Verschiedene: Die Gartenlaube (1877) | |
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Hermann machte eine unwillkürliche Bewegung. Der Oberst warf einen schnellen Blick auf das erregte Gesicht seines Gegenüber, kreuzte die Arme fest, beinahe gewaltsam über die Brust und durchmaß wiederholt das Zimmer mit schweren Schritten.
„Sie tragen keine Schuld, Barner – zugegeben!“ sagte er und stand zögernd vor Hermann; „aber nur wo der Tod Schildwache steht, ist ein Geheimniß sicher vor Verrath. Es muß sein. Mein Wunsch wäre ein amerikanisches Duell –“
„Ein amerikanisches Duell?!“ unterbrach ihn Hermann überrascht, und der Blick, welchen er auf Kettler heftete, sprach noch lebhaftere Einwendung aus, als das Wort.
„Mein Vorschlag fällt Ihnen auf?“ fragte der Oberst, indem er ihn scharf fixirte, mit gelassenem Tone. „Bei Berücksichtigung der Umstände werden Sie mir aber beipflichten. Wir sind Officiere; ein Duell ohne Zeugen ist für uns unmöglich, und entschließen wir uns, Zeugen zu wählen, dann steht das Geheimniß auf dem Spiele, um dessen willen wir Gegner geworden. Mag fallen wer da wolle, den Räthseln und Fragen wäre Thür und Thor geöffnet, und – für Eine gäbe es dann überhaupt kein Räthsel mehr. Mein Vorschlag hilft über alle diese Schwierigkeiten hinweg; er ist einfach und führt uns zum Ziele. Verabreden wir dreimonatliche Frist! Zeit genug, sein Haus zu bestellen. Der, welcher das schwarze Loos ziehen wird, fällt innerhalb dieser Zeit. Für den entscheidenden Zug fordere ich für mich die Vorhand. Einverstanden?“
Als Hermann seine Hand erhob, um die gegen ihn ausgestreckte Rechte Kettler’s zu berühren, schob sich plötzlich gleich einem Schemen die Gestalt seiner Mutter zwischen ihn und den Andern. Sein Gewissen schlug, aber das Ehrbewußtsein in ihm war stärker. Was der alte, bewährte Officier als Nothwendigkeit bezeichnete, vermochte der jüngere nicht zu verweigern. Die kalten Hände Beider schlossen sich in einander zum Bunde des Todes, um sich nach kurzem Druck wieder zu lösen.
Der Oberst griff nach seinem Hute. „Unten im Clublocal giebt es Ballotage-Kugeln,“ sagte er flüchtig. „Ich bin im Augenblicke wieder hier.“
Während sein schwerer Tritt auf der Treppe verklang, blieb Hermann wie an die Stelle gewurzelt. Ein sonderbares Hellsehen führte seinen Geist in die Heimath; wie ein Bild im Rahmen stand dort seine Mutter im Trauerkleide, das sie seit dem Tode ihres Gatten nie abgelegt, und ihr verzweifelter Blick drang dem Sohne bis in das Innerste. Durfte, mußte er, ihr letztes Gut, sein Leben frevelnd auf einen Wurf setzen, nur weil ein Zweiter es so begehrte? Was war der Einsatz bei diesem schaurigen Spiele? Nicht eigene, nicht fremde Ehre – deshalb gab es auch, wie keinen Streit, so keinen Kampf, nichts als den Tod. Wie hatte doch dieser Mann, den er nach wie vor hassen mußte, aber nicht mehr verachten konnte, seit er ihm in die stolzen Augen geschaut, wie hatte er gesprochen? Ein Geheimniß sei nur da behütet, wo der Tod Schildwache stehe?
Heiße Lohe flammte über die blassen Wangen Hermann’s; ein Zittern rieselte ihm durch alle Glieder. Der Oberst zweifelte also an seiner Ehre, seiner Discretion? Ja, wahrlich, es mußte sein. Unerträglich die Vorstellung, daß ein Mensch auf Erden, daß gar dieser so gering von ihm denken durfte, um den Tod als Wacht nöthig zu erachten, wo die Ehre einer Dame in Frage kam. Alle Bande traten zurück, dieser Wallung gegenüber, unter deren brennender Gluth sich im tiefsten Grunde der Stachel jüngst erlittener Qualen barg – ein um so schärferer Stachel, als sein Bewußtsein ihn doch nicht völlig von Schuld freisprach. Der Oberst hatte ihn gefordert, weil er Zeuge jener Scene geblieben, nicht weil er es gewesen. War auch der Anfang seines qualvollen Lauschens unfreiwillig, das Ende durfte er nicht mehr so nennen. Und darin hatte der Oberst Recht: ein Duell in der regelmäßigen Form stellte nicht nur das Geheimniß in Frage; es ließ auch den Familien beider Gegner ein schmerzliches, nie zu lösendes Räthsel zurück; es belud, wer auch fallen mochte, die Einzige, welche dessen Ursache ahnen würde, mit furchtbarem Bewußtsein. Wohlan denn! Ein Fatum war es, das ihn zur bösen Stunde an jenen Ort geführt – und weil er so empfand, fühlte er sich auch vom Fatum beherrscht. So mochte denn der Würfel fallen, gleichviel wie.
Noch wirbelten in ihm die Gedanken in wilder Jagd, als der Oberst zurückkehrte. Sein scharfes Auge überflog das Zimmer; er näherte sich einem Seitentische, streckte die Hand nach dem dort stehenden Aschenbecher aus, und trat damit zu Hermann. Während er ruhig eine schwarze Kugel auf dessen Grund gleiten ließ, bot er dem jungen Manne die weiße Kugel: „Für Sie!“
Ehe Dieser das Symbol des Lebens gleichfalls in den Becher warf, blickte er seinen Gegner einen Moment an. Auf Kettler’s Zügen lag ein Ausdruck, den der Jüngere nie wieder vergaß. Der Oberst bewegte leicht den Becher, welchen er nicht aus der Hand gelassen; leise klang es darin, während er ihn hob und langsam sprach: „Drei Monate Frist. Bei meiner Ehre!“
„Bei meiner Ehre!“ wiederholte der jüngere Mann. Jeder Blutstropfen drängte sich ihm gegen das Herz, als er die Finger des Obersten in die Höhlung tauchen sah. Gleich darauf öffnete dieser seine Handfläche. Eine schwarze Kugel lag darin. Während er sie betrachtete und in seine Brusttasche gleiten ließ, brach es wie ein Blitz aus seinen Augen. Er reichte Hermann schweigend die Hand. Auch dieser blieb stumm; sein Blick traf den des Andern mit unaussprechlicher Gewalt.
„Wünschen Sie mir Glück!“ sagte Kettler mit energischem Ton, indem er Hermann’s Hand nach starkem Drucke frei ließ. „Es kam, wie es mußte. Nicht immer ist das Schicksal sinnlos. Leben Sie wohl und – glücklich, wenn das möglich, ist!“
Er war fort. Hermann erfaßte mechanisch den Becher, in dem über Leben und Tod gewürfelt worden. Als er die weiße Kugel, welche darin für ihn zurückgeblieben, an sich nehmen wollte, der erschütternden Stunde zum Gedächtniß, schrak er zusammen. Auf dem Grunde des Bechers lagen zwei Kugeln; noch jetzt blieb der Weißen eine schwarze gesellt.
Der Fordernde in diesem verhängnißvollen Spiele hatte sich doppelte Chance gegeben.
An diesem wie am nächsten Tage hing die Zeit wie Blei über Hermann. Was er auch beginnen mochte, die drückende Last der Gedanken wenigstens zu lüften, er konnte, sich auch nicht für die Dauer eines Augenblicks davon frei machen. Der Boden brannte ihm unter den Füßen. Von Anfang an war seine Rolle in all dieser Tragik eine passive gewesen und sollte so bleiben. Das Leben, bisher für ihn ein reiches Gut, erschien ihm jetzt kaum als willkommenes Geschenk – der Kummer um die Räthsel der Welt und des menschlichen Daseins überwog in ihm jede andere Empfindung. Ein schmerzliches Geheimniß läßt sich nur dann ertragen, wenn das Dunkel, worin es sich hüllt, heiliger Art ist. Nur eine Sehnsucht war noch in ihm lebendig: nach Hause! eine melancholische Sehnsucht nach Ruhe und Licht. Noch zwei Tage waren durchzuleben – dann durfte er seinem Heimweh folgen.
Es war spät Abends, gegen neun Uhr, als der junge Mann, nachdem er einmal wieder zehn Gassen durchlaufen hatte, damit er die Stille seines Zimmers ertrüge, sich dort niedersetzte, um ein Wort über die Stunde seiner Ankunft nach Hause zu schreiben. In dem Club-Local unter ihm ging es lebhaft zu; es war heute Gesellschaftsabend; das Gesumme der Stimmen, die Stöße der Billardkugeln drangen herauf, und so überhörte er das Geräusch der sich leise öffnenden Thür – er hatte einen Gesellschafter bekommen.
Ein Begrüßungswort des Eingetretenen ließ Hermann aufblicken, und mit Befremden sah er Oberst Kettler vor sich. Schweigend erhob er sich und erwiderte den Gruß; er hatte nichts weniger erwartet als mit diesem Manne nochmals an dieser Stelle zusammenzutreffen. Seine Miene mochte dies unverhohlen genug ausdrücken, denn ein bitteres Lächeln zuckte um Kettler’s Lippen, als er mit einem Blicke auf das halbgefüllte Briefblatt sagte:
„Ich störe Sie – lassen Sie sich das aber gefallen! Es wird Sie nicht gereuen.“
Der bedeckte Ton, in dem diese Worte erklangen, berührte Hermann eigenthümlich und entwaffnete augenblicklich seine Mißstimmung. Im Begriffe, seinem Gaste nach dem Sopha zu folgen, auf das Jener niedergesunken war wie ein Todmüder, nahm er die Lampe vom Schreibtische, um sie dem Oberst näher zu rücken.
„Lassen Sie das Licht!“ sagte Kettler, „kommen Sie zu mir! Ich muß Ihnen so Manches –“
Obgleich Hermann ihm schon minutenlang gegenüber gesessen, nahm der Oberst doch das Wort nicht wieder auf. Die Augen
Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 294. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_294.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)