ADB:Giesebrecht, Wilhelm von
A. D. B. IX, 156–162) gezeichnet hat, können wir durch drei Generationen als ein Geschlecht von Pastoren und Schulmännern verfolgen. Der Großvater Benjamin war Pfarrer zu Mirow in Mecklenburg-Strelitz. Eine ehrwürdige und eigenartige Persönlichkeit von ausgeprägter romantisch-mystischer Färbung war dessen Sohn Ludwig, Wilhelm’s Oheim, Professor und Schulrath in Stettin, Verfasser der „Wendischen Geschichten“. Wilhelm’s Vater, Karl, war Professor am Gymnasium zum Grauen Kloster in Berlin. Ein von Patriotismus und Poesie angehauchtes wissenschaftliches Streben, verbunden mit regem pädagogischem Triebe, war in G. das Erbtheil seiner Ahnen. Auch der Geist des evangelischen Pfarrhauses ist immer in ihm lebendig geblieben und in jungen wie alten Jahren liebte er von seinem strengen Glauben Zeugniß abzulegen. Hat er sich doch in einem Briefe an den Oheim Ludwig aus dem Jahre 1854 sogar zu dem Satze bekannt, daß außer der Kirche kein Heil sei. Allem, was außerhalb der Schranken dieser Weltanschauung lag, trug er eine nie leidenschaftliche, doch immer entschiedene Ablehnung entgegen. Der leichte Sinn der Franzosen war ihm so zuwider wie die gesellschaftliche und moralische Ungebundenheit einer genialen Künstlernatur. Auch die kosmopolitischen und liberalen Strömungen seiner Jugendjahre übten keine Macht auf ihn. Auf die lebhafteste nationale Gesinnung wirkte die Familientradition, wirkte ebenso die Erziehung, zuerst in der Anstalt des mit Jahn befreundeten Dr. Franz Marggraff in Berlin, dann, von den mittleren Gymnasialclassen an, am Grauen Kloster. Als des Schauplatzes seiner Jugendspiele hat G. in den Erinnerungen an seinen Freund und Studiengenossen Rudolf Köpke der [342] mittelalterlichen Hallen und Höfe dieser Anstalt gedacht. Er wirkte bei den Theateraufführungen der Schule mit und ein Club junger Poeten, der daraus erwuchs, reichte noch in seine Universitätsjahre herein.
Giesebrecht: Friedrich Wilhelm Benjamin von G., Historiker, geboren am 5. März 1814 in Berlin, † am 18. December 1889 in München. Die Familie stammt aus Rostock. Wilhelm’s Ahnen, deren Lebensbilder er selbst (s.Zu Ostern 1833 bezog er die Universität Berlin, wo er Boeckh, Steffens, Gans, Hotho, Ranke hörte. Von Hegel’s Einfluß unberührt zu bleiben war damals in Berlin nicht wohl möglich. Daß G. aber mit jugendlichen Feuer diesen Philosophen neben Goethe als seinen Halbgott proclamirte, trug ihm von Seiten eines streng rechtgläubigen Vetters und Gönners, des Justizrathes Wilke in Halle, eine ernste Warnung ein. Das Zureden dieses verehrten Mannes, das Vorbild des Stettiner Oheims (sein Vater war 1832 gestorben), die ganze Tradition der Familie bewirkte, daß seine Schwärmerei für den Philosophen der Mode nur eine rasch vorübergehende Phase in seiner Entwicklung blieb. Die Hegel’sche Philosophie hat seinen Geist aufgewühlt, wie die Pflugschar das Erdreich, aber sie vermochte nicht als fruchtbarer Samen darin Wurzeln zu schlagen, und die philosophischen Anwandlungen seiner Studienjahre übten keinen Einfluß auf die Geistesrichtung des Mannes. Dagegen fehlt es nicht an einem Zusammenhange zwischen den poetischen Bestrebungen des Jünglings und seinem späteren wissenschaftlichen Hauptwerke. Als Zwanzigjähriger dichtete G. eine Tragödie: „König Otto I. und sein Haus“. In einem Lustspiele in zwei Acten, betitelt: „Aus seinem Leben“, behandelte er eine Episode aus Goethe’s Leben. Drei Mal sein Werk umarbeitend, übersetzte er die Antigone des Sophokles, und für Lieder, die er gedichtet, hoffte er in Löwe den Componisten zu finden. Das Streben des jungen Dichters fand Anerkennung, der damals gefeierte „märkische Dichterfürst“ de la Motte-Fouqué ward sein Gönner und um dem Talent die Bühnenroutine zu gesellen, wurde G. an zwei beliebigen Wochentagen freier Eintritt im kgl. Schauspielhause gewährt.
Schon in den ersten Universitätsjahren aber ist in ihm auch die vorwiegende Neigung zur Geschichte erwacht. Mit Waitz, Siegfried Hirsch, Dönniges, Roger Wilmans und seinem vertrautesten Freunde Köpke nahm er an Ranke’s historischen Uebungen theil und half die „Ranke’sche Schule“ begründen. Als Bearbeiter der Preisfrage über K. Heinrich I. (1834) erntete er zwar Ranke’s Lob, mußte jedoch dem älteren und gereifteren Waitz den Preis und Hirsch das Accessit überlassen. Seine Jahrbücher Otto’s II. aber, mit denen er 1840 als Mitarbeiter der von Ranke angeregten und geleiteten Jahrbücher des deutschen Reiches unter dem Sächsischen Hause hervortrat, waren schon eine vorzügliche Leistung, wenn auch wenig später durch den Nachweis der Chronik von La Cava als einer Fälschung ein Stein seines Baus untergraben wurde. Mittlerweile hatte er im Sommer 1836 die Prüfung für das höhere Schulamt bestanden und 1837 nach dem vorgeschriebenen Probejahre als Adjunct und Lehrer an dem Joachimsthal’schen Gymnasium in Berlin, das unter der Leitung des feinsinnigen Meinecke stand, die erste Anstellung gefunden. Mit seinem Amte war die Inspection in dem Alumnate des Gymnasiums verbunden. 1846 wurde er Oberlehrer, 1851 Professor an demselben Gymnasium. In seiner litterarischen Thätigkeit bezeichneten die „Annales Altahenses“ (eine Quellenschrift zur Geschichte des 11. Jahrhunderts, aus Fragmenten und Excerpten hergestellt, 1841) einen besonders glücklichen Wurf. Geschichtswerke des 15. und 16. Jahrhunderts, vornehmlich der bairischen Historiker Staindl und Aventin, boten den Stoff zur Wiederherstellung der verlorenen Quellenschrift aus dem bairischen Kloster Niederaltaich a. d. Donau, die für die Zeit Heinrich’s III. am wichtigsten ist. Einzig war die glückliche Fügung, daß die sonst der Geschichtsforschung versagte [343] Probe der Ergebnisse auf ihre Richtigkeit hier gewährt wurde. Etwa zwanzig Jahre später fanden sich fast unter den Augen des Wiederherstellers die verlorenen Annalen in einer Abschrift Aventin’s im Besitze eines Münchener Schülers Giesebrecht’s und durch den Fund wurden seine großartigen Conjecturen in allem wesentlichen bestätigt – ein erfreulicher Beweis sowol für die Sicherheit der kritischen Methode wie für den Scharfsinn und die Sorgfalt, womit G. diese gehandhabt hatte. 1868 konnte der Wiederhersteller der Niederaltaicher Annalen gemeinsam mit Edmund v. Oefele, dem Besitzer der Handschrift (die jetzt der Münchener Staatsbibliothek zurückgegeben ist), die lange verschüttete Quelle in den Mon. Germ. veröffentlichen.
Von Herbst 1843 bis Ostern 1845 besuchte G. mit staatlicher Unterstützung die Bibliotheken von Wien, Venedig, Florenz, Rom, Montecasino. Seine Handschriftenuntersuchungen und Vergleichungen dienten vornehmlich der Papstgeschichte und dem 11. Jahrhundert; den 7. Band der Scriptores in den Mon. Germ. eröffnete „Johannis chronicon Venetum et Gradense“ nach der von ihm hergestellten Abschrift eines vaticanischen Codex. Eine weitere Frucht seiner Reise war die 1845 erschienene Schrift „De literarum studiis apud Italos primis medii aevi saeculis“. Seinem künftigen Lebenswerke kam auch die genauere Beobachtung des katholischen Kirchenlebens zugute, die ihm in Italien ermöglicht war. Sie lehrte ihn, nach seinen eigenen Worten, „daß die katholische Kirche sich Vorzüge bewahrt habe, die der protestantischen verloren gegangen sind“. Seine italienischen Reiseeindrücke legte er in einer langen Reihe von Feuilletonartikeln in der Allgemeinen Preußischen Zeitung (20. Dec. 1843 bis 10. März 1845) nieder und das journalistische Geschick, das sich darin kundgab, hat es mit veranlaßt, daß Pertz im Einverständniß mit dem Minister Eichhorn G. gegen Ende des Jahres 1846 die Stelle des Hauptredacteurs einer neu zu gründenden „Deutschen Zeitung“ antrug. Der Plan gedieh jedoch nicht zur Ausführung, wie auch ein späterer Versuch, G. für die Presse zu gewinnen – man darf sagen: glücklicherweise – scheiterte.
In den Märztagen 1848 sah sich der Gelehrte in seiner Wohnung an der Leipziger Straße von den Schrecknissen der Straßenkämpfe umtobt. In seinen Erinnerungen an Köpke hat er über die Berliner Revolution ein vernichtendes Urtheil gefällt; alles, was ihre Führer in Scene setzten, schien ihm den Stempel der Gemeinheit oder der Lächerlichkeit zu tragen. „An dem Tage, da ich der Demokratie auch nur einen kleinen Finger reichte“, schrieb er später, „glaubte ich mich dem Satan ganz hingegeben zu haben“. Am Parlamentarismus aber ließ ihn das maßlose Gebaren der Opposition in der Kammer nicht verzweifeln. Im Vorstande des Patriotischen Vereins entfaltete er in Wort und Schrift eine rührige Thätigkeit für die monarchischen und conservativen Principien. Von ihm sind die beiden Ansprachen verfaßt, die der Central-Ausschuß der verbundenen monarchisch-constitutionellen Vereine erließ, als das Erfurter Parlament zusammentreten sollte. Nach dem stürmischen Jahre 48 aber – und das ist typisch für die Entwicklung unserer öffentlichen Verhältnisse – hat G. nie wieder die Arena der politischen Kämpfe betreten.
Neben der Schule nahmen ihn nun wissenschaftliche Arbeiten ganz in Anspruch. Bald nach seiner Rückkehr aus Italien hatte er in einer Abhandlung über das Vaticinium Lehninense (in Schmidt’s Zeitschrift f. Geschichtswissenschaft 1846) die jetzt allgemein angenommene Auffassung begründet, daß diese Weissagung in den achtziger Jahren des 17. Jahrhunderts gefälscht worden sei. Er glaubte Wahrscheinlichkeitsgründe zu erkennen, die für Christoph Heinrich Oelven als Verfasser sprechen. Es knüpfte sich daran eine Polemik [344] mit dem Pfarrer Wilhelm Meinhold, dem Verfasser der „Bernsteinhexe“, der trotz der stärksten Gegenbeweise an der Autorschaft des Mönches Hermann von Lehnin festhielt. 1851 folgte eine musterhafte Uebersetzung Gregor’s von Tours, 1852 eine Untersuchung über die Quellen der früheren Papstgeschichte. In der Hauptsache abschließend war die werthvolle Abhandlung über die Vaganten oder Goliarden und ihre Lieder (1853). Die berühmtesten dieser Lieder stammen aus Benedictbeuren – es war wie ein Omen, daß G. nun zum zweiten Male einen bairischen Stoff aufgriff.
Mittlerweile aber – bald, nachdem die politische Erregung sich etwas gelegt hatte – war der Plan eines großen Lebenswerkes in ihm gereift. Schon hatte Friedrich v. Raumer’s Buch über die Hohenstaufen die Theilnahme weiter Kreise für das deutsche Mittelalter geweckt. G. gedachte nun weiter auszuholen und die Geschichte der ganzen deutschen Kaiserzeit zu erzählen. Um seine eigenen Worte zu gebrauchen: die Periode wollte er schildern, „da unser Volk, durch Einheit stark, zu seiner höchsten Machtentfaltung gedieh, da es nicht allein frei über sein eigenes Schicksal verfügte, sondern auch anderen Völkern gebot, da der deutsche Mann am meisten in der Welt galt und der deutsche Name den vollsten Klang hatte“. 1855 erschien der erste, bis zum Tode Otto’s III. reichende Band der „Geschichte der deutschen Kaiserzeit“, gewidmet dem Könige Friedrich Wilhelm IV., dem Landesherrn, mit dem sich der Historiker wahlverwandt fühlte in der Lebendigkeit des christlichen Glaubens, in der Verehrung einer göttlichen Ordnung in der Monarchie, in der Bewunderung des gläubigen und heroischen Mittelalters. Wissenschaftlich gediegen, durch die Form anziehend, von Fachgenossen wie Dümmler, Wattenbach, Büdinger auf das günstigste recensirt, erhob das Buch seinen Verfasser sofort unter die angesehensten deutschen Historiker. 1857 wurde ihm als der hervorragendsten Leistung in vaterländischer Geschichte der große Königspreis in Berlin zuerkannt, einige Jahre vor dem Tode des Verfassers wurde es auch mit dem Wedekind-Preise gekrönt. Der zweite Band war dem ersten rasch gefolgt. Der dritte, der das Zeitalter des Investiturstreites behandelt, erschien erst 1868, der vierte 1874, die zwei noch von G. rührenden Theile des fünften Bandes, die bis zum Sturze Heinrich’s des Löwen führen, 1880 und 1888. Der Schlußtheil dieses Bandes – bis zum Tode Friedrich Rothbart’s – wurde nach des Verfassers Tode von Giesebrecht’s Königsberger Schüler Simson vollendet. In fünf Auflagen wurde das Werk trotz seiner Kostspieligkeit verbreitet, und so bot sich dem Verfasser die mit unverdrossener Ausdauer benutzte Gelegenheit, die rührige, auf diesem Gebiete erwachsene Forschung sich nutzbar zu machen. Besonders in den Anmerkungen sind unerschöpfliche Schätze von wahrhaft fruchtbarer und durchschlagender Kritik aufgespeichert. Die Eigenart des Werkes zeichnet wol vor allem das Gleichgewicht zweier Gaben, deren Vereinigung nicht häufig ist: „Sie haben“, schrieb Ranke 1878 mit unübertrefflicher Charakteristik an seinen Schüler, „zu Ihrem großen Werke eine doppelte Begabung mitgebracht, die der Kritik und der liebevollen, durchsichtigen, zuweilen an das Poetische der Volksbücher streifenden, zugleich durch und durch patriotischen, ich möchte sagen, zugleich männlichen und doch kindlichen Darstellung. So ist denn auch Ihr Erfolg über alle Erwartungen, die man hegen konnte, groß gewesen. Es ist ein Werk, das in die Zeit und deren Bewegung hineingewachsen ist“.
In anderem Sinne freilich – ist nicht auch die Zeit über das Werk hinausgewachsen? Ist nicht während der achtunddreißig Jahre, die G. mit echt deutschem geduldigem Fleiß über der Arbeit saß, aus dem Antlitz des deutschen Patriotismus der Zug schmerzlicher Sehnsucht geschwunden, den das Buch so [345] unverkennbar spiegelt? Und ist uns nicht während dieser Zeit jeder Anflug von Romantik in wissenschaftlicher Litteratur ungenießbar geworden? Von Romantik aber ist G. nicht frei, wenn er auch nicht als ein so ausgeprägter Vertreter dieser Richtung in der Geschichtschreibung betrachtet werden kann wie Friedrich v. Raumer. Die mittelalterliche Welt und die deutsche insbesondere sieht auch er in verklärendem Schimmer, nicht mit dem kühlen und scharfen Blick des unerbittlichen Realisten. Ohne daß die Umrisse verschoben wären, sind doch seine Bilder wie in den milden, alles verschönernden Goldton des Abendroths getaucht. Und er schildert mit epischer Breite, voll Bewunderung für die christlich-heroischen Tugenden unserer Vorfahren, Persönlichkeiten, Thaten und Ereignisse, während die Zustände, auf deren Grund das alles erwachsen ist, und ihre oft so leise, kaum merkliche und doch so folgenschwere Verschiebung und Umbildung nicht gezeichnet werden. Wie die rechtlichen, socialen, wirthschaftlichen Verhältnisse bleibt auch das geistige Leben, das dem Verfasser doch so vertraut gewesen wäre, und das künstlerische, das ihm freilich fern lag, unberührt. Die Aufmerksamkeit fällt ausschließlich auf die politischen und jene kirchlichen Vorgänge, die mit ihnen in Wechselwirkung stehen. Das entspricht nicht einmal Giesebrecht’s eigenem Ausspruch, wonach die Geschichte „die Entwickelung des Lebens der Menschheit in seiner Fülle ist“. Schon vor seinem Tode sind die Stimmen, welche diese Beschränkung bemängelten, immer häufiger und entschiedener geworden. Der Widerspruch gegen seine politische Auffassung, gegen seine Verherrlichung des Kaiserthums, fand seinen ersten und bedeutendsten, wiewol über das Ziel hinausschießenden Ausdruck in der Münchener Rede v. Sybel’s „über neuere Darstellungen der deutschen Kaiserzeit“ (1859). Was G. als höchsten Ruhm feierte, die von den Kaisern erstrebte und zum Theil erreichte weltbeherrschende Stellung war hier nur als folgenschweres Unheil für die Nation und Hemmniß ihrer gesunden Entwicklung aufgefaßt. Ein gewisser Mangel an juristischer Bestimmtheit und Schärfe lag in Giesebrecht’s Wesen und zeichnet sich deutlich in seinem Werke. Für sein Schweigen über Verfassungsfragen mag aber mitbestimmend gewesen sein, daß Freund Waitz eine deutsche Verfassungsgeschichte in Angriff genommen hatte. Er galt als die größte Autorität auf diesem Gebiete und G. dürfte es vorgezogen haben, ihm hier das Feld allein zu überlassen, als ihm vorzugreifen, ihn zu wiederholen oder zu bekämpfen. Mag man in allem, was wir angedeutet, Mängel sehen oder nicht, jedenfalls bleibt Giesebrecht’s deutsche Kaiserzeit ein Werk, das nie ganz veralten wird und auf das die Nation stolz sein darf, weil die der Geschichte eigenthümlichen ethischen Vorzüge darin aufs glücklichste zur Geltung gebracht sind. Man darf auf sein Werk anwenden, was er selbst von der Geschichte rühmt: daß sie die Seele weit und das Herz fest macht, das Große von dem Kleinen und das Bleibende von dem Vergänglichen scheiden lehrt.
Schon während seiner italienischen Reise war G. von Ranke für eine außerordentliche Professur in Marburg vorgeschlagen worden, doch vergingen noch dreizehn Jahre, bis sich ihm die Lehrthätigkeit an einer Hochschule eröffnete. Seit 1857 wirkte er als Ordinarius an der Universität Königsberg. Er hatte diesen Ruf, in dem sich die Anerkennung für den ersten Band seiner Kaiserzeit aussprach, einem gleichzeitig ergangenen nach Greifswald vorgezogen und sich mit einer Rede über die Entwicklung der modernen deutschen Geschichtswissenschaft habilitirt. Eine noch bedeutsamere Wendung nahm aber sein Leben, als 1861 v. Spruner, der Generaladjutant des Königs Maximilian II. von Baiern, bei ihm eintrat und den vom Könige zugleich brieflich ausgesprochenen Antrag überbrachte, G. möge den durch Sybel’s Weggang von München frei [346] gewordenen Lehrstuhl der Geschichte und die Leitung des historischen Seminars übernehmen. Schon neun Jahre vorher war ein Münchner Ruf an ihn ergangen. Auf Vorschlag von Schelling und Pertz hatte Dönniges im Auftrag des Königs den Antrag an seinen Freund formuliert. Damals hatte G. mit Nachdruck und nicht ohne Wirkung die gegen die Annahme eines Münchener Lehrstuhles sprechenden Bedenken hervorgehoben, die sein Protestantismus, seine preußische Geburt und Gesinnung in ihm weckten. Mittlerweile hatte der König (1858) die Historische Commission begründet und diese hatte noch im selben Jahre G. als ordentliches Mitglied gewählt. Das verstärkte die Lockung, welche nun in der ungewöhnlich ehrenvollen Art und in den Vorteilen des bairischen Rufes lag. Es drängt mich – schrieb König Max – Sie in München zu besitzen, da ich in meinem Streben für die Förderung der historischen Wissenschaft, welche mir so sehr am Herzen liegt, meine ganze Hoffnung auf Sie setze. Gleichwohl hatte G., als er im Herbst 1861 einer Einladung des Königs an dessen Hoflager nach Berchtesgaden Folge leistete, nur die Absicht, seinen Dank für das königliche Wohlwollen auszusprechen. Er versuchte des Königs Augenmerk auf andere zu richten. Der König aber blieb auf seinem Entschlusse und seine Huld, dazu die Ueberlegung, wie wirksam unter solchem Protector die historischen Studien in München sich fördern ließen, bestimmten G. nun, seine Zusage zu geben.
Unter den vielen Berufungen norddeutscher Gelehrter auf den für sie oft schlüpfrigen Münchener Boden haben sich wenige so bedeutsam erwiesen. Im Sommersemester 1862 eröffnete G. seine Lehrthätigkeit in der bairischen Hauptstadt. Eine zahlreiche Hörerschaft – darunter gleich in den ersten Semestern Prinzen des königlichen Hauses – folgte seinen nicht durch eigentliches Rednertalent gehobenen, aber sorgfältig vorbereiteten, lehrreichen und fesselnden Vorträgen, die auch griechische und römische Geschichte umfaßten und allmählich fast über das ganze Bereich der Weltgeschichte sich ausdehnten. Daß die werthvollsten jene über das deutsche Mittelalter waren, wo der Vortragende völlig zuhause war, braucht nicht gesagt zu werden. Vielen der Münchener Studirenden ist in Giesebrecht’s Person zuerst das härtere und strengere preußische Wesen, die norddeutsche Selbstbeherrschung und Concentration lebendig entgegengetreten, manchem aus seinem Munde auch zuerst der Berliner Dialekt erklungen – denn auch in der Sprache seiner Kathedervorträge war die heimathliche Färbung nicht völlig verwischt. Eine fruchtbare Thätigkeit entfaltete G. in seinem historischen Seminar, dessen Uebungen er in zwei Abtheilungen, einer pädagogischen und kritischen, abhielt. Ja man darf sagen, daß hier das Hauptgewicht seiner akademischen Wirksamkeit lag. In der Beurtheilung der Schülerarbeiten legte er stets hohes Gewicht auf die schöne und durchgefeilte Form, ja es konnte ihm begegnen, daß er den wissenschaftlichen Gehalt einer Leistung etwas unterschätzte, weil er die Gliederung des Stoffes nicht übersichtlich oder die Perioden und Absätze nicht harmonisch abgerundet fand. Die Studirenden drängten sich in seinem Seminar, wiewohl, äußerlich betrachtet, das Geschichtsstudium geringe Aussicht bot, denn es ist G. nicht gelungen, die von ihm nach preußischem Muster angestrebte principielle Uebertragung des Geschichtsunterrichts an Gymnasien auf Fachmänner durchzusetzen. Immerhin wurde unter seinem Einflusse, der sich auch für die Gestaltung des gesammten Unterrichtes an den Mittelschulen wohlthätig fühlbar machte, Ende der Sechziger Jahre Reformen im Geschichtsunterrichte der Gymnasien durchgeführt, und in der Schulordnung von 1874 ist der Lehrplan für Geschichte, wie es scheint, aus seiner Feder geflossen. Als Mitglied und stellvertretender Vorstand des obersten Schulrathes, einer neuen Behörde, für deren Einrichtung [347] er selbst zu Rathe gezogen worden war, verstand er die in zwanzigjähriger Ausübung des Gymnasiallehrerberufes gesammelten Erfahrungen für die bairischen Mittelschulen fruchtbar zu machen.
Mit seinen Schülern liebte er als warmer Freund der Jugend auch außerhalb der Hörsäle zu verkehren. Seit 4. April 1846 hatte er sich einen eigenen Herd gegründet, indem er die Wittwe eines Berliner Kaufmanns, Frau Dorothea Reißner, geb. Schwendy aus Berlin, heimführte. Frau Dorothea hatte ihm einen Sohn in die Ehe gebracht, während ihre Ehe mit G. kinderlos blieb. Unterstützt von der edlen, in Werken der Gastfreundschaft nie ermüdenden Gattin versammelte er seine Hörer gern bei sich zu fröhlicher Tafelrunde und selbst unter seinem Christbaum fehlten selten einige Schüler, die mit den neuesten Erscheinungen der historischen Litteratur, mit Königsberger Marzipan und anderen guten Gaben beschenkt wurden. Bis in sein hohes Greisenalter war G. ein Gesellschafter von unverwüstlicher Heiterkeit und Ausdauer, seine Unterhaltung wie ein unversieglicher, munterer Quell, seine Laune wie eine nie abbrechende Reihe schöner Sommertage, an denen kein Wölkchen den Himmel trübt. Ganz aber sollten ihm in München die Kämpfe und Schwierigkeiten, die er vorausgeahnt hatte, nicht erspart bleiben. Wohl waren seine politischen Ansichten den in Baiern herrschenden nicht in dem Maße entgegengesetzt, wie manche annahmen: weder Mitglied noch Gesinnungsgenosse des Nationalvereins, schrak er zurück vor der Blut- und Eisenpolitik eines Bismarck, vor dem Gedanken einer gewaltsamen Lösung der deutschen Frage und der erzwungenen Ausschließung Oesterreichs aus Deutschland. Er war darin einig mit Waitz und der Mehrzahl seiner Berufsgenossen. Und wenn die Einheit Deutschlands unter preußischer Führung auch sein Ziel war, so dachte er doch nicht, daß die Selbständigkeit der Einzelstaaten dadurch aufgehoben oder wesentlich beeinträchtigt werden sollte. So wäre der Preuße in München wol unbehelligt geblieben, hätte nicht der Krieg von 1866 für kurze Zeit die Stammesgegensätze noch einmal aufs heftigste entzündet. G. mußte es erleben, daß das Haus seines preußischen Stiefsohnes, der sich als Landwirth in Westerham bei Aibling angesiedelt hatte, von aufgeregten Bauern gleich einer belagerten Festung beschossen wurde. Dem Protestanten aber wären wol alle Anfechtungen erspart geblieben, wenn nicht die ihm allein anvertraute Leitung des historischen Seminars böses Blut gemacht und seine Reformpläne für den historischen Unterricht an den Gymnasien den Argwohn wachgerufen hätten, daß die Oberleitung des Geschichtsunterrichtes an den baierischen Studienanstalten in seine Hände falle und damit von protestantischem Geist durchdrungen werde. Vom Standpunkte katholischer Geschichtsauffassung aus wurden gegen seine Geschichte der deutschen Kaiserzeit in den Historisch-politischen Blättern (1862) und in der Zeitschrift: Der Katholik (1863–65) heftige Angriffe gerichtet. 1865 erschien bei Kirchheim in Mainz die anonyme Broschüre: Giesebrecht’s Geschichtsmonopol im paritätischen Baiern – ein Angriff, der um so weniger gerechtfertigt war, als ja die gläubig-katholische Richtung unter den Geschichtslehrern der Universität München in Cornelius ihren Vertreter hatte. Daß den vom katholischen Collegen geleiteten historischen Uebungen nicht auch die in der Seminareinrichtung liegende besondere staatliche Förderung zu theil ward, reichte nicht aus, um den Vorwurf des Lehrmonopols gegen G. zu begründen. Indessen waren diese und andere Schwierigkeiten nicht von nachhaltiger Bedeutung und wurden um so leichter überwunden, da G. im politischen Leben sich einer klugen Zurückhaltung befliß, und da auch die Andersdenkenden dem Eindruck seiner persönlichen Eigenschaften sich nicht entziehen konnten: in der Lauterkeit seiner Gesinnung, in seinem warmen Herzen, in Gutmüthigkeit und Versöhnlichkeit fand er seine hülfreichsten [348] Bundesgenossen. 1865 lehnte er einen sehr vortheilhaften Ruf nach Leipzig ab, und 1867 schrieb er schon an den Oheim, daß er nirgends lieber leben möchte als in München, in dessen Boden wol eine geheime Attractionskraft liegen müsse. Daß aber die süddeutsche Umgebung in seinem Wesen nicht die geringste Aenderung hervorbrachte, bedarf, da er ja erst im reiferen Mannesalter übersiedelte, kaum der Erwähnung. Durchaus frei von der Neigung zu nörgelnder und zersetzender Kritik, die man dem Berliner zuschreibt, war und blieb G. in allem übrigen Berliner vom Scheitel bis zur Zehe.
Für sein patriotisches Herz war es ein schöner Triumph, daß er das ruhmvolle Festjahr unserer nationalen Wiedergeburt als Rector der Universität München feiern durfte. Mit zündenden Worten schilderte seine Rectoratsrede den mächtigen Einfluß der deutschen Universitäten auf die nationale Entwicklung. Im stillen durfte er sich sagen, daß seine begeisternde Schilderung der deutschen Größe im Mittelalter viel dazu beigetragen hatte, in den Kreisen der Jugend jene deutsche Gesinnung zu wecken, welche die Anstrengungen der Staatskunst und Kriegführung stützen und weihen mußte, wenn das Ziel erreicht werden, und noch mehr, wenn es Bestand haben sollte. Auch an den äußeren Ehren, die ihm im Laufe der Jahre zu theil wurden – erwähnt seien nur die Geheimrathswürde, der mit dem persönlichen Adel verbundene bairische Kronorden und der Maximiliansorden für Kunst und Wissenschaft – hat er sich herzlich, man möchte sagen kindlich gefreut. Zu den königlichen Auszeichnungen konnte er eine reihen, die ihm der Fürst im Reiche seiner Wissenschaft verlieh, als Ranke 1877 ihm, der verhindert war, zu seinem 60jährigen Doctorjubliäum in Berlin zu erscheinen, schrieb: „Mit Waitz und Sybel würden Sie meine Gloire als Lehrer vollständig gemacht haben“.
In der Historischen Commission waltete G. von 1862 bis zu seinem Tode als ihr Secretär, seit Ranke’s Fernbleiben von den Sitzungen (1873) als ihre Seele. Er vertrat die Commission gegenüber den königlichen Stiftern und erntete Ranke’s freudigen Dank, als er den nach dem Tode Maximilian’s II. eine Zeitlang in Frage gestellten Fortbestand der Commission zu sichern verstand. Er führte die Correspondenz mit den gelehrten Mitarbeitern wie mit den Verlegern, er schloß die buchhändlerischen Verträge und überwachte den Fortgang der Arbeiten und seinem herzlichen und ausgleichenden Wesen gebührte ein Hauptverdienst an der Wahrung der Eintracht unter den mannichfache Parteien vertretenden Mitgliedern. Die Denkschrift, in der er 1883 gemeinschaftlich mit v. Sybel den 25jährigen Bestand der Commission in einem Rückblick feierte, weist nur eine Lücke auf: von den Verdiensten des Secretärs ist darin nicht die Rede.
Als G. 1874 die Redaction der bei F. A. Perthes in Gotha erscheinenden Geschichte der Europäischen Staaten übernahm und dieses von Heeren begründete, von Ukert fortgesetzte, seit längerer Zeit aber ins Stocken gerathene Sammelwerk sofort wieder in lebhaften Fluß brachte, bedeutete das ein glückliches Eingreifen in die Entwicklung der historischen Litteratur. Denn die Einzelforschung hatte hier zuletzt ein unnatürliches Uebergewicht über zusammenfassende Production erlangt. Giesebrecht’s eigene litterarische Leistungen waren neben der unermüdlichen Arbeit an seinem Hauptwerke auch in der Münchener Periode noch immer ausgedehnt. Populäre Vorträge wie „Cäsar und Cleopatra“ (1864) und „Die Frauen in der deutschen Geschichte“ (1873) wechselten mit Aeußerungen über brennende Tagesfragen wie die „Pädagogischen Briefe über unsere Gymnasien“ (1883), worin sich der erfahrene Schulmann gegen jede Abschwächung der humanistischen Studien aussprach und die Klagen über Ueberbürdung der Schüler als übertrieben erklärte. An seine älteren handschriftlichen [349] Funde des Babo von Bamberg und der Passio St. Adalberti reihten sich Herbord’s Dialogus de vita Ottonis und Ranshofener Aufzeichnungen zur Genealogie bairischer Adelsgeschlechter. Die scharfsinnige Arbeit über die fränkischen Königsannalen und ihren Ursprung erklärte Waitz neben „Cäsar und Cleopatra“ als das beste, was er von G. bisher gelesen habe. Weiter sind zu nennen: „Die Gesetzgebung der römischen Kirche zur Zeit Gregors VII.“, Vorträge über einige ältere Darstellungen der deutschen Kaiserzeit und über Arnold von Brescia, die Studien über Magister Manegold von Lauterbach, zur mailändischen Geschichtschreibung im 12. und 13. Jahrhundert und über das von Monaci entdeckte gleichzeitige Gedicht auf Kaiser Friedrich I., die feinsinnige Gedächtnißrede auf Ranke (1887), den Meister, mit dem der Jünger in Denkart, Bildungs- und Lebensgang so viel gemein hatte. Ist die Geschichte nach Ranke’s Sinn nicht nur Wissenschaft, sondern auch Kunst, so gehört G. zu jenen seiner Schüler, bei denen diese Auffassung, verbunden mit Gestaltungsgabe, am entschiedensten hervortritt. Eine Anzahl von Gelegenheitsreden, die der nationale Gedanke verband, die aber rhetorischen Charakter meist vermissen ließen, hatte er 1871 als „Deutsche Reden“ gesammelt. Daneben war er überhäuft mit Verwaltungsgeschäften und Commissionsberathungen. Um nur das wichtigere zu erwähnen: er war Secretär der historischen Classe der königlichen Akademie der Wissenschaften, Mitglied des Kirchenvorstandes der evangelischen Gemeinde in München, Mitglied der Reichsschulcommission, des bairischen obersten Schulrathes, der Centraldirection der Mon. Germ. in Berlin, des Gelehrten- und Verwaltungsausschusses des Germanischen Museums in Nürnberg. Nach kurzem Siechthum erlag er am 18. December 1889 einem Krebsleiden. Noch in den schlaflosen Nächten seiner letzten Krankheit glaubte er wichtige Actenstücke und Berichte aus der Kaiserzeit zu lesen und freute sich der kostbaren neuen Enthüllungen – um dann, wenn der Morgen graute, mit schmerzlichem Besinnen gewahr zu werden, daß nur Fieberphantasien ihm alles vorgegaukelt hatten.
- Eigene Erinnerung – Correspondenzen im Besitz der Familie. – Die meisten Briefe Ranke’s an G. jetzt in dessen Werken veröffentlicht (Zur eigenen Lebensgeschichte, her. v. Alfred Dove). – Nekrologe von K. Th. Heigel (Münchner Neueste Nachrichten, 1889, 22.–25. Dec.), Altmann (Tägl. Rundschau, Berlin 1889, 22. Dec.), Hans Prutz (Nationalzeitung 1890, 5. Januar), Riezler (Beilage zur Allgem. Zeitung 1890, Nr. 18), Dümmler (Neues Archiv XV, 1890, S. 611 f.), Lord Acton in The English Historical Review, 1890, S. 306–311; Ferrero, Gugl. Giesebrecht, Parole commemorative; R. Accademia delle Scienze di Torino, 1890. – Krallinger. W. v. G. u. Hermann Guthe in ihrem Verhältniß zur Ausbildung bayerischer Mittelschullehrer (Jahresbericht der k. Realschule zu Landsberg a. L. für 1889/90). – Riezler, Gedächtnißrede auf W. v. G., gehalten in der Akademie der Wiss. zu München, 21. März 1890. – Giesebrecht’s Schriften verzeichnet vollständig der Almanach dieser Akademie für 1875 u. 1884 und die erwähnte Gedächtnißrede, Anm. 77.