Messina; daneben hat Sophokles direct gewirkt. An Anklängen und Reminiscenzen fehlt es nicht, wie wir denn auch in den Gedichten Klopstockische, Schillerische und Arndtische Töne vernehmen. Mit einem andern Stück, „Rudolph von Habsburg vor Basel“, das über die ersten beiden Acte nicht hinauskam, betrat er die gleiche Bahn, wie einige Jahre später Ludwig Uhland.

Das alte Mißgeschick erreichte S. auch in Basel. Mit dem Anfang des Jahres 1813 ging die Schule ein, und S., der am liebsten nach Baiern zurückgekehrt wäre und dem Vaterlande seinen Arm gewidmet hätte, mußte nach einem vergeblichen Anlauf sich dazu bequemen, in Konstanz „deutsche Mädchen zu französischen Plaudermaschinen zu verwandeln“. Endlich, nachdem die Schlacht bei Leipzig geschlagen und der patriotische Aufruf seines Landesfürsten erschienen war, konnte er heimkehren. Der Kronprinz, der sich von vornherein für ihn interessirte, nahm ihn freundlich auf und verschaffte ihm ein Patent als Oberlieutenant im freiwilligen Jägercorps. Zum Ausrücken kam S. zunächst nicht, erst die hundert Tage führten ihn aufs Kriegstheater, wenn auch nicht ins Feuer. Ein denkwürdiges Bild, dieser Jägerlieutenant mit der Brille, der seinen Tacitus und Homer im Tornister mit sich führt, deutsche und französische Dialekte mit aufmerksamem Ohre studirt und bei allem patriotischen Eifer bereits ein geheimes [789] Sehnen nach den Schätzen der inzwischen mächtig anwachsenden Münchener Bibliothek niederkämpfen muß.

Im Frühjahr 1815 kehrte S. nach München zurück; Officier aber hat er noch weitere 14 Jahre bleiben müssen, erst 1829 ist er aus dem Heerverbande ausgeschieden. Seine Interessen hatten sich inzwischen geklärt und mit immer größerer Entschiedenheit der Erforschung der heimischen Mundart zugewandt. Der Aufenthalt in der Fremde hatte seine Aufmerksamkeit und sein Urtheil gegenüber dem baierischen Idiom geschärft, die Heimkehr seine Liebe erst recht entfacht. Und in München lagen die Verhältnisse gerade jetzt so günstig wie möglich. Die altdeutschen und volksthümlichen Studien wurden an der Akademie durch den Historiker Lor. Westenrieder, an der Bibliothek durch Jos. Scherer und Jos. Bernh. Docen gefördert, und wenn namentlich Westenrieder und Scherer dabei speciell dem Bairischen in Litteratur und Sprache ihre Aufmerksamkeit zugewandt hatten, so mußte ihnen eine Persönlichkeit doppelt willkommen sein, die mit der tiefen Heimathsliebe, der energischen Arbeitskraft und den gelehrten Interessen Schmeller’s entschlossen war, diese vaterländischen Studien sich zur Lebensaufgabe zu machen. Zur Unterstützung der gelehrten Landsleute kam als wichtigster Förderer der nationale Sinn und das volksthümliche Streben des Kronprinzen Ludwig. So war denn S. durch Urlaub und Geldunterstützung bald in den Stand gesetzt, das Land in seinen verschiedenen Theilen zu bereisen; als Oberlieutenant durfte er mehrere Jahre hindurch seine Ergebnisse durch planmäßige Vernehmung der jungen Rekruten festigen und ergänzen, die Bibliothek stellte ihm für die ältern Sprachstufen ihre überreichen Schätze zur Verfügung, und zu den ältern Sammlern, deren Papiere in Schmeller’s Hände gelangten, gesellten sich neue Helfer und Mitarbeiter im ganzen Baierlande. Dazu ließ die glücklichste Fügung mitten unter den Vorarbeiten den ersten Band von Jacob Grimm’s Deutscher Grammatik ans Licht treten und gab so auf historischem Gebiete dem noch unsichern Tasten Schmeller’s einen festen Halt.

Schon 1818 war die Münchener Akademie in der Lage, sich von den reichen Resultaten der rüstigen Arbeit zu überzeugen; doch erst 1821 erschien, nach abermaliger Durcharbeitung, das Buch „Die Mundarten Bayerns grammatisch dargestellt“. Nach sechs Jahren folgte der erste Band des „Bayrischen Wörterbuchs“, das 1837 mit dem 4. Bande seinen Abschluß fand. Dem Kronprinzen Ludwig hat S. jene grundlegende Vorarbeit, dem Könige das große Hauptwerk gewidmet, das ihn, den längst anerkannten, vollberechtigt den ersten Meistern seines Faches einreihte.

Mit den wissenschaftlichen Erfolgen hielt die äußere Carrière des schlichten Gelehrten keineswegs gleichen Schritt. Länger als ein Jahrzehnt hindurch waren alle Bemühungen seiner Gönner und Freunde, vor allem Scherer’s und Schlichtegroll’s, ihn aus dem Militärstand in die ersehnte litterarische Laufbahn zu versetzen, vergeblich; er mußte allen Anträgen der Akademie zum Trotz in seiner unbehaglichen Zwitterstellung bleiben. Seit 1824 gehörte er der Akademie als außerordentliches Mitglied an; das Jahr 1827 brachte dem 42jährigen den Doctortitel und den Beginn seiner akademischen Lehrthätigkeit; 1828 wurde er außerordentlicher Professor an der Universität, doch als er 1829 nach Docen’s Tode die Stelle eines ersten Custos an der königl. Hof- und Staatsbibliothek erhielt, durfte er freilich das lästige Amt eines Kadettenlehrers aufgeben, mußte aber gleichzeitig auch auf seine Stellung an der Universität verzichten. Der Bibliothek hat er dann mehr als 20 Jahre hindurch seine staunenswerthe Arbeitskraft, seine immer weiter ausgreifende Gelehrsamkeit gewidmet: was er für die Ordnung und Katalogisirung des 27 000 Nummern umfassenden Handschriftenbestandes [790] gethan hat, findet in der Geschichte des Bibliothekwesens schwerlich seines gleichen. Die Mehrzahl seiner weiteren Arbeiten, der altdeutschen Editionen vor allem, ist aus den Schätzen der herrlichen Sammlung hervorgegangen, deren ganzen Reichthum wir erst durch ihn und seine Kataloge kennen gelernt haben. Der 1866 erschienene Katalog der deutschen Handschriften ist ganz nach Schmeller’s kürzerem Verzeichniß gedruckt. 1844 rückte er zum Bibliothekar auf, 1846 trat er als ordentlicher Professor der altdeutschen Sprache und Litteratur auch wieder in die philosophische Facultät der Universität ein, ohne aber je eine Lehrthätigkeit zu entfalten, die der weitreichenden Wirkung seiner gelehrten Arbeiten entsprochen hätte. Der schönste Schmuck seines Daseins waren die Freundschaften, die er seit seinen Jünglingstagen geknüpft hatte, und die Hochachtung der Besten unter den Gleichstrebenden, Jacob Grimm’s vor allem, zu dem er selbst mit neidloser Bewunderung emporblickte. Reichen Dank und reichere Nachahmung sah er namentlich seinen mundartlichen Arbeiten erwachsen, und ihm selbst blieb die liebende Fürsorge für sein Wörterbuch zeitlebens; es war ein Verhältniß wie das Jacob Grimm’s zu seiner Grammatik, und die Neubearbeitung des großen Werkes durch G. K. Frommann (München 1872–1877) hat davon reichsten Nutzen gezogen. Als S. nach mancherlei Leiden und Kummer der letzten Jahre am 27. Juli 1852 aus dem Leben schied, hinterließ er keinen Feind und keinen Rivalen: an keinem Punkte, wo seine reiche wissenschaftliche Thätigkeit eingesetzt hatte, war er noch überholt oder überwunden worden.

Der Boden, auf dem Schmeller’s Liebe zum deutschen Volksthum und seine wissenschaftliche Individualität erwachsen ist, war ein ganz anderer als für Jacob Grimm und Ludwig Uhland, denen er als Mensch und Gelehrter nahe steht. Ihm scheint das Mondlicht der Romantik nicht geleuchtet, die blaue Blume nicht geblüht zu haben; seine dichterischen Jugendversuche knüpfen an unsere Classiker an, und die gleiche rousseauische Luft wehte ihm, kräftiger als jenen, aus einer anderen Richtung, aus der Schule Pestalozzi’s, zu. Für die Liebe zum Volksthümlichen bedurfte es bei ihm nicht erst einer litterarischen Vermittlung: er kam aus ländlichen Kreisen und war ihnen auch bei jahrelanger Entfernung nicht fremd geworden.

Dabei ist er eine echte und rechte Gelehrtennatur, ohne je ein Colleg gehört oder in den entscheidenden Jünglingsjahren methodische Anleitung erfahren zu haben. Er ist ein Autodidakt ohne das Gepräge des Dilettantismus. Er war ein gereifter Mann und hatte sich sein originelles Forschungsgebiet längst selbst gewählt, als ihm in dem grammatischen Riesenwerke seines Altersgenossen Jacob Grimm zuerst ein Vorbild jener historischen Sprachbetrachtung entgegentrat, der er auf andere Weise zustrebte. Was er bis dahin von diesen Dingen wußte, hatte er sich durch eigenste Arbeit erworben (vgl. seine Antrittsrede: „Ueber das Studium der altdeutschen Sprache und ihrer Denkmäler“, München 1827, S. 7 f.). Er hatte sich von der Adelung’schen Verachtung der alten vollen Sprachformen nur langsam emancipirt, indem er zunächst die lebende Sprache im Munde des Volkes zum Gegenstande zusammenhängender Beobachtung machte, und zwar weit über das lexikalische Interesse hinaus, das auch Andere damals den Dialekten entgegenzubringen begannen. So war ihm das organische Wesen der Sprache aufgegangen, dessen Erkenntniß seither durch die Büchersprache und ihre Regelgrammatik gehemmt war: er hatte den gleichen Pfad wie Jacob Grimm am entgegengesetzten Ende betreten und war eben zu einer gerechteren Betrachtung der älteren Sprachform vorgedrungen, als ihm der Meister mit reichen Schätzen historischer Erkenntniß beladen entgegen kam. Von nun an wurden ihm auch in seinen eigenen Studien die Fäden des Zusammenhangs klarer und dichter und ein großartiger Hintergrund trat hinzu. Er wußte seine bisher isolirte Dialektgrammatik [791] an das große System des germanischen Sprachbaus anzugliedern, und gleich die Formenlehre der „Mundarten Bayerns“ gab davon Kunde. In einem anderen Punkte hingegen hatte S. vor Jacob Grimm gleich anfangs einen Vorsprung. Die Behandlung der lebendigen Mundart bewahrte ihn vor einem Fehler, von dem sich die historische Grammatik nur sehr allmählich freigemacht hat, vor der Confusion von Laut und Buchstaben. Seine „Mundarten Bayerns“ wurden eröffnet durch einen Abschnitt über Aussprache, der an Umfang die Formenlehre fast erreicht: in dieser Werthschätzung der grundlegenden Lautlehre ist S. durchaus originell, da er den Vorgang des Niederländers Lambert ten Kate damals schwerlich gekannt hat.

Schmeller’s ganzes Wesen hängt mit dem Ausgangspunkt seiner gelehrten Arbeit auf’s engste zusammen: es haftet ihm etwas von dem kräftigen Erdgeruch des bäuerlichen Nährbodens an, und das verliert sich auch unter den Pergamentbergen seiner Bibliothek nicht ganz; es bleibt ihm, sobald er sich dem Wörterbuch wieder nähert, und bei wachsender Gelehrsamkeit zeigen die letzten Nachträge die gleiche Wärme und Frische wie der erste Wurf. Und wie weit hat er von vornherein den Rahmen gespannt! Aus der Sammlung des Wortschatzes wächst ihm Leben und Treiben, der ganze Charakter des Volkes heraus: in Liedern und Sprüchen, in Spielen und Bräuchen, in Scherzreden und Rechtsformen ist er ihm nachgegangen und hat so das alte Idiotikon zu einem wahren Archiv der Volkskunde erhoben.

Während der Reichthum und die Vorzüge von Schmeller’s mundartlichen Arbeiten, die seines Wörterbuchs vor allem, bei intimerer Beschäftigung noch beständig gesteigert erscheinen, liegen die Mängel auf den ersten Blick zu Tage und sind mit wenigen Worten gekennzeichnet. Es ist einmal die Anordnung nach Stammsilben, die eine pseudoetymologische, durch unsere Einsicht in das Wesen des Ablauts längst überwundene Gruppirung zu Grunde legt; immerhin besitzt sie auch in ihrer Unvollkommenheit praktische Vorzüge, die eine alphabetische Anreihung selbst mit unzählichen Verweisungen nicht erreicht, und die Herausgeber des Schweizerischen Idiotikons haben sich darum nicht entschließen können, in diesem Punkte von ihrem großen Vorbilde abzuweichen. Dann aber ist es die locale Ausdehnung wie Beschränkung des Sammelfeldes nach den politischen Grenzen: dadurch werden große Theile des bajuwarischen Sprachgebiets (Oesterreich) ausgeschieden und hingegen fränkische und schwäbische Territorien einbezogen. Aber hier muß man sich die Erwägung entgegenhalten, daß die Unterstützung von oben wie der rege Antheil und die freudige Mitarbeit von Seiten der Landsleute eben nur für ein Werk zu gewinnen waren, das dem vaterländischen Interesse gewisse Zugeständnisse machte. Schmeller’s anfänglicher Plan war wissenschaftlich begrenzter, und er hat anderseits später in den Nachträgen für reichlichere Ausnützung österreichischer Quellen Sorge getragen.

Schmeller’s Arbeiten auf altdeutschem Gebiete beginnen erst mit seiner akademischen Lehrthätigkeit, und neben ihnen geht seit seiner Anstellung an der Bibliothek eine stattliche Anzahl kleinerer Publicationen und Untersuchungen her, welche Gegenstände der romanischen und slavischen Philologie, der Archäologie und Kunstgeschichte, der bairischen Landesgeschichte, der Geschichte der Erdkunde betreffen und fast ausnahmslos an wichtige oder interessante handschriftliche Funde anknüpfen. Die Bibliographie, welche Föringer seiner Lebensskizze Schmeller’s anfügt, zählt im ganzen nicht weniger als 142 Nummern auf. Das eminente Sprachtalent, die ausgebreitete Gelehrsamkeit und die Fähigkeit, sich auch auf abgelegenen Gebieten rasch zu orientiren, ringen uns vielfach Bewunderung ab. Mag S. über die Ureinwohner Peru’s (1828), oder über das römische Denkmal von Igel (1847), über die Dynasten von Negroponte (1835) oder über Gluck’s [792] Geburtsjahr und Geburtsort (1831), über die spanischen und portugiesischen Familiennamen auf -ez (1849) oder über die nachbarliche Sprache in Böhmen (1843), über ältere handschriftliche Seekarten (1844) oder über die sog. Cimbern am Monte Rosa (1838) schreiben – zu Hause ist er überall. Nicht an Zahl, wol aber an Werth und Umfang überwiegen die altdeutschen Texteditionen, denen sich die für unsere Litteratur gleichwichtigen mittellateinischen Texte anreihen: S. ist es gewesen, der den Ruodlieb aufgefunden und in den mit Jacob Grimm gemeinsam bearbeiteten „Lateinischen Gedichten des 10. und 11. Jahrhunderts“ (1838) herausgegeben hat; ihm verdanken wir ferner die bedeutungsvolle Bekanntschaft der „Carmina Burana“ (1847). Läßt die Behandlung der lateinischen Texte genügende Sicherheit vermissen, so ist dafür die Edition der meisten deutschen Denkmäler von großer Sauberkeit. Als Taufpathe hat S. hinter dem „Heliand“ (1830) und dem „Muspilli“ (1832) gestanden; die Ausgabe des Heliand, diplomatisch getreu nach dem Monacensis mit den Lesarten des Cottonianus, war für ihre Zeit musterhaft, und das 1840 als zweiter Band erschienene Glossarium saxonicum ist noch heute unübertroffen und unentbehrlich: hier hat sich die Erfahrung des Mundartforschers mit der Arbeitsweise des Bibliothekars zu einer hervorragend tüchtigen Leistung verbunden. Ueber dem Druck der Tatianausgabe (1841) hat kein guter Stern gewaltet, von der vortheilhaftesten Seite aber zeigt sich S. wieder in den Editionen der Augsburgischen Ulrichslegende des Albertus (1844) und der „Jagd“ des Hadamar von Labes[1][2] (1850): der Herausgeber stattet den Haupttext mit reichlichen Beigaben aus, die zum Theil das Verständniß, zum Theil die litterargeschichtliche Würdigung fördern; er selbst aber tritt nicht mehr hervor, als unbedingt erforderlich ist. Diese zugleich vornehme und liebenswürdige Art, seine Gaben zu reichen, ist für S. ungemein charakteristisch: er freut sich, die schönen Sachen recht bequem zur Benutzung zu stellen; der Ehrgeiz, sie selbst auszubeuten, reizt ihn nicht. S. hat viele gute und einzelne recht scharfsinnige Conjecturen zu altdeutschen Denkmälern gemacht, aber er ging nie über die Emendationen hinaus, die ihm zum Wortverständnisse unbedingt nothwendig erschienen. Die Handhabung einer freieren Conjectural- und gar der höheren Kritik, eindringende Erforschung sagenhafter und litterarhistorischer Zusammenhänge hielt er nicht für seine Aufgabe. Aber er dachte frei genug, um an den kühnsten Emendationen und Hypothesen Anderer seine rechte Freude zu haben, und so hat er einen Conjecturalkritiker wie Konrad Hofmann mit Stolz aus seiner conservativen Schule hervorgehen sehen.

F. v. Thiersch, Gedächtnißrede auf S. in der Akademiesitzung v. 27. Nov. 1852. München 1853. – Föringer, Lebensskizze Schmellers. München 1855. – Konr. Hofmann, J. A. Schmeller. Denkrede. München 1885. – J. Nicklas, Joh. Andreas Schmeller’s Leben und Wirken, München 1885. – L. Rockinger, An der Wiege der baierischen Mundartgrammatik und des baierischen Wörterbuches (Oberbayerisches Archiv Bd. 43), München 1886.– Briefe und Gedichte Schmeller’s an Sam. Hopf in Bern hat Rettig in der Berner Gratulationsschrift für München (1872) herausgegeben. – Ueber Schmeller als Bibliothekar handeln ausführlich Konr. Hofmann in den Münchener Gel. Anzeigen 1855 Sp. 113–132, Ruland in Naumann’s Serapeum, 1855, S. 49–58, 353–364, 369–376.

[786] *) Zu S. 636.

WS: Die Seiten 793 bis 795 enthalten ein je dreispaltiges „Verzeichniß der im 31. Bande der Allgem. Deutschen Biographie enthaltenen Artikel“, das hier jedoch nicht transkribiert wird.

[Zusätze und Berichtigungen]

  1. S. 792. Z. 21 v. o. l.: Laber. [Bd. 33, S. 800]
  2. S. 792. Z. 21 v. o. l.: Laber. [Bd. 45, S. 671]