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Erschien durch Kooperation mit
Anschläge nehmen wieder zu

Aus drei Gründen droht jetzt ein beunruhigendes IS-Szenario

Vor zehn Jahren begann die Herrschaft des Islamischen Staats in Teilen Syriens. Foto: imago images/AGB Photo/via www.imago-images.de
Im Jubel über den Sturz Assads finden sie wenig Beachtung: die Terroristen vom „Islamischen Staat“. Doch die Dschihadisten könnten wieder zu einer Bedrohung werden. Experten erklären, warum.

Die Warnung kommt aus berufenem Mund. Der „Islamische Staat“ (IS) könnte die Umsturzsituation in Syrien nutzen, um wieder an Einfluss zu gewinnen, erklärte General Michael Kurilla vor zwei Tagen.

Der Kommandeur der US-Streitkräfte im Nahen Osten fügte hinzu: „Alle Organisationen in Syrien sollten wissen, dass wir sie zur Rechenschaft ziehen werden, wenn sie mit dem IS in irgendeiner Weise zusammenarbeiten oder ihn unterstützen.“

Um die Entschlossenheit Amerikas zu unterstreichen, griffen die US-Streitkräfte am Sonntag nach eigenen Angaben 75 Ziele in Syrien an. Alle Attacken durch Kampfjets galten Stellungen der Dschihadistenmiliz, darunter Trainingscamps und Waffenlager. „Wir werden nicht zulassen, dass sich der IS neu formiert“, sagte General Kurilla zur Begründung.

Die Terrormiliz könnte wieder erstarken und womöglich, ebenso wie vor zehn Jahren, Schrecken, Leid und Tod über Syrien bringen? Waren die „Gotteskrieger“ nicht besiegt worden?

Militärisch trifft das zu. Einer internationalen Koalition unter Führung der USA gelang es bis 2019, in langwierigen Kämpfen den „Islamischen Staat“ zurückzudrängen. Er verlor fast das gesamte Territorium, das von ihm einst beherrscht wurde. Zeitweise hatte das von den Hardcore-Islamisten kontrollierte Gebiet die Ausmaße Großbritanniens.

Doch das Ende des „Kalifats“, in das es zeitweise Tausende Islamisten aus vielen Ländern zog, bedeutete nicht, dass der IS aufhörte zu existieren. Die Kämpfer gingen in den Untergrund und nutzten vor allem das erbeutete und erpresste Geld in Millionenhöhe, um weiter aktiv zu bleiben.

Die Zahl der IS-Anschläge nimmt wieder zu

Immer wieder attackierten sie vor allem Ziele in der Region Deir ez-Zor, die mit Assads Regime in Verbindung standen, zum Beispiel Polizeistationen und Armeestützpunkte.

Die Terrormiliz greift vor allem auf gut funktionierende Schläferzellen zurück.

Schon seit mehr als einem Jahr nimmt Hans-Jakob Schindler zufolge die Zahl der IS-Anschläge in Syrien und im Irak wieder deutlich zu

„Dafür greift die Terrormiliz vor allem auf gut funktionierende Schläferzellen zurück, die insbesondere in Syrien immer wieder zuschlagen“, sagt der Senior Direktor des internationalen Counter Extremism Project. Auch Guido Steinberg von der Stiftung Wissenschaft beobachtet ein Wiedererstarken des IS.

„Wenn sich die verschiedenen militärischen Blöcke in Syrien – Kurden, die durch die Türkei beeinflusste Syrian National Army (SNA) und das Bündnis unter Führung der islamistischen Haiat Tahrir al Scham – nicht auf eine Machtverteilung einigen, könnte es zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen diesen Gruppen kommen.“

Tausende IS-Terroristen sind in kurdischem Gewahrsam

Denn das verbindende Ziel sei weggefallen: der Sturz Assads. Käme es zu bewaffneten Konflikten, würde der IS sicherlich davon profitieren, vermutet Schindler. „Chaos und Gewalt sind für Terroristen immer von Nutzen.“

Zwar seien die Dschihadisten weit davon entfernt, wieder größere Gebiete zu beherrschen. „Doch das könnte sich rasch ändern.“ Vieles hängt nach Schindlers Einschätzung davon ab, wie es in Syrien nach dem Sturz Assads weitergehe.

Große Bedeutung misst Schindler dabei den syrischen Kurden bei. Sie hätten im Norden des Landes mehrere Tausend IS-Kämpfer in Gewahrsam. Würden die Kurdenmilizen als Bewacher durch Angriffe etwa der türkischen Streitkräfte geschwächt, bestehe die Gefahr, dass die IS-Dschihadisten nicht mehr bewacht werden könnten.

Das könnte erhebliche Folgen haben, betont Guido Steinberg. „Der größte Rekrutierungspool für den IS sind dessen 9000 Kämpfer in syrisch-kurdischen Gefängnissen – darunter 2000 Ausländer und rund 30 Deutsche.“

Es sei ein wichtiges Ziel des „Islamischen Staats“, diese zu befreien und seine Reihen so aufzufüllen, sagt der Experte für Dschihad-Terrorismus. Wie vor fast drei Jahren.

Der größte Rekrutierungspool für den IS sind dessen 9000 Kämpfer in syrisch-kurdischen Gefängnissen.

In der Nacht vom 19. auf den 20. Januar 2022 startete die Terrororganisation den gewaltsamen Versuch, Tausende ihrer Anhänger aus einem Gefangenenlager in Hasaka zu befreien.

Dutzende Angreifer und Insassen kamen ums Leben. Die kurdischen Bewacher brauchten Tage und die Unterstützung der Amerikaner, um den Aufstand niederzuschlagen. Es war ein großer propagandistischer Erfolg für den IS.

Und heute? Steinberg glaubt, dass die IS-Terroristen von den aktuellen Entwicklungen in Syrien sogar ganz konkret profitieren könnten. „Beim Sturm auf Gefängnisse und Haftzentren des Assad-Regimes dürften IS-Kämpfer freigekommen sein.“

Schindler ist noch etwas wichtig. Er nennt es „Siegesnarrativ“. Im extremistischen Milieu der Islamisten gebe es die Erzählung, ihre Anhänger hätten den Abzug der USA aus Afghanistan bewirkt, den der Franzosen aus Westafrika – und jetzt auch den Sieg über Assad herbeigeführt. „Das ist ein großer propagandistischer Motivationsschub für die Dschihadisten-Szene.“

Von Christian Böhme

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