Verschiedene: Die Gartenlaube (1873) | |
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seit Jahrhunderten bis in unsere Tage eine nicht unbeträchtliche Zahl theils unnützer, theils zu beschränkter, theils geradezu falscher Regeln einander nachgeschrieben, dadurch aber den Ruf der Mühseligkeit und Schwierigkeit dieses Studiums auf das Abschreckendste vermehrt hatten. Auch der vierte Band, die Oper, enthält viel Neues, Eigenthümliches, namentlich psychologische Analysen von Arien etc. Diesen letzten Band vollendete Lobe bereits als Siebziger, gewiß auch ein seltenes Glück, daß Leib und Seele bis zu diesem Ziel (sein nächstes ist über’s Jahr seine goldene Hochzeit) ihm so treu zusammengehalten.
Neben diesem Hauptwerke haben wir von ihm einen „Katechismus der Musik“ (bei J. J. Weber, dreizehnte Auflage), einen „Katechismus der Compositionslehre“ (ebendaselbst), „Vereinfachte Harmonielehre“ (Leipzig, bei Siegel), auch Dilettanten zugänglich; ferner „Musikalische Briefe eines Wohlbekannten“, zweite Auflage, „Fliegende Blätter für Musik vom Wohlbekannten“, zwei starke Bände. Außerdem zahlreiche Aufsätze in Fachzeitungen und anderen periodischen Blättern, namentlich der „Gartenlaube“, „Illustrirten Zeitung“, „Europa“, in den „Signalen“ etc. Von letzteren erschien eine Sammlung als „Consonanzen und Dissonanzen“ (Leipzig, bei Baumgärtner), ein Buch, das, wie sein „Aus dem Leben eines Musikers“, uns auch den Menschen und Mann Lobe kennen lehrt, eine Bekanntschaft, deren sich Jeder freuen wird, der das Glück hat, sie gemacht zu haben.
Vor dem Rathhause zu Jena hielt eines Tages – es war Anfangs der Vierziger Jahre – ein langgestreckter, von allen Seiten hermetisch verschlossener Wagen. Auf der Außenseite desselben konnte man in großer Fracturschrift lesen: Theater von Eberle aus Wien. Demnach war es ein fahrender Thespiskarren. Die Thür desselben wurde von innen geöffnet, aber nicht um, wie sonst, ein ganzes Heer buntgekleideter Bühnenhelden und Heldinnen an’s Licht zu fördern, nein, ein alter, wohlbeleibter Herr nebst dito Gemahlin, hübscher Tochter und jugendlichem Sohne, das war des Pudels Kern. Eiligst ließ der Alte die Kisten abladen und nach dem Rathhause schaffen. Denn dort sollten die „Vorstellungen“ laut der Anschlagzettel vor sich gehen.
Schon am nächsten Tage verkündete der städtische Ausklingler, ein langer graubärtiger, bei dergleichen feierlichen Gelegenheiten mit einer großen Hornbrille bewaffneter Polizeidiener, den Beginn der Vorstellungen „mit obrigkeitlicher Bewilligung einem hohen Adel“, den es übrigens in Jena gar nicht gab, „und dem andern gewöhnlichen Publicum“.
Als erstes Stück wurde gegeben: Hamlet, Prinz von Dänemark, oder die Komödie in der Komödie. Ein Prinz als Hauptperson und dann eine Komödie, in der wieder Komödie gespielt wurde, das war für uns Kinder und viele Andere, welche die Bekanntschaft des „großen Briten“ überhaupt noch nicht gemacht hatten, etwas Vielversprechendes. Mit tiefer Aufmerksamkeit und täglich mehr als einmal studirten wir das Personal des Stückes, welches aus folgenden Personen bestand: Der König von Dänemark; die Königin; Hamlet, deren Sohn; Oldenholm, Kämmerer; Lehertes, Ophelia, dessen Kinder; Gustav, ein Student; Bernstiel, ein Officier; Hamlet’s Vater als Geist; Casperle, Hofnarr; Edle, Hofdamen, Knappen; Personen des zweiten Theaters: Gonzaga, ein Herzog; Betisda, seine Gemahlin; Lucian, sein Neffe.
Wir zerbrachen uns die jugendlichen Köpfe darüber, wer die Personen alle darstellen werde, da das Personal des Künstlers, wie es dem Wagen entstiegen war, nur aus drei Köpfen bestand. Durch die angeknüpfte Bekanntschaft mit dem Knaben des fremden Theatermeisters genoß ich die besondere Bevorzugung, bereits den Vorbereitungen zum Aufbaue des Theaters beiwohnen zu dürfen – nur Das, was hinter dem Vorhange vorging, wurde mir und dem Blicke jedes Dritten ängstlich verborgen; dieser innere Mechanismus war das tiefe Geheimniß des Meisters. Endlich kam der ersehnte Abend der ersten Aufführung. Die „Stadtpfeifer“ spielten ein rührendes Stück; der Vorhang ging auf und – Hamlet und sein Freund Gustav, der Student von Wittenberg, lauerten auf den Geist von Hamlet’s Vater. Ein kalter Luftzug strömt rechts aus der Coulisse und – der Geist ist da. Dann die Abschiedsscene zwischen Oldenholm-Polonius und dessen Sohne Lehertes (Laertes). In den weiteren Acten des Schauspiels ereignete sich Alles wie im Shakespeare’schen Stücke: der Tod des Polonius, der Selbstmord der Ophelia – Alles ganz wie beim großen Briten. Dann kam der Zweikampf des Laertes und Hamlet. Hier aber starben die beiden Duellanten nicht, sondern nach Beseitigung des lasterhaften Königspaares erzählt Hamlet dem Gegner deren Schandthaten, erhält von Laertes Verzeihung für den unverschuldeten Mord seines Vaters Polonius und den verschuldeten Heimgang seiner Schwester Ophelia und wird – nach einer rührenden Versöhnungsscene – als König von Dänemark ausgerufen. Das Publicum ging, durch diesen Ausgang völlig befriedigt und versöhnt, nach Hause. Es brauchte nicht erst die Nacht hindurch schlaflos zu grübeln, wo die tragische Schuld des sterbenden Helden versteckt lag. Dieser Hamlet war auch kein solcher „phlegmatisch-fetter“ Träumer und Kopfhänger, der über der Reflexion nicht zur That kommt, wie sein Shakespeare’scher Vetter. Er ging weit sicherer auf’s Ziel los und überließ die „schlechten Witze“ seinem Hofnarren Casperle. Diesem war es auch vorbehalten, die berühmte Streitfrage über Hamlet’s wirklichen oder nur verstellten Wahnsinn, welche das Hirn manches deutschen Gelehrten schon in bedenkliche Verfassung gebracht hat, kurz und sicher zu beantworten. Als Casperle nämlich den Untergang der Ophelia drastisch berichtet, aber die letzte Spannung noch zurückhält, fragt ungeduldig die Königin:
„Ist sie denn todt?“
„Todt? – Nein, todt ist sie nicht –“
„Nun, was denn?“
„Sie ist ersäuft.“
„Caspar,“ meint hierauf die Königin, „Caspar, Ihr seid närrisch.“
Da spricht dieser das gewichtige Wort: „Und Euer Sohn auch!“
In dieser Weise war das Stück für die Gefühlslage des Volkes zurecht gelegt. In derselben Weise waren auch die anderen Stücke unserer Rathhausbühne bearbeitet: überall eine derb in die Augen springende, rasch sich abwickelnde Handlung, ein Wechsel von Humor und Ernst, wie ihn zuletzt auch das wirkliche Leben bietet. Kurz, es war der Rest des alten deutschen Volkstheaters, der sich hier erhalten und in die ehrwürdigen Räume des städtischen Capitols gerettet hatte. Freilich waren es nicht mehr Menschen, die es darstellten, es waren nur halblebensgroße – Puppen. Wir Kinder indeß glaubten nicht an diese nüchterne Auflösung dieses Räthsels, für uns behielten die Figuren Fleisch und Bein. Aber bald wurde ihre wirklich culturgeschichtliche Bedeutung auch unter den Gelehrten gewürdigt. Namentlich war es Simrock, der große Forscher auf dem Gebiete altdeutscher Literatur, der auf das literarische und kulturhistorische Interesse dieser Puppentheater aufmerksam machte, ihnen nachforschte und ein wichtiges Repertoirestück derselben, das alte Drama von Doctor Faust, dem Nekromantisten, zusammenstellte und herausgab, ein Stück, das nach Simrock’s Ansicht „von dem Werke des großen Meisters Goethe nicht in den Schatten gestellt wird, sondern ebenso kühn und geistreich erfunden und durchgeführt ist“.
Die Stücke dieser Puppenbühne sind nicht gedruckt, oft kaum im Manuscript vorhanden, sondern werden unter den Theatern mündlich fortgepflanzt, wie alle echte Volkspoesie. Es beruht darauf das Zunftgeheimniß und wird möglichst streng gewahrt, so daß es schwer hält, den Inhalt der Stücke sich anzueignen. Außer dem genannten Wiener Eberle existirten und existiren noch manche andere Theaterdirectoren dieses Schlags. So war nach Simrock in Oberdeutschland die Schütz- und Dreher’sche Gesellschaft in den zwanziger Jahren zu Hause, während die Simrock’sche Faustquelle hauptsächlich ein Manuscript des Puppenspielers Geißelbrecht bildet. Auch in neuerer Zeit tauchen die Puppentheater vielfach wieder auf. Sie vermeiden meist die größeren Städte mit ihren „lebendigen“ Theatern. Auch sonst ist ihr
Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 340. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_340.JPG&oldid=- (Version vom 27.8.2018)