verschiedene: Die Gartenlaube (1899) | |
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Der Name ist wahrscheinlich aus einer Verballhornung von Countrydance entstanden, allein er paßte vollkommen für die Gestalt, die der neue Tanz in Frankreich erhielt, weil hier das „Gegenüber“ eine Hauptrolle spielt. In seiner ursprünglichen Gestalt ein Kolonnentanz, erhielt er jetzt nämlich sehr schnell die Form der Quadrille. So dringt er siegreich in immer weitere Kreise der Gesellschaft, bis er schließlich sogar hoffähig wird. Im Jahre 1745 flicht ihn Rameau nämlich als „divertissement“ in sein Ballett „Les fêtes de Polymnie“ ein und erzielt damit einen Beifall, der entscheidend ward für die Weiterentwicklung dieses Tanzes. Die gesamte Regierungszeit Ludwigs XV wird nunmehr von ihm beherrscht.
Auf dem Boden, unter welchem
bereits die Revolution ihren
vulkanischen Herd hat, belustigt
man sich in den Figuren des
Kontertanzes. Er sieht die Bastille
in Trümmer sinken, man spielt
ihn unter dem Gejohle der Menge,
während Ludwig XVI und Marie
Antoinette auf dem Schafott
enden. Er ist recht und schlecht
der Tanz der Revolution; er
überdauert sie auch und weiß
sich selbst während des ersten
Kaiserreichs, wo man so gern
mit den Allüren des Königtums
kokettierte und diese wieder einzuführen
sich bemühte, in Ansehen
zu erhalten. Allerdings
büßt er auch seinen ursprünglichen
Charakter allmählich ein.
Das Tempo ist langsamer geworden,
der Hüpfschritt einem zierlicheren Pas gewichen. Vor
allem aber hat er durch die Quadrillenform die Umgestaltung
erfahren, deren es bedurfte, um ihm die Gunst der tanzenden
Menge zu bewahren. Denn dadurch wurde es möglich, ihn in
Touren zu zerlegen und somit jene Mannigfaltigkeit der Figuren
herbeizuführen, die noch heute dem Kontertanz einen so hohen
gesellschaftlichen Wert sichern. Kontertanz und Quadrille
sind nunmehr choreographisch kaum noch auseinanderzuhalten. Sie
gehen ineinander über, sie ergänzen sich; sie tauschen
ihre Figuren aus, ja werden hier und dort in der Benennung
miteinander verwechselt. Das sollte jedoch vermieden
werden: Kontertanz und Quadrille verhalten sich
zu einander wie Inhalt und Form, wie Kern und Hülle.
In einigen Gegenden nennt man den Kontertanz sogar
schlechtweg Quadrille francaise,
im Gegensatz zu den vielen anderen Quadrillen,
die gleichfalls im Laufe der Zeit entstanden sind. Die
bekannteste derselben ist jedenfalls die Quadrille à la cour
oder, wie sie ursprünglich und eigentlich heißt: die Quadrille
des Lanciers. Sie wurde zuerst 1856 in Paris von Laborde
gelehrt, als Nachahmung eines altenglischen Tanzes. Kaiserin
Eugenie, damals auf dem Gipfel ihrer Macht und eine
große Bewundrerin der Tanzkunst überhaupt, war entzückt.
Einen ganzen Winter hindurch bildete diese Quadrille des Lanciers
die fast ausschließliche Belustigung des Hofes und der Aristokratie.
Im Hotel Castellane wurde sie sogar einmal von sechzehn wirklichen
Ulanenoffizieren getanzt, die man, da ein solches Regiment nicht
in Paris in Garnison lag, zu diesem Zwecke eigens aus Fontainebleau
hatte kommen lassen. In Berlin wurde sie in etwas veränderter
Gestalt als Quadrille à la cour aufgeführt, zuerst auf
einem Balle, den die Mitglieder des Corps de Ballet veranstalteten,
um dann von hier aus weiter den Weg in die Gesellschaft zu nehmen.
Auch der Kontertanz in der jetzt allgemein üblichen Gestalt
stammt aus Berlin. Im Jahre 1821 fand im Hohenzollernschlosse
ein Hofball statt, wo man ihn in Touren tanzte, die
sowohl durch die Schrittweise als auch durch das Arrangement der
Figuren den allergrößten Beifall fanden. Lauchery, der Ballettmeister
der Hofoper, veröffentlichte dann bald darauf
diesen Kontertanz in Beckers damals vielgelesenem „Taschenbuch
zum geselligen Vergnügen“; so fand er denn schnell seinen Weg
in die Oeffentlichkeit und konnte sich über ganz Deutschland verbreiten.
In Frankreich selber besaß der Kontertanz damals noch
bei weitem nicht diese edle, vornehme Form. Man tanzte ihn,
zumal auf den öffentlichen Bällen, lebhafter, ungenierter, mit deutlicher
Rückerinnerung an den
englischen Hüpfschritt, aus dem er entstanden war. Heute ist das
Tempo wohl überall ruhiger, gemessener, aber dafür auch der
Tanz seinem ganzen Charakter nach einförmiger und leider oftmals
auch langweiliger geworden. Man vernachlässigt den Pas,
ist mit den Figuren nicht vertraut und meint allen Anforderungen
gerecht zu werden, wenn man salopp nach dem Takt der
Musik wie spazierend dahinschreitet. Das soll vornehmer Ton
sein, während es doch nur Schlendrian ist. Der Verfall, der
die ganze moderne Tanzkunst begleitet, offenbart sich eben auch im Kontertanz.
Dieser Niedergang beginnt, wie Riehl, der große Kulturhistoriker, treffend bemerkt, mit der französischen Revolution und ist noch heute nicht völlig überwunden, während dagegen „im Zeitalter Ludwigs XIV das Ohr für die Feinheiten der Tanzrhythmik am allgemeinsten und höchsten ausgebildet erscheint. Um damals im Tanzsaal zu unterscheiden, ob eine Courante aufgespielt wurde oder ein Menuett, ob eine Gavotte oder eine Bourrée, dazu gehörte eine Schärfung des rhythmischen Instinkts, von der wahrlich wenig mehr übrig geblieben ist bei unseren tanzenden jungen Leuten, die oft sich noch besinnen, ob das ein Walzer oder Galopp ist, was ihnen die Musik eben mit dem rhythmischen Dreschflegel in die Ohren paukt.“
verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 96. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0096.jpg&oldid=- (Version vom 13.8.2023)