Was macht das Penismonster im Estrich? Dieser meschugge neue Film mit Joaquin Phoenix ist ein Fall für Hardcore-Freudianer

In «Beau Is Afraid» begibt sich ein Waschlappen auf einer Odyssee zu seiner toten Mutter. Kino aus der phallischen Phase.

Andreas Scheiner 5 min
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Irgendein Wahnsinn folgt immer auf den nächsten: Beau Wassermann (Joaquin Phoenix) hat schwer mit dem Leben zu kämpfen.

Irgendein Wahnsinn folgt immer auf den nächsten: Beau Wassermann (Joaquin Phoenix) hat schwer mit dem Leben zu kämpfen.

Takashi Seida / AP A24

Ein Filmkritiker kann hier wenig ausrichten. Dieser Film gehört auf die Couch. Er braucht einen Analytiker. Einen Sexualtherapeuten vorteilhafterweise. Vielleicht auch einen Rabbi. Zumindest jemanden, der sich auf meschugge Mütter versteht. Oder, um genau zu sein, auf verkorkste Muttersöhnchen. Dr. Freud, bitte?

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Sigismund Schlomo Freud hätte garantiert verdammt viel Spass gehabt an dieser Gruselfilm gewordenen Therapiesitzung über 2 Stunden 59 Minuten. Eine Triebstörung unbestimmten Grades will der amerikanische Regisseur Ari Aster hier offenbar in eine filmische Form bringen. Oder sagen wir es so: Selten hatte ein Film derart einen an der Waffel.

«Beau Is Afraid» schickt einen verstockten Waschlappen auf eine ödipale Odyssee. Ein Mann macht sich auf zu seiner verstorbenen Mutter, eine grosse Schuld plagt ihn. Am Ende wird dieser Beau Wassermann vor dem Totengericht um sein Leben schwimmen, beginnen tut seine Reise im Fruchtwasser.

Oy vey!

So ein Mutterkomplex, wie Beau ihn hat, wächst natürlich bereits in der Gebärmutter heran. Das Embryo liegt vorne im Becken und hört die Mutter schreien. Noch nicht einmal geboren, und schon ist man schuld am Schmerz der Mamme. Oy vey!

Mit der subjektiven Kamera, aus der Sicht des Fötus, schlüpfen wir aus dem Geburtskanal. Aber die Mutter schreit weiter, weil nämlich das Neugeborene selber nicht schreit. Der Arzt gibt dem Säugling einen Klaps, jetzt beginnt Beau zu atmen. Ari Aster erzählt die Geschichte des Beau Wassermann: bis zum letzten Atemzug.

Beau ist alt: Die Reise zur verstorbenen Mutter wird für den titelgebenden Protagonisten (Joaquin Phoenix) zu einem Irrgang durch die Gegend, aber auch durch die Zeiten.

Beau ist alt: Die Reise zur verstorbenen Mutter wird für den titelgebenden Protagonisten (Joaquin Phoenix) zu einem Irrgang durch die Gegend, aber auch durch die Zeiten.

Takashi Seida / AP A24

Nach der Geburt schneidet der Film, vollkommen klar, sofort in die Therapie. Jahrzehnte sind vergangen, Beau, herangewachsen zum Riesenbaby (Joaquin Phoenix, dick, mit dünnem Haar) erklärt dem Analytiker seine gerade akuten Ängste. «Freitag habe ich Mundwasser geschluckt», platzt es aus ihm heraus. Ob man davon sterben könne?

Mitleidiger kann ein Therapeut nicht blicken. Er weiss natürlich, dass Beau dem entscheidenden Thema ausweicht. Beau weiss es ja auch: «Ich besuche meine Mutter», gesteht er dann. Der Todestag des Vaters steht an. «Wünschen Sie sich manchmal, dass Ihre Mutter tot wäre?», stochert der Therapeut. Beau, verdächtig energisch: «Neiiin!»

Also, Beau ist gestresst. Wegen der Mutter, wegen allem. Weil die Mutter alles ist. Der Therapeut entlässt ihn mit einem «sehr coolen neuen Medikament». Dann geht Beau nach Hause.

Höllenbild Amerikas

Draussen ist Weltuntergang. Die Stadt sieht aus, als hätte Dante Alighieri zu lange «Walking Dead» gestreamt. Gebt alle Hoffnung auf, die ihr hier hinaustretet. Beaus Heimweg erinnert an einen «bad trip», der immer schlimmer wird. Sind das die Medikamente? Halluziniert er?

Die Nachbarschaft, in der Beau lebt, präsentiert sich in grotesk verwahrlostem Zustand. Ari Aster zeichnet eine Art hyperrealistisches Höllenbild Amerikas. Etwas zwischen Gotham City und Zürcher Langstrasse, Ecke Rolandstrasse. Hinter jeder Ecke lauern zombieartige Angreifer.

Vor Beaus Haustür herrscht buchstäblich die nackte Gewalt: Die Fernsehnachrichten berichten von einem Amokläufer, Birthday Boy Stab Man, der am helllichten Tag splitternackt nach den Passanten steche. «Weiss und beschnitten», beschreibt die Polizei den Mann. Im Wohnblock ist es aber auch nicht sicherer. An Beaus Wohnungstür warnt ein Zettel vor einer gefährlichen Spinne in dem Gebäude. Oder dann droht im Vorbeigehen unvermittelt der Hausmeister: «You’re fucked.» Beau sei geliefert.

Anderes kommt hinzu. Hoffnungslos, das alles zusammenfassen zu wollen. Beau hat, kurz und bündig, keine geruhsame Nacht. Die Reise zur Mutter sagt er am nächsten Morgen ab. Wofür das Schicksal sofort straft. Denn wenig später erfährt er, dass seine Mutter nach seiner Absage tödlich verunfallt ist. Ein Kronleuchter hat sie enthauptet. Wie er das erfährt? Als er die Mutter noch einmal anzurufen versucht, geht ein DHL-Fahrer ans Telefon. Der Lieferbote steht gerade in der Wohnung und stammelt von einer kopflosen Leiche.

Ein beschnittener Film

So weit bis hierher. Selbst wenn der Rezensent weitererzählen wollte, müsste er bald einmal kapitulieren. Irgendein Wahnsinn folgt immer auf den nächsten. Nur dies noch, Beau muss also dringend zur verstorbenen Mutter. Denn im Judentum hat ein Leichnam möglichst innerhalb von 24 Stunden beerdigt zu werden. Das Judentum der Wassermanns wird zwar nicht näher ausgeführt, aber in seiner gewitzten Darstellung eines Vollblutneurotikers ist der Film so jüdisch, dass ein amerikanischer Kritiker schrieb, jeder Schnitt in dem Film fühle sich so an, als sei er von einem Mohel, einem Fachmann für die Beschneidung, gesetzt worden.

Vordergründig hat die Mutter gut zu Beau geschaut, das Kind wächst im Luxus auf.

Vordergründig hat die Mutter gut zu Beau geschaut, das Kind wächst im Luxus auf.

Takashi Seida / AP A24

Beaus Bemühen, in das Haus seiner Kindheit zu gelangen, gestaltet sich dann maximal kompliziert. Die Reise wird zu einem Irrgang durch die Gegend, aber auch durch die Zeiten. Beaus frühere Jahre müssen durchschritten werden. Was ist mit seiner Sexualität? Stellt sich heraus: Der Vater ist unmittelbar bei Beaus Zeugung gestorben. In der Familie vererbt sich ein Herzfehler, der zum sicheren Tod des Mannes bei der Befruchtung führt. So viel zu Beaus Triebstau. Wenn das mal dramaturgisch kein potenter Kniff ist?

Schwerer fällt es Aster, die Spannung hochzuhalten. Auf die Länge kommt es an, drei Stunden ist zu lang. Mit «Hereditary» und «Midsommar» hat sich der Mittdreissiger als das neue Wunderkind im Horrorgenre empfohlen. Seinem dritten und ambitioniertesten Film fehlt ein wenig der Schrecken.

Aster tobt sich in der Bildsprache aus: Den anfänglichen Hyperrealismus, die endzeitlich übersteigerte Wirklichkeit, bricht er zunehmend mit surrealen Einschüben, mit bewusst rudimentären Animationssequenzen auch, die an Michel Gondry («Eternal Sunshine of the Spotless Mind») erinnern. Visuell hat das Witz, die Schaulust steht aber der Angstlust im Weg. Beau mag «afraid» sein, der Zuschauer ist es weniger.

Nur immer tiefer hinein ins Unterbewusstsein gibt einer Figur auch nicht automatisch mehr Tiefe. Dafür kratzt Ari Aster so lange in Beaus Oberstübchen, bis er im hintersten Winkel des Dachstocks angelangt ist: In einer besonders absurden Szene wird der kleine Beau im Estrich von einem riesigen Monster in der Gestalt des männlichen Geschlechtsorgans erschreckt. Das Kind rennt panisch davon. «Das ist dein Vater», ruft die Mutter hinterher. Was will man dazu noch sagen? Kino der phallischen Phase, etwas für Hardcore-Freudianer. Andere finden’s womöglich eher banane.

«Beau Is Afraid» läuft ab Donnerstag im Kino.

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