Anschlag in Magdeburg
Taleb Al-Abdulmohsen fiel seit Jahren durch Drohungen auf. Nun kommen unangenehme Fragen auf die Behörden zu

Der Mann, der am Freitag mindestens fünf Menschen tötete, nannte sich selbst einen Ex-Muslim. In der AfD scheint der saudische Arzt einen Verbündeten gesehen zu haben. Was sein Motiv angeht, ist allerdings noch vieles offen.

Hansjörg Friedrich Müller, Berlin
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Polizisten am Samstagmorgen auf dem Magdeburger Weihnachtsmarkt, dem Ort des Attentats.

Polizisten am Samstagmorgen auf dem Magdeburger Weihnachtsmarkt, dem Ort des Attentats.

Bild: Michael Probst/AP

Kaum hatten sich am Freitagabend die ersten Nachrichten von einem Anschlag auf dem Magdeburger Weihnachtsmarkt verbreitet, schossen in den sozialen Medien auch schon die Spekulationen ins Kraut. Von Dutzenden Toten war zwischenzeitlich die Rede. Die Realität ist schlimm genug: Mindestens fünf Personen wurden getötet – ein neunjähriger Bub und vier Frauen im Alter von 45, 52, 67 und 75 Jahren. Rund 200 Menschen wurden verletzt, 41 davon schwer.

Sofort kamen Erinnerungen an den Anschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz auf, wo der Tunesier Anis Amri fast auf den Tag genau acht Jahre zuvor 13 Besucher eines Weihnachtsmarktes getötet hatte. Auch der Täter von Magdeburg raste mit einem Fahrzeug in die Menge, allerdings nicht mit einem Camion, sondern mit einem gemieteten BMW. Unmittelbar nach seiner Tat wurde er festgenommen.

Seine Äusserungen deuten auf eine Radikalisierung hin

Anders als bei Amri, der eindeutig ein Islamist war, ist im Fall des Todesfahrers von Magdeburg weniger klar, was ihn zu seiner Tat motivierte: Taleb Al-Abdulmohsen nennt sich selbst einen Ex-Muslim. 2006 reiste der heute 50-Jährige aus Saudi-Arabien nach Deutschland ein, um dort eine Facharztausbildung zu beginnen. 2016 beantragte er Asyl, seinen eigenen Angaben gemäss, nachdem ihm 2013 der Kulturattaché der saudischen Botschaft in Berlin erklärt hatte, sollte er in sein Heimatland zurückkehren, müsse er mit der Todesstrafe rechnen.

Al-Abdulmohsen lebte in der Kreisstadt Bernburg, rund 40 Kilometer südlich der sachsen-anhaltischen Landeshauptstadt Magdeburg. Dort war er in einem Spital als Psychotherapeut tätig und half unter anderem suchtkranken Straftätern. In der Klinik fiel er offenbar nicht negativ auf, allerdings soll er sich in letzter Zeit immer öfter krankgemeldet haben.

Im Juni 2019 äusserte er sich in einem Interview mit der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung». Befragt wurde er als Fluchthelfer, der saudischen Frauen zu einem Leben in Deutschland verhelfen wollte. Wirr oder extremistisch redete er damals nicht; von seiner eigenen historischen Bedeutung scheint er aber überzeugt gewesen zu sein: «Ich bin der aggressivste Kritiker des Islams in der Geschichte», sagte er.

Sein Profil auf dem sozialen Netzwerk X deutet auf eine Radikalisierung hin: Unter dem Bild eines Maschinengewehrs schrieb Al-Abdulmohsen dort, Deutschland wolle Europa islamisieren und jage saudische Frauen, die um Asyl ersuchten, innerhalb und ausserhalb seiner Landesgrenzen. Der früheren Kanzlerin Angela Merkel wünschte er den Tod, weil sie «die falschen Flüchtlinge» ins Land gelassen habe.

Im Dezember 2023 kündigte er Vergeltung an: «Ich versichere euch, dass zu 100 Prozent bald die Rache kommt. Und wenn es mich mein Leben kostet», kündigte er an. Deutschland werde «einen riesigen Preis» dafür zahlen müssen, «alle friedlichen Wege zur Gerechtigkeit» zu versperren.

Auf X folgt Al-Abdulmohsen vor allem ehemaligen Muslimen, die zum Christentum konvertiert sind oder sich selbst als Atheisten bezeichnen. Seine relativ hohe Follower-Zahl von rund 40’000 Personen (Stand Samstagmorgen) deutet darauf hin, dass er innerhalb der saudischen Opposition in Deutschland, einer zahlenmässig überschaubaren Szene, schon vor dem Anschlag weithin bekannt gewesen sein dürfte.

Gespannte Beziehungen zu Islamkritikern

Seine Beziehungen zu anderen Islamkritikern scheinen allerdings gespannt gewesen zu sein: So erklärte der Verein Säkulare Flüchtlingshilfe, der ähnliche Ziele wie die von Al-Abdulmohsen postulierten verfolgt, eine Zusammenarbeit mit diesem sei 2018 gescheitert. 2019 hätten Mitglieder des Vereins Anzeige wegen Verleumdung gegen den saudischen Aktivisten erstattet und schliesslich einen Gerichtsprozess gegen ihn gewonnen.

In sozialen Medien äusserten Islamkritiker nach dem Anschlag den Verdacht, Al-Abdulmohsen sei womöglich gar kein Gegner des Islam, sondern vielmehr ein Islamist, der sich verstelle. Möglicherweise habe er das Prinzip der Taqiya befolgt, das es schiitischen Muslimen erlaube, unter Gefahr ihren Glauben zu verheimlichen.

Auf seinem X-Profil pflichtete Al-Abdulmohsen nicht nur rechtsextremen Aktivisten wie dem österreichischen Identitären Martin Sellner bei, sondern verbreitete auch mehrfach lobende Äusserungen über die AfD-Chefin Alice Weidel. Nach dem Motto «Der Feind meines Feindes ist mein Freund» scheint sich der Aktivist der Partei immer mehr angenähert zu haben. «Wer sonst bekämpft den Islam in Deutschland?», fragte er rhetorisch. 2016 kündigte er auf dem X-Vorläufer Twitter an, gemeinsam mit der AfD eine «Akademie für ehemalige Muslime» gründen zu wollen.

Ob das Attentat der AfD im laufenden Wahlkampf schaden wird, lässt sich derzeit noch kaum abschätzen. Neben Zweifeln daran, ob der Täter tatsächlich ein Islamgegner sei, führen AfD-Vertreter nun auch das Argument ins Feld, die aus ihrer Sicht falsche Migrationspolitik der letzten Jahrzehnte habe dazu geführt, dass sich Deutschland innerarabische Konflikte ins Land geholt habe.

Am Samstagabend, als das offizielle Magdeburg im Dom der Stadt der Opfer gedachte, marschierten rund 700 Rechtsextreme durch die Strassen der Innenstadt und riefen Parolen wie «Migration tötet» und «Wer Deutschland nicht liebt, soll Deutschland verlassen.»

Saudi-Arabien soll Deutschland gewarnt haben

Auf die deutschen Behörden kommen nun unangenehme Fragen zu: Ganz so unauffällig, wie zunächst berichtet, scheint Al-Abdulmohsen nämlich nicht gewesen zu sein. Wie der «Spiegel» schreibt, sollen saudische Ermittler ihre deutschen Kollegen 2023 und 2024 mehrfach vor ihm gewarnt haben. Ende 2023 beklagte sich zudem eine Frau beim Bundesamt für Migration über Al-Abdulmohsen; die Behörde verwies sie an die zuständige Polizeidienststelle, die aber nichts unternahm.

Dabei war der Arzt schon zehn Jahren zuvor durch Drohungen aufgefallen: Im April 2013 sprach er eine solche gegen die Ärztekammer in Rostock aus, nachdem diese Teile seiner medizinischen Ausbildung nicht hatte anerkennen wollen. Dabei verwies er auf den zwei Tage zuvor erfolgten Anschlag auf den Marathonlauf in Boston, bei dem zwei Islamisten drei Menschen getötet und mehrere hundert verletzt hatten.

Ein Gericht in Rostock verurteilte Al-Abdulmohsen damals wegen Störung des öffentlichen Friedens durch Androhung von Straftaten zu einer Geldstrafe in Höhe von 900 Euro. Über diese Verurteilung soll er sich zwei Jahre später im Berliner Kanzleramt beschwert und angekündigt haben, sich eine Waffe zu besorgen. Als Gefährder habe man Al-Abdulmohsen deshalb aber nicht eingestuft, sagte Christian Pegel, der Innenminister des Bundeslandes Mecklenburg-Vorpommern, am Sonntag.