Einführung in Die Deutsche Linguistik - Introduction To German Li
Einführung in Die Deutsche Linguistik - Introduction To German Li
Einführung in Die Deutsche Linguistik - Introduction To German Li
eGrove
Open Educational Resources
2019
Recommended Citation
Sapp, Christopher D., "Einführung in die deutsche Linguistik / Introduction to German Linguistics" (2019). Open Educational
Resources. 1.
https://egrove.olemiss.edu/open/1
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Einführung in die deutsche Linguistik /
Introduction to German Linguistics
von / by
Christopher D. Sapp, University of Mississippi
Kapitel 1
Einführung / Introduction
Überblick / overview:
Introduction for students
Introduction for instructors
Preview of chapters
Acknowledgments
2
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 1
Kapitel 3: Phonologie: Das deutsche Lautsystem describes syllable structure, some of the
most salient phonological rules in German, and prosody.
Kapitel 4: Morphologie: Die Formen deutscher Wörter catalogs the parts of speech,
German declension and conjugation, and word formation processes including compounding and
derivation.
Kapitel 5: Syntax: Die deutsche Satzstruktur reviews grammatical functions and case,
introduces constituents from individual words to clauses, and treats German sentence structure in
both the traditional topological model and generative grammar.
Kapitel 6. Semantik: Die Bedeutung deutscher Wörter und Sätze covers the semantics of
lexical categories, referential properties of noun phrases, the semantics of tense/mood/voice, and
pragmatics.
Kapitel 7. Dialektologie: Regionale Variation in Mitteleuropa: after a brief history of the
German language, this chapter surveys German dialects, colloquial German, and Standard
German as used in Germany, Austria, and Switzerland.
Kapitel 8. Soziolinguistik: Soziale Variation im Deutschen gives some examples of
sociolects, examines contact between German and other languages, and discusses a few current
issues in German sociolinguistics.
1.4 Acknowledgments
This book is the result of my academic journey from my first year of college through to
tenure. First of all, I would like to acknowledge all of the professors from my undergraduate
years, especially Truett Cates, who was not only my first German professor but also taught my
first linguistics course. I owe so much to all of the professors from my graduate programs in
Germanic Studies and in Linguistics at Indiana University. In particular, Rex Sprouse’s courses
on German linguistics have been the model for much of my teaching, including the pedagogy
that underlies this book. His copious handouts and brilliant exercises inspired many of the
examples and Übungen here.
Many of the members of the Society for Germanic Linguistics have encouraged me to
produce this work for our relatively small group of students who need an introductory textbook
in German. Conversations with Douglas Lightfoot, Dorian Roehrs, and Laura Catherine Smith
were especially productive as we planned a workshop on teaching linguistics in foreign language
programs at ACTFL in 2011. Laura Catherine was particularly generous in sharing with me all of
her course materials on German phonetics: many of the examples and exercises used here are
borrowed from her.
My students and colleagues at the University of Mississippi have played a huge role in
shaping this work. It was largely my undergraduates’ frustration with existing textbooks that
prompted me to attempt to write my own. Then in 2013 the College of Liberal Arts granted me
sabbatical leave that made it possible to collect my handouts and exercises and transform these
materials into book form. As I wrote, my graduate assistant Alexander Lorenz was crucial as he
proofread my German and helped me prepare the glossary. Since I wrote that first draft, three
cohorts of students have used drafts of this book, prompting me to refine the text and exercises.
Finally, I am grateful to Robert Cummings for his enthusiasm for open educational resources in
general and for this project in particular, and to Michelle Emanuel for her assistance in
publishing this book on eGrove.
3
Kapitel 2:
Phonetik: Die Laute der deutschen Sprache
Überblick:
Laute, die IPA-Schrift, und die Sprechorgane
Die Konsonanten des Deutschen
Die Vokale des Deutschen
Transkription
2.1 Einführung
In diesem Kapitel erfahren Sie, wie die Laute des Deutschen produziert werden. Zunächst
müssen wir zwischen Lauten und Buchstaben unterscheiden. Um die Laute einer Sprache zu
beschreiben, können wir nicht einfach die normalen Buchstaben der Sprache benutzen. Ein
Problem ist, dass ein einzelner Buchstabe viele Laute darstellen kann. Beispielsweise kann der
Buchstabe <e> viele verschiedene Laute darstellen: den
kurzen Laut [ɛ] in Bett, den langen Laut [e:] in Allee, Linguistische Formalismen:
den schwachen Laut [ə] am Ende von bitte, teils des Ein Symbol in spitzen Klammern
Diphthongs [ai] in mein, oder überhaupt keinen Laut <e> ist ein Buchstabe.
wie in Portemonnaie. Auf der anderen Seite kann ein Symbole in eckigen Klammern [e]
Laut von vielen Buchstaben dargestellt werden: ein stellen eine Aussprache dar.
langes [e:] kann als <e> geschrieben werden wie in Ein kursiv gedrucktes Wort ist ein
geben, oder als <ee> in Allee, <eh> in geh, oder sogar Beispielwort, also der
<aie> in Portemonnaie. Noch problematischer ist, dass Gegenstand linguistischer
viele Sprachen viele unterschiedliche Untersuchung.
Schreibweissysteme haben: denken Sie an die
Aussprache des deutschen Wortes See, das sich mit geh reimt, verglichen mit dem englischen
Wort see, das sich mit dem deutschen Wort sie reimt.
Also, um die Laute der Sprache zu beschreiben, verwenden Linguisten das IPA, das
Internationale Phonetische Alphabet. Jedes Symbol des IPA stellt einen einzigartigen Laut dar,
und alle Laute aller Sprachen der Welt sind vertreten. Dies macht es möglich, den Unterschied
zwischen sehr ähnlichen, aber verschiedenartigen Lauten zu beschreiben, beispielsweise das [e:]
im deutschen Wort See ist etwas länger als das [e] im spanischen Wort se, und beide sind anders
als das [ei] im englischen say.
Man kann auch einen Laut beschreiben, indem man zeigt, was die Sprechorgane tun
müssen, um diesen Laut zu produzieren. Zum Beispiel, um den Laut [n] auszusprechen, muss
man Luft aus den Lungen lassen, die Stimmbänder vibrieren lassen und die Zunge gegen den
Gaumen unmittelbar hinter den Zähnen halten, sodass der Laut durch die Nase entweicht.
Versuchen Sie vorsichtig das Wort nun auszusprechen und achten Sie darauf wie die [n] Laute
produziert werden! (Wenn Sie das Zeichen sehen, sollten Sie den Laut oder das Wort
mehrmals laut sagen, bis Sie die Mechanismen der Aussprache verstehen.)
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 2
Jetzt untersuchen wir diese Sprechorgane im Detail (s. Abb. 1). Alle Laute im Deutschen
beginnen mit dem Herausdrücken der Luft aus den Lungen in
die Luftröhre (a). Am Ende der Luftröhre sitzt die Glottis
(b), eine Öffnung, die die Stimmbänder enthält. Das bringt
uns in die Mundhöhle (c), den offenen Raum zwischen der
Zunge (d) und dem Gaumen. Der Gaumen besteht aus
kleineren Teilen, die jeweils für unterschiedliche Laute
verantwortlich sind: Direkt hinter den oberen Zähnen ist der
harte, holprige Zahndamm (oder die Alveolen) (e); weiter
hinten ist der glatte, harte Teil des Gaumens, das Palatum
genannt (f); hinter dem Palatum wird der Gaumen weich und
ist auch bekannt als das Velum (g), aus dem ein weiches
Stück Fleisch hängt, was das Zäpfchen oder die Uvula heißt
(h). Das Velum teilt die Mundhöhle von der Nasenhöhle (i),
und durch Absenken des Velums, kann man die Abb. 1: Die Sprechorgane
[http://commons.wikimedia.org/
Luftströmung durch die Nase lenken. Die Lippen (j) spielen wiki/en.wikipedia.org/wiki/File:
natürlich auch eine Rolle bei der Aussprache. VocalTract.svg]
2.2.1 Plosive
5
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 2
Es gibt noch weitere Plosive im Deutschen. Die Konsonanten [b], [d] und [g] sind die
stimmhaften Äquivalenten von [p], [t] und [k]. Stimmhafte Konsonanten werden produziert,
indem man die Stimmbänder während der Artikulation des Konsontanten vibriert. Wenn die
Stimmbänder nicht vibrieren, ist der Konsonant stimmlos. Die Vibration der Stimmbänder
können Sie spüren, wenn Sie eine Hand leicht auf den Adamsapfel (direkt außerhalb des Glottis)
legen, während Sie [b], [d] und [g] aussprechen. Jetzt sagen Sie [p], [t] und [k] mit der Hand
auf dem Adamsapfel und spüren Sie, dass es
keine solche Vibration gibt. Sagen Sie [b, d, Mini‐Übung:
g] und [p, t, k] bis Sie den Unterschied spüren! [ph] ist ein stimmloser, bilabialer Plosiv.
Jetzt versuchen Sie, diese Konsonanten zu [b] ist ein stimmhafter, _________ Plosiv.
beschreiben anhand von Stimmhaftigkeit, [th] ist ein __________, __________ Plosiv.
Artikulationsort und Artikulationsart (Mini- [d] ist ein __________, __________ Plosiv.
Übung). Sprechen Sie jeden Konsonanten aus [kh] ist ein __________, __________ Plosiv.
und bemerken Sie dabei, welche Sprechorgane [g] ist ein __________, __________ Plosiv.
beteiligt sind!
Es gibt noch einen Unterschied zwischen den stimmlosen und stimmhaften Plosiven.
Wenn man bei [p] den Luftstrom freilässt, gibt es einen hörbaren Luftzug, den man nicht bei [b]
macht. Diese Puste heißt Aspiration und wird mit einem gehobenen [h] angegeben. Im
Deutschen werden stimmlose Plosive meistens aspiriert. Wenn Sie eine Sprache wie Spanish
oder Tschechisch sprechen, sagen Sie den Namen des Buchstaben <t> (oder das Wort te) in der
Sprache: Sie sagen das ohne Aspiration, also [te]. Der Name dieses Buchstaben im Deutschen
(und das Wort Tee) wird immer mit einem aspirierten [th], also [the:] ausgesprochen. Sie können
den Unterschied zwischen aspirierten und unaspirierten Plosiven spüren, wenn Sie eine Hand 2-5
cm vor dem Mund halten, während Sie z.B. [th] und [d] sagen. (Sie können jetzt Übung 1
machen.)
Das Deutsche hat nur noch einen Plosiv, der Glottisverschluss oder der Knacklaut
genannt. Es gibt keinen Buchstaben für diesen Laut im deutschen Alphabet aber es gibt einen
IPA-Zeichen: [ʔ]. Diesen Laut gibt es am Anfang von den meisten deutschen Wörtern, die mit
einem Vokal am Wortanfang geschrieben werden, also ein Apfel wird meistens [ʔain ʔapfəl]
ausgesprochen. Der Glottisverschluss hört man am leichtesten, wenn er zwischen Vokalen
vorkommt in Wörtern wie be[ʔ]obachten und Be[ʔ]amte. Sagen Sie diese Wörter und Sie werden
eine Pause zwischen den Vokalen hören. Diese Pause ist eigentlich ein Konsonant, der
gebildet wird, indem man den Glottis schließt (die Stimmbänder werden zusammengebracht) und
wieder öffnet. Also [ʔ] ist ein stimmloser glottaler Plosiv.
2.2.2 Frikative
Die nächste Artikulationsart sind die Frikative: Bei diesen Lauten bringt man die
Sprechorgane so nah an einander, dass der Luftstrom Friktion ergibt, wenn die Luft durch die
Enge fließt. Sagen Sie die Laute [s], [f], [v], [h] und sch und spüren Sie dabei die Friktion im
Mund. Frikative, wie Plosive, werden durch ihren Arikulationsort und Stimmhaftigkeit näher
beschrieben.
Die Frikative mit dem Artikulationsort labiodental (Lat. ‘Lippe-Zahn’) sind [f] und [v].
Sie werden produziert, indem man die untere Lippe in Kontakt mit den oberen Zähnen bringt und
die Luft dadurch zwingt. Sagen Sie [f] und sehen Sie sich im Spiegel an! Der Laut [v] wird
normalerweise vom Buchstaben <w> dargestellt, und [f] wird als <f> (Fisch) oder <v> (Vater)
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Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 2
geschrieben. Legen Sie die Hand leicht auf den Adamsapfel, um zu entscheiden, welcher Laut
stimmlos ist und welcher stimmhaft.
Die Konsonanten [s] und [z] sind alveolare Frikative. Beide Laute werden auf Deutsch
mit dem Buchstaben <s> dargestellt: <s> wird [z] am Wortanfang (See) und zwischen Vokalen
(lesen) ausgesprochen. Die Aussprache [s] erscheint am Wortende (das) und bei <ss> (Wasser)
und <ß> (Fuß). Nun sagen Sie [t] und [s] und bemerken Sie dabei, dass die Zunge bei beiden
Lauten in einer ähnlichen Lage ist. Der Unterschied ist, dass bei [s] die Zungenspitze nicht in
vollen Kontakt mit dem Zahndamm kommt, sodass der Luftstrom über die Zunge fließt und
gegen die Zähne schlägt. Nun, was ist der Unterschied zwischen der Artikulation von [s] und
[z]? (Sie sind jetzt für Übung 2 bereit.)
Das nächste Paar von Frikativen sind alveopalatal und werden gebildet, in dem man die
Zungenspitze ein bisschen weiter nach hinten stellt als bei [s] und [z], zwischen dem Zahndamm
und dem Palatum. Der stimmlose [ʃ] ist viel häufiger im Deutschen und wird meistens <sch>
geschrieben, z.B. Schiff. Der stimmhafte [ʒ] kommt vor allem in Fremdwörtern aus dem
Französischen wie Genie und Jalousie.
Noch weiter hinten ist der Artikulationsort palatal. Beim Konsonanten [j] wird die ganze
Zunge parallel zum harten Gaumen gehoben damit der Luftstrom dazwischen fließen muss.
Sagen Sie ja und spüren Sie die Friktion das ganze Palatum entlang. Der Laut [ç] (oder “der
ich-Laut”) ist einer von zwei Lauten, die mit <ch> geschrieben werden, und kommt in Wörtern
wie ich, Bücher und Chemie vor. Um diesen Laut zu produzieren, sagen Sie zuerst je und dann
sagen Sie das noch einmal, ohne dass die Stimmbänder vibrieren. Das ergibt [çe], den
Anfang vom Wort Chemie!
Es gibt nur einen velaren Frikativ, wobei der hintere Teil der Zungen gegen das Velum
gehoben wird. Dieser Konsonant ist [x], der
andere Laute der auf Deutsch mit <ch> Mini‐Übung:
geschrieben wird, und erscheint in den [f] ist ein stimmloser, labiodentaler Frikativ.
Wörtern ach, Loch und Buch. Sagen Sie [v] ist ein __________, __________ Frikativ.
diese Wörter und spüren Sie die Friktion [s] ist ein __________, __________ Frikativ.
am weichen Gaumen, ungefähr wo [k] und [z] ist ein __________, __________ Frikativ.
[g] gebildet werden. Jetzt testen Sie am [ʃ] ist ein __________, __________ Frikativ.
Adamsapfel, ob dieser Laut stimmlos oder [x] ist ein __________, __________ Frikativ.
stimmhaft ist. [h] ist ein __________, __________ Frikativ.
Der letzte deutsche Frikativ ist [h]:
Dieser Laut wird erzeugt, in dem man die Stimmbänder nah an einander zusammenbringt, nah
genug um etwas Friktion zu bilden aber nicht so eng, dass Vibration entsteht. Sagen Sie Hallo
und spüren Sie beim [h] die Friktion im Glottis, also sein Artikulationsort ist glottal.
Zum Schluss, wenn Sie eine richtige, standarddeutsche Aussprache haben, werden Sie
zwischen diesen fünf stimmlosen Frikativen unterscheiden: [s] in ist, [ʃ] in Fisch, [ç] in ich, [x]
in ach und [h] in aha! Je nach Ihrer Muttersprache könnten Sie Schwierigkeiten haben,
einige dieser Konsonanten voneinander zu unterscheiden, z.B. [ʃ] von [ç], oder [x] von [h]. Üben
Sie diese Frikative und achten Sie auf die Zungenlage, bis Sie alle fünf von einander
unterscheiden können. (Sie können jetzt Übung 3-4 machen.)
7
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 2
2.2.3 Affrikaten
Die nächste Artikulationsart ist relativ leicht zu verstehen. Eine Affrikate ist ein Laut,
der als Plosiv beginnt und als Frikativ endet. Es gibt im Deutschen vier Affrikaten: [pf], [ts], [tʃ],
and [dʒ].
Die Affrikate [pf] fängt wie ein [p] an, indem die Lippen den Luftstrom absperren. Wenn
aber die Lippen sich öffnen, gibt es keine Aspiration (wie beim [ph]) sondern Friktion zwischen
der Lippe und den Zähnen genau wie beim [f]. Deswegen heißt der Artikulationsort von [pf]
auch labiodental. Üben Sie Wörter wie Pfau, Pferd und pfeifen und achten Sie darauf, dass Sie
[pf] als einen Laut aussprechen, nicht als zwei einzelne Laute.
Der Konsonant [ts] ist alveolar, weil es als der alveolare Plosiv [t] beginnt aber als der
alveolare Frikativ [s] freigelassen wird. Dieser Laut wird auf Deutsch mit dem Buchstaben <z>
gekennzeichnet. Üben Sie die Wörter Zeit, zehn und zu bis Sie den [ts] als einen einzelnen
Konsonanten aussprechen. Testen Sie, ob [pf] und [ts] stimmlos oder stimmhaft sind.
Die zwei anderen Affrikaten [tʃ] und [dʒ] sind alveopalatal, weil sie als alveopalatale
Frikative enden. Diese Konsonanten, vor allem [dʒ], erscheinen hauptsächlich in Fremdwörtern.
Der stimmlose [tʃ] wird auf Deutsch <tsch> buchstabiert wie in tschüs und Deutsch, während der
stimmhafte [dʒ] verschiedenartig geschrieben werden kann: Dschungel, Jeans, Gin.
2.2.4 Nasale
Bei der Artikulationsart Nasal wird die Mundhöhle total abgesperrt, damit der Luftstrom
durch die Nasenhöhle gezwungen wird. Nasale Konsonanten sind alle stimmhaft und werden
nach dem Ort der Absperrung im Mund weiter beschrieben.
Der Konsonant [m] hat den Artikulationsort bilabial, weil die zwei Lippen den Luftstrom
absperren. Bemerken Sie, dass die Stelle der Lippe gleich ist bei Mama und Baba. Der
alveolare Nasal ist [n]: sagen Sie na und spüren Sie wie die Zungenspitze gegen den ganzen
Zahndamm sitzt und den Luftstrom durch die Nase zwingt. Um den velaren Nasal [ŋ] zu
bilden, muss man die Hinterzunge heben und gegen den weichen Gaumen halten. Dieser Laut
wird auf Deutsch <ng> or <nk> geschrieben aber er besteht aus nur einem Laut, der weder ein
alveolarer [n] noch ein Plosiv [g] enthält. Üben Sie die Wörter Ding, singen und Finger und
achten Sie darauf, dass Sie keinen [g] hinzufügen!
2.2.5 Liquide
Die letzten zwei Konsonanten des Deutschen heißen Liquide, weil Sie ohne Absperrung
oder Friktion in der Mundhöhle erzeugt werden. Beide Liquide sind stimmhaft und können
weiter als Lateral oder Vibrant charakterisiert werden. Der Laut [l] hat den Artikulationsort
alveolar, weil die Zungenspitze den Zahndamm berührt (genau wie beim [d]), und die
Artikulationsart lateral, weil der Luftstrom entlang (Lat. a latere) die Zunge fließt. Sagen Sie la:
Fließt die Luft auf die linke, die rechte, oder auf beiden Seiten Ihrer Zunge?
Der standarddeutsche [ʀ] ist ein uvularer Vibrant.1 Beim [ʀ] hält man die Zunge leicht
gegen die Uvula (das Zäpfchen) und als der Luftstrom dazwischen fließt, bildet er Vibration. Um
1
Einige deutschsprachige Regionen, vor allem die Schweiz und Bayern, haben stattdessen einen alveolaren Vibrant
[r], dem spanischen oder russischen [r] ähnlich. Wenn Sie in so einem deutschsprachigen Gebiet wohnen, möchten
Sie vielleicht die Aussprache [r] benutzen. Sonst sollten Sie nach dem Standarddeutschen [ʀ] streben.
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Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 2
den deutschen [ʀ] zu beherrschen, brauchen die meisten Nicht-Muttersprachler viel Übung.
Wenn Sie den [ʀ] nicht aussprechen können, versuchen Sie es mit der folgenden Methode.
Zunächst ersetzen Sie den <r> zwischen Vokalen durch den velaren Frikativ [x]: Sagen Sie
Ochen für Ohren. Dann sagen Sie Ohren noch einmal mit dem Kopf zurückgekippt, als ob Sie
Mundwasser gurgeln. Mit Wiederholung wird das hoffentlich den richtigen [ʀ] produzieren.
Wenn Sie [ʀ] zwischen Vokalen gut aussprechen können, versuchen Sie es am Wortanfang, wie
im Wort rot. Zum Schluss müssen wir auch bemerken, dass die meisten Sprecher des
Deutschen das <r> am Wortende (Mutter) nicht als einen Konsonanten aussprechen, sondern als
einen Vokal [ɐ] (mehr dazu in 2.3.4 unten).
Sie haben jetzt alle IPA-Symbole für die deutschen Konsonanten gelernt und können
Übungen 5-7 machen.
Die Zungenhöhe kann als hoch, mittel oder tief charakterisiert werden und die
horizontale Zungenlage ist entweder hinten, zentral oder vorn. Wir beginnen mit den hinteren
Vokalen. Diese Vokale werden produziert, indem
man die Zunge nach hinten zieht (s. Abb. 2). Sagen
Sie Kuh und spüren Sie wie die Zungen nach hinten
und nach oben in die Nähe des weichen Gaumens
gezogen wird. Der Vokal in Kuh und gut ist [u:],
der ein hoher, hinterer, langer Vokal ist. Der Vokal
[ʊ] in muss und Mutter ist auch hoch und hinten, aber
er ist etwas kürzer und die Zunge ist ein bisschen Abb. 2: Zungenlage der hinteren Vokale
tiefer als bei [u:]. Wenn Sie die Zunge ein bisschen [http://commons.wikimedia.org/wiki/File:
mehr senken, werden Sie [o:] sagen, den mittleren Cardinal_vowel_tongue_position‐
back.png]
Vokal, den man bei Boot sagt. Noch tiefer ist der
kurze Vokal [ɔ] in Gott. Sehen Sie sich im Spiegel an, während Sie gut, Mutter, Boot und Gott
sagen, und bemerken Sie wie der Kiefer bei jedem Vokal ein bisschen tiefer ist als vorher.
Sie werden auch sehen, dass jeder dieser Vokale mit gerundeten Lippen ausgesprochen wird.
Die meisten deutschen Vokale erscheinen in Paaren, also für fast jeden langen Vokal gibt
es einen entsprechenden kurzen Vokal. Die langen Vokale werden oft von einem <h> gefolgt
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Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 2
wie in Kuh und oh, doppel geschrieben wie in Boot
oder von einem einzigen Konsonanten gefolgt wie in Sprachtipp:
gut. Kurze Vokale werden normalerweise (aber nicht Ein Adjektiv direkt vor einem
immer) von zwei Konsonanten gefolgt wie in muss Substantiv braucht eine
and Gott. Wenn zwei unterschiedliche Konsonanten Adjektivendung. Wir benutzen die
folgen, muss man besonders aufpassen: <o> ist lang in Adjektive vorder‐, hinter‐, hoh‐
Trost aber kurz in Post. Die langen Vokale und mittler‐ vor Substantiven und
unterscheiden sich von den kurzen nicht nur in ihrer sonst die Adverbien vorn, hinten,
Länge und Höhe, sondern auch in Gespanntheit: Fast hoch und mittel.
alle lange Vokale sind gespannt, d.h. mit mehr
Spannung in den Muskeln des Munds ausgesprochen. Die kurzen Vokale sind alle ungespannt,
also ohne diese Muskelspannung. Sagen Sie Fuß [fu:s] und Nuss [nʊs]. Sie sollten spüren, wie
bei Fuß die Zunge höher, die Muskel im Gesicht gespanter, und die Dauer des Vokals länger ist
als bei Nuss.
Gleichfalls sollte der Mini‐Übung:
<o> in Boot hoher, [u:] ist ein hoher, hinterer, langer, gespannter, gerundeter Vokal.
gespannter, und [ʊ] ist ein _______, _______, _______, _______, _______ Vokal.
länger sein als bei der [o:] ist ein _______, _______, _______, _______, _______ Vokal.
Familienname Bott. [ɔ] ist ein _______, _______, _______, _______, _______ Vokal.
Sprechen Sie
diese vier Wörter aus und übertreiben Sie die langen Vokale in Fuuuuuß und Booooot. Bei Nuss
und Bott machen Sie die Vokale so kurz und knapp wie möglich. Üben Sie mit diesen
Wörtern, bis sie die langen, gespannten Vokale von den kurzen, ungespannten Vokalen klar
unterscheiden!
Vordere Vokale werden gebildet, indem die Zunge nach vorne in Mund geschoben wird.
Sagen Sie Kuh und Kiel und bemerken Sie die unterschiedlichen Lagen der Zunge. Sie
werden auch bemerken, dass die Lippen bei Kuh gerundet sind, aber nicht bei Kiel: Versuchen
Sie das vor dem Spiegel und Sie können den
Unterschied sogar sehen.
Der höchste von den vorderen Vokalen ist der
lange, gespannte [i:] wie in Sie und Ihnen. Sie sollten
spüren, wie die Zunge parallel zum Gaumen gehoben
wird, wie beim Konsonanten [j]. Wenn Sie die Zunge
ein bisschen senken, werden Sie das kurze,
ungespannte Äquivalent [ɪ] sagen, wie in bitte. Sie
können den Kontrast zwischen diesen Vokalen hören, Abb. 3: Zungenlage der vorderen Vokale
http://commons.wikimedia.org/wiki/File:
wenn Sie die Wörter Miete und Mitte sagen: Das <i>
Cardinal_vowel_tongue_position‐
in Miete sollte höher, länger, und gespannter sein als
in Mitte.
Ein bisschen tiefer als [ɪ] ist der mittlere Vokal [e:] in gehen, See und Ehre. Wenn Sie
Englisch oder Russisch als Muttersprache sprechen, passen Sie auf dass Ihr deutscher [e:] ein
purer Vokal ist, der nicht von einem Vokal zu einem anderen übergeht. Z.B., obwohl das
Englisch Wort day eigentlich zwei Vokale hat [dei], der deutsche Name des Buchstaben D hat
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Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 2
einen langen, ebenen Vokal [de:]. Das kurze, ungespannte Äquivalent zu [e:] ist der etwas
offenere [ɛ] wie in Eltern und älter. Dazu noch gibt es einen dritten Vokal in dieser Region, der
gleichzeitig lang und ungespannt ist, nämlich [ɛ:]. Dieser Vokal wird immer mit dem Buchstaben
<ä> geschrieben, normalerweise vor einem <h> wie in Ähre oder vor einem einzelnen
Konsonanten wie in Universität. Um [ɛ:] auszusprechen, beginnen Sie mit [ɛ] und machen Sie
den Vokal einfach länger: also sprechen Sie Universität zunächst als Universitett aus und dann
halten Sie den letzten Vokal länger (ohne die Zungenlage oder Muskelspannung zu verändern)
bis er richtig klingt. Im Standarddeutschen sollten Sie einen dreifachen Unterschied
zwischen diesen drei Vokalen hören. Sagen Sie Fete, Vetter und Väter: Im ersten Wort sollten
Sie einen langen, gespannten Vokal [e:] haben, im zweiten Wort einen kurzen, ungespannten
Vokal [ɛ], und im dritten einen langen, ungespannten Vokal [ɛ:]. (Das können Sie in Übung
8 weiter üben.)
Das Deutsche hat nicht nur vordere, ungerundete Vokale sondern auch eine Reihe von
vorderen, gerundeten Vokalen, die es in den meisten Sprachen der Welt gar nicht gibt und
deswegen für viele Nicht-Muttlersprachler des Deutschen recht schwierig sind. Das sind nämlich
die Vokale, die mit <ü>, <y>, und <ö> buchstabiert werden. Genau wie bei <i> und <e> werden
diese Vokale mit der Zunge relativ vorn im Mund ausgesprochen, aber wie bei <u> und <o>
werden die Lippen gerundet.
Wir fangen mit dem hohen, vorderen, langen, gespannten, gerundeten Vokal [y:] an. Das
ist der Vokal in Wörtern wie kühl, Tür und Asyl, d.h. <ü> oder <y> vor einem <h> oder einem
einzelnen Konsonanten. Um [y:] richtig auszusprechen, beginnen Sie mit [i:], seinem
ungerundeten Äquivalent: Sagen Sie zunächst Kiel und dann sagen sie Kiel noch einmal mit
gerundeten Lippen, was kühl ergibt. Die kurze, ungespannte Aussprache vom Buchstaben
<ü>, vor allem wenn dieser Buchstabe von Doppelkonsonanten gefolgt wird, ist [ʏ] wie in
Mütter. Um diesen Laut zu bilden, beginnen Sie mit kurzem [ɪ] in Mitte, dann runden Sie die
Lippen und das Resultat wird Mütter sehr ähnlich klingen. Unterscheiden Sie zwischen den
beiden <ü>-Lauten: Der [y:] in hüten sollte länger, gespannter, und ein bisschen höher sein als
der [ʏ] in Hütten.
Die Aussprachen von <ö> werden ähnlich wie [y:] und [ʏ] gebildet aber mit der Zunge
etwas tiefer im Mund. Der vordere, mittlere, lange, gespannte, gerundete Vokal [ø:] erscheint vor
<h> wie in Föhn und vor einzelnen Konsonanten wie in König. Sie können diesen Vokal
aussprechen, indem Sie den langen [e:] wie in Feen mit gerundeten Lippen sagen (also Föhn).
Der kurze Variant ist [œ] wie in Wörter. Um diesen Vokale zu produzieren, sagen Sie werter
mit einem [ɛ] und wenn Sie die Lippen runden, sagen Sie Wörter. Passen Sie auf, dass die
den langen <ö> und sein kurzes Äquivalent unterschiedlich aussprechen, also Höhle gegen
Hölle. (Sie können jetzt Übung 9 versuchen.)
Bis jetzt wurden alle Vokale mit der Zunge entweder nach vorn oder nach hinten
ausgesprochen. Nun untersuchen wir die vier Vokale, deren horizontale Zungenlage zentral ist.
Beginnen wir mit dem Vokal, der mit dem Buchstaben <a> geschrieben wird. Dieser
Vokal ist zentral und tief und wird in der IPA-Schrift durch das Zeichen [a] dargestellt. Wie die
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Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 2
meisten Vokale gibt es einen langen und einen kurzen Variant davon, aber dieser Vokal zeigt
keinen Unterschied zwischen gespannt und ungespannt. Also wenn der Buchstabe <a> gedoppelt
oder von einem <h> oder einem einzelnen Konsonanten gefolgt wird, ist er normalerweise lang
[a:] wie in Haar, Kahn und Vater. Wenn Doppelkonsonanten folgen, ist er kurz [a] wie in Mann
und alt, aber das kurze [a] wird auch manchmal von nur einem Konsonanten gefolgt wie bei man
und das. Wenn dieser Vokal lang sein sollte, sagen Sie ihn richtig lang, und wenn er kurz sein
sollte, dann sehr kurz und knapp: Das können Sie mit dem Wort Stadtstaat oder mit dem
Ortsnamen Halle an der Saale üben.
Ganz in der Mitte des Vokalraums ist der mittlere, zentrale, kurze, ungespannte Vokal
[ə], auch durch seinen hebräischen Namen Schwa bekannt. Das ist die Aussprache des
Buchstaben <e> in unbetonten Silben, z.B. in Straße. Diesen Vokal werden Sie als den
schwachen, ausdruckslosen Laut in den Präfixen ge- und be- und in Suffixen wie -e,-el, -em und
-en erkennen.
Ein bisschen tiefer als [ə] aber nicht so tief wie [a] is der Vokal [ɐ] (sprich: “a-Schwa”).
Dies ist der Laut, den die meisten Deutschsprachler für <r> und <er> am Wortende sagen. Also
sprechen die meisten Deutschen das Wort Mutter normalerweise nicht [mʊtəʀ], sondern [mʊtɐ]
aus. Wenn Sie Mutter sagen, sollen Sie dabei überhaupt kein “r” Laut hören. Gleichfalls
sagen die meisten Deutschen Ohr nicht als [o:ʀ] sondern [o:ɐ], also das Wort Ohr wird eigentlich
ohne irgendeinen Konsonanten ausgesprochen!
Sie sollten diese vier zentralen Vokale von einander unterscheiden: Sagen Sie [ə] in alte,
[ɐ] in Alter und [a] in Altar. Um die drei Vokale klar zu unterscheiden, versuchen Sie diesen
Trick: Schauen Sie sich im Spiegel an, während Sie die drei Wörter sagen. Beim mittleren [ə]
sollten die Zähne etwa 2 mm offen sein (ungefähr so breit wie die Spitze eines Bleistifts). Beim
[ɐ] sollten sie eher 10 mm offen sein (ungefähr so breit wie der Bleistift). Bei den tiefen [a] und
[a:] werden die Zähne viel offener sein, etwa 15-20 mm. (Jetzt sind Sie für Übung 10-12 bereit.)
Wir haben jetzt alle Vokale diskutiert, die in einheimischen deutschen Wörtern
vorkommen. Diese Vokale werden alle in der Mundhöhle produziert. Dazu gibt es vier
Nasalvokale, die nur in französischen Lehnwörtern erscheinen und die viele Deutsche im Alltag
nicht verwenden. Nichtsdestotrotz sollten Sie diese Vokale lernen, wenn Sie eine formale
Aussprache des Standarddeutschen haben möchten.
Die Aussprache der vier Nasalvokale basiert sich auf vier Vokale, die Sie schon kennen,
aber der Luftstrom wird dabei erlaubt, durch die Nasenhöhle zu fließen. Zunächt gibt es [õ], ein
nasalisierter [o] wie in Balkon [balkõ:]. Der nasale [ã] kann <an> wie in Chance oder <en> wie
in Engagement buchstabiert werden. Die zwei anderen Nasalvokale sind sehr selten: [œ̃ ] gibt es
in Parfum und [ɛ]̃ in Teint. Alle diese Wörter haben alternative Aussprachen ohne Nasalvokale,
z.B. [balkɔŋ], [ʃaŋs(ə)] und (wenn Parfüm geschrieben) [paʀfy:m].
Zum Schluss gibt es drei Diphthonge. Ein Diphthon ist ein Laut, der aus zwei
Vokallauten besteht. Die deutschen Diphthonge sind [ai] wie in mein und Mai, [au] wie in Haus
und [oy] wie in Leute und Häuser. (Sie können jetzt Übung 13-14 machen.)
12
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 2
2.4 Transkription
Nun haben wir alle phonetischen Zeichen gelernt, mit denen wir die Aussprache von
jedem deutschen Wort
beschreiben können (s. Abb. 4). Konsonanten Vokale
In diesem Teil des Kapitels b Ball pf Pfau a: Jahr õ Balkon
lernen wir, deutsche Wörter in ç ich r/ʀ rot a Affe ɔ Gott
die IPA-Schrift zu d da s Glas ã Chance ø: Flöte
transkribieren. Wir werden uns f Fisch ʃ Schiff ɐ Ohr œ Wörter
h
um eine enge Transkription g gehen t Tee e: Tee œ̃ Parfum
bemühen, d.h., versuchen, die h hallo v was ɛ: ‐ität u: Buch
Aussprache des Worts so j Jahr x ach ɛ sechs ʊ Mutter
detailliert wie möglich h
k Kind z See ɛ̃ Teint y: Bücher
darzustellen. Erinnern Sie sich l Lamm ʒ Genie ə Affe ʏ Mütter
daran, dass unser Ziel eine m Mund ts Zeit i: Genie ai ein
Repräsentation der Aussprache n Nase tʃ Deutsch ɪ Fisch au aus
ist. Achten Sie nicht auf die ŋ Finger dʒ Jeans o: rot oy Deutsch
Rechtschreibung, sondern sagen h
p Papa ʔ Be_amte
Sie die Wörter laut und schreiben
Mini‐Übung:
5. dass [ ______ ]
6. Mann [ ______ ]
7. Tee [ ______ ]
8. bitte [ ______ ]
9. ihn [ ______ ]
10. mein [ ______ ]
In 5-8 gibt es einen gedoppelten Buchstaben, der mit nur einem Zeichen in der IPA-Schrift
transkribiert wird. In 9 gibt es einen Buchstaben, der keinen Laut darstellt und also überhaupt
keinem IPA-Zeichen entspricht. Haben Sie die langen Vokale gekennzeichnet? Haben Sie
unterschiedliche Symbole für <e> in 7, 8 und 10? Für <i> in 8 gegen 9?
Im nächsten Teil, achten Sie vor allem auf die Aussprache der Konsonanten:
13
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 2
Mini‐Übung:
11. Tag [ ______ ]
12. Rad [ ______ ]
13. zwanzig [ ______ ]
14. sich [ ______ ]
15. Dach [ ______ ]
Die letzten Symbole in 11 und 12 sollten anders als ihre Buchstabierung sein: Tag endet auf [kh]
und Rad auf [th]. Die Buchstaben <z>, <w> und <s> in 13-14 sollten auch mit anderen Zeichen
transkribiert werden. Zum Schluss müssen die Buchstaben <ch> in 14 anders dargestellt werden
als in 15. (Tipp: Der letzte Laut in 13 ist auch der letzte Laut in 14!)
In den nächsten Beispielen achten Sie auf die Transkriptionen der Vokale. Bei jedem
Paar ist der einzige Unterschied der Vokal:
Mini‐Übung:
16. beten [ ______ ] / Betten [ ______ ]
17. fühlen [ ______ ] / füllen [ ______ ]
18. Alter [ ______ ] / älter [ ______ ]
19. heiser [ ______ ] / Häuser [ ______ ]
20. Mutter [ ______ ] / Mütter [ ______ ]
Die Paare in 16-17 unterscheiden sich sowohl durch Länge wie auch durch Gespanntheit. Die
Paare 18-20 unterscheiden sich, in dem sie total unterschiedliche Vokale haben. Haben Sie auch
<er> als Vokal transkribiert?
Unten sehen Sie die Antworten für die Mini-Übungen in diesem Teil des Kapitels. Wenn
Sie diese Transkriptionen verstehen, sind Sie für Übung 15-16 bereit.
Schlüssel für Mini‐Übungen:
1. [das] 11. [tha:kh]
2. [man] 12. [ra:th]
3. [mai] 13. [tsvantsɪç]
4. [haus] 14. [zɪç]
5. [das] 15. [dax]
6. [man] 16. [be:then] / [bɛthen]
7. [the:] 17. [fy:lən] / [fʏlən]
h
8. [bɪt ə] 18. [althɐ] /[ɛlthɐ]
9. [i:n] 19. [haizɐ] / [hoyzɐ]
10. [main] 20. [mʊthɐ] / [mʏthɐ]
14
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 2
2.5 Übungen
Übung 1: Sprechen Sie die folgenden Wörter aus. Achten Sie vor allem auf die Aspiration von
[ph], [th] und [kh].
a. Bein h. Donner
b. Pein i. Klasse
c. danken j. Glas
d. tanken k. Leiter
e. Garten l. leider
f. Karten m. backen
g. Tonne n. baggern
Übung 2: Sprechen Sie die folgenden Wörter aus. Entscheiden Sie bei jedem Wort, ob der
Buchstabe <s> den Laut [s], [z], oder [ʃ] darstellt.
a. also i. reißen
b. sie j. Musik
c. lesen k. müssen
d. las l. Stein
e. Glas m. spielen
f. Gläser n. Skelett
g. Wasser o. Schmuck
h. reisen p. Schnee
Übung 3: Sprechen Sie die folgenden Wörter aus. Passen Sie auf, dass Sie die Konsonanten [s],
[ʃ], [ç], [x], und [h] differenziert aussprechen.
a. Miss h. Chemie
b. Tisch i. Chanukka
c. dich j. Hallo
d. Dach k. Sie
e. dahin l. Schi
f. Sache m. China
g. Schach n. hier
Übung 4: Was ist der Unterschied zwischen den folgenden Lauten (Artikulationsart, -ort, oder
Stimmhaftigkeit)?
Beispiel: [b] ist stimmhaft aber [ph] ist stimmlos.
a. [x] und [ç]
b. [ph] und [f]
c. [g] und [kh]
d. [n] und [ŋ]
e. [v] und [ʒ]
f. [r] und [ts]
15
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 2
Übung 5: Beschreiben Sie die folgenden Konsonanten nach ihren artikulatorischen Merkmalen.
Beispiel: [s] ist ein stimmloser, alveolarer Frikativ.
a. [d]
b. [ʔ]
c. [s]
d. [l]
e. [m]
f. [j]
g. [ʀ]
h. [ʃ]
i. [h]
j. [dʒ]
Übung 6: Füllen Sie diese Tabelle mit den Konsonanten des Deutschen aus!
Plosive stimmlos __ th __ __
stimmhaft b __ __
Frikative stimmlos f __ __ __ __ __
stimmhaft __ __ ʒ __
Affrikaten __ __ __, dʒ
Nasale __ __ ŋ
Liquide l, r __
Übung 7: Transkribieren Sie die folgenden Wörter in die IPA-Schrift (nur die Konsonanten).
Überprüfen Sie Ihre Antworten in einem Aussprachewörterbuch.
a. wie [ __ i:] h. Kind [ __ɪ __ __ ]
b. Ball [ __ a __ ] i. Zeit [ ___ ai __ ]
c. dich [ __ɪ __ ] j. Spaß [ __ __ a: __ ]
d. von [ __ɔ __ ] k. lesen [ __ e: __ ə __ ]
e. lang [ __ a __ ] l. Apfel [ __ a ___ ə __ ]
f. Tuch [ __ u: __ ] m. Quantor [ __ __ a __ __ o: __ ]
g. Tschüss [ ___ ʏ __ ] n. Revolution [ __ e __ o __ u ___ io: __ ]
16
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 2
Übung 8: Die drei e-Laute. Machen Sie zuerst die langen Vokale echt lang, übertreiben Sie sogar
(Beeeeesen), und machen Sie die kurzen Vokale sehr kurz und knapp (betttt), damit es einen
klaren Unterschied zwischen den langen und kurzen Vokalen gibt. Dann sprechen Sie die Wörter
normal aus, aber troztdem mit einem Unterschied zwischen langen und kurzen Vokalen.
a. besser [ɛ], Besen [e:]
b. denn [ɛ], Däne [ɛ:], den [e:]
c. Bett [ɛ], bäte [ɛ:], bete [e:]
d. weg [ɛ], wägen [ɛ:], wegen [e:]
e. setzen [ɛ], säen [ɛ:], sehen [e:]
f. wenn [ɛ] , erwähnen [ɛ:], wen [e:]
Übung 9: Gerundete Vokale. Wie in Übung 8, machen Sie die langen Vokale sehr lang (Fuuuuß)
und die kurzen sehr kurz (Nussssss). In dieser Übung müssen sie auch zwischen vorderen und
hinteren Vokalen unterscheiden, also sprechen sie ü und ö sehr weit vorne und u und o sehr weit
hinten im Mund aus.
a. Nuss [ʊ], Fuß [u:]
b. offen [ɔ], Ofen [o:]
c. Tochter [ɔ], Töchter [œ]
d. Floh [o:], Flöhe [ø:]
e. Götter [œ], Goethe [ø:]
f. Fuß [u:], Füße [y:]
g. Nuss [ʊ], Nüsse [ʏ]
h. Hütte [ʏ], hüte [y:]
i. flog [o:], flöge [ø:], Flug [u:], Flüge [y:]
j. wurde [ʊ], würde [ʏ], geworden [ɔ]
k. muss [ʊ], müssen [ʏ],musste [ʊ], müsste [ʏ]
Übung 10: Zentrale Vokale. Unterscheiden Sie [a:], [a], [ə] und [ɐ] voneinander. Wenn nötig
benutzen Sie wieder den Trick mit dem Bleistift (in 2.3.4 oben). Machen Sie den langen [a:] sehr
lang und den kurzen [a] kurz und knapp. Passen Sie vor allem darauf, dass Sie <r> nicht als
einen Konsonanten, sondern als den Vokal [ɐ] aussprechen!
a. hacken [a], Haken [a:]
b. all [a], Aal [a:]
c. wann [a], Wahn [a:]
d. Hass [a], Hase [a:]
e. Lamm [a], lahm [a:]
f. rosa [a], Rose [ə]
g. Anna [a], Anne [ə]
h. Dinge [ə], Dinger [ɐ]
i. Güte [ə], Güter [ɐ]
j. jene [ə], jener [ɐ], Jena [a]
k. alte [ə], alter [ɐ], Altar [a:]
17
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 2
Übung 11: Was sind die Unterschiede zwischen den folgenden Lauten (Höhe, Länge, u.s.w.)?
Beispiel: [e:] ist gespannt aber [ɛ:] ist ungespannt.
a. [a] und [a:]
b. [o:] und [ø:]
c. [I] und [ɛ]
d. [i:] und [y:]
Übung 12: Beschreiben Sie die folgenden Vokale nach ihren artikulatorischen Merkmalen.
Achten Sie auch auf die Adjektivendungen.
Beispiel: [o:] ist ein langer, gespannter, hinterer, mittlerer, gerundeter Vokal.
a. [i:]
b. [e:]
c. [ʏ
d. [u:]
e. [ɔ
f. œ]
g. [ə]
h. [a:]
Übung 13: Füllen Sie diese Tabelle mit den Vokalen des Deutschen aus!
vorn zentral hinten
ungerundet gerundet
tief ɐ
___ a:
Übung 14: Transkribieren Sie die folgenden Wörter in die IPA-Schrift (Vokale). Überprüfen Sie
Ihre Antworten in einem Aussprachewörterbuch.
a. die [ d __ ] g. dürft [d __ __ ft]
b. Milch [m __ lç] h. Fön [f __ n]
c. helfen [h __ lf __ n] i. Ton [th __ n]
h
d. Täter [t __ t __ ] j. Tonne [th __ n __ ]
e. Schuh [ʃ __] k. Arbeit [__ b __ th]
f. durfte [d __ __ ft __ ] l. Häuser [h __ z __ ]
18
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 2
Übung 15: IPA Symbole erkennen: Schreiben Sie die folgenden Wörter in der normalen
deutschen Rechtschreibung. Überprüfen Sie Ihre Antworten in einem Aussprachewörterbuch.
a. [fɔɐ] g. [tsvɛɐk]
b. [vax] h. [zʏntaks]
c. [vi:n] i. [ainʃtain]
d. [tha:kh] j. [mɛ:tçən]
e. [dʒi:ns] k. [hoyttsutha:gə]
h
f. [hy:t ən]
Übung 16: Transkribieren Sie die folgenden, ganzen Wörter in die IPA-Schrift. Überprüfen Sie
Ihre Antworten in einem Aussprachewörterbuch.
a. Knie j. schön
b. Bild k. könnte
c. sehen l. Land
d. setzen m. Bier
e. Buch n. Kakao
f. Butter o. zwanzig
g. Asyl p. Löwenbräu
h. hüpfen q. Käsespätzle
i. Zone r. Deutschland
Weiterführende Literatur
Dudenredaktion (Hgg.). 2005. Duden Aussprachewörterbuch. Mannheim: Dudenverlag.
Fagan, Sarah and Mary Grantham O’Brien. 2016. German Phonetics and Phonology: Theory
and Practice. New Haven: Yale University Press.
Hall, Christopher. 2003. Modern German Pronunciation: An introduction for speakers of
English. Manchester, U.K.: Manchster University Press.
Wiese, Richard. 1996. The Phonology of German. Oxford: Oxford University Press.
19
Kapitel 3:
Phonologie: Das deutsche Lautsystem
Überblick:
Die Silbe
Phonologische Regeln: die Realisierungen von <ch>, <-ig> und <r>,
Auslautverhärtung, Schwa-Tilgung, Vokalkürzung
Wortakzent und Satzakzent
Intonation
3.1 Einführung
In Kapitel 2 haben wir über die Phonetik der deutschen Sprache gelernt. Dieses Kapitel
behandelt deutsche Phonologie. Beide dieser Teildiszipline der Sprachwissenschaft beschäftigen
sich mit Lauten, also was ist der Unterschied zwischen Phonetik und Phonologie? Während
Phonetik einzelne Laute untersucht, geht es bei Phonologie um das Lautsystem einer Sprache.
Phonologie umfasst Fragen wie: Wieviele Konsonanten und Vokale hat das Deutsche? Wie
können wir feststellen, wo ein bestimmter Laut vorkommen und nicht vorkommen kann?
Welchen Effekt hat ein Laut auf einen Nachbarlaut? Wie spricht man ganze Wörter und ganze
Sätze aus?
Im nächsten Teil behandeln wir die Silbe, die die Basis für viele phonologische Prozesse
ist. In Teil 3.3 lernen wir, wie phonologische Regeln die Aussprache von Lauten in gewissen
Kontexten bedingen. Teil 3.4 beantwortet die Frage „Wieviele Konsonanten und Vokale hat das
Deutsche?“ Teil 3.5 behandelt Akzent und Teil 3.6 Intonation.
Um die Aussprache sowohl von einzelnen Lauten als auch von ganzen Wörtern zu
verstehen, müssen wir Konsonanten und Vokale in Silben gruppieren. Eine Silbe im Deutschen
besteht normalerweise aus einem Vokal mit den Konsonanten, die dem Vokal voranstehen oder
folgen. Deutsche Wörter können aus einer Silbe oder aus
mehreren Silben bestehen. Die einfachste Methode, die Silben Linguistische Formalismen:
in einem Wort zu zählen, ist die Vokallaute zu zählen. Sagen K ist irgendein Konsonant
Sie die folgenden Wörter laut und klopfen Sie auf den Tisch V ist irgendein Vokal
bei jedem Vokal (aber nur einmal bei langen Vokalen und σ (sigma) ist eine Silbe
Diphthongen). Wieviele Silben gibt es in Mann, Kind, Boot
N ist der Nukleus einer Silbe
und Frau? (Wenn Sie das Zeichen sehen, sollten Sie
den Laut oder das Wort mehrmals laut sagen, bis Sie die Ko ist die Koda einer Silbe
Mechanismen der Aussprache verstehen.) Die Wörter haben E ist der Einsatz einer Silbe
je eine Silbe. Wieviele Silben haben Straße, Achtung, Reise R ist der Reim einer Silbe
und Arbeit? Sie haben jeweils zwei Silben. Und was ist . trennt Silben (Ach.tung)
mit arbeite, gelesen, Studentin und Österreich? Die
Wörter sind alle dreisilbig.
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 3
Wir können die Silbe besser definieren, wenn wir einem Wort eine Silbenstruktur
zuweisen. Wir benutzen die Beispiele Boot und Frau. Zuerst muss man das Wort in die IPA-
Schrift transkribieren, und dann identifiziert man jeden Laut entweder als K (bei Konsonanten)
oder V (bei Vokalen):
(1) K V K K K V
[b o: t] [f r au]
Als nächstes müssen wir bestimmen, zu welchem Teil der Silbe die Konsonanten und Vokale
gehören. Ein Vokal wird immer der Nukleus sein, d.h. der Kern der Silbe.1 Die Konsonanten vor
dem Vokal bilden den Einsatz der Silbe und die Konsonanten danach sind die Koda:
(2) E N Ko E N
| | | / \ |
K V K K K V
[b o: t] [f ʀ au]
Jede Silbe hat einen Nukleus, aber nicht alle Silben haben einen Einsatz oder eine Koda. (Warum
hat Frau keine Koda?) Dann gruppiert man den Nukleus und die Koda, die zusammen den Reim
bilden. (Wenn es keine Koda gibt, ist der Nukleus allein der Reim, genau wie in Gedichten, wo
Frau mit Bau reimt.) Der Reim spielt nicht nur in der Dichtung eine Rolle, sondern auch in
phonologischen Regeln. Zum Schluss bilden der Einsatz und der Reim zusammen die Silbe (σ):
(3) σ σ Mini‐Übung:
Zeichnen Sie die
R R Silbenstruktur für Kind
/ \ | (und bemerken Sie
E N Ko E N
dass es zwei
| | | / \ |
Konsonanten in der
K V K K K V
[b o: t] [f ʀ au] Koda gibt).
Das war relativ einfach, aber was machen wir mit Wörtern, die aus mehr als einer Silbe
bestehen? Wir werden immer noch K und V zuweisen und die Vokale werden Nuklei bilden,
aber manchmal müssen wir entscheiden, ob ein Konsonant in der Mitte eines Wortes zur
vorstehenden oder folgenden Silbe gehört. Zum Beispiel könnte man das Wort Arbeit rein
gedanklich [a.ʀbait], [aʀ.bait] oder [aʀb.ait] trennen. Welche
Trennung ist die Richtige? Hier müssen wir das Prinzip des Mini‐Übung:
maximalen Einsatzes anwenden: Der Einsatz einer Silbe im Trennen Sie die folgenden
Deutschen muss möglichst viele Konsonanten behalten, aber Wörter in Silben anhand vom
nur so viele wie im Deutschen erlaubt sind. Um zu testen, Prinzip des maximalen
welche Konsonanten in einem deutschen Einsatz erlaubt sind, Einsatzes: Achtung, Häuser,
kann man überlegen ob es deutsche Wörter gibt, die mit Studentin, gesprochen
1
In 3.3.6 werden wir sehen, dass nicht alle Nuklei einen Vokal haben müssen.
21
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 3
diesen Konsonanten anfangen.2 Kein deutsches Wort beginnt mit [ʀb], also [ʀbait] ist keine
mögliche Silbe im Deutschen und deswegen kann [a.ʀbait] nicht richtig sein. Weil deutsche
Wörter mit [b] oder mit Vokalen beginnen können, sind beide [bait] und [ait] mögliche Silben im
Deutschen. Jedoch ist [aʀ.bait] und nicht [aʀb.ait] die richtige Silbentrennung, denn nur bei
[aʀ.bait] wird der Einsatz von der zweiten Silbe maximal:
(4) σ σ
|
R R
/ \ / \
N Ko E N Ko
| | | | |
V K K V K
[a ʀ b ai t]
Im Vergleich mit anderen sprachen erlaubt das Deutsche besonders viele Konsonanten in
Einsätzen und Kodas. In Einsätzen erlaubt das Deutsche die folgenden Verbindungen von zwei
Konsonanten (Fagan 2009: 35). Plosive, Frikative, und Affrikaten können mit einem folgenden
Nasalkonsonanten oder Liquid im Einsatz erscheinen, z.B. Brauch, Knecht, flach, Schnee [ʃn]
und Pflug. Einige Frikative und Affrikaten können von einem [v] oder stimmlosen Plosiv gefolgt
werden, z.B. Schwein [ʃv], zwei [tsv], Spiel [ʃp], Stein [ʃt], und Skat [sk]. Es gibt Einsätze mit
drei Konsonanten, aber nur die folgenden fünf Verbindungen sind möglich: [skl] wie Sklave,
[skʀ] wie Skrupel, [ʃpl] wie Splitter, [ʃpʀ] wie Spruch und [ʃtʀ] wie Strom (Fagan 2009: 36).
In Kodas können zwei (Kind, Post), drei (Arzt, kannst), oder sogar vier Konsonanten
(Herbst, Ernst) erscheinen. Die einzige Möglichkeit, fünf Konsonanten in der Koda zu finden, ist
im Genitiv von Wörtern mit vier Konsonanten in der Koda (Herbsts, Ernsts). (Sie können jetzt
Übung 1 und Übung 2 versuchen.)
Bis jetzt haben wir sehr allgemein das Thema „Laut“ besprochen. Die genaue Definition
von „Laut“ ist aber viel komplizierter. Die Frage „Wieviele Laute gibt es im Deutschen?“ ist
zum Beispiel ziemlich vage, weil einige Laute mehr
als eine Aussprache je nach ihrer Lage im Wort haben. Linguistische Formalismen:
Wir haben bereits in Kapitel 2 gesehen, dass der Ein Symbol in eckigen Klammern [ʀ]
Buchstabe <r> am Wortanfang als Konsonant aber am ist ein Allophon und stellt die
Wortende als Vokal ausgesprochen wird: Im Wort rot genau Aussprache dar.
haben wir [ʀ] aber in Ohr ist es [ɐ]. Gilt das also als Ein Symbol in schrägen Klammern
ein Laut oder zwei? /ʀ/ ist ein Phonem, die abstrakte
Man könnte behaupten, dass das Deutsche Form eines Lauts.
zwei ganz unterschiedliche Laute hat, die nur
* bezeichnet eine unmögliche Form.
2
Eine Ausnahme zu diesem Test ist der Konsonant [s], der in einem wortinternen Einsatz erscheinen kann, z.B. in
Wasser [va.sɐ], aber nicht am Wortanfang (wo nur [z] erscheint).
22
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 3
zufälligerweise mit dem Buchstaben <r> geschrieben werden. Wenn wir aber solches annehmen
würden, würden wir dabei eine wichtige Generalisierung verlieren: Manchmal verwandelt sich
ein [ɐ] in einen [ʀ]. Beispielsweise wird das Wort Ohr tagtäglich [o:ɐ] ausgesprochen, aber mit
der Pluralendung wird der letzte Laut [ɐ] zu einem [ʀ], also [o:ʀən]. Das bedeutet, dass die zwei
Laute [ʀ] und [ɐ] irgendwie verwandt sind. Die Tatsache, dass zwei Laute wie [ʀ] und [ɐ] in
unterschiedlichen Umgebungen erscheinen, heißt komplementäre Distribution.
Wir als Linguisten beantworten die Frage „Hat das Deutsche einen oder zwei r-Laute?“,
indem wir annehmen, dass Laute auf zwei unterschiedlichen Ebenen repräsentiert werden. Im
abstrakten Sinn hat das Deutschen nur ein Phonem /ʀ/, aber dieses Phonem hat zwei
Aussprachevarianten oder Allophone, nämlich [ʀ] und [ɐ]. Ein Phonem ist eine abstrakte Einheit
des Lautsystems einer Sprache, mit dem man Wörter bildet. Das Wort Ohr, zum Beispiel, besteht
aus einem Vokal /o:/ und einem Konsonanten /ʀ/. Wir wissen dass [ɐ] nicht selber ein Phonem
ist, weil man kein neues Wort bildet, wenn man [ʀ] durch [ɐ] ersetzt: [o:ʀ] und [o:ɐ] sind beide
Ohr ohne Bedeutungsunterschied. Aber wenn man [ʀ] durch [m] ersetzt, hat man ein neues Wort
(Ohm), also /m/ und /ʀ/ sind zwei unterschiedliche Phoneme. Phoneme sind also kontrastiv.
In den nächsten Teilen werden wir feststellen, welche Laute des Deutschen eigentlich
Allophone eines Phonems sind. Mit phonologischen Regeln können wir vorhersagen, wann ein
bestimmtes Allophon erscheinen wird.
Wir haben in 2.2.2 schon gesehen, dass das Deutsche zwei Laute [x] und [ç] hat, die in
der deutschen Rechtschreibung mit <ch> dargestellt werden. Sind diese Laute zwei unabhängige
Phoneme oder zwei Allophone von einem einzelnen Phonem? Erstens scheint es so zu sein, dass
die beiden Laute alternieren, z.B. in Buch [bu:x] und Bücher [by:çɐ] oder in riechen [ʀi:çən] und
roch [ʀɔx]. Zweitens sind diese zwei Konsonanten nicht kontrastiv: Man kann man keine
Wortpaare finden, die sich nur durch [x] gegen [ç] unterscheiden. Wenn man versucht, [ç] in
einem Wort wie Milch durch [x] zu ersetzen, bekommt man die regionale Aussprache [mɪlx]
aber kein neues Wort.3 Wir können also annehmen, dass [x] und [ç] Allophone von einem
Phonem (sagen wir /ç/) sind.
Wenn das der Fall ist, müssen [x] und [ç] in komplementärer Distribution stehen. Also
müssen wir eine Regel schreiben, die vorhersagen kann, wann die beiden Allophone erscheinen.
Das Allophon [ç] erscheint nach Vokalen wie [i:], [ɛ], [y:], [œ] und [ai], nach Konsonanten und
am Wortanfang:
Das Allophon [x] erscheint nach Vokalen wie [a], [ɔ], [u:] und [au]:
3
Es gibt Quasi-Paare wie Kuchen mit [x] und das diminitive Kuhchen mit [ç], aber man kann das erklären, wenn das
Suffix -chen in einem gewissen Sinn ein Wort ist (Fagan 2009: 26).
23
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 3
Jetzt möchten wir eine phonologische Regel bilden, die diese Distribution erklären kann.
Phonologische Regeln haben eine bestimmte Form (7), wo die Zeichen A, B, C und D
verschiedene Laute darstellen.
A → B stellt die Veränderung dar und C_D ist die phonologische Umgebung, in der diese
Veränderung stattfindet. C_D bedeutet „zwischen C und D“, _D ist „vor D“ u.s.w. Schreiben wir
jetzt die phonologische Regel, die das Allophon [x] im Wort Bach (6a) erklärt: In diesem
Beispiel ist die Veränderung /ç/ → [x] und die Umgebung ist „nach einem [a]“:
Wie wir bereits in 2.4 sahen, endet ein Wort wie Rad nicht auf [d] sondern [th]. Die
Pluralform von diesem Wort, Räder, hat jedoch [d] in der selben Stelle im Wort, also [ʀɛ:dɐ].
Nun versuchen wir eine phonologische Regel zu formulieren, die diese Alternation zwischen [d]
und [th] erklärt. Es gibt dafür zwei Möglichkeiten: Es könnte um Phonem /th/ gehen, das
zwischen Vokalen zu einem stimmhaften [d] wird (10). Oder es könnte sich dabei um ein
Phonem /d/ handeln, das am Wortende zu einem stimmlosen [th] wird (11).
Also nehmen wir zunächst die erste Alternative an, dass das Wort Rad die abstrakte
Repräsentation /ʀa:th/ hat und dass Räder die abstrakte Repräsentation /ʀɛ:thəʀ/ hat. Unter dieser
Analyse spricht man /ʀa:th/ einfach [ʀa:th] aus, weil /th/ am Wortende steht und die Regel in (10)
nicht zutrifft. Andererseits ist /th/ in Räder zwischen Vokalen, also die Regel in (10) ergibt
[ʀɛ:dəʀ] und dann mit Vokalisierung des [ʀ] schließlich [ʀɛ:dɐ]. Das Problem mit dieser Analyse
sieht man mit einem Wort wie Rat, plural Räte. Von dem abstrakten Repräsentation /ʀa:th/
bekommt man die richtige Aussprache [ʀa:th] im Singular, aber (10) ergibt die falsche Form im
Plural: Weil /th/ in /ʀɛ:thə/ zwischen Vokalen steht, würde man für Räte die Aussprache *[ʀɛ:də]
erwarten, was nicht der Fall ist.
Die zweite Alternative ergibt die richtigen Formen. Nehmen wir an, dass die abstrakte
Repräsentation von Rad /ʀa:d/ und von Räder /ʀɛ:dəʀ/ ist. Weil die Regel in (11) nur am
Wortende zutrifft, bleibt /ʀɛ:dəʀ/ mit einem [d], also [ʀɛ:dɐ]. Der /d/ in /ʀa:d/ wird am Wortende
zu [th] und das ergibt die richtige Aussprache [ʀa:th]. Regel (11) ergibt keine Probleme in den
Wörtern Rat und Räte, weil die Regel nur auf den Laut /d/ wirkt aber keinen Effekt auf /t/ hat.
Es gibt andere Beispiele von Konsonanten, die am Wortende ihre Aussprache verändern:
/b/ wird zu einem [ph], /g/ wird zum [kh], /z/ zum [s] und /v/ zum [f]:
25
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 3
Dieses Phänomen heißt Auslautverhärtung, d.h. die Entstimmung (oder „Verhärtung“) von
Plosiven und Frikativen am Wortenende („Auslaut“ ist ein traditioneller Begriff für das
Wortende).4 Um die Distribution der Auslautverhärung besser zu verstehen, machen Sie Übung
4.
Im vorigen Teil haben wir festgestellt, das /g/ am Wortende manchmal zu [kh] wird. Das
ist aber nicht immer der Fall. In der standarddeutschen Aussprache wird /g/ zu einem [ç] in der
Endung <ig>, z.B. in wenig und König.5 Wir könnten eine Regel formulieren, die erklärt,
dass /g/ nach [ɪ] immer zu [ç] wird:
Diese Regel macht aber eine falsche Vorhersage: Man würde laut (14) erwarten, dass Könige als
*[kø:nɪçə] ausgesprochen wird, weil /g/ einem [ɪ] folgt. Um diese unkorrekte Form zu
vermeiden, müssen wir diese Regel, genau wie bei Auslautverhärtung, auf das Wortende
beschränken:
Die Regel in (15) ergibt die richtige Formen, einen [ç] in König aber nicht in Könige. Die
Regel in (15) ist also völlig adäquat, aber wir können die Regel anders formulieren, damit die
phonetische Beziehung zwischen [g] und [ç] klarer wird. Dafür können wir einfach die IPA-
Zeichen durch ihre phonetischen Merkmale ersetzen:
Der Laut [g] ist ein stimmhafter, velarer Plosiv und [ç] ist ein stimmloser, palataler Frikativ.
Jedoch ist der wesentliche Unterschied zwischen [g] und [ç] die Artikulationsart. Die
Stimmlosigkeit von [ç] kann man einfach durch Auslautverhärtung erklären und der
Artikulationsort palatal kann man durch die Regel in (9) erklären, dass der velare Frikativ [x]
nicht nach einem vorderen Vokal erscheinen darf. Deswegen können wir die Regel so
vereinfachen:
4
Es gibt auch andere Umgebungen für Auslautverhärtung, nämlich am Ende eines Präfixes, also abändern wird
[ap.ɛndɐn], und vor gewissen Suffixen wie bei täglich [tɛ:k.lɪç] (Wiese 1996: 49).
5
Im Süden der deutschsprachigen Raum werden solche Wörter [ve:nɪk] und [kø:nɪk] ausgesprochen. In Österreich
gilt das sogar als die Standardlautung. Man kann diese Formen erklären, wenn man annimmt, dass diese Dialekte
keine Regel (17) haben, sondern nur Auslautverhärtung.
26
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 3
3.3.5 Realisierungen des /ʀ/
Nun untersuchen wir genauer, wann der vokalische Allophon [ɐ] vom Phonem /ʀ/
erscheint. Die Distribution von diesem Laut ist etwas komplexer als in 3.3.1 dargestellt. Am
Wortanfang darf nur [ʀ] erscheinen (18). Gleichfalls erscheint nur [ʀ] zwischen einem
Konsonanten am Wortanfang und einem Vokal (19).
Am absoluten Wortende darf sowohl [ɐ] wie [ʀ] vorkommen (20). Ebenso findet man beide
Allophone zwischen einem Vokal und einem oder mehreren Konsonanten am Wortende (21).
Innerhalb eines Wortes finden wir manchmal, dass nur [ʀ] vorkommt (22), und manchmal, dass
beide möglich sind (23).
Wie können wir nun diese Distribution mit einer Regel erklären? Was die Umgebungen
in (18), (19) und (22) gemeinsam haben, ist dass in /ʀ/ im Einsatz steht. Der /ʀ/ in leere ist im
Einsatz, weil man das Wort laut des Prinzips des maximalen Einsatzes so trennen muss: /le: . ʀə/.
Aber in (20), (21) und (23) ist /ʀ/ in einer Koda. Bei Herzen muss der /ʀ/ in der Koda stehen
(/hɛʀ . tsən/) wegen des Prinzips des maximalen Einsatzes, d.h. weil */ʀtsən/ keine mögliche
Silbe des Deutschen ist. Wir können jetzt die Distribution von [ɐ] mit einer fakultativen Regel
erklären: /ʀ/ darf in einer Koda als [ɐ] erscheinen. (Die Distribution vom Allophon [ʀ] braucht
keine Erklärung, denn es kann in allen Umgebungen vorkommen.) Diese Regel kann so
formuliert werden, wenn $ eine Silbengrenze darstellt und (K) einen oder mehr fakultative
Konsonanten:
3.3.6 Schwa-Tilgung
Die Regel in (24) kann jedoch nicht die Aussprache von /əʀ/ am Wortende (z.B. in
Mutter) erklären. In dieser Umgebung haben wir als Resultat von /ʀ/-Vokalisierung nicht *[əɐ]
27
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 3
sondern einfach [ɐ], also [mʊtɐ]. Für diese Fälle brauchen wir noch eine Regel, in der [ə] vor
einem [ɐ] verschwindet. Diese Regel heißt Schwa-Tilgung:
Schwa-Tilgung vor [n] und [m] findet nur nach gewissen Artikulationsarten statt:
In Übung 7 können Sie versuchen, die phonologischen Regeln für die Distributionen von Schwa-
Tilgung zu schreiben.
6
Beispiele und Regeln aus Fagan (2009: 30).
28
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 3
3.3.7 Vokalkürzung
Konsonanten sind nicht die einzigen Laute, die Allophone haben. Im Deutschen haben
alle langen, gespannten Vokale kurze, gespannte Allophone. Diese Allophone kommen nur in
unbetonten Silben vor und meistens nur in Fremdwörtern. (Mehr über betonte und unbetonte
Silben gibt es in 3.5 unten.) Ein gutes Beispiel dafür ist Telefon, das man mit drei gespannten
Vokalen [thelefo:n] ausspricht und nicht mit ungespanntem [ɛ] oder [ə], also nicht wie im
Englischen [thɛləfo:n].
Wir können sehen, das Vokale wie [e] Allophone von den langen sind, weil sie mit den
längeren Varianten alternieren: Der erste [e] in Telefon kann auch lang sein [the:lefo:n] und der
[o:] kann auch als kurzer Vokal erscheinen, wenn das Wort das betonte Suffix -ieren besitzt
[thelefoni:ʀən]. Die plausibelste Analyse für diese kurzen, gespannten Vokale ist eine Regel
der Vokalkürzung, die nur in unbetonten Silben wirkt. (Sie können jetzt Übung 8 versuchen, aber
sie wird wahrscheinlich leichter sein, nachdem Sie 3.5 gelesen haben.)
Jetzt kommen wir zurück zur Frage „Wieviele Konsonanten und Vokale hat das
Deutsche?“ Im letzten Kapitel haben wir 26 IPA-Zeichen für Konsonanten gelernt. Beim
Glottisverschluss [ʔ] ist jedoch umstritten, ob er im Deutschen ein Phonem ist.7 Wir haben
festgestellt, dass [x] ein Allophon von /ç/ ist. Es gibt also 24 sichere Phoneme im Deutschen mit
(unter anderen) den folgenden Allophonen:
7
Fagan (2009: 19) behauptet, dass der Glottisverschluss ein Phonem ist, weil es Minimalpaare gibt wie mein [main]
gegen ein [ʔain]. Hall (1992: 65) meint, dass er kein Phonem ist, weil das Fehlen dieses Lauts keinen
Bedeutungsunterschied macht, z.B. [ain] und [ʔain] bedeuten beide ein.
29
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 3
(29) Phonem Allophone Beispiel
/ph/ [ph] Peter
/b/ [b] Ball
[ph] lieb
/th/ [th] Tag
/d/ [d] Dach
[th] Rad
/kh/ [kh] Kind
/g/ [g] groß
[kh] Tag
[ç] wenig
/f/ [f] Vater
/v/ [v] Was
[f] aktiv
/s/ [s] Wasser
/z/ [z] See
[s] Glas
/ʃ/ [ʃ] Schiff
/ʒ/ [ʒ] Genie
[ʃ] beige
/ç/ [ç] ich
[x] ach
/j/ [j] ja
/h/ [h] hallo
/pf/ [pf] Pferd
/ts/ [ts] Zahn
/tʃ/ [tʃ] Deutsch
/dʒ/ [dʒ] Dschungel
/m/ [m] Mitte
[m̩ ] bösem
/n/ [n] neu
[n̩ ] guten
/ŋ/ [ŋ] jung
/l/ [l] links
[l̩ ] Mittel
/ʀ/ [ʀ] rot
[ɐ] Mutter
Von den 20 IPA-Zeichen für Vokale sind fast alle Phoneme. (Wir gehen hier nicht auf die
Frage ein, ob die Nasalvokale zu den deutschen Phonemen gehören.) Die einzige Ausnahme ist
[ɐ], der ein Allophon von einem [ʀ] ist. Also es gibt 19 vokalische Phoneme im Deutschen. Die
wichtigsten Allophone der Vokale sind die verkürzten, gespannten Vokale:
30
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 3
(30) Phonem Allophone Beispiel
/i:/ [i:] China
[i] Chinese
/ɪ/ [ɪ] Kinn
/e:/ [e:] eben
[e] egal
/ɛ:/ [ɛ:] Ähre
/ɛ/ [ɛ] Ecke
/u:/ [u:] Uni
[u] Universität
/ʊ/ [ʊ] um
/o:/ [o:] Polen
[o] Politik
/ɔ/ [ɔ] Post
/y:/ [y:] Düne
[y] dynamisch
/ʏ/ [ʏ] dünn
/ø:/ [ø:] Öl
[ø] Ökologie
/œ/ [œ] Hölle
/ə/ [ə] Rose
/a:/ [a:] Aal
/a/ [a] all
/au/ [au] Haus
/ai/ [ai] mein
/oy/ [oy] neu
3.5 Wortakzent
Bis jetzt haben wir nur einzelne Laute beschrieben. Im Rest des Kapitels werden wir
phonologische Phänomene untersuchen, die auf Wort- und Satzebene eine Rolle spielen. Wir
beginnen mit Betonung oder Wortakzent.
Jedes Wort, das aus zwei oder mehr Silben
besteht, hat eine Silbe, die stärker betont wird als die Linguistische Formalismen:
anderen. Diese am stärksten betonte Silbe nennen wir In Wörtern mit mehr als einer Silbe:
den Hauptakzent. Sagen Sie das Wort Musik und ˈ steht vor dem Hauptakzent,
bemerken Sie dabei, welcher Vokal länger und lauter ˌ steht vor dem Nebenakzent
ist. Hoffentlich sprechen Sie das wie Mu-SIIIK und unbetonte Silben werden
aus, also mit dem Hauptakzent auf der zweiten Silbe.
nicht markiert.
In einer IPA-Transkription wird diese Betonung so
angegeben: [mu.ˈzi:k]. Sagen Sie jetzt das Wort musikalisch, in dem eine ganz andere Silbe den
Hauptakzent trägt. Die richtige Betonung dafür ist [mu.zi.ˈka:.lɪʃ].
In einfachen, ursprünglich deutschen Wörtern trägt normalerweise die erste Silbe im
Wort den Hauptakzent: ˈStra.ße, ˈAr.beit, ˈThe.o.dor. Ursprünglich deutsche Präfixe und Suffixe
31
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 3
ändern normalerweise den Hauptakzent nicht: ˈAr.bei.ten, ˈar.bei.test, ge.ˈar.bei.tet,
be.ˈar.bei.ten, ˈar.beits.los, ˈAr.beits.los.ig.keit. Ausnahmen
sind die betonten Präfixe erz- (ˈErz.bi.schof), miss-
Mini‐Übung:
(ˈmiss.ver.steh.en), un- (ˈun.klar) und ur- (ˈUr.sprung),
Trennen Sie diese Wörter in
sowie die sogenannten trennbaren Präfixe wie an- in
ˈan.kom.men und auf- in ˈauf.steh.en.8 Silben und identifizeren Sie
Der Hauptakzent in einfachen Fremdwörtern ist den Hauptakzent: Ärztinnen,
dagegen nicht regelmäßig: Er kann am Wortanfang gefahren, Telefon,
(ˈMar.zi.pan), Wortmitte (Port.ˈfo.li.o), oder Wortende telefonieren, Universität
(op.por.ˈtun) stehen. Fremde Suffixe tragen oft den
Hauptakzent, wie wir in den Beispielen mit -ieren und -ität gesehen haben. Andere Suffixe, die
den Hauptakzent tragen, sind unter anderen -ant (De.mon.ˈstrant), -ion (Fik.ˈtion), -iv (fik. ˈtiv)
und -ur (Na.ˈtur). (Sie können jetzt Übung 9 versuchen.)
Ein Wort, das aus mehreren kleineren Wörtern besteht, heißt ein Kompositum oder
Zusammensetzung. (Komposita werden in Kap. 4 weiter diskutiert.) Die einzigen Komposita mit
mehr als einem Hauptakzent sind Kopulativkomposita, in denen alle Teile gleich wichtig sind,
z.B. bei ˈStadtˈstaat (eine Stadt, die auch ein unabhängiger Staat ist) oder ˈDichter-ˈMaler-
Kompoˈnist (jemand, der Dichter und Maler und Komponist ist). Die meisten Komposita haben
nur einen Hauptakzent, während der andere Teil (oder Teile) des Kompositums nur einen
Nebenakzent hat. Beispielsweise, obwohl groß und Stadt in der Phrase ˈgroße ˈStadt jeweils
einen Hauptakzent tragen, wird im Kompositum ˈGroßˌstadt der zweite Teil nicht so stark betont
wie der erste Teil, also hier trägt -stadt nur einen Nebenakzent. (Es gibt auch Suffixe, die often
einen Nebenakzent tragen, wie -bar in ˈlesˌbar und -sam in ˈeinˌsam.)
Also wie entscheidet man, welcher Teil eines Kompositums betont wird? In den meisten
Komposita trägt der erste Teil den Hauptakzent wie bei Großstadt: ˈStadtˌmitte, ˈSchwimmˌbad,
ˈHauptbahnˌhof, und ˈFußballˌmannschaft. Es gibt zwei Arten von Ausnahmen: gewisse
Zeitausdrucke wie Jahrˈzehnt und Karˈfreitag, und dreiteilige Komposita wo der erste Teil ein
Adjektiv oder eine Nummer ist, wie Rotˈkreuzfahne und Zweiˈzimmerwohnung (Hall 2003: 115).
(Sie können jetzt Übung 10 versuchen.)
Es gibt nicht nur akzentuierte und unakzentuierte Silben in einem Wort, sondern auch
akzentuierte und unakzentuierte Wörter in einem Satz. Nehmen wir ein einfaches Beispiel wie
Am Montag haben die Studentinnen ein interessantes Buch diskutiert. Einige Wörter haben eine
Silbe mit einem Wortakzent, also diese Wörter werden lauter und prominenter ausgesprochen als
die anderen Wörter. Sagen Sie den Satz, und bemerken Sie dabei, wie einige Wörter sehr
prominent sind, während die anderen unbetont sind. Hoffentlich haben Sie das ungefähr so
ausgesprochen:
8
Für Details siehe Hall (2003: 110-111). Der Unterschied zwischen trennbaren und untrennbaren Präfixen wird
unten in Kapitel 4 erklärt.
32
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 3
Also eine Silbe in den Substantiven Montag, Studentinnen und Buch sowie im Adjektiv
interessantes und im Verb diskutiert trägt einen Wortakzent, aber die Funktionswörter am,
haben, die und ein tragen keinen Wortakzent. (Funktionswörter sind Artikel, Hilfsverben,
Präpositionen und Pronomina: Diese Kategorien werden im nächsten Kapitel ausführlicher
behandelt.)
Von allen akzentuierten Wörtern in einem Satz wird ein Wort stärker betont als die
anderen. Dieses Wort trägt den Satzakzent. Im Prinzip können alle Wörter in (31) den
Satzakzent tragen, um das Wort hervorzuheben:9
(32) a. Am ˈMONTAG haben die Stuˈdentinnen ein interesˈsantes ˈBuch diskuˈtiert (nicht
am Dienstag).
b. Am ˈMontag haben die STUˈDENTINNEN ein interesˈsantes ˈBuch diskuˈtiert (nicht
die Professorin).
c. Am ˈMontag haben die Stuˈdentinnen ein INTERESˈSANTES ˈBuch diskuˈtiert
(nicht das langweilige).
d. Am ˈMontag haben die Stuˈdentinnen ein interesˈsantes ˈBUCH diskuˈtiert (nicht
einen Artikel).
e. Am ˈMontag haben die Stuˈdentinnen ein interesˈsantes ˈBuch DISKUˈTIERT (nicht
geschreiben).
Normalerweise wird der Satz wie in (32d) ausgesprochen, auch wenn man keinen Teil des Satzes
besonders hervorheben will:
Die Regel dafür ist einfach: ohne Emphase fällt der Satzakzent auf das letzte akzentuierte Wort
im Satz, das nicht ein Verb ist (Hall 2003: 133). (Sie können jetzt Übung 11 versuchen.)
Während Akzent mit der Lautstärke und Prominenz von einzelnen Wörter im Satz zu tun
hat, trägt der ganze Satz eine bestimmte Intonation. Intonation ist die Satzmelodie: das Muster
von steigenden und fallenden Tönen durch den Satz. Also sagen Sie unseren Beispielsatz (33)
nocheinmal und bemerken Sie die Melodie des Satzes. Dann sagen Sie die selben Wörter,
jedoch diesmal als Frage: Haben die Studentinnen am Montag ein interessantes Buch diskutiert?
Es gibt nicht nur einen Unterschied in der Wortfolge, sondern auch in der Intonation. Diesen
Unterschied merkt man am besten am Satzende: Während die Melodie im Aussagesatz bei Buch
diskutiert sinkt, hört man eine steigende Melodie in den letzten Wörtern in der Frage.
Man kann das Intonationsmuster eines Satzes mit einer Linie darstellen. In (34) beginnt
der Ton relativ Tief, steigt ein bisschen bei jedem Wortakzent bis ˈBUCH und fällt dann:
Der Satzakzent spielt hier eine wichtige Rolle. Ein Aussagesatz wie (33) hat eine
fallende Intonation: Der Fall beginnt eigentlich auf den Satzakzent und fällt durch den Rest des
9
Diese Hervorhebung oder Emphase heißt kontrastive Fokussierung und wird im Kapitel 9 näher behandelt.
33
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 3
Satzes. Andere Satzarten mit der fallenden Intonation sind Aufforderungen (35) und Fragen mit
einem Fragewort (36):
(35) ˍˍˍˍ
¯¯¯¯˗˗˗˗˗˗˗˗˗˗˗˗˗˗¯¯¯¯¯¯¯¯¯¯˗˗˗˗ \ˍˍˍ
ˈLesen Sie bis ˈMontag das ˈBUCH!
(36) ˍˍˍˍˍ
¯¯¯¯¯¯¯¯˗˗˗˗˗˗˗˗˗˗˗˗¯¯¯¯¯¯ \ˍˍˍˍˍˍˍˍˍ
ˈWann sollte ich das ˈBUCH ˈlesen?
Das andere wichtige Intonationsmuster im Deutschen ist die steigende Intonation, wo der
Aufstieg beim Satzakzent beginnt. Die steigende Intonation gibt es vor allem in Fragen ohne
Fragewort:
(37) ˍˍˍ˗˗˗˗¯¯¯
˗˗˗˗˗˗˗˗˗˗˗˗˗˗˗˗˗˗¯¯¯¯¯˗˗˗˗˗˗˗˗˗˗˗˗˗˗˗˗˗˗˗˗ ¯¯¯¯¯¯¯
Haben die Stuˈdentinnen schon das ˈBUCH ˈgelesen?
Es gibt auch andere Intonationsmuster im Deutschen, die ausführlich in Hall (2003: 116-137)
behandelt werden. Jetzt können Sie Übung 12 machen.
3.7 Übungen
Übung 1: Transkribieren Sie die folgenden Wörter und trennen Sie sie in Silben:
a. Straße
b. setzen
c. zwanzig
d. dürfte
e. Deutsche
f. geworden
g. verwirren
h. bearbeiten
i. Hilfskraft
j. Unverschämtheit
Übung 2: Transkribieren Sie die folgenden Wörter, ordnen Sie die Begriffe K und V zu, und
zeichnen Sie die Silbenstruktur.
a. Aal
b. Magd
c. Herbst
d. Laube
e. tanzen
f. schwierig
34
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 3
g. Syntax
h. Morphologie
Übung 3: Transkribieren Sie die folgenden Wörter und entscheiden Sie sich, ob das Wort [x]
oder [ç] hat. Warum? Überprüfen Sie Ihre Transkriptionen in einem Wörterbuch.
(Herausforderung: Gibt es Wörter, die für die Regel in (9) problematisch sind?)
a. ich
b. Flucht
c. Flüchtling
d. hoch
e. höchst
f. Sprache
g. Gespräch
h. Bäche
i. euch
j. durch
k. China
l. Chanukka
Übung 4: Transkribieren Sie die folgenden Wörter und entscheiden Sie sich bei jedem Wort ob
Auslautverhärtung zutrifft. Überprüfen Sie Ihre Transkriptionen in einem Wörterbuch.
(Herausforderungen: Warum oder warum nicht? Gibt es Wörter, in denen Auslautverhärtung
nicht am Wortende zutrifft? Wie kann unsere Regel in (13) diese Fälle von Auslautverhärtung
erklären?)
a. ab
b. Abend
c. Abänderung
d. Hand
e. Hände
f. handlich
g. Zug
h. Züge
i. Zugabe
j. gereist
k. reisen
l. naiv
m. Naivität
n. Naivling
o. beige
Übung 8: Transkribieren Sie die folgenden Wörter. Achten vor allem auf die Länge des
unterstrichenen Vokals. Überprüfen Sie Ihre Transkriptionen in einem Wörterbuch. Sprechen
Sie die Wörter aus, und passen Sie auf, dass Sie die verkürzten, gespannten Vokale wie [i] von
den kurzen, ungespannten Vokalen wie [ɪ] unterscheiden. Dann schreiben Sie ein verwandtes
Wort (das wird im Wörterbuch in der Nähe sein), wo derselbe gespannte Vokal lang ist. (Tipp:
die unterstrichenen Vokale sind in unbetonten Silben. Suchen sie verwandte Wörter, in denen der
selbe Vokale in einer betonten Silbe steht.)
36
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 3
Beispiel: Kritik: [kri'ti:k] ... Kritiker ['kri:tikɐ]
a. lebendig:
b. wieviel:
c. zurück:
d. Photograf:
e. Psychologie:
f. ökologisch:
g. musikalisch:
Übung 9: Trennen Sie die folgenden Wörter in Silben und weisen Sie den Hauptakzent zu.
Überprüfen Sie Ihre Antworten in einem Wörterbuch. (Herausforderung: Gibt es Wörter, die für
die Beschreibungen in 3.5 problematisch sind? Können Sie diese Ausnahmen erklären?)
a. singen
b. stehen
c. holen
d. Gesang
e. gesungen
f. verstehen
g. bestanden
h. abholen
i. abgeholt
j. Sänger
k. verständlich
l. unverständlich
m. Abholung
n. spazieren
o. Studium
p. studieren
q. Student
r. Universum
s. Universität
t. universal
Übung 10: Trennen Sie die folgenden Komposita in Silben und weisen Sie den Hauptakzent und
(wo nötig) den Nebenakzent zu. Überprüfen Sie Ihre Antworten in einem Wörterbuch.
(Herausforderung: Gibt es Wörter, die für die Beschreibungen in 3.5 problematisch sind?
Können Sie diese Ausnahmen erklären?)
a. Rathaus
b. Fahrrad
c. Werkstelle
d. Hans‐Peter
e. Spaziergang
f. Jahrhundert
g. Rosenmontag
37
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 3
h. schwarz‐weiß
i. Hauptgebäude
j. Schleswig‐Holstein
k. Fahrradweg
l. Rathausplatz
m. Altweibersommer
n. Dreigroschenoper
o. Universitätshauptgebäude
p. Schwarz‐Rot‐Gold
q. Fahrradwerkstelle
Übung 11: Sprechen Sie die folgenden Sätze aus und markieren Sie die akzentuierten Wörter mit
dem Akzentzeichen. Dann weisen Sie dem richtigen Wort den Satzakzent zu.
(Herausforderungen: Tragen Adverbien einen Wortakzent oder nicht? Können Sie eine Regel
feststellen? Gibt es Ausnahmen zur Regel für die Zuweisung des Satzakzents?)
Beispiel: 'Morgen will 'Klaus das 'neuste 'Buch über 'Phonologie 'kaufen.
a. Vorgestern ist die Familie aus Dänemark angekommen.
b. Gestern sind sie in die Schweiz gefahren.
c. Sie wollen zwei Wochen da verbringen.
d. Nach dem Urlaub müssen alle wieder arbeiten.
e. Nächstes Jahr werden sie wohl irgendwo anders hinfahren.
f. Vielleicht wollen sie sogar segeln.
Übung 12: Identifizieren Sie den Satzakzent und entscheiden Sie sich, ob es um eine fallende
oder steigende Intonation geht. Erklären Sie, warum der Satz dieses Intonationsmuster hat. Wie
ist die Intonation in Fragen mit einem Fragewort? (Herausforderung: Schreiben Sie über jeden
Satz eine Linie, die die Intonationskontur darstellt.)
a. Wo ist die Familie Schmidt?
b. Gestern sind sie in die Schweiz gefahren.
c. Sind sie nicht nach Österreich gefahren?
d. Was machen sie in der Schweiz?
e. Ich glaube, sie fahren Ski.
f. Bleiben Sie lange?
g. Nein.
h. Nein?
i. Warum nicht?
Weiterführende Literatur
38
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 3
Hall, Christopher. 2003. Modern German Pronunciation: An introduction for speakers of
English. Manchester: Manchster University Press.
Hall, Tracy Allen. 2000. Phonologie: Eine Einführung. Berlin: Walter de Gruyter.
Wiese, Richard. 1996. The Phonology of German. Oxford: Oxford University Press.
39
Kapitel 4:
Morphologie: Die Formen deutscher Wörter
Überblick:
Wortarten und Subkategorien
Flexion der Nomina, Determinatoren, Pronomina, Adjektive und Verben
Komposition
Wortbildende Prä- und Suffixe
Andere Wortbildungsprozesse
4.1 Einführung
In diesem Kapitel untersuchen wir die deutsche Morphologie, die Teildisziplin der
Sprachwissenschaft, die die Struktur von Wörtern behandelt. Vielleicht haben Sie schon das
Gefühl, dass ein Wort wie Zahnarzt eine interne Struktur hat. Es besteht nämlich aus zwei
Teilen, die unabhängige Wörter sein können: Zahn und Arzt. Auch das Wort Ärztin hat zwei
Teile—Ärzt und in—und obwohl -in nicht ein unabhängiges Wort sein kann, hat es eine Art
Bedeutung.
Sogar einfache Wörter wie Arzt haben mehr grammatikalische Information darin, als man
vielleicht denken würde. Was bedeutet es also, ein Wort wie Arzt zu kennen? Erstens weiß man,
wie das Wort ausgesprochen wird, also die phonologische Repräsentation des Wortes, in diesem
Fall /aʀtst/. Zweitens kennt man die Bedeutung des Wortes, also die semantische Repräsentation
des Wortes. Die semantische Repräsentation geben wir mit Kapitälchen an, also ARZT bedeutet
„jemand, der einen medizinischen Beruf ausübt“. Man könnte auch die semantische
Repräsentation in einer Fremdsprache wie Latein angeben, um klar zu machen, dass es um die
Bedeutung (MEDICUS) geht und nicht um das Wort (Arzt). Nun können wir den Begriff Wort
definieren: Ein Wort ist eine Gruppe von Phonemen, die eine Bedeutung hat und allein stehen
kann. Laut dieser Definition sind Arzt, Ärztin und Zahnarzt Wörter. Dagegen ist -in kein Wort,
obwohl es eine bedeutungstragende Gruppe von Phonemen ist, weil es nicht allein stehen kann.
Zusätzlich zur phonologischen (1a) und semantischen Repräsentation (1b) enthält ein
Wort weitere Informationen. Um das Wort Arzt wirklich zu kennen, muss man auch wissen, dass
es ein Nomen ist, dass es maskulin ist und dass die Pluralform Ärzte lautet. Dass Arzt ein Nomen
ist und nicht ein Verb, spielt eine wichtige Rolle in der Syntax oder Satzstruktur: Arzt kann nur
in Satzstellen stehen, wo andere Nomina stehen. Diese Tatsache nennen wir die syntaktische
Repräsentation des Wortes (1c). Das Genus und die möglichen Formen des Wortes sind unter
den morphologischen Eigenschaften von Arzt (1d).
Aus diesen vier Komponenten besteht der Lexikoneintrag eines Wortes. Hier versteht man unter
Lexikon nicht ein Wörterbuch, sondern die mentale Liste von den Wörtern, die ein Sprecher
einer Sprache kennt.1
Obwohl das Suffix -in kein Wort ist, ist es ein Morphem. Ein Morphem ist die kleinste
bedeutungstragende Einheit der Sprache. Das Suffix -in ist ein Morphem, weil es eine Bedeutung
hat, nämlich „weibliche Person, die den Beruf oder die Handlung X ausübt“. Also Ärztin besteht
aus zwei Morphemen Arzt und -in, denn beide Teile sind die
kleinsten bedeutungstragenden Teile des Wortes. Arzt ist ein Mini‐Übung:
Wort und auch ein Morphem. Ärztin und Zahnarzt sind Trennen Sie diese Wörter in
Wörter aber keine Morpheme, weil sie in kleinere Teile Morpheme: Hauptbahnhof,
getrennt werden können. Die Morphologie ist also die Teilzeitarbeit, arbeitslos,
wissenschaftliche Untersuchung der Morpheme. (Sie Arbeitslosigkeit, kommen,
können jetzt Übung 1 machen.) bekommen.
Morpheme wie -in, die nicht allein stehen können,
heißen Affixe. Affixe werden an einen Stamm (die Form eines Wortes ohne Affixe) angehängt.
Der Stamm des Wortes Arzt ist einfach Arzt, aber der Stamm von arbeiten ist arbeit-, weil -en
ein Affix ist. Affixe nach dem Stamm heißen Suffixe (arbeiten, arbeitest) und Affixe vor dem
Stamm heißen Präfixe (gearbeitet). Wir haben schon im Beispiel Ärztin gesehen, dass die Form
eines Stamms, vor allem der Vokal, sich verändern kann. Der häufigste Stammwechsel im
Deutschen heißt Umlaut und verändert a zu ä, au zu äu, o zu ö und u zu ü.
Im nächsten Teil behandeln wir die Wortarten (Nomina, Adjektive, Verben, u.s.w.). In
Teil 4.3 geht es um die Flexion (Konjugation und Deklination) dieser Wortarten. Teil 4.4
behandelt die Prozesse, durch die neue Wörter gebildet werden.
4.2 Wortarten
Der Lexikoneintrag für jedes Wort enthält syntaktische Informationen, nämlich die
Wortart: Nomen, Pronomen, Adjektiv, Artikel, Adverb, Verb, Präposition oder Konjunktion.
Wie kann man die Wortart eines Wortes feststellen? Man glaubt oft, dass die Bedeutung
entscheidend ist, aber man kann die Wortart eines Wortes erkennen, ohne zu wissen, was das
Wort bedeutet:2
Welche Wortarten haben die fettgedrückten Wörter in diesem Gedicht? Wahrscheinlich haben
Sie das Gefühl, dass flügelflagel und wiruwaruwolz Nomina sind. Dafür haben Sie vor allem
1
Eine Art Information, die in einem Wörterbuch aber nicht im mentalen Lexikon steht, ist die Rechtschreibung.
Auch kleine Kinder kennen die Aussprache, Bedeutung, Kategorie und Flexion eines Wortes, bevor sie in der
Schule das Schreiben lernen.
2
Beispiel aus Kufner (1962). Ich habe die Nomen klein buchstabiert, damit sie als Nomen nur durch die
Morphologie und Worstellung erkannt werden.
41
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 4
Ein Nomen erscheint also in gewissen Umgebungen: Es kann einem Artikel oder Adjektiv folgen
(Der Arzt, den schnellen Bus), kann das Subjekt (Der Student sah...) oder Objekt (...sah den Bus)
eines Satzes sein, und kann in einer Präpositionalphrase vorkommen (im Bus, beim Arzt).
Morphologisch haben alle Nomina ein Genus (der Arzt) und eine Pluralform (Ärzte, Studenten).
Es gibt auch Suffixe, die für Nomina typisch sind (-ung, -heit und -ur wie bei Fingur oben).
Den Begriff Adjektiv kann man nach Bedeutung oder Funktion so definieren, dass ein
Adjektiv die Bedeutung eines Nomens modifiziert (ändert). Während der Bus auf alle
möglichen Busse andeuten könnte, beschränkt ein Adjektiv wie blau in der blaue Bus oder Der
Bus ist blau die Anzahl von möglichen Bussen. Nach dem syntaktischen Kriterium kann ein
Adjektiv zwischen einem Artikel und Nomen stehen (der blaue Bus) oder nach dem Verb sein
erscheinen (... ist blau). Morphologisch haben Adjektive oft Endungen, die Genus und Kasus
zeigen (blaue, blauen), und Adjektive können im Komparativ (blauer) und Superlativ (am
blausten) erscheinen. Die meisten Adjektive können auch adverbial benutzt werden, indem sie
etwas anders als ein Nomen modifizieren (Der Bus fährt schnell anstatt Der Bus ist schnell).
Verben stellen normalerweise eine Handlung (Der Bus fährt) oder Zustand (Die
Studentin schläft) dar. Syntaktisch kann das Verb am Satzanfang (Schläfst du?), in der zweiten
Satzstelle (Jetzt schläfst du) oder am Satzende (Du hast lange geschlafen) stehen. Morphologisch
kongruiert das Verb in Numerus mit dem Subjekt (Die Busse fahren) und zeigt Tempus und
Modus (Du schliefst, Du hättest geschlafen).
Nomina, Adjektive und Verben haben eine Bedeutung und heißen deswegen
Inhaltswörter. Die anderen Wortarten dagegen haben oft an und für sich keine Bedeutung,
42
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 4
Ein Pronomen modifiziert ein Nomen nicht, sondern ersetzt ein Nomen (ggf. mit seinem
Determinator und Adjektiven). Das Pronomen er kann der blaue Bus ersetzen (5b), aber nicht
Bus allein (5c).
3
Die Bedeutungen der bestimmten und unbestimmten Artikel sowie der Demonstrativa wird in Kap. 6.3 behandelt.
4
Dieses Demonstrativum ist dem bestimmten Artikel phonetisch identisch aber wird immer betont. Es kann nicht
mit einer Präposition verschmelzen, also in DEM Bus ist das Demonstrativum, während im Bus der Artikel ist.
43
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 4
Adverbien modifizieren ein Verb (schnell fahren), einen Satz (Vielleicht regnet es
morgen), ein Adjektiv (sehr blau) oder ein anderes Adverb (sehr oft). Sie tragen zur Bedeutung
des Satzes Information über Zeit (morgen), Ort (hier), Art und Weise (schnell), Grad (sehr) und
Sicherheit des Sprechers (vielleicht) bei. Die syntaktischen und morphologischen Kriterien sind
weniger hilfreich bei den Adverbien: Adverbien können praktisch überall im Satz stehen, und
nur einige Adverbien erscheinen im Komparativ und Superlativ (schneller, am schnellsten, aber
nicht *vielleichter, *morgener, oder *sehrer).
Präpositionen heißen auch Verhältniswörter, weil sie das Verhältnis zwischen einem
Nomen und einem anderen Teil des Satzes zeigen. Das Verhältnis kann zeitlich (beginnt um
Mittag), räumlich (das Buch auf dem großen Tisch) oder eher abstrakt (Mäuse gehören zu den
Säugetieren) sein. Präpositionen stehen direkt vor einem Nomen (und seinen Adjektiven
und/oder Determinatoren), wie die vorigen Beispiele zeigen. Es gibt aber kein morphologisches
Kriterium, mit dem man Präpositionen beschreiben kann.
Konjunktionen verbinden Wörter oder Gruppen von Wörtern miteinander. Es gibt zwei
Subkategorien: Die koordinierenden Konjuntionen und, oder, denn, aber, und sondern verbinden
zwei Einheiten, die gleich wichtig sind. Diese Konjunktionen können alle Arten von Worten und
Wortgruppen verbinden:
Wenn eine koordinierende Konjunktion zwei einfache Sätze verknüpft, behalten beide ihre
ursprungliche Wortstellung (8e). Subordinierende Konjunktionen verbinden nur Sätze
miteinander und ein Satz wird dem anderen untergeordnet. Der Hauptsatz behält seine normale
Wortstellung, aber das Verb im untergeordneten Satz erscheint am Satzende:
(9) Ich fahre mit dem Zug, weil das schneller ist.
Konjunktionen kann man syntaktisch definieren, weil sie immer zwischen den zwei Einheiten
stehen, die sie verknüpfen. Die Konjunktionen haben aber keine morphologische Eigenschaften.
(Sie können jetzt Übung 2 versuchen.)
4.3 Flexion
Wir haben in Teil 4.2 gelernt, dass Nomina, Adjektive, Determinatoren, Pronomina,
Verben, und einige Adverbien gewisse grammatikalische Merkmale zeigen. Wenn ein Wort
sich ändert, damit es ein grammatikalisches Merkmal zeigt, wird es flektiert. Durch die Flexion
entstehen keine neuen Wörter, sondern neue Wortformen, die zum selben Wort gehören, z.B.
arbeite~arbeitest~arbeitetet~gearbeitet. Die grammatikalischen Merkmale des Deutschen sind:5
5
Aus Meibauer et al. (2002: 22).
44
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 4
Nomina werden für Genus, Numerus und Kasus dekliniert. Das Genus eines Nomens ist
inhärent: Jedes Nomen wird im Lexikon ein Genus zugewiesen und das Genus kann sich nicht
von einem Satz zu einem anderen Satz ändern. Also Arzt und Bus sind immer maskulin und Arzt
kann nur ein anderes Genus haben, wenn man daraus ein neues Wort bildet (die Ärztin).
Bemerken Sie, dass grammatikalisches Genus nicht immer natürlichem Geschlecht entspricht:
Weib und Mädchen sind Neutra, obwohl sie auf weibliche Menschen hinweisen. Die Merkmale
Numerus und Kasus sind nicht inhärent, sondern hängen vom Kontext ab. Bei Numerus ist die
Bedeutung entscheidend: Wenn mehr als ein Exemplar gemeint wird, ist das Nomen plural. Bei
Kasus geht es um die Funktion im Satz, denn ein Subjekt steht im Nominativ, ein Possessor im
Genitiv, u.s.w. (mehr über die Funktionen von Kasus im nächsten Kapitel).
Die Nominalflexion benutzt wenige Morpheme: Es gibt die Suffixe -e, -(e)n, -(e)s und -
(e)r, den Stammwechsel namens Umlaut und das Null-Morphem Ø (d.h. keine Veränderung).
Diese Morpheme markieren hauptsächlich Plural. Genus wird nur an Adjektiven und
Determinatoren markiert, d.h. obwohl Genus eine inhärente Eigenschaft eines Nomens ist, wird
es nicht direkt am Nomen markiert. Kasus wird am klarsten an Determinatoren markiert
(der/den/dem Bus), aber es gibt auch Kasusendungen auf Nomina. (Können Sie Beispiele von
Kasusendungen auf Nomen nennen?)
Traditionell werden die Nomina je nach Pluralbildung in Flexionsklassen geteilt.6 Wie
Genus ist die Flexionsklasse zum Nomen inhärent, also die Deklination eines Nomens ist im
Lexikon festgelegt. Die Flexionsklasse bestimmt vor allem die Pluralform des Nomens. In diesen
Tabellen, wie in den meisten Wörterbüchern, wird die Flexion durch zwei Zeichen in Klammern
zusammengefasst: Das Erste ist die Endung im Genitiv Singular und das Zweite die Endung im
Nominativ Plural. Das Zeichen -- bezeichnet, dass es keine Endung gibt, ̈- bedeutet, dass der
Stammvokal von manchen Wörtern durch Umlaut verändert wird, und das (e) ist in einigen
Wörten nicht da. Wir beginnen mit den Feminina:
6
Organisation der Flexionsklassen I-V nach Kessel & Reimann (2012:74). Hier werden unregelmäßige
Pluralformen von Fremdwörtern wie Cello (Celli), Neutrum (Neutra) und Museum (Museen) nicht behandelt.
45
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 4
Feminina in Flexionsklasse I haben die Pluralendung -e und (wie alle Feminina) keine
Genitivendung. Einige Wörter in dieser Klasse haben auch Umlaut im Plural. Nomina in
Flexionsklasse II (die größte Gruppe von Feminina) haben den Plural in -n oder -en. (Können Sie
feststellen, welche Feminina -n haben und welche -en?) Klasse III besteht aus zwei Nomina ohne
Pluralsuffix aber mit Umlaut im Plural (Mütter, Töchter). (Die Pluralendung bei Klasse IV ist -er
und es gibt keine Feminina in dieser Klasse.) Klasse V besteht meistens aus Fremdwörtern wie
Bar und Abkürzungen wie CD und hat -s im Plural.
Von dieser Tabelle können wir einige Generalisierungen machen. Erstens gibt es im
Singular der Feminina überhaupt keine Kasusendungen. Es gibt doch im Plural von einigen
Nomina eine Kasusendung, das zusätzliche -n im Dativ. (Können Sie feststellen, welche Nomina
dieses extra -n nicht haben?) Zweitens benehmen sich einsilbige Nomina in Klasse II ein
bisschen anders als die Zweisilbigen: Das Schwa in der Endung -en wird bei den Zweisilbigen
getilgt. Drittens sind die Pluralendungen -n und -s nicht mit Umlaut kompatibel. Viertens
unterscheiden alle Feminina den Plural klar vom Singular, entweder durch ein Suffix
(Schwestern) oder durch Umlaut (Mütter).
Nun untersuchen wir die Flexionsklassen der Maskulina und Neutra. Alle Klassen der
Maskulina werden den Feminina derselber Klassen ähnlich flektiert, aber bei Maskulina gibt es
im Genitiv Singular eine Endung -s oder -es.7 (Können Sie feststellen, bei welchen Wörtern man
nur -s schreiben kann und bei welchen man eine Wahl zwischen -s und -es hat?) Bei Klassen I
und III muss man auswendig lernen, welche Nomina den Plural mit Umlaut markieren
(Tag~Tage aber Bach~Bäche). Alle Nomina in Klasse III sind zweisilbige Wörter, die auf -el, -
en oder -er enden, und wenn es keinen Umlaut gibt, ist der Singular des Nomens identisch mit
dem Plural. Charakteristisch für Klasse IV ist die Pluralendung er: Hier ist das Zeichen ̈- nicht in
Klammern, weil Umlaut immer bei den Stammvokalen a, au, o und u zutrifft (Mund~Münder),
während alle andere Stammvokale unverändert bleiben (Leib~Leiber). Klassen I-V heißen
traditionell die starken Deklinationen, und die letzte Klasse heißt die schwache Deklination.
Bemerken Sie die großen Unterschiede zwischen dieser Klasse und den anderen: Es gibt auch
eine Kasusendung -(e)n im Akkusativ (den Bären) und Dativ (dem Willen) des Singulars und die
Endung im Genitiv des Singulars ist nicht -s, sondern -(e)n oder -(e)ns. Die Genitivendung -n
7
Vor dem 20. Jahrhundert hatten Maskulina und Neutra der Klassen I-IV auch eine Kasusendung -e im Dativ
Singular (dem Staate, dem Kinde, u.s.w.)
46
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 4
erscheint meistens bei Menschen und Tieren (des Menschen, des Studenten, des Löwen) und -ns
bei sonstigen schwachen Maskulina (des Gedankens).
Die Flexionsklassen I-V der Neutra sind mit den maskulinen Flexionsklassen identisch:
Der größte Unterschied zu den Maskulina ist, dass Neutra immer die gleiche Form im Singular
für den Nominativ und Akkusativ haben. Dies führt auch hinzu, dass das einzige schwache
Neutrum Herz kein -en im Akkusativ des Singulars hat. (Im Dativ ist -en die traditionelle
Endung, aber sie ist im modernen Deutschen fakultativ.) Sie können jetzt Übung 3 machen.
47
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 4
Anders als bei den Nomina ist kein Merkmal des Determinators inhärent. Alle Merkmale
eines Determinators entstehen durch Kongruenz mit dem Nomen, das vom Determinator
modifiziert wird. Kongruenz bedeutet, dass zwei Wörter gewisse Merkmale teilen. Nehmen wir
als Beispiel die Phrase ein schönes Haus: Der Determinator ein und das Adjektiv schönes haben
die Merkmale Nominativ, Neutrum und Singular, weil das Wort Haus die Merkmale Nominativ,
Neutrum und Singular hat. Wenn man ein Merkmal des Nomens ändert, müssen sich die
Merkmale vom Determinator und Adjektiv auch ändern.
Beginnen wir mit einem Vergleich der bestimmten und unbestimmten Artikel. Die
unbestimmten Artikel tragen Endungen (-e, -en, -es), die den bestimmten Artikeln (die, den, des)
ähneln.8 Der wichtigste Unterschied ist im Nominativ des Maskulins und Neutrums, wo der
unbestimmte Artikel endungslos ist. Die Demonstrativa können in dieser Hinsicht entweder wie
die bestimmten Artikel (also dieser, dieses) oder wie die unbestimmten Artikel (also dies)
flektiert werden. Das Relativpronomen ist dem bestimmten Artikel meistens identisch, aber es
gibt einen zusätzlichen -en im Genitiv aller Genera und im Dativ des Plurals. Die
Personalpronomina der 3. Person und die Interrogativpronomina werden auch in der Tabelle
unten vertreten, damit Sie die morphologischen Ähnlichkeiten mit dem bestimmten Artikel sehen
können.
8
Im Plural gibt es keinen unbestimmten Artikel. Unbestimmte Pluralia werden einfach nicht markiert:
(i) a. Ich habe ein Buch gelesen. (unbestimmt, singular)
b. Ich habe Bücher gelesen. (unbestimmt, plural)
In der Tabelle wird der unbestimmte Plural durch den negativen Artikel kein vertreten.
48
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 4
Die Quantoren bilden auch keine morphologisch einheitliche Gruppe. Jeder flektiert wie
dieser (mit Endungen im Nominativ Mask. und Neut.) aber erscheint nur im Singular. All wird
ähnlich flektiert aber wird im Singular nur mit unzählbaren Nomina (alle Zeit) benutzt. Viel ist
im Singular meistens endungslos (viel Wein könnte auch Akkusativ sein) aber wird sonst wie
dieser flektiert. Zahlen (außer eins) sind normalweise nicht flektiert. (Übung 4.)
Wenn die Determinatoren als Pronomina benutzt werden, werden sie immer mit einem
Suffix flektiert. Auch im Mask./Neut. Nominativ haben die unbestimmten Artikel und die
Possessiva in dieser Funktion einen Suffix (11c):
Quantoren, die pronominal benutzt werden aber kein spezifisches Nomen vertreten, flektieren im
Neutrum (vieles, alles).
Während Determinatoren und die meisten Pronomina nur für Genus, Kasus und Numerus
flektieren, haben die Personalpronomina noch ein Merkmal, die Person. Ein Pronomen in der 1.
Person deutet auf den Sprecher hin (ich, oder im Plural wir). Die Pronomina der 2. Person (du,
ihr, Sie) stellen die angesprochene Person oder Personen dar. Die Pronomina der 3. Person
ersetzen Nomina, die im Satz weder sprechen noch angesprochen werden.9
Table 5: Flexion der Personalpronomina
Kas./Num. 1. Person 2. Person 3. Person
Nom. Sg. ich du er
es sie
Akk. mich dich ihn
Dat. mir dir ihm ihm ihr
Gen. meiner deiner seiner seiner ihrer
Nom. Pl. wir ihr
sie
Akk.
uns euch
Dat. ihnen
Gen. unser euer ihrer
Die Flexion für die formelle Anrede Sie ist genau wie für das Pronomen sie (Plural).
Es gibt auch das Reflexivpronomen sich in der 3. Person, wenn ein Objekt mit dem
Subjekt identisch ist (12a-b). In der 1. und 2. Person werden die üblichen Akkusativ- und
Dativpronomina verwendet (12c-e):
9
Die Genitivformen der Personalpronomina wie meiner, unser, u.s.w kommen heute sehr selten vor, denn die
Präpositionen und Verben, die den Genitiv verlangen, werden nicht mehr benutzt. Man hört diese Pronomen nur in
festen Ausdrücken wie Herr, erbarme Dich unser.
49
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 4
Es gibt eine kleine Gruppe von Adjektiven, die nur prädikativ erscheinen: allein, barfuß, egal,
fit, quitt, schuld, übel, u.a. (15).11 Einige davon haben alternative Formen, wenn
sie vor einem Nomen stehen (16).
Adjektive vor einem Nomen heißen attributive Adjektive und müssen mit dem Nomen in
Genus, Kasus und Numerus kongruieren. Dies ist aber etwas komplizierter als bei den
Determinatoren, weil jedes Adjektiv sowohl stark wie schwach dekliniert wird. In der starken
Deklination haben die Adjektive Endungen, die ganz klar Kasus, Genus und Numerus zeigen.
Die starken Adjektivendungen sind den Determinatoren sehr ähnlich: Guter ist wie der, guten
wie den, u.s.w. (Eine Ausnahme ist die Endung -en im Genitiv des Maskulinums und Neutrums,
wo man analogisch zu des vielleicht das Suffix *-es ewarten würde.) Die starken Endungen
werden benutzt, wenn das Adjektiv keinem Artikel folgt (17a). Unflektierte Determinatoren wie
viel werden auch von starken Adjektiven gefolgt (17b).
Die schwache Adjektivdeklination besteht aus nur zwei Möglichkeiten, -e und -en. Diese
Endungen erscheinen nach bestimmten Artikeln (18a) und andere Determinatoren wie dieser und
10
Das Englische z.B. unterscheidet slow von slowly, aber im Deutschen heißen beide langsam.
11
Eine vollständige Liste gibt es in Helbig & Buscha (2001: 287).
50
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 4
jeder (18b). Diese Gruppe von Determinatoren heißt auch der-Wörter, weil sie ähnlich zu der
flektiert werden (s. Tabelle 4 oben). Das Suffix -e erscheint im Nominativ Singular von allen
drei Genera (und auch im Akkusativ Singular Fem. und Neut.); in allen anderen Kontexten
benutzt man -en.
Nach ein, kein und den Possessivpronomina (sogenannten ein-Wörtern) findet man
normalerweise schwache Adjektivendungen (19). Im Nominativ Maskulin und im
Nominativ/Akkusativ Neutrum findet man jedoch starke Endungen (20). In diesen drei Fällen
haben die ein-Wörter keine Endungen (s. Tabelle 4 oben). Also für diese gemischte Deklination
kann man die Generalisierung schließen, dass eine schwache Adjektivendung erscheint, wenn
der Determinator eine starke Endung hat, und dass eine starke Adjektivendung erscheint, wenn
der Determinator endungslos ist.
Schließlich gibt es Determinatoren, die fakultative Endungen haben. Wenn die Endungen
anwesend sind, folgt ein schwaches Adjektiv (21), aber wenn sie endungslos sind, folgt ein
starkes Adjektiv (22):
51
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 4
Die Adjektive haben ein Merkmal, das die anderen Wortarten nicht haben, die
Komparation. Adjektive können komparativ oder superlativ sein. Komparativ und Superlativ
werden durch Suffixe (-er bzw. -st) und manchmal auch Umlaut (alt~älter-ältest) markiert.
Wenn diese attributiv stehen, erscheint die Adjektivflexion nach dem Komparationssuffix (25).
Wenn ein komparatives Adjektiv (oder adverbial benutztes Adjektiv) prädikativ ist, hat es keine
Adjektivflexion (26). Ein superlatives Adjektiv erscheint prädikativ entweder mit dem
bestimmten Artikel, wenn es eher adjektivisch verwendet wird (27a), oder mit am, wenn es eher
adverbial ist (27b). Auf alle Fälle muss der Superlativ eine Adjektivflexion haben.12 Das können
Sie in Übung 7 üben.
12
Die einzigen Ausnahmen sind Superlative, die ein anderes Adjektiv modifizieren: möglichst schnell, höchst
wahrscheinlich, u.s.w.
52
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 4
Bei der Flexion der Verben (Konjugation) muss man zunächst zwischen finiten und
nicht-finiten Formen unterscheiden. Es gibt nur zwei nicht-finite Formen eines Verbs: der
Infinitiv (spielen) und das Partizip Perfekt (gespielt).13 Die finiten Formen sind alle anderen
Formen, also die Formen, die flektiert werden. Die Merkmale eines finiten Verbs sind Person,
Numerus, Tempus, Modus und Genus Verbi.
Um die finiten Formen zu bilden, muss man zuerst den Stamm des Verbes identifizieren.
Der Stamm ist für alle Verben (außer sein) der Infinitiv minus -(e)n. Regelmäßige Verben
flektieren mit Suffixen. Beginnen wir mit Person und Numerus. Diese Merkmale haben nichts
mit der Bedeutung des Verbs zu tun, sondern entstehen nur durch Kongruenz mit dem Subjekt
des Satzes. Wenn das Subjekt z.B. ich ist, muss das Verb im 1. Person Singular stehen (ich
spiele). Wenn das Subjekt im 3. Person Plural ist, muss das Verb auch im 3. Person Plural stehen
(sie spielen, die Studenten spielen). Bemerken Sie in Table 7 unten, dass die Endungen im 3.
Person Singular nicht in allen Tempora und Modi identisch sind. Welche andere
Generalisierungen können Sie über die Personalendungen schließen?
Das Tempus ist eine grammatikalische Kategorie, die mit Zeit zu tun hat. Erstens gibt es
zwei einfache Tempora, die aus nur einem finiten Verb bestehen: Präsens und Präteritum. Das
Präsens benutzt man nicht nur bei Ereignissen zu einem konkreten Zeitpunkt in der Gegenwart
(28a), sondern auch bei allgemeinen Aussagen, die zu keinem bestimmten Zeitpunkt gehören,
(28b) und bei Ereignissen in der Zukunft (28c). Das Präteritum (auch das Imperfekt genannt)
drückt aus, dass ein Ereigniss in der Vergangenheit passierte (29) und wird bei den regelmäßigen
Verben mit dem Suffix -te plus Personalsuffix (-0, -st, -n oder -t) gebildet.
Dazu noch gibt es die periphrastischen Tempora, die aus mehr als einer Verbform bestehen.
Das Perfekt wird mit dem Präsens von einem Hilfsverb (haben oder sein) plus dem Partizip des
Inhaltsverbs gebildet (30). Das Plusquamperfekt besteht aus dem Präteritum des Hilfsverbs und
dem Partizip (31). Das Futur I wird mit dem Hilfsverb werden plus dem Infinitiv gebildet (32a)
und das Futur II wird mit werden plus einer Perfektkonstruktion gebildet (32b).14
13
Es gibt auch das Partizip Präsens (singend), aber diese Form hat keine verbale Funktion. Im heutigen Deutschen
wird das Partizip Präsens nur adjektivisch verwendet (ein singender Hund).
14
Die genauen Funktionen von diesen Tempora sowie die Regeln für die Verwendung von haben und sein werden
im Kapitel 6.4 ausführlicher besprochen.
53
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 4
Der Modus drückt die Haltung des Sprechers zum Inhalt des Satzes aus. Wenn der
Sprecher die Aussage als wahre Tatsache meint, benutzt er den Indikativ (33a). Der Konjunktiv I
drückt aus, dass die Aussage nicht die Meinung des Sprechers ist, sondern die Wörter eines
Anderen sind (33b). Wenn die Aussage einen Wunsch oder eine hypothetische Situation
darstellt, benutzt man den Konjunktiv II. Bei den regelmäßigen Verben kann man nicht zwischen
der Form des Präteritum Indikativ (spielte) und der einfachen Form des Konjunktiv II (spielte)
unterscheiden, also statt der eigentlichen Konjuntivform benutzt man den Konjunktiv II von
werden plus das Verb im Infinitiv (33c). Schließlich wird der Imperativ benutzt, um jemandem
eine direkte Aufforderung zu geben, und existiert nur in der 2. Person (33d-f).
Der Indikativ kann in allen Tempora vorkommen, wie die Beispiele (28)-(32) zeigen. Es gibt
Konjunktiv I und II im Präsens (33b-c) und auch in der Vergangenheit, indem das Hilfsverb im
richtigen Modus und das Hauptverb im Partizip steht:
54
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 4
Das Passiv kann in allen Tempora stehen, indem man das Hilfsverb werden (oder sein) in das
richtige Tempus setzt:15
Schließlich wird das Partizip Perfekt der regelmäßigen Verben mit dem Suffix -t gebildet.
Meistens gibt es auch das Präfix ge- (gespielt), aber dies fehlt wenn das Verb schon ein
unbetontes Präfix hat (ver'spielt, über'spielt, aber 'durchgespielt, s. 4.4.3 unten). Verben mit dem
Suffix -ieren haben nie das ge- (ich habe telefoniert).
Auch bei Verben, die regelmäßige Flexionen haben, gibt es manchmal kleine
Unregelmäßigkeiten. Erstens wird das s in der Endung -st im Präsens nicht geschrieben, wenn der
Stamm auf einem s-ähnlichen Laut endet (du reist, grüßt, kratzt). Zweitens wird in einigen Fällen
ein [ə] zwischen Suffixen mit t und einem Stamm mit -t,-d oder gewisse Konsonantengruppen
hinzugefügt (arbeitet, badet, atmest, geöffnet). (Sie können jetzt Übung 8 versuchen.)
Bis jetzt haben wir nur eine Flexionsklasse untersucht, die schwachen Verben, die das
Präteritum mit -te und das Perfekt mit -t bilden (sagen~sagte~gesagt). Es gibt auch in der
schwachen Klasse unregelmäßige Verben, die ähnlich flektieren aber mit einem Stammwechsel
im Präteritum und/oder Perfekt (bringen~brachte~gebracht, haben~hatte~gehabt). Die andere
große Flexionsklasse bilden die starken Verben, die das Präteritum ohne Suffix -te sondern mit
einem Stammvokalwechsel bilden (singen~sang, fahren~fuhr), und das Perfekt mit -en
(gefahren) und manchmal auch einen Stammvokalwechsel (gesungen) bilden.16 Obwohl man
eigentlich die Präteritums- und Perfektstämme von den häufigsten starken Verben auswendig
lernen muss, gibt es einige Tendenzen in den Stammvokalmustern (springen~sprang~
gesprungen, trinken~trank~getrunken), die Sie in Übung 9 untersuchen können.
Es gibt auch andere Unterschiede zwischen der starken und schwachen Verbflexion.
Erstens haben starke Verben einen Stammvokalwechsel in der 2. und 3. Person Präsens, wenn
der Stammvokal a (fährst), au (läufst) oder e (gibst, siehst) ist. Im Imperativ Singular gibt es den
Stammvokalwechsel von e (gib!, sieh!) aber nicht von a oder au (fahr!, lauf!). Zweitens,
während der Konjunktiv I denselben Vokal wie im Präsens hat, wird bei den starken Verben der
Konjunktiv II vom Präteritalstamm mit einem Stammvokalwechsel gebildet. Der Konjunktiv II
von singen heißt also sänge (sang mit Umlaut), von fahren~fuhr haben wir führe, u.s.w.17 Trotz
dieser Unterschiede sind die Personalsuffixe der starken und schwachen Verben identisch.
15
Wie man das Passiv benutzt, sowie den Unterschied zwischen dem werden-Passiv und dem sein-Passiv, wird in
Kapitel 6.4.3 behandelt.
16
In der historischen Linguistik nennt man den Stammvokalwechsel, der die unterschiedlichen Tempusstämme der
starken Verben bildet, Ablaut. Es gibt viele möglichen Ablautmuster (i~a~u, e~a~o, ei~i~i, ie~o~o, a~ie~a, u.s.w.;
s. Übung 9). Ablaut wird von Umlaut unterschieden, der normalerweise mit einem Suffix verbunden ist (fahr~fährst,
Wort~Wörter, jung~jünger) und nur bestimmte Wechsel (a>ä, u.s.w.) erlaubt.
17
Es gibt auch Formen wie stürbe, die nicht als Umlaut von einem heutigen Stamm abgeleiten werden, denn die
Stämme von diesem Verb sind sterb-, starb, -storb-. Diese Formen entstanden historisch aus einem vierten Stamm
sturb-, den es nicht mehr gibt.
55
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 4
Es gibt eine dritte, sehr kleine Flexionsklasse, die Präterito-Präsentia. Diese Klasse
enthält alle Modalverben (dürfen, können, mögen, müssen, sollen und wollen) sowie wissen. Sie
heißen Präterito-Präsentia, weil ihre Präsensflexion wie die Präteritalflexion der starken Verben
aussieht (vgl. kann~kannst~kann mit sang~sangst~sang). Jedoch flektieren sie im Präteritum wie
schwache Verben (konnte).
In der Tabelle unten werden fünf Beispielverben konjugiert, zwei schwache Verben, ein
Präterito-Präsentium und zwei starke Verben (einschließlich sein). Bemerken Sie die
Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den verschiedenen Klassen.
4.4 Wortbildung
56
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 4
In Teil 4.3 haben wir zahlreiche Beispiele gesehen, wo ein Wort mit einem Suffix eine
grammatische Wortform bildet. In diesem Teil untersuchen wir die morphologischen Prozesse,
die neue Wörter bilden.
4.4.1 Komposition
Eine sehr wichtige Art der Wortbildung im Deutschen ist Komposition (oder
Zusammensetzung). Ein Kompositum ist ein Wort, das aus zwei oder mehr unabhängigen
Wörtern gebildet wird. Es gibt zwei Arten von Komposita: Kopulativ- und
Determinativkomposita. In einem Kopulativkompositum sind alle Teile gleich wichtig und
gleich betont und die Bedeutung ist „X und Y“. Der Name ˈBaden-ˈWürttemberg ist
beispielsweise ein Bundesland, das aus zwei gleich wichtigen Regionen besteht, und bedeutet
eigentlich Baden und Württemberg. Die Flagge der Bundesrepublik Deutschland heißt ˈSchwarz-
ˈRot-ˈGold, weil sie aus diesen drei Farben besteht.
Ein Determinativkompositum wie hellgrün ist wesentlich anders als ein
Kopulativkompositum wie rot-grün: Erstens hat ˈhellgrün nur einen Hauptakzent, aber ˈrot-
ˈgrün hat zwei Hauptakzente. Zweitens hat rot-grün die Bedeutung rot und grün, aber hellgrün
bedeutet nicht hell und grün, sondern eine Farbe, die grundsätzlich grün ist aber etwas heller als
gewöhnlich. Ein Determinativkompositum besteht also aus einem Modifikator (hell) und einem
Kopf (grün), d.h. der Teil, der die eigentliche Bedeutung trägt. Die meisten Komposita sind
Determinativkomposita.
Der Kopf eines Determinativkompositums bestimmt die Bedeutung, Wortart, und
morphologische Eigenschaften des ganzen Wortes. Sehen Sie die folgenden Beispiele an und
stellen Sie fest, dass in jedem Fall der Kopf rechts steht:
(37) Die Righthand Head Rule: Der Kopf einer Wortstruktur ist die am weitesten rechts
stehende Konstituente, die eine Wortartmarkierung trägt (Olsen 1990).
Obwohl der Kopf eines zweiteiligen Kompositums immer der zweite Teil ist, liegt der
Hauptakzent auf dem ersten Teil (s. Kap. 3.5 oben).
Nun wie sind dreiteilige Komposita wie die Zahnarztpraxis zu verstehen? So ein
Kompositum ist nicht einfach Zahn + Arzt + Praxis, sondern besteht auch aus zwei Teilen, also
entweder Zahnarzt + Praxis oder Zahn + Arztpraxis. Hier mussen wir entscheiden, welche Teile
enger zusammengehören: eine Zahnarztpraxis ist nicht etwa eine Arztpraxis, die irgendetwas mit
57
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 4
Zähnen zu tun hat, sondern die Praxis eines Zahnarztes. Laut der RHR ist Zahnarztpraxis ein
fem. Nomen, weil der Kopf der am weitesten rechts stehende Teil Praxis ist.
Wir können diese Struktur mit einem Baumdiagramm illustrieren. In einem
Baumdiagramm sind die einzelnen Morpheme unten und die Zweige zeigen, dass die Morpheme
zusammen eine Einheit bilden. Jede Knote wird mit der Wortart u.s.w. markiert:
(38) N(fem)
N(mask)
Das Diagramm (38) zeigt, dass das mask. Nomen Zahn und das mask. Nomen Arzt ein
maskulines Nomen Zahnarzt bilden, und dass dieses Kompositum zusammen mit dem fem.
Nomen Praxis das fem. Nomen Zahnarztpraxis bildet.
Bis jetzt haben wir nur Beispiele gesehen, wo ein Kompositum aus Nomen + Nomen
oder Adjektiv + Adjektiv besteht. Es gibt aber auch viele andere mögliche Verbindungen, die Sie
in Übung 11 selber untersuchen können.
Zum Schluss betrachten wir die Fugenelemente -e-, -(e)s-, -(e)n- und -er, die oft
zwischen den Teilen eines Kompositums stehen. Sie sind historisch von Genitiv- und
Pluralendungen abgeleitet, aber was sind eigentlich diese Elemente und wann benutzt man sie im
modernen Deutschen? Es hängt nicht vom ersten Teil des Kompositums ab, denn ein Wort wie
Land kann von vielen unterschiedlichen Fugenelemente gefolgt werden: Landkarte, Landsmann,
Landeshauptstadt, Länderkampf. Es hängt auch nicht vom zweiten Teil ab: Rehbraten,
Kalbsbraten, Schweinebraten, Rinderbraten. Es hat auch nicht mit dem Numerus des ersten Teils
zu tun, denn bei Schweine- oder Rinderbraten geht es um ein Stück Fleisch von einem einzelnen
Schwein bzw. Rind, auch wenn die ersten Teile wie die Pluralformen Schweine und Rinder
aussehen. Das Genus des ersten Teils kann auch nicht entscheidend sein, weil Feminina können
vom Fugenelement -s- gefolgt werden (Liebesbrief), obwohl sie kein -s im Genitiv haben (der
Liebe). Also heute sind die Fugenelemente bedeutungslose Morpheme und man muss auswendig
lernen, welche Komposita welche Fugenelemente haben. Nur nach Nomina in -heit, -keit, -ung, -
schaft, -tion und -ität gibt es eine regelhafte Erscheinung vom Fugen-s (Graefen & Liedke 2012:
100).
Eine andere Art der Wortbildung im Deutschen ist Suffigierung. Suffigierung ist
Komposition ziemlich ähnlich, aber ein Suffix kann nicht als unabhängiges Wort erscheinen.
Obwohl Suffixe keine Wörter sind, haben sie genau wie Wörter einen Eintrag im
mentalen Lexikon. Nehmen wir als Beispiel das Suffix -in. Es hat natürlich eine Aussprache
(39a) und eine Bedeutung (39b), nämlich eine weibliche Person, die einen bestimmten Beruf hat
(Ärztin) oder eine bestimmte Handlung macht (Leserin). Es hat auch syntaktische Informationen:
Es bildet immer ein Nomen, also man könnte sagen, dass -in die Wortart Nomen trägt. Weiterhin
kann es nur an ein Nomen anknüpfen (39c). Es hat auch seine eigene morphologische
Eigenschaften, weil es immer ein feminines Nomen bildet und eine bestimmte Pluralendung hat
(39d). (Sie können jetzt Übung 12 versuchen.)
58
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 4
Genau wie in Komposita entscheidet die Righthand Head Rule, welche Wortart und
andere morphologischen Eigenschaften ein suffigiertes Wort hat. Das zeigt, dass ein Suffix
genau wie ein Wort mit einer Wortart markiert ist. In diesem Beispiel entsteht ein Adjektiv,
wenn man das adjektivische Suffix -lich an das Nomen Mensch anhängt. Wenn man das
nominale Suffix -keit hinzufügt, ergibt das fem. Nomen Menschlichkeit:
(40) N(fem)
Adj
Wenn ein Suffix ein neues Nomen bildet, heißt es ein Nominalsuffix. Ein Beispiel ist -er,
das immer ein mask. Nomen bildet. Das Suffix bedeutet normalerweise Person, die einen
bestimmten Beruf ausübt (Lehrer, Musiker), eine bestimmte Handlung macht (Leser) oder eine
bestimmte Eigenschaft hat (Spätaufsteher). Es gibt aber auch andere Funktionen von -er z.B. in
Treffer oder Fünfer. Der Stamm ist oft ein Verb aber kann auch ein Nomen (Musik) oder andere
Wortart (fünf) sein. Das Suffix -ling ist das Gegenteil von -er in dem Sinn, dass es eine Person
bezeichnet, die von einer Handlung betroffen wird: Beispielsweise wird ein Lehrling von einem
Lehrer unterrrichtet und ein Findling ist ein Kind, das von jemandem gefunden wird. Die
folgenden Suffixe sind auch Nominalsuffixe:
(41) a. einheimische Suffixe: -chen, -e, -heit, -keit, -lein, -los, -schaft, -tum, -ung
b. fremde Suffixe: -a, -ie, -ismus, -ität, -or, -tion, -um, -ur, -us
Suffixe spielen eine kleinere Rolle bei der Bildung neuer Verben. Das häufigste
Verbalsuffix ist -ier- (Telefonieren). Die Suffixe -ig- (steinigen), -el- (lächeln), und -er-
59
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 4
(löchern) können auch Verben bilden, aber diese erscheinen öfter in Zusammenhang mit einem
Präfix (befriedigen, verzärteln, verkleinern).
Sie können in Übung 13 die Wortart und Bedeutung von weiteren Suffixen selber
untersuchen.
Neue Wörter können auch durch Präfigierung gebildet werden. Ein klares Beispiel ist das
Suffix un-. Es hat natürlich eine Aussprache (43a) und Bedeutung (43b). Was ist aber die
Wortart von un-? Es kann auf ein Nomen (Unmensch), Adjektiv (untreu) oder Adverb (unwohl)
präfigieren, aber wegen der Righthand Head Rule kommen alle syntaktischen und
morphologischen Eigenschaften vom Stamm:
Andere Präfixe, die mit mehr als einer Wortart neue Wörter bilden können, sind:
Präfixe spielen eine große Rolle bei der Bildung neuer Verben. Die verbalen Präfixe
können in zwei Arten geteilt werden: unbetonte, untrennbare Präfixe (be-, ent-, er-, ge-, ver-, zer-
und miss-) und betonte, trennbare Präfixe, die meistens von Präpositionen abgeleitet sind.
Die unbetonten Präfixe heißen auch untrennbare Präfixe, weil sie immer direkt vor dem
Verbalstamm stehen und nie das Präfix ge- im Partizip haben (bestellen~bestellte~hat bestellt).
Die Bedeutung von einigen unbetonten Präfixen ist klar: zer- bedeutet eine Teilung in kleinste
Teile (zerbrechen, zerreißen), ent- bedeutet ‚weg’ (entlaufen, entkommen) oder den Beginn einer
Handlung (entspringen, entzünden), er- bezeichnet einen Anfang (erwachen) oder ein logisches
Ende einer Tätigkeit (erreichen, ertrinken) und miss- bedeutet ein Gegenteil (missverstehen). Die
Bedeutungen von ge- und ver- sind weniger klar, also was haben gestehen und verstehen mit
dem Stamm stehen zu tun? Man kann jedoch bei ver- einige Tendenzen finden—einen Zustand
verursachen (verbessern), den Gegensatz von einem Verb (verkaufen) und etwas falsch machen
(sich versprechen). Das Präfix be- hat gar keine Bedeutung, sondern eine grammatische
Funktion: Es erlaubt dem Verb, ein neues Akkusativobjekt zu nehmen:
60
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 4
oder Nomen (heimsuchen). D.h. sie sind keine eigentlichen Affixe, sondern unabhängige Wörter.
Sie heißen auch trennbare Präfixe, weil sie vom Stamm durch -ge-, -zu- oder ganze Wörter
getrennt werden können:
Eine dritte Gruppe bilden die Präfixe, die manchmal betont (und trennbar) sind und
manchmal unbetont (und untrennbar) sind. Diese Präfixe sind alle von Präpositionen wie durch,
hinter, über, um, und unter abgeleitet. Wenn die Präposition betont/trennbar ist, kann man oft die
Bedeutung aus den zwei Teilen herleiten (47). Das spricht dafür, dass es in diesen Fällen nicht
um Affixe handelt, sondern um zwei unabhängige Wörter. Andererseits ist die Bedeutung von
Verben mit unbetonten Präfixen weniger transparent, also hier geht es doch um die Bildung
neuer Verben durch Präfixe (48).18
4.4.4 Konversion
Schließlich können neue Wörter ohne Prä- oder Suffixe gebildet werden, z.B. aus dem
Verb laufen haben wir das Nomen der Lauf und aus essen haben wir das Essen. Wortbildung
ohne ein Affix heißt Konversion oder implizite Wortbildung. Deverbale Nomina ohne Suffixe
sind Maskulina. Viele sind wie Lauf mit dem Präsensstamm identisch, aber andere werden von
anderen Stämmen gebildet (gehen>der Gang; springen>der Sprung; fliegen>der Flug). Nomina
aus Infinitiven wie Essen sind Neutra.
Andererseits kann man aus einem Nomen ein Verb bilden, z.B. aus E-Mail gibt es das
Nomen e-mailen (oder mailen). Hier ist das -en nicht als Wortbildungssuffix zu verstehen,
sondern als Teil der Flexion, denn andere Formen des Verbs heißen e-mailst, e-mailte, u.s.w.
Weitere Beispiele können Sie in Übung 15 untersuchen.
4.4.5 Reduktion
Die letzte Art Wortbildung ist die Reduktion oder Kurzwortbildung. Eine Möglichkeit
zur Reduktion ist eine einfache Kürzung, z.B. Uni von Universität. Komplexe Wörter können
durch mehreren Methoden reduziert werden: Reduktionen können aus den Anfangsbuchstaben
bestehen, und man kann entweder die Buchstaben nennen wie in EU (<Europäische Union)
18
Weitere Details und Beispiele gibt es in Helbig & Buscha (2001: 200-202).
61
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 4
[e:.'u:] oder die Abkürzung als Wort aussprechen wie NATO (<North Atlantic Treaty
Organization) ['na:.to:]. Es gibt auch Reduktionen, die aus den Anfangssilben bestehen wie
Vokuhila (ein vorne-kurz-hinten-lang-Haarschnitt). Andere Reduktionen bestehen aus mehr als
einem Typ wie U-Bahn (teilweise reduziert von Untergrundbahn) und Azubi (ein
Anfangsbuchstabe plus zwei Silben von Auszubildender). Wie Fagan (2009: 104-106)
beschreibt, enden viele Reduktionen in -i (Pulli < Pullover) und -o (Anarcho < Anarchist), auch
wenn es kein -i oder -o in der nichtreduzierten Form gibt. Die Suffix -i macht die Reduktion oft
liebevoller (Omi, Mutti) oder etwas pejorativ (Alki < Alkoholiker, Ami < Amerikaner). Zum
Schluss können zwei Wörter zu einem Wort verschmelzt werden (ja < ja und nein, Kurlaub <
Kur+Urlaub).
4.5 Übungen
Übung 1: Trennen Sie die folgenden Wörter in Morpheme. Welche Morpheme sind Stämme und
welche sind Affixe? Für Morpheme, die keine Bedeutung haben, was für eine Funktion haben
sie?
a. Fahrrad
b. Fahrräder
c. Studenten
d. Studentin
e. Studentinnen
f. spielt
g. spielte
h. spieltest
i. gespielt
j. lese
k. liest
l. las
m. lasen
n. vorlese
o. vorgelesen
p. verschämt
q. unverschämt
r. Unverschämtheit
s. Universitätshauptgebäude
Übung 2: Identifizieren Sie die Wortart der folgenden Wörter. Benutzen Sie dabei all drei
Kriterien (semantisch, syntaktisch und morphologisch). Geben Sie an, ob jedes Wort ein Inhalts-
oder Funktionswort ist. (Herausforderung: Gibt es Wörter, die laut ihrer Wortart Inhaltswörter
sind, aber eher funktional sind?)
a. sie
b. die
c. weil
d. denn
62
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 4
e. drei
f. dritte
g. wird
h. hätte
i. vor
j. bevor
k. vorher
l. nach
m. danach
n. nachdem
o. Fahrräder
p. fahren
q. Radfahrer
r. Spiel
s. spielte
t. Spieler
u. spielerisch
Übung 3: Identifizieren Sie die Flexionsklassen der folgenden Nomina. Achten Sie nicht nur auf
die Pluralform, sondern auch auf den Genitiv des Singulars. (Benutzen Sie ein Wörterbuch, wenn
Sie sich über die Flexion nicht sicher sind.) Erklären Sie das Fehlen von [ə] in gewissen Formen
und erklären Sie, warum oder warum nicht der Genitiv auf -s endet.Wählen Sie fünf Beispiele
aus, und schreiben Sie alle 8 Formen davon (4 Kasus im Singular und Plural).
a. Bild
b. Erlaubnis
c. Gras
d. Hahn
e. Hotel
f. Hund
g. Insekt
h. Juso
i. Kamera
j. Leib
k. Löwe
l. Maus
m. Messer
n. Name
o. Ohr
p. Präsident
q. Professor
r. Schulter
s. Spiel
t. Straße
u. Tochter
63
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 4
v. UFO
w. Vater
x. Wagen
y. Wurm
Übung 4: Unterstreichen Sie die Determinatoren in den folgenden Sätzen. Identifizieren Sie die
Subkategorien des Determinators (bestimmter Artikel, unbestimmter Artikel, Demonstrativum,
Possessivum, oder Quantor).
a. Dein Pullover ist neu.
b. Dieses Buch ist nicht so teuer.
c. Es gibt vierzehn Studentinnen im Kurs.
d. Ich kenne nicht alle Menschen hier.
e. Ich nehme auch ein großes Bier.
f. Kein Bus fährt so spät.
g. Viele Ausländer wohnen in Berlin.
h. Wie heißt die Bundeskanzlerin?
Übung 5: Schreiben Sie die Sätze in Übung 4 um, in dem der Determinator als Pronomen benutzt
wird. Dann ersetzten sie den Determinator durch ein Personalpronomen.
Beispiel: a. Deiner ist neu. Er ist neu.
Übung 6: Identifizeren Sie den Genus (oder Numerus) und den Kasus der folgenden
Nominalphrasen und entscheiden Sie sich, ob der Determintor ein starkes oder schwaches
Adjektiv verlangt. Dann ergänzen Sie die Lücke mit der richtigen Adjektivendung:
Beispiel: dem groß_en_ Wagen: maskulin, dativ, schwach
a. Ich brauche frisch__ Luft:
b. Ich mag frisch__ Saft:
c. Im Meer gibt es kalt__ Wasser:
d. Sie sind nett__ Menschen:
e. mit billig__ Wein:
f. mit kalt__ Limonade:
g. der Preis gut__ Kaffees:
h. trotz hoh__ Erwartungen:
i. wegen schlecht__ Wetters:
j. ein schnell__ Auto:
k. ein schön__ Mann:
l. eine freundlich__ Frau:
m. einem lang__ Tag:
n. einem lieb__ Kind:
o. einer intelligent__ Studentin:
p. eines gut__ Freundes:
q. keine gut__ Töchter:
r. keiner interessant__ Filme:
s. das wichtig__ ding:
64
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 4
t. dem weiß__ Papier:
u. den best__ Studenten:
v. der neu__ Wagen:
w. der schwierig__ Arbeit:
x. des grün__ Apfels:
y. die kalt__ Schulter:
z. die neu__ Wagen:
Übung 7: Schreiben Sie die Phrasen in Übung 6 um, in dem das Adjektiv im Komparativ oder
Superlativ steht.
Beispiel: dem größeren Wagen oder dem größten Wagen
Übung 8: Identifizieren Sie die Verben in den folgenden Sätzen (aus dem „Froschkönig“ der
Brüder Grimm). Geben Sie bei jedem Verb an, ob es finit oder nicht-finit ist. Geben Sie bei
jedem Teilsatz die Merkmale Person, Numerus, Tempus, Modus und Genus Verbi der Verbform
an. Ist die Verbform einfach oder periphrastisch?
Beispiel: ... die doch so vieles gesehen hat ... : gesehen = nicht‐finit; hat = finit;
gesehen hat = 3. Person, Singular, Perfekt, Indikativ, Aktiv, periphrastisch
a‐c. In den alten Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat, lebte ein König, dessen
Töchter waren alle schön ...
d‐f. Nun trug es einmal zu, daß die goldene Kugel der Königstochter nicht in ihr
Händchen fiel, das sie in die Höhe gehalten hatte ...
g‐i. „Was hast du vor, Königstochter, du schreist ja, daß sich ein Stern erbarmen
möchte.“
j‐k. Sie sah sich um, woher die Stimme käme ...
l‐m. „Ich weine über meine goldene Kugel, die mir in den Brunnen hinabgefallen ist.“
n‐o. „Sei still und weine nicht.“
p‐r. Sie lief und wollte sehen, wer draußen wäre ...
s‐u. Da erzählte er, er wäre von einer bösen Hexe verwünscht worden, und niemand
hätte ihn aus dem Brunnen erlösen können ...
v‐w. Der treue Heinrich hatte sich so betrübt, als sein Herr war in einen Frosch
verwandelt worden...
Übung 9: In der Germanistik werden die starken Verben traditionell in 7 Ablautklassen geteilt, je
nach dem Stannvokalwechsel Präsens~Präteritum~Partizip:
Klasse I: ei ~ i/ie ~ i/ie: schreiben~schrieb~geschrieben, reiten~ritt~geritten
Klasse II: V ~ o ~ o: fliegen~flog~geflogen
Klasse III: i ~ a ~ u/o: singen~sang~gesungen, schwimmen~schwamm~geschwommen
Klasse IV: e ~ a ~ o: nehmen~nahm~genommen
Klasse V: e/i ~ a ~ e: lesen~las~gelesen, sitzen~saß~gesessen
Klasse VI: a ~ u ~ a: fahren~fuhr~gefahren
Klasse VII: V ~ i/ie ~ V: laufen~lief~gelaufen
Teilen Sie die folgenden Verben in Ablautklassen ein. Welche Verben passen nicht so gut zu
einer Gruppe?
65
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 4
beißen, beginnen, bewegen, bieten, bitten, bleiben, brechen, essen, fallen, fangen, finden,
geben, gehen, geschehen, gewinnen, greifen, laden, halten, helfen, heißen, kommen, lassen,
leihen, liegen, lügen, rufen, scheinen, schlafen, schließen, schneiden, sehen, sprechen, sitzen,
steigen, sterben, tragen, treffen, vergessen, verlieren, wachsen, waschen, ziehen.
Übung 10: Konjugieren Sie die folgenden Verben in allen Personen/Numeri im Präsens Indikativ
Aktiv, Konjunktiv I, Konjunktiv II, Präteritum Indikativ Aktiv, Perfekt Indikativ Aktiv,
Plusquamperfekt Indikativ Aktiv, Präsens Indikativ Passiv, Perfekt Indikativ Passiv, und
Konjunktiv II der Vergangenheit.
Beispiel: sehen: ich sehe, du siehst, er/sie/es sieht, wir sehen ... ich sehe, du sehest,
er/sie/es sehe ... ich sähe, du sähest ... ich sah, du sahst, u.s.w
a. finden
b. lieben
Übung 11: Teilen Sie die folgenden Komposita und identifizieren Sie die Wortart jedes Teils.
Entscheiden Sie sich, ob es um ein Kopulativ- oder Determinativkompositum geht. Bei
Determinativkomposita zeichnen sie einen Baumdigramm und erklären Sie die Wortart des
Kompositums anhand der RHR.
Beispiel: Gehweg: Determinativkompositum: gehV + WegN > GehwegN
a) bergauf
b) dunkelblau
c) Fahrbahn
d) fahrbereit
e) Kleinholz
f) Rad fahren
g) Radweg
h) kennenlernen
i) schönfärben
j) schwarz‐weiß
k) steinreich
l) süßsauer
m) Zwischenprüfung
n) Fahrradweg
o) Zwischenprüfungsfragen
Übung 12: Schreiben Sie den Lexikoneintrag für jedes der folgenden Morpheme.
(Herausforderung: Schreiben Sie den Lexikoneintrag für die Präfixe miss- und zer-. Welche
Probleme entstehen?)
a. ‐chen
b. ‐los
c. ‐er
66
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 4
Übung 13: Suffixe: Für jedes Suffix, indefizieren Sie (a) die Wortart des Suffixes, (b) die
Wortart(en), an der das Suffix zuknüpfen kann, (c) die Bedeutung oder Funktion des Suffixes
und (d) ein Beispiel.
a. ‐bar
b. ‐ent
c. ‐haft
d. ‐heit
e. ‐ieren
f. ‐isch
g. ‐ismus
h. ‐ling
i. ‐los
j. ‐sam
k. ‐schaft
l. ‐ung
m. ‐weise
Übung 14: Bei jedem Verb unten (a) entscheiden Sie sich, ob das Präfix betont (trennbar) oder
unbetont (untrennbar) ist, (b) beschreiben Sie die Bedeutung des Präfixes und (c) schreiben Sie
einen Beispielsatz im Perfekt.
a. ankommen
b. absagen
c. bekommen
d. besprechen
e. entflammen
f. entkommen
g. entschuldigen
h. erfrieren
i. erneuern
j. mitkommen
k. überleben
l. umgehen
m. umkommen
n. verlaufen
o. vermieten
p. vernichten
q. zerstören
Übung 15: Bilden Sie aus den folgenden Wörtern ein Verb. Ist Konversion möglich, oder braucht
man ein Prä- oder Suffix?
a. grün
b. braun
c. mild
d. rein
67
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 4
e. klein
f. deutsch
g. Fisch
h. Rad
i. Angst
j. Buchstabe
k. Signal
Übung 16: Was ist die übliche Reduktion für jeden der folgenden Begriffe? Schlagen Sie wo
nötig im Internet nach. Charaktarisieren Sie die Art von Reduktion in jedem Beispiel:
a. Fahrrad
b. Student
c. Jungsozialist
d. Ostdeutsche(r)
e. Demonstration
f. Unterseeboot
g. Straßenverkehrsordnung
h. Kriminalpolizei
i. sozialer Dialekt
j. Stadtbahn
k. Straßenbahn
l. Lastkraftwagen
m. Realisten
n. Fundamentalisten
o. Nostalgie in Ostdeutschland
Weiterführende Literatur:
68
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 4
Olsen, Susan. 1990. Zur Suffigierung und Präfigierung im verbalen Bereich des Deutschen.
Papiere zur Linguistik 42, 1990, 31-48.
69
Kapitel 5:
Syntax: Die deutsche Satzstruktur
Überblick:
Grammatische Funktionen und Kasus
Konstituenten: vom Wort zur Phrase zum Satz
Satzarten
Satzstruktur: topologisch und generativ
5.1 Einführung
In diesem Kapitel untersuchen wir die deutsche Syntax, die Teildisziplin der
Sprachwissenschaft, die die Struktur von Sätzen behandelt. Ein Satz besteht nämlich nicht nur
aus einer Reihe von Wörtern, sondern hat eine interne Struktur. Nehmen wir einen einfachen
Satz als Beispiel: Maria sah den Elefanten mit dem Fernglas. Dieser Satz hat zwei Bedeutungen:
„Maria sah mit dem Fernglas einen Elefanten“ oder „Maria sah einen Elefanten, der ein Fernglas
hatte.“ Die zwei Interpretationen deuten auf zwei unterschiedlichen Strukuturen hin. Die
Präpositionalphrase mit dem Fernglas modifizert in der ersten Interpretation das Verb sah und
gehört nicht zum direkten Objekt Elefant (1a). In der zweiten Interpretation modifizert die
Präpositionalphrase das Nomen Elefant und bildet mit ihm eine Einheit, also das direkte Objekt
in (1b) ist den Elefanten mit dem Fernglas:
5.2 Kasus
Wir haben bereits im letzten Kapitel gesehen, dass Nomina, Adjektive und
Determinatoren das grammatikalische Merkmal Kasus tragen. Jetzt möchten wir näher auf die
Funktionen von Kasus eingehen.1
Beginnen wir mit dem Nominativ. Die wichtigste Funktion des Nominativs ist es, das
Subjekt eines Satzes zu bezeichnen. Jeder Satz im Deutschen hat ein Subjekt. Wenn ein Verb
eine Handlung darstellt, ist das Subjekt das Wesen, das diese Handlung ausführt (2a). Das
Subjekt steht nicht unbedingt am Satzanfang, sondern man erkennt das Subjekt, indem es im
Nominativ steht und mit dem finiten Verb kongruiert (2b). Wenn das Verb einen Zustand
darstellt, ist das Subjekt das Ding in diesem Zustand (2c). Bei passivischen Sätzen muss man
1
Diese Funktionen werden in Helbig & Buscha (2001: 256-267) ausführlicher diskutiert.
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 5
aufpassen, denn das grammatikalische Subjekt von einem Passiv (in diesem Fall die Bücher) ist
nicht die Person, die die Handlung ausführt (2d).
Die typischste Funktion des Dativs ist als indirektes Objekt von ditransitiven Verben.
Ditransitive Verben erlauben zwei Objekte: Das direkte Objekt ist direkt an der Handlung
beteiligt, während das indirekte Objekt die Person darstellt, die das direkte Objekt bekommt oder
vom Objekt profitiert:
Andere Verben verlangen nur ein Objekt, aber dieses Objekt muss im Dativ stehen, z.B. danken,
gratulieren, gefallen, gehören, helfen und passen. Obwohl es in diesen Sätzen kein direktes
Objekt gibt, profitiert das Dativobjekt irgendwie von der Handlung.
71
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 5
Der Genitiv wird heute meistens in formeller, geschriebener Sprache benutzt. Die
wichtigste Funktion ist es, die Beziehung zwischen zwei Nomina auszudrücken, z.B. possessiv.
Der Genitiv von einem Personennamen steht meistens vor dem besitzten Nomen (7a) und sogar
weibliche Namen haben das Suffix -s (7b). Manchmal können Eigenamen vor oder nach dem
besitzten Nomen stehen (7c). Andere Nomina im Genitiv müssen dem besitzten Nomen folgen
(7d). Heute wird der Genitiv oft von einer Präpositionalphrase ersetzt (8).
Während die Beziehung zwischen den Nomina in (7) und (8) possessiv ist, kann der Genitiv auch
eine Subjekts- (9a) oder Objektsbeziehung (9b) ausdrücken:
Einige festen Ausdrücke haben auch den Genitiv, z.B. ich bin der Meinung, eines Tages und
letzten Endes. Früher gab es Verben mit Genitivobjekten, aber sie werden heutzutage mit
Präpositionalphrasen benutzt:
2
Eine vollständigere Liste von Adjektiven mit Ergänzungen steht in Helbig & Buscha (2001: 288-290).
3
Das Adjektiv wert kann auch eine Ergänzung im Akkusativ haben, also dieser Spruch kann auch lauten Es ist nicht
die Rede wert.
72
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 5
Präpositionen verlangen auch bestimmte Kasus.4 Der Akkusativ erscheint immer mit den
Präpositionen durch, für, gegen, ohne und um. Andere Präpositionen (aus, ausser, bei, mit, nach,
seit, von, zu) verlangen immer den Dativ. Einige Präpositionen werden in formeller Sprache mit
dem Genitiv verwendet (ausserhalb, jensseits, trozt, während, wegen, kraft, seitens, u.v.a), aber
informell wird der Genitiv oft durch eine Präposition oder durch den Dativ ersetzt:
Bei den Präpositionen an, auf, hinter, in, neben, unter, über, vor und zwischen ist es etwas
komplizierter, denn diese Wechselpräpositionen erscheinen manchmal mit dem Akkusativ und
manchmal mit dem Dativ. Wenn die Präposition auf einen Ort hindeutet, bezeichnet der
Akkusativ die Richtung oder Ziel einer Bewegung (15), während der Dativ eine Lage bezeichnet
(16). Wenn die Präposition keinen Ort bezeichnet sondern mit einem Verb benutzt wird, muss
man auswendig lernen, ob sie in dem Kontext Akkusativ (17a-b) oder Dativ (17c) verlangt. (Sie
können jetzt Übung 2 versuchen.)
(17) a. Die Frau wartet auf den Bus. (= Die Frau wartet, bis der Bus kommt.)
b. Wir sprechen über das Buch.
c. Ich habe Angst vor Hunden.
Wie wir bereits in (1) gesehen haben, werden Wörter in größere Einheiten gruppiert.
Diese Einheiten heißen Konstituenten. Eine Konstituente ist eine Gruppe von Wörtern, die eng
zusammen gehört und eine syntaktische Funktion hat. Im Beispiel (1a) ist den Elefanten mit dem
Fernglas keine Konstituente, denn es gibt hier zwei unabhängige Funktionen, das direkte Objekt
den Elefanten und eine adverbiale Präpositionalphrase mit dem Fernglas, die das Verb
modifiziert. In (1b) ist den Elefanten mit dem Fernglas eine Konstituente, denn das ganze hat
eine Funktion im Satz, nämlich das direkte Objekt.
(1) a. [Maria] [sah] [den Elefanten] [mit dem Fernglas]. (Maria hat das Fernglas.)
b. [Maria] [sah] [den Elefanten mit dem Fernglas]. (Elefant hat das Fernglas.)
Alle einzelnen Wörter sind Konstituenten, denn ein Wort ist auch eine Einheit und hat eine
Funktion im Satz. Jeder Satz ist auch eine Konstituente.
4
Siehe Helbig & Buscha (2001: 357-390).
73
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 5
Zwischen Wörtern und Sätzen gibt es kleinere Konstituenten, die man Phrasen nennt.
Um eine Phrase zu identifizieren, benutzt man Konstituetentests. Der erste Konstituententest ist
Verschiebung: Wenn man eine Gruppe von Wörtern zum Satzanfang verschieben kann, ist sie
eine Konstituente. Also die folgende Sätze zeigen, dass Maria, den Elefanten, mit dem Fernglas,
den Elefanten mit dem Fernglas, gesehen und sogar den Elefanten gesehen Konstituenten sein
können (18a-f), während andere Reihen von Wörter keine Konstituenten bilden (18g-j):
Der zweite Konstituententest ist Substitution. Wenn man die Gruppe von Wörtern durch
ein einzelnes Wort ersetzen kann, ist die Gruppe eine Konstuente. Beispielsweise wenn man den
Elefanten mit dem Fernglas durch ihn ersetzt, bildet die ganze Gruppe eine Konstituente und
bedeutet, dass der Elefant das Fernglas hat (19). Wenn man aber nur den Elefanten ersetzt, dann
bilden die zwei Wörter allein eine Konstituente, aber mit dem Fernglas bildet eine andere
Konstituente (20).
Der dritte Konstituententest ist der Fragetest. Wenn man eine einzelne Frage stellte kann,
auf die eine Reihe von Wörtern die Antwort ist, ist diese Wortgruppe eine Konstituente. Auf die
Frage (21a) kann die Antwort (21b) sein, wenn die Wortgruppe nur eine Konstituente ist, d.h.
wenn mit dem Fernglass das Nomen Elefanten modifiziert. Auf diese Frage ist die Antwort mit
der Interpretation in (21c), also mit zwei Konstituenten, nicht möglich.
Wir haben anhand des Verschiebungstests gesehen, dass ein Verb mit seinem direkten Objekt
eine Konstituente bildet (18f), aber nicht ein Verb mit seinem Subjekt (18j). Das können wir mit
dem Fragetest bestätigen:
74
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 5
In Übung 3 können sie die Konstituententests auf weitere Beispiele ausführen. In den
nächsten Teilen werden wir beschreiben, wie Konstituenten wie den Elefanten mit dem Fernglas
und den Elefanten gesehen heißen und struktuiert sind.
Ein Nomen mit seinen Modifikatoren bildet eine Nominalphrase (NP). Wie alle Phrasen
hat die Nominalphrase einen Kopf, das Wort in der Phrase, das obligatorisch ist und das der
Phrase eine Bedeutung gibt. Der Kopf einer Nominalphrase ist natürlich ein Nomen (N). Eine
Nominalphrase kann aus einem einzelnen Nomen bestehen (23a) und mögliche Modifikatoren
sind Determinatoren (23b), Adjektivphrasen (23c), Präpositionalphrasen (23d) und auch
Relativsätze (23e). Wir wissen, dass es in jedem Satz (23a-e) um eine Nominalphrase geht, weil
wir die Phrasen in Klammern durch ein Pronomen ersetzen können (23f), ohne die Bedeutung zu
ändern. (Versuchen Sie jetzt Übung 4.)
Warum haben wir die Regel so formuliert, dass eine Adjektivphrase, und nicht einfach
ein Adjektiv, in der NP ist? Im Beispiel (23c) modifiziert das Wort sehr nicht das Nomen,
sondern das Adjektiv klein. Das bedeutet, dass sehr nicht direkt zur NP gehört, sondern zur
Adjektivphrase (AdjP). Die AdjP besteht aus dem Kopf (natürlich das Adjektiv) und seine
Modifikatoren. Nicht nur Adverbien wie sehr sondern auch Nominalphrasen (25a-c) und
Präpositionalphrasen (25d-e) können Adjektive modifizieren:
75
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 5
Weil diese Modifikatoren zur AdjP gehören, erlaubt die Regel in (24) Nominalphrasen wie [NP
der [AdjP vier Jahre alte] Elefant] und [NP der [AdjP an den Zirkus sehr gewöhnte] Elefant]. Die
Regel für AdjPs lautet also:
Wie wir schon gesehen haben, kann eine Präpositionalphrase eine NP oder ein AdjP
modifizieren. Die Präpositionalphrase selber besteht aus dem Kopf (P) und einer NP:
(27) PP → P NP
Diese Regel erlaubt Präpositionalphrasen mit einfachen NPs wie mit Elefanten oder
komplizierten NPs wie mit den sehr kleinen Elefanten, mit Elefanten mit großen Ohren, u.s.w.,
denn wir haben schon in Regel (24) die Möglichkeiten für NPs erklärt.
Nun können wir Baumdiagramme für diese NPs zeichnen. Beginnen wir mit der Phrase
die sehr kleinen Elefanten. Zuerst muss man alle Wörter nach ihrer Wortart kennzeichnen:
Dann kann man die Wörter in Konstituenten gruppieren. Obwohl alle Wörter hier gehören
letzten Endes zur NP, wäre es falsch, das Diagramm so zu zeichnen:
(29) * NP
D Adv Adj N
die sehr kleinen Elefanten
Die Regel in (24) erlaubt keine Adverbien noch Adjektive direkt unter NP. Stattdessen gruppiert
man das Adv und Adj zusammen in die Adjektivphrase. Dann haben wir eine AdjP, die der
Regel (26) folgt, und eine NP, die (24) folgt:
(30) NP
AdjP
D Adv Adj N
die sehr kleinen Elefanten
Das Beispiel die Elefanten mit großen Ohren ist noch komplexer, weil das ganze eine NP
ist, und großen Ohren auch eine NP ist. Am besten beginnen wir mit der kleineren NP. Diese NP
gehört zur PP:
76
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 5
(31) PP
NP
AdjP
D N P Adj N
die Elefanten mit großen Ohren
Nachher können wir aus D, N (Elefanten) und die PP die obere NP bilden. Versuchen Sie das
selber! (Sie können dann Übung 5 machen.)
5.3.3 Verbalphrasen
Eine sehr wichtige Konstituente in jedem Satz ist die Verbalphrase (VP). Die VP
entspricht den traditionellen Begriff „Prädikat“ und besteht aus dem Verb und den Modifikatoren
des Verbs. Die Modifikatoren (auch Angaben genannt) geben den Ort, die Zeit, die Ursache
u.s.w. des Geschehens an, sind fakultativ und sind meistens Adverbien oder
Präpositionalphrasen. Verben haben auch Ergänzungen, das heißt Phrasen, die die Bedeutung
des Verbs ergänzen. Direkte und indirekte Objekte sind typische Ergänzungen, aber
Präpositionalphrasen können auch Ergänzungen sein, wenn sie semantisch eng zum Verb
gehören und obligatorisch sind. Das Verb fahren z.B. kann mit einem direkten Objekt erscheinen
(32a), aber auch mit einer Präpositionalphrase, die das Ziel des Fahrens bezeichnet (32b). Ein
Modifikator kann (fakultativ) in beiden Sätzen vorkommen, auch wenn es keine Ergänzung gibt
(32c). (Sie können jetzt Übung 6 machen.)
Linguistische Formalismen:
(32) a. Ich fahre (am Sonntag) Motorrad.
* bezeichnet einen
b. Ich fahre (morgen) nach München.
c. ?
Ich fahre (morgen/am Sonntag).5 ungrammatischen Satz
?
bedeutet, dass die Grammatikalität
Also besteht ein VP aus V, NP, PP und Adv, des Satzes fragwürdig ist.
aber in welcher Reihenfolge? Vielleicht würde man Ein Satz mit Wörtern in Klammern ist
denken, dass das Verb seinen Ergänzungen und mit (oder ohne) den Wörtern
Modifikatoren vorangeht, wie in den Sätzen in (32). grammatisch.
Das ist aber nur der Fall, wenn es sich um ein finites
Verb im Hauptsatz handelt (33a), denn das Verb in allen anderen Fällen folgt seinen
Ergänzungen und Modifikatoren (33b-d):
In den meisten Kontexten folgt ein Verb seinen Ergänzungen und Modifikatoren, also die Regel
für die Struktur der VP lautet:
5
Dieser Satz ist nur grammatisch, wenn der Hörer schon weiß, wohin der Sprecher fährt.
77
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 5
Es gibt aber Verben, deren Ergänzung nicht eine NP oder PP ist, sondern ein anderes
Verb. Das sind die Modalverben (dürfen, können, mögen, müssen, sollen und wollen), die mit
einem Verb im Infinitiv erscheinen, und die Hilfsverben (haben, sein, werden). Die Hilfsverben
haben und sein haben ein Partizip als Ergänzung (im Perfekt). Werden hat ein Partizip als
Ergänzung im Passiv, aber dasselbe Verb hat einen Infinitiv als Ergänzung im Futur. Wenn man
möglichst viele Kontexte anschaut, wird es klar, dass in den meisten Fällen das Modalverb oder
Hilfsverb seiner Ergänzung folgt:
Nur finite Verben im Hauptsatz wie muss in (36a) und werde in (36b) gehen ihren Ergänzungen
voran. In allen anderen Fällen folgt ein Verb seiner Ergänzung, egal ob die Ergänzung eine PP
(nach München) oder ein Verb (fahren) ist. Die Regel für Modal- und Hilfsverben heißt also,
dass ein VP aus einem Verb mit einer VP als Ergänzung bestehen kann:
(37) VP → VP VModal-/Hilfsverb
Wie zeichnet man also ein Baumdiagramm mit mehreren Verben? Benutzen wir das
Beispiel Motorrad fahren muss. Wir beginnen mit der NP Motorrad und dann verbinden wir
diese NP mit seinem Verb fahren. Das ergibt eine Struktur wie die in (35). Diese VP wird dann
die Ergänzung von muss und sie bilden die höhere VP:
(38) VP
VP
Mini‐Übung:
NP Zeichnen Sie ein Baumdiagramm für:
… nach München fahren werde.
N V V ... Motorrad fahren müssen werde.
Motorrad fahren muss
78
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 5
Nun fehlt nur eine Erklärung für die Stelle des Subjekts und des finiten Verbs im
Hauptsatz. Dafür müssen wir zuerst die unterschiedlichen Satzarten des Deutschen untersuchen.
Ein deutscher Satz besteht aus einem Subjekt, einem finiten Verb und anderen
Konstituenten. Es gibt aber viele Arten von Sätzen und verschiedene Möglichkeiten, Sätze zu
charakterisieren.
Erstens kann ein Satz nach seiner praktischen Funktion charakterisiert werden. Wir
können zwischen Aussagesätzen (39a), Fragen (39b-c), Aufforderungen (39d), Wünschen (39e-
f), u.s.w. unterscheiden:
Zweitens kann ein Satz nach der Stellung des finiten Verbs klassifiziert werden.
Verberstsätze (V1) haben das finite Verb am Satzanfang und sind oft Fragen ohne Fragewort
(39c), Aufforderungen (39d), oder Wünsche ohne wenn (39e). In Verbzweitsätzen (V2) ist das
finite Verb die zweite Konstituente des Satzes. Dazu gehören Aussagesätze (39a) und Fragen mit
Fragewort (39b). Verbendsätze sind vor allem Nebensätze, die von einer subordinierenden
Konjunktion eingeleitet werden (39f).
Drittens werden Sätze je nach Komplexität charakterisiert. Ein einfacher Satz besteht
aus einem einzelnen Hauptsatz, d.h. er hat nur ein Subjekt und nur ein finites Verb. Die Sätze in
(39a-e) sind einfache Sätze, aber ein einfacher Satz kann auch recht lang sein:
(40) Am vorrigen Wochenende ist ein Kreutzfahrtschiff im Roten Meer von somalischen
Piraten angegriffen worden.
Ein zusammengesetzer Satz (oder Satzverbindung, Satzreihe) besteht aus zwei Haupsätzen, die
mit einer koordinierenden Konjunktion verbunden werden. Jeder Hauptsatz könnte allein ein
einfacher Satz sein und beide Hauptsätze sind V2- oder V1- Sätze:
(41) a. Ich habe noch nie im Lotto gewonnen, denn ich spiele nie.
Hauptsatz Hauptsatz
b. Bist du am Wochenende ausgegangen, oder hast du nur ferngesehen?
Hauptsatz Hauptsatz
Ein komplexer Satz (oder Satzgefüge) besteht aus einem Hauptsatz mit einem Nebensatz. Der
Hauptsatz ist ein V2-Satz (oder V1 bei Fragen). Die meisten Nebensätze sind Verbendsätze und
79
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 5
werden von subordinierenden Konjunktionen eingeleitet (42). Sie können nicht ohne den
Hauptsatz stehen: Weil ich nicht spiele und dass er noch nie Lotto gespielt hat sind keine
vollständigen Sätze.
(42) a. Ich habe noch nie im Lotto gewonnen, weil ich nie spiele.
Nebensatz
Hauptsatz
b. Weil ich nie spiele, habe ich noch nie im Lotto gewonnen.
Nebensatz
Hauptsatz
Es gibt aber mit Verben wie sagen und denken auch Nebensätze, die ohne Konjunktion als V2-
Nebensätze vorkommen können (43b):
Obwohl sie weder Subjekt noch finites Verb haben, gelten diese Konstruktionen auch als Sätze.
Erstens entspricht ein Infinitivsatz einem Nebensatz, also (44a) bedeutet (45a) und (44b)
bedeutet (45b). Zweitens hat jeder Infinitivsatz ein implizites Subjekt, nämlich das Subjekt (44a)
oder Objekt (44b) vom Hauptsatz:
(45) a. Ich habe meiner Mutter versprochen, dass ich Lotto spielen werde.
b. Ich habe meine Mutter überzeugt, dass sie Lotto spielen sollte.
Es erscheint Ihnen vielleicht, dass V1-, V2- und Verbendsätze ganz unterschiedliche
Strukturen haben. Linguisten haben aber längst bemerkt, dass diese Satztypen gewisse
Ähnlichkeiten haben. In V1- und V2-Sätzen mit mehr als einem Verb wird fast der ganze Satz
von den Verben umgeben:
Verbendsätze sind ähnlich, indem der ganze Satz von der Konjunktion und den Verben umgeben
wird:
80
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 5
(47) a. ... ob du diese Woche schon wieder das Lotto spielen willst?
b. ... dass ich letztes Wochenende fünfzig Euro im Lotto gewonnen habe.
Diese Entdeckung hat zur traditionellen Analyse des deutschen Satzes geführt, der
Felderanalyse. Der Satz wird als eine Reihe von Feldern konzipiert, in dem die Verben (oder eine
subordinierende Konjunktion) die Felder trennen. In einem V1-Satz steht das finite Verb in der
sogenannten „linken Klammer“ und andere Verben in der „rechten Klammer“ (48a). Im
Verbendsatz steht die Konjunktion in der linken Klammer (48b). In diesen Sätzen erscheinen alle
anderen Wörter im „Mittelfeld“.
(49) a. Ich habe gesagt, ich habe fünfzig Euro im Lotto gewonnen.
b. Ich habe gesagt, dass ich fünfzig Euro im Lotto gewonnen habe.
Die Felderanalyse kann auch erklären, warum Nebensätze am Satzende keine Wirkung
auf die Wortfolge im Hauptsatz haben (50a), während Nebensätze am Satzanfang direkt vom
finiten Verb des Hauptsatzes gefolgt werden (50b). Obwohl der Hauptsatz habe ich nie im Lotto
gewonnen wie ein V1-Satz aussieht, ist dies ein gewöhnlicher V2-Satz mit dem Nebensatz im
Vorfeld (50b). Sie können weitere Sätze in Übung 10 analysieren.
Jetzt gehen wir auf die Felder etwas näher ein. Wir beginnen mit dem Vorfeld. Alle Arten
von Konstituenten können im Vorfeld stehen, von einzelnen Wörtern wie ich (50a) zu Phrasen
wie im Lotto (48c) zu Nebensätzen wie weil ich nie spiele (50b). In einem Hauptsatz, der auch
81
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 5
ein Aussagesatz ist, muss das Vorfeld besetzt sein, damit es ein V2-Satz ergibt.6 Es gibt aber
Sätze, die keine echten Subjekte haben, vor allem die unpersönlichen Passivsätze wie Auf der
Party wurde viel getanzt. Andere Konstruktionen haben eine Vorliebe für Subjekte im Mittelfeld
wie Heute sind nur drei Studenten gekommen. Wenn bei solchen Sätzen nichts anderes im
Vorfeld ist, muss das Wort es da stehen (51).
Man muss auch bemerken, das Pronomina normalerweise Nomina vorangehen (55a-b), aber
wenn beide Objekte Pronomina sind, erscheint Akkusativ vor Dativ (55c):
6
Die einzige Ausnahme ist Topik-Drop: Wenn ein Pronomen im Vorfeld direkt aus dem Kontext abgeleitet werden
kann, kann man das Pronomen tilgen:
(i) a. Wo ist das Brot?
Das habe ich schon gegessen > Habe ich schon gegessen.
b. Kannst du mir helfen?
Das geht nicht > Geht nicht.
7
Die verschiedenen Funktionen von es werden in Helbig & Buscha (2001: 256-267) ausführlicher diskutiert.
82
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 5
Wenn es einen Modifikator und eine Ergänzung gibt, ist die neutrale Folge Modifikator
vor Ergänzung:
(57) Ich fahre am Sonntag wegen Arbeit mit dem Zug nach München.
Zum Schluss gibt es im Deutschen die allgemeine Tendenz, kürzere Konstituenten vor
längeren (und wichtigeren) Konstituenten zu stellen. Deshalb erscheinen Pronomina so früh im
Mittelfeld wie möglich. Dies führt auch dazu, dass alle Wortfolgetendenzen nur Tendenzen sind.
Z.B. kann ein Modifikator einer Ergänzung folgen, wenn die Ergänzung kürzer ist:
Also die Wortstellung im Mittelfeld ist im Prinzip frei, aber wird durch eine Anzahl von
Faktoren beeinflusst. Das können Sie in Übung 11 weiter üben.
Da mehrere Verben in der rechten Klammer vorkommen können, gibt es auch Regeln für
die Verbfolge innerhalb der rechten Klammer. Wenn es nur zwei Verben in der rechten Klammer
gibt, folgt ein Verb immer seiner Ergänzung, egal ob das Verb finit (59) oder nicht-finit ist (60):
(59) a. ... dass ich Lotto gespielt habe. Partizip < Hilfsverbfinit
b. ... dass ich Lotto spielen möchte. Infinitiv < Modalverbfinit
Wenn drei Verben in der rechten Klammer stehen, gibt es unterschiedliche Wortfolgen je nach
Konstruktion. Meistens folgen alle Verben ihren Ergänzungen, also wenn das finite Verb ein
Modalverb ist (61a-c) und im Perfekt des Passivs (61d). Wenn das finite Verb werden (im Futur)
ist, kann werden nach seiner Ergänzung stehen (62a), oder vor beiden Verben erscheinen (62b):
(61) a. ... dass ich es kaufen können muss. Infinitiv < ModalverbInfinitiv < Modalverbfinit
b. ... dass ich es gekauft haben muss. Partizip < HilfsverbInfinitiv < Modalverbfinit
c. ... dass ich es gekauft werden muss. Partizip < HilfsverbInfinitiv < Modalverbfinit
d. ... dass es gekauft worden ist. Partizip < HilfsverbPartizip < Hilfsverbfinit
(62) a. ... dass ich es kaufen können werde. Infinitiv < ModalverbInfinitiv < werdenfinit
b. ... dass ich es werde kaufen können. werdenfinit > Infinitiv < ModalverbInfinitiv
Eine sehr rätselhafte Konstruktion entsteht, wenn ein Infinitiv und Modalverb im Perfekt
stehen. Ein Modalverb allein im Perfekt sieht normal aus, d.h. als Partizip:
83
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 5
Überraschend ist die Form des Modalverbs im Perfekt mit einem Infinitiv. Anstatt ein Partizip
(64a) erscheint das Modalverb jetzt im Infinitiv (64b), also diese Konstruktion heißt der
Ersatzinfinitiv. Im Ersatzinfinitiv kann das Hilfsverb seiner Ergänzung nicht folgen (65a),
sondern muss als erstes Verb in der rechten Klammer erscheinen (65b).8
(65) a. *... dass ich Deutsch sprechen können habe. *Infinitiv < ModalverbInf. < habenfinit
b. ... dass ich Deutsch habe sprechen können. habenfinit > Infinitiv < ModalverbInf.
(68) a. Die Delegation setzt sich zusammen aus mehreren Vertretern des Ministeriums
und einer Expertengruppe.
b. Ihr einziger Sohn ist gefallen in diesem furchtbaren Krieg.
(Helbig & Buscha 2001: 477)
Obwohl die Felderanalyse für die deutschen Satzstruktur sehr geeignet ist, ist sie nicht
ganz ohne Probleme. Erstens entsprechen die Felder nicht immer Konstituenten. Im Satz Den
Elefanten gesehen hat Maria mit dem Fernglas stehen ein direktes Objekt und ein Verb im
Vorfeld, also den Elefanten gesehen ist eine Konstituente, nämlich eine Verbalphrase. Aber im
Satz Maria hat mit dem Fernglas den Elefanten gesehen steht ein Teil dieser VP im Mittelfeld
und der andere Teil in der rechten Klammer. Andererseits bilden Gruppen von Verben in der
rechten Klammer wie habe sprechen können keine Konstituenten (sondern Teile von drei VPs),
obwohl sie in einem Feld stehen. Das zweite Problem ist, dass die Felderanalyse nur für das
8
Es gibt auch Sätze mit vier (sogar fünf) Verben in der rechten Klammer, und dann werden die
Wortstellungsmöglichkeiten viel komplexer (Wöllstein-Leisten et al. 2007: 65-75).
84
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 5
Deutsche (und sehr nah verwandte Sprachen wie das Niederländische) gültig ist. Zum Schluss
kann die Felderanalyse nur die Wortfolge erklären, nicht die Beziehung zwischen den Wörtern
im Satz.
Also in diesem Teil zeigen wir, wie wir ein universales Modell der Syntax an das
Deutsche anwenden können. Seit Chomsky (1965) versucht man, verwandte Sätze von einer
Basisstruktur zu „generieren“. In diesem generativen Modell werden die unterschiedlichen
Formen von Sätzen durch sogenannte Transformationen abgeleitet. Beispielsweise wird die
Frage Has she read the story? aus dem Satz She has read the story abgeleitet, indem das
Hilfsverb has zum Satzanfang verschoben wird:
Genau wie ein Phonem eine abstrakte Repräsentation eines Lautes ist, der unterschiedliche
Aussprachen (Allophone) hat, kann man von der abstrakten Basisstruktur die unterschiedlichsten
Satzarten ableiten. Diese Analyse hat einen großen Vorteil: Sie zeigt die grammatikalischen
Beziehungen zwischen Konstituenten (in der Basisstruktur) und die eigentliche Wortfolge im
Satz (nach den Verschiebungen).
Nun versuchen wir, eine Basisstruktur für die deutschen Sätze in (70) festzustellen.9 In
allen Varianten geht es um ein Subjekt sie, ein Objekt Geschichte und ein Verb vorlesen, also die
Sätze sind semantisch verwandt, obwohl sie unterschiedliche Tempora, Wortfolgen und
Satzarten zeigen.
Vielleicht würden Sie zunächst glauben, dass die Basisstruktur für die deutschen Sätze in
(70) wie die englische Struktur in (69a) ist, d.h. Subjekt-Verb-Objekt. Welche Veränderungen
zur Wortstellung müsste man also annehmen, wenn die Basisstruktur ungefähr so wäre: sie -
(hat) - vorlesen - gestern - eine Geschichte ? Für (70a) wird das Präfix vor zum Satzende
verschoben. In (70b) wird das ganze Verb vorgelesen zum Satzende verschoben. Für (70c) geht
vorgelesen zum Satzende und gestern und sie tauschen Plätze. In (70d) geht vorgelesen zum
Satzende und hat zum Satzanfang. In (70e) gehen beide Verben zum Satzende. Man würde also
fünf Regeln brauchen: Präfixe, Partizipien und (in Nebensätzen) finite Verben werden zum
Satzende verschoben, finite Verben werden in Fragen zum Satzanfang verschoben, und ein
Subjekt erscheint nach dem finiten Verb wenn etwas anderes im Vorfeld steht.
Nehmen wir stattdessen an, dass die Basisstruktur eigentlich so ist: sie - gestern - eine
Geschichte - vorlesen - (hat). D.h., das nicht-finite Verb folgt seinen Modifikatoren und
Ergänzungen wie in (34), und das finite Verb folgt seiner Ergänzung (dem Partizip) wie in (37).
Jetzt brauchen wir nur zwei Regeln, um die Sätze oben in (70) abzuleiten. Erstens wird das finite
Verb vom Satzende zum Satzanfang (also in die linke Klammer) in allen Hauptsätzen (70a-d)
verschoben, egal ob das finite Verb las oder hat ist. Zweitens erscheint in Hauptsätzen, die nicht
9
Argument und Beispiele teilweise aus Wöllstein-Leisten et al. (2007: 29-31).
85
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 5
Fragen sind (70a-c), irgendeine Konstituente vor dem finiten Verb (im Vorfeld). Wir nehmen
also im generativen Modell an, dass die Basisstruktur im Deutschen Subjekt-Objekt-Verb ist.
Das ist also der größte Unterschied zwischen dem Deutschen und den meisten europäischen
Sprachen, die Subjekt-Verb-Objekt als Basisstruktur haben (69a).
Nun versuchen wir Baumdiagramme für ganze Sätze zu zeichnen. Ein Satz besteht
grundsätzlich aus einem Subjekt (also NP) und einem Verb mit seinen Modifikatoren und
Ergänzungen (also VP). Mit den Phrasen aus Teil 5.3 können wir die Basisstruktur von einem
einfachen Satz so angeben:10
(71) ?
NP VP
N
sie gestern eine Geschichte vorgelesen hat
In einem Nebensatz steht die subordinierende Konjunktion vor dem Subjekt. Diese Stelle nennen
wir C nach dem englischen Begriff „complementizer“ (d.h. subordinierende Konjunktion), also
(70e) wird so analysiert:
(72) ? Mini‐Übung:
Zeichnen Sie den
NP VP Baum (72), aber
geben Sie alle Details
C N innerhalb der VP an!
weil sie gestern eine Geschichte vorgelesen hat
Die Felderanalyse beweist, dass das finite Verb im Hauptsatz die selbe Stelle besetzt wie die
subordinierende Konjunktion im Nebensatz. Das bedeutet, dass ein finites Verb in einem
Hauptsatz in C stehen muss. Also von der Struktur in (71) verschieben wir das finite Verb in
(70d) auch zu C:
(73) ?
NP VP
C N
hat sie gestern eine Geschichte vorgelesen hat
Also im Grunde genommen haben ein Verberstsatz wie Hat sie gestern eine Geschichte
vorgelesen? (70c) und ein Verbendsatz wie weil sie gestern eine Geschichte vorgelesen hat (70e)
dieselbe Struktur.
10
In den folgenden Beispielen benutze ich ein Dreieck, damit ich die interne Struktur der VP nicht zeichnen muss.
In Ihren Hausaufgaben sollten Sie alle Details zeigen.
86
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 5
Für Verbzweitsätze wie (70b) und (70c) brauchen wir nur noch eine Verschiebung: eine
Subjekt-NP bzw. ein Adverb stehen dem finiten Verb voran. Solche Sätze werden generiert, in
dem das finite Verb sich zu C bewegt und irgendeine andere Konstituente sich zum Vorfeld
bewegt:
(74) ?
VF NP VP
NP C N
Sie hat sie gestern eine Geschichte vorgelesen hat
Bemerken Sie dabei, dass die Subjekt-NP in der Basisstruktur zwischen C und VP erscheint. Ein
Subjekt kann nur am Satzanfang stehen, wenn es in diese Stelle verschoben wird. Dies erklärt,
warum ein Subjekt, das nicht am Satzanfang steht, dem finiten Verb bzw. der subordinierenden
Konjunktion folgen muss.
Bis jetzt haben wir nicht festgestellt, wie ein Satz in diesem Modell genannt wird. Diese
Sätze sind aber auch Konstituenten, d.h. Phrasen, und alle andere Phrasen haben einen Kopf.
Was könnte der Kopf des Satzes sein? Wir nehmen an, dass der Kopf C ist, weil das Wort in
dieser Stelle die Satzart entscheidet. Wenn C von einer subordinierenden Konjunktion besetzt
wird, haben wir einen Nebensatz (75a). Wenn ein Verb im Imperativ dort steht, ist der Satz eine
Aufforderung (75b). In einem Wunschsatz ist entweder wenn oder ein Verb im Konjunktiv in
dieser Stelle (75c-d). Ein Verb im Indikativ in C deutet eine Frage (75e) oder einen Aussagesatz
(75f) an.
Wenn der Kopf des Satzes C ist, heißen Sätze also CPs. Ein CP besteht also aus dem Kopf C,
dem Subjekt-NP und dem Prädikat (einem VP), und bei einigen Satzarten gibt es auch das
Vorfeld:
(76) CP → (Vorfeld) C NP VP
87
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 5
Wenn der Nebensatz ein Subjektsatz ist, übernimmt er einfach die Stelle des Subjekts im
Hauptsatz. Also die Regel in (76) müssen wir so umschreiben, damit das Subjekt entweder eine
NP oder ein Nebensatz (CP) sein kann:
Andere Nebensätze sind Objektsätze, d.h. sie funktionieren als Ergänzung eines Verbs
und können durch eine Objekt-NP oder Objektpronomen ersetzt werden:
(80) VP
CP
V
glaube dass du im Lotto gewonnen hast
Andere Nebensätze sind Adverbial, denn sie modifizieren ein Verb und können durch ein
Adverb oder PP ersetzt werden:
(81) a. Ich hätte das nie gemacht, bevor ich im Lotto gewonnen habe.
b. Ich hätte das nie vorher gemacht.
c. Ich hätte das nie vor meinem Lottogewinn gemacht.
Adverbiale Nebensätze, wie andere Modifikatoren des Verbs, sind auch in der VP. Also die
Regel für die VP müssen wir auch umschreiben:
Zum Schluss gibt es Nebensätze, die ein Nomen modifizieren, nämlich die Relativsätze.
Sie haben eine adjektivische Funktion und stehen, wie andere Modifikatoren des Nomens, in der
NP:
Mini‐Übung:
(83) NP Schreiben Sie die NP‐
Regel in (24) um, damit
CP
der Relativsatz richtig
D N dargestellt wird.
der Elefant der das Fernglas hatte
88
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 5
5.5 Übungen
Übung 1: Ergänzen Sie die folgenden Sätze mit einem Determinator im richtigen Kasus.
Erklären Sie, warum Sie dieses Kasus gewählt haben.
a. Hier bin ich ___ Chefin.
b. ___ Studentin liest das Buch.
c. Die Studentin liest ___ Tag.
d. Der Busch ist ____ Meter groß.
e. Die Studentin ist _____ Bruder ähnlich.
f. Trotz ____ Chefin ging sie zu ____ Arbeit.
g. Die Studentin sah _____ Freund in ____ Kino.
h. Die Studentin begegnete _____ Freund.
i. Die Studentin gab ____ Buch _____ Freund.
j. ____ Buch wurde von ____ Studentin gelesen.
k. Die Studentin ging mit ____ Freund in ___ Kino.
l. Die Chefin ____ Studentin war neidisch auf___.
Übung 2: Ergänzen Sie die folgenden Präpositionalphrasen mit einem Determinator oder
Pronomen im richtigen Kasus.
a. Er geht oft in ___ Oper.
b. Köln liegt an ___ Rhein.
c. Er kommt aus ___ Schweiz.
d. Ich muss zu ___ Post gehen.
e. Wir sprechen über ___ Prüfung.
f. Das Kind setzt sich auf ___ Gras.
g. Die Katze kriecht unter ___ Tisch.
h. Wir müssen durch ___ Stadt fahren.
i. Ich kann nicht ohne ____ (du) leben.
j. Die Studenten essen vor ___ Unterricht.
k. Ich schlafe oft nach ____ Abendessen ein.
l. Anstatt ___ Klausur gibt es eine Hausarbeit.
m. Sie kommt direkt von ___ Arbeit nach Hause.
n. Wir fahren wegen ___ Kälte nicht zum Strand.
o. Dänemark liegt zwischen ___ Nordsee und ___ Ostsee.
Übung 3: Entscheiden Sie anhand der drei Konstituententests, ob die unterstrichenen Wörtern
eine Konstituente bilden. (Herausforderung: wie heißen die Konstituenten?)
a. Sie schloss die Tür zum Büro.
b. Sie schloss die Tür mit dem Schlüssel.
c. Er schickte ein Buch an seine Tochter.
89
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 5
d. Er schenkte seiner Tochter ein Buch über Syntax.
e. Er sah gestern den neuen Film von Fatih Akın.
f. Er sah gestern den neuen Film von Fatih Akın.
g. Ich habe Lust auf ein Bier.
h. Ich habe Unterricht vor Mittag.
Übung 4: Ersetzen Sie jede Nominalphrase mit einem Pronomen. Welche Probleme entstehen
und wie kann man sie lösen?
a. Die Studentin gab ihrem Freund ein Buch.
b. Die Studenten freuen sich auf den Sommer.
c. Der Student geht mit seinem Freund ins Kino.
d. Die Freunde sahen den neuen Film von Fatih Akın.
e. Der Mann schenkte seiner Tochter ein Buch über Syntax.
Übung 5: Zeichnen Sie ein Baumdiagramm für jede der folgenden NPs. Achten Sie auf die
Regeln (24), (26) und (27). (Herausforderung: Schreiben Sie Klammern um jede Phrase und
geben Sie bei jeder öffnenden Klammer die Art der Phrase an.)
a. den sehr interessanten Film
b. den neuen Film von Fatih Akın
c. ein auf Syntax sehr neugieriger Student
d. ein Buch über die Syntax von Nominalphrasen
e. ein Buch über Syntax von Noam Chomsky
f. ein Buch über Syntax, das Noam Chomsky geschrieben hat
Übung 6: Sind die folgenden PPs und NPs Modifikatoren oder Ergänzungen?
a. Ich arbeite in Oxford.
b. Ich wohne in Oxford.
c. Ich gehe nach Hause.
d. Ich gehe nach dem Kurs.
e. Ich warte auf den Bus.
f. Ich warte auf dem Bus.
g. Ich unterrichte jeden Tag.
h. Ich unterrichte jeden Kurs.
i. Ich habe 2 Stunden im Garten verbracht.
j. Ich habe 2 Stunden im Garten gearbeitet.
Übung 7: Zeichnen Sie ein Baumdiagramm für jede der folgenden VPs. Achten Sie auf die
Regeln sowohl für VPs wie für NPs und PPs. (Herausforderung: Schreiben Sie Klammern um
jede Phrase und geben Sie bei jeder öffnenden Klammer die Art der Phrase an.)
a. in Oxford arbeiten
b. nach dem Kurs nach Hause gehen
c. auf den Bus mit einem Rucksack warten
d. gestern den neuen Film von Fatih Akın gesehen
e. jeden Tag um 15 Uhr lernen muss
90
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 5
f. 2 Stunden im Garten gearbeitet habe
Übung 8: Klassifizieren Sie die folgenden Sätze (aus dem „Froschkönig“ der Brüder Grimm)
nach Funktion und Komplexität, und charakterisieren Sie jeden Haupt- und Nebensatz nach der
Stellung des finiten Verbs:
a. In den alten Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat, lebte ein König, dessen Töchter
waren alle schön ...
b. Nahe bei dem Schlosse des Königs lag ein großer dunkler Wald, und in dem Walde unter
einer alten Linde war ein Brunnen ...
c. und wenn sie Langeweile hatte, so nahm sie eine goldene Kugel, warf sie in die Höhe und
fing sie wieder ...
d. Nun trug es einmal zu, daß die goldene Kugel der Königstochter nicht in ihr Händchen fiel,
das sie in die Höhe gehalten hatte ...
e. „Was hast du vor, Königstochter?“
f. „Ich weine über meine goldene Kugel, die mir in den Brunnen hinabgefallen ist.“
g. „Sei still und weine nicht.“
h. Sie lief und wollte sehen, wer draußen wäre ...
i. Da erzählte er, er wäre von einer bösen Hexe verwünscht worden ...
Übung 9: Herausforderung: Bilden Sie aus dem Nebensatz einen Infinitivsatz. In welchen Fällen
ist das nicht möglich?
a. Die Königstochter liebte es, dass sie die goldene Kugel in die Höhe warf und wieder fing.
b. Die Königstochter überzeugte den Frosch, dass er die goldene Kugel holen sollte.
c. Der Frosch versprach der Königstochter, dass er die goldene Kugel holen würde.
d. Die Königstochter versprach dem Frosch, dass sie mit ihm spielen würde.
e. Die Königstochter versprach dem Frosch, dass er mit ihr essen würde.
f. Aber die Königstochter erlaubte dem Frosch nicht, dass er neben ihr sitzen durfte.
g. Der Frosch behauptete, dass er ein verwünschter Prinz wäre.
h. Der Frosch konnte die Königstochter nicht überzeugen, dass er sie küssen sollte.
Übung 10: Analysieren Sie die folgenden Sätze anhand der Felderanalyse: (Herausforderung:
Sind trennbare Verbalpräfixe im Mittelfeld oder in der rechten Klammer? Machen Sie ein
Argument anhand der Wortstellungsfreiheit innerhalb des Mittelfelds.)
a. Maria sah den Elefanten mit dem Fernglas.
b. Maria sah den Elefanten an.
c. Wer sah den Elefanten an?
d. Hat Maria mit dem Fernglas den Elefanten gesehen?
e. Gesehen hat Maria den Elefanten erst gestern.
f. Den Elefanten gesehen hat Maria mit dem Fernglas.
g. Mit welchem Fernglas hat Maria den Elefanten gesehen?
h. ... weil Maria mit dem Fernglas den Elefanten gesehen hat.
i. Maria sagte ihrer Chefin, dass sie einen Elefanten sah.
j. ... dass sie einen Elefanten sah.
k. ... sie habe einen Elefanten gesehen.
91
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 5
l. Obwohl es regnete, sah Maria den Elefanten sehr gut.
m. Obwohl es regnete ...
n. Der Elefant, den Maria gesehen hat, war groß.
o. Maria ist nach Afrika geflogen, um einen Elefanten zu sehen.
p. Maria hat mehr Elefanten gesehen als ihre Chefin.
Übung 11: Bringen Sie die folgenden Konstituenten in die beste Folge, und erklären Sie ihre
Wahl:
a. ich fahre: nach Berlin / mit dem Zug / am Samstag
b. ich arbeite: im Büro / mittwochs / etwas länger
c. ich schreibe: eine Seminararbeit / am Ende des Semesters / für meinen Linguistikkurs
d. ich schicke: eine Email / meinem Professor
e. ich schicke: die Email / einem Professor
f. ich schicke: sie / meinem Professor
g. ich schicke: eine Email / ihm
h. ich schicke: sie / ihm
Übung 12: Bringen Sie die Verben in die richtige Reihenfolge:
a. ... weil Maria einen Elefanten hat / gesehen
b. ... weil Maria einen Elefanten wollte / sehen
c. ... weil Maria einen Elefanten wollte / können / sehen
d. ... weil ein Elefant wurde / gesehen
e. ... weil ein Elefant ist / worden / gesehen
f. ... weil ein Elefant muss / werden / gesehen
g. ... weil Maria ein Elefant wird / sehen
h. ... weil Maria ein Elefant wird / können / sehen (2 Möglichkeiten)
i. ... weil Maria ein Elefant konnte / sehen
j. ... weil Maria ein Elefant hat / können / sehen
Übung 13: Zeichnen Sie ein Baumdiagramm für jeden Satz (a)-(h) in Übung 10. Für jeden Satz,
zeichnen Sie zuerst die Basisstruktur, und passen Sie auf, dass Ihre VPs und CPs den Regeln in
(34), (37), und (76) entsprechen. Dann geben Sie die Bewegungen an, die von der Basisstruktur
die richtige Wortfolge des Satzes ableiten. (Satz (a) ist zweideutig, also zeichnen Sie zwei
Baumdiagramme für (a).)
Übung 14: Zeichnen Sie ein Baumdiagramm für Sätze (i), (l) und (n) in Übung 10.
(Herausforderung: Versuchen Sie, Baumdiagramme für (o) und (p) zu zeichnen.)
Weiterführende Literatur:
92
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 5
Dudenredaktion (Hgg.). 2009. Die Grammatik: Unentbehrlich für richtiges Deutsch. Mannheim:
Dudenverlag.
Fagan, Sarah M.B. 2009. German: A linguistic introduction. Cambridge, U.K.: Cambridge
University Press.
Haider, Hubert. 2010. The Syntax of German. Cambridge, U.K.: Cambridge University Press.
Helbig & Buscha. 2001. Deutsche Grammatik: Ein Handbuch für den Ausländerunterricht.
Langenscheidt.
Lenerz, Jürgen. 1977. Zur Abfolge nominaler Satzglieder im Deutschen. Tübingen: Narr.
Wöllstein-Leisten, Angelika, Axel Heilmann, Peter Stepan, und Sten Vikner. 2007. Deutsche
Satzstruktur. Tübingen: Stauffenberg.
93
Kapitel 6:
Semantik: Die Bedeutung deutscher Wörter und Sätze
Überblick:
Lexikalische Semantik: Polysemie, Synonumie, Antonymie und Homonymie
Semantik der Nominalphrasen: Referenz, Deixis und thematische Rollen
Semantik des Tempus, Modalität, und das Passiv
Pragmatik
6.1 Einführung
Dieses Kapitel behandelt die Semantik, die Teildisziplin der Linguistik, die die
Bedeutung untersucht. Die Semantik von einzelnen Wörtern wird im nächsten Teil behandelt.
Teil 6.3 untersucht die Referenz und Funktionen von NPs. In 6.4 geht es um das Tempus,
Modus, u.s.w. von VPs, die die Bedeutung des ganzen Satzes bestimmen. Wie ein Satz benutzt
wird, um mit anderen Menschen zu handeln, ist das Thema in 6.5.
Bei lexikalischer Semantik geht es um die Bedeutung von einzelnen Wörtern. Seit dem
Schweizer Linguisten Ferdinand de Saussure (1857-1913) versteht man ein Wort als eine Art
Symbol. Symbole bestehen aus einem Signifikant, d.h. dem Bild, und einem Signifikat, d.h.
dem Begriff, der mit dem Bild repräsentiert wird. Nehmen wir ein Stoppschild als
Beispiel: Der Signifikant ist die Form des Schilds, also ein rotes Achteck (auch ohne ein
Wort erkennbar). Der Signifikat ist die Aufforderung, den Wagen anzuhalten. Die Verbindung
zwischen dem Signifikat und Signifikant in diesem Fall ist
arbiträr: Es gibt nichts an einem roten Achteck, das mit Mini‐Übung:
Anhalten zu tun hat, sondern man lernt das, wenn man in einer Sind die folgenden Symbole
Gesellschaft mit Autos lebt. Andere Symbole sind ikonisch, arbiträr oder ikonisch?
d.h. das es gibt doch eine Beziehung zwischen der Form eines 3 III + <
Zeichens und seiner Bedeutung. Beispielsweise deutet der
Pfeil des Schildes für eine Einbahnstraße auf die Richtung der ! ? *
Straße.
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 6
Bei den meisten Komposita muss die Bedeutung nicht im Lexikon stehen, denn die Bedeutung
des Kompositums ist kompositionell, also die Bedeutung besteht aus den Bedeutungen der
beiden Teile. Man versteht also Katzenfloh als einen Floh auf einer Katze, Katzenfutter als
Fütterung für Katzen und Kätzchen als eine kleine Katze, ohne jemals diese Wörter gehört zu
haben. Andererseits muss man lernen, dass Katzenjammer eigentlich nicht der Jammer von
Katzen bedeutet, sondern die Kopfschmerzen wegen hohen Akoholkonsums. Während
kompositionelle Wörter wie Katzenfutter oder Kätzchen keinen Lexikoneintrag brauchen,
müssen nichtkompositionelle Komposita wie Katzenjammer im Lexikon stehen, weil man ihre
Bedeutung aus den Teilen nicht ableiten kann:
Phrasen und Sätze sind meistens kompositionell. Wenn man die Wörter Katze, Tisch und
springen versteht, versteht man den Satz Die Katze springt auf den Tisch. Es gibt aber nicht-
kompositionelle Phrasen, d.h. Redewendungen wie die Katze im Sack kaufen (etwas kaufen,
ohne es zu sehen) und die Katze aus dem Sack lassen (ein Geheimnis erzählen). Diese Phrasen
versteht man als ganzes und nicht wortwörtlich als Handlungen mit Katzen und Säcken. Es gibt
sogar nicht-kompositionelle Sätze, z.B. Das ist für die Katz. Deswegen stehen auch solche
1
Die Sprachen sind Indonesisch, Französisch, Englisch, Chinesisch, Japanisch, Finnisch, Türkisch, Tschechisch,
Spanisch, Griechisch und Russisch.
95
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 6
Ausdrücke im mentalen Lexikon (und sogar in einigen Wörterbüchern). Sie können jetzt Übung
1 versuchen.
Die Bedeutung von einzelnen Wörtern ist nicht immer so einfach wie in (1), denn viele
Wörter haben mehrere Bedeutungen. Einerseits gibt es Homophone--Wörter, die phonetisch
identisch sind, aber zwei ganz verschiedene Bedeutungen haben. Homophone werden in
Wörterbüchern als einzelne Einträge angegeben:
Bei Homophonen geht es um zwei unverwandte Wörter, die nur zufällig identisch klingen.2
Viel interessanter ist Polysemie, wenn ein Wort mehrere verwandte Bedeutungen hat.
Der geologische Begriff Jura kann nicht nur das Gebirge bezeichnen, sondern auch den Kanton
in der Schweiz und eine geologische Ära der Dinosaurier. Polyseme gelten als ein Wort und
werden in Wörterbüchern zusammen in einem Eintrag dargestellt:
Obwohl die Bedeutungen in (4) vielleicht sehr unterschiedlich erscheinen, sind Definitionen 2-4
metaphorische Erweiterungen von der ersten Bedeutung. Die prototypische Bedeutung von Brücke
ist eine architektonische Struktur, die ein Gebiet mit einem anderen verbindet. Bedeutung 2 ist eine
medizinische Struktur, die die Lücke zwischen zwei Zähnen überbrückt. Die dritte Bedeutung ist
irgendetwas, auch etwas abstraktes, das zwei Sachen verbindet (Beethovens Musik ist eine Brücke
von Klassik zur Romantik). Bedeutung 4 kommt von der brückenartigen Form dieser Struktur auf
Dampfschiffen. In Übung 2 können sie weitere Beispiele von Homophonen und Polysemen
untersuchen.
Synonyme sind zwei Wörter, die dieselbe Bedeutung haben. Jedoch zweifeln viele
Linguisten, ob es echte Synonyme gibt, denn scheinbare Synonyme sind entweder dialektal oder
stilistisch beschränkt. Fagan (2009: 149) gibt die folgenden Beispiele von Synonymen:
Abendessen/Abendbrot, zwei/zwo und erhalten/bekommen/kriegen. Obwohl es hier keine
semantischen Unterschiede gibt, ist Abendbrot eine norddeutsche Variante, zwo eine Variante für
Telefon, Radio und Militär, erhalten sehr formell und kriegen sehr informell. In Übung 3 können
Sie selber versuchen, Unterschiede zwischen Synonymen festzustellen.
Antonyme stellen das Gegenteil dar und es gibt drei Arten von Antonymen. Gradierte
Antonyme können auf einer Skala dargestellt werden:
2
Homophone werden manchmal unterschiedlich buchstabiert: Moor/Mohr, Lied/Lid, malen/mahlen (Kessel &
Reimann 2012: 169).
96
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 6
Etwas kann zwischen klein und groß oder ein bisschen groß sein. Gradierte Antonyme können
auch im komparativ (kleiner) und superlativ (am größten) stehen. Binäre Antonyme können
dagegen nicht auf einer Skala stehen und haben normalerweise keinen Komparativ oder
Superlativ. Beispielsweise ist etwas entweder tot oder lebendig und ein Tier kann nicht
lebendiger sein als ein anderes. Konversen sind keine wahren Antonyme, sondern Paare in einer
Beziehung wie Käufer und Verkäufer oder Eltern und Kind. Eine Person kann nicht gleichzeitig
jung und alt sein (Antonyme), aber sie kann gleichzeitig Mutter (ihrer Kinder) und Kind (ihrer
Eltern) sein. (Sie können Übung 4 versuchen.)
6.2.4 Hyponymie
Eine andere Beziehung zwischen Wörtern ist Hyponymie, in der ein übergeordneter
Begriff oder Hyperonym mehrere untergeordnete Wörter oder Hyponyme umfasst. Das
Hyperonym Hund hat viele Hyponyme, z.B.:
(6) Hund
Jeder Pudel ist auch ein Hund, aber nicht jeder Hund ist ein Pudel, deswegen ist Hund der
übergeordnete Begriff. Jedoch kann Hund auch ein Hyponym sein, wenn der Hyperonym
Säugetier oder Tier ist.
Hyponymie ist nicht mit einer Teil-Ganz-Beziehung (oder Meronymie) zu verwechseln.
Die Wörter Knie, Schenkel und Fuß sind Meronyme von Bein, denn sie sind Teile des ganzen
Beines. Sie sind aber keine Hyponyme von Bein, denn ein Knie ist nicht eine Art Bein u.s.w. (Sie
können jetzt Übung 5 machen.)
6.3.1 Referenz
Nominalphrasen (NPs) weisen oft auf Gegenstände in der Welt hin. Dieser Hinweis heißt
Referenz und es gibt unterschiedliche Arten der Referenz. Referenz kann erstens generisch sein.
In (7) geht es nicht um bestimmte Elefanten aus Afrika, sonder um die Art Loxodonta africana.
Eine generische NP kann mit einem bestimmten oder unbestimmten Artikel erscheinen:
Wenn eine NP sich nicht auf die Art sondern auf ein konkretes Beispiel dieser Art bezieht, heißt
das partikuläre Referenz:
97
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 6
Jedoch hat dieser Satz zwei Lesearten: In (10a) ist die Referenz spezifisch, denn Maria kennt den
blauäugigen Italiener schon. In (10b) ist die Referenz unspezifisch, denn es handelt sich dabei
um einen von vielen möglichen Männern. Unspezifische NPs haben normalerweise unbestimmte
Artikel.
(10) a. Maria möchte einen blauäugigen Italiener heiraten. (Er heißt Luigi.)
b. Maria möchte einen blauäugigen Italiener heiraten (wenn sie einen kennenlernt.)
Spezifische NPs können entweder bestimmt oder unbestimmt sein. Die Referenz einer
unbestimmten NP ist dem Sprecher bekannt aber nicht dem Hörer (11). Wenn der Sprecher eine
NP in der bestimmten Form verwendet, nimmt er an, dass der Hörer die Referenz der NP schon
weiß (12).
(11) Sprecher: Ich habe gerade ein neues Buch über Semantik gelesen.
Hörer: Wie heißt es denn?
(12) Sprecher: Ich habe gerade das neue Buch über Semantik gelesen.
Hörer: Na, wie war es?
Nicht nur NPs mit bestimmten Artikeln gelten als „bestimmte NPs“: NPs mit Demonstrativa
(dieser Elefant), Possessiva (mein Elefant) und einigen Quantoren (jeder Elefant) sind bestimmte
NPs. Die meisten Pronomina (er, dieser, meiner) sind bestimmt; nur die Indefinitpronomina
man, jemand, niemand, etwas, und nichts sind unbestimmt.
In Texten erscheint eine NP oft unbestimmt, wenn sie zum ersten Mal erwähnt wird.
Danach erscheint die NP in bestimmter Form oder sogar als Pronomen, denn der Leser versteht
schon die Referenz der NP:
(13) Einen lange gesuchten Gartenhauseinbrecher hat die Polizei vorgestern auf frischer Tat
in Taufkirchen ertappt. ... In seiner Wohnung fand die Polizei mehrere Gegenstände, die
aus einer Einbruchserie stammen könnten.. ... Der Münchner bestritt die Einbrüche
zunächst jedoch und wurde gestern dem Haftrichter vorgeführt.3
Hier wird der Täter zuerst einen Gartenhauseinbrecher mit unbestimmten Artikel genannt, aber
danach heißt er Der Münchner mit dem bestimmten Artikel oder einfach das Pronomen sein. Die
Tat erscheint auch zuerst unbestimmt als eine Einbruchserie und wird nur später in der
bestimmten Form die Einbrüche erwähnt. (Sie können jetzt Übung 6 machen.)
3
Süddeutsche Zeitung, 14.-16. Mai 2005, in Kessel & Reimann (2012: 222) zitiert.
98
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 6
Wenn das Subjekt und das Objekt eines transitiven Verbs diesselbe Referenz haben, muss
das Objekt als Reflexivpronomen erscheinen. Beispielsweise ist kämmen ein transitives Verb
(14a), das auch reflexiv sein kann, wenn das Subjekt und Objekt auf die gleiche Person
hinweisen (14b). Dass sich in (14b) ein echtes Objekt ist, kann man beweisen, in dem man es
verstärken (14c) oder koordinieren (14d) kann (Kessel & Reimann 2012: 48).
Andere Reflexivpronomina sind keine echten Objekte, sondern das Verb verlangt ein formales
Reflexivpronomen (15a). Dieses formale sich hat keine Referenz und kann nicht durch eine NP
ersetzt (15b), mit einer NP koordiniert (15c), oder verstärkt (15d) werden.
6.3.2 Deixis
Demonstrativa werden oft verwendet, um klar zu machen, ob eine NP in der Nähe des
Sprechers oder weiter weg ist. Diese zeigende Funktion heißt Deixis von Griechisch δείξις („das
Zeigen“). Das Demonstrativum dieser bezieht sich auf etwas, was dem Sprecher nah ist (16a).
Etwas weiter weg wird mit jener gekennzeichnet, meistens in formeller, geschriebener Sprache
(16b). Das betonte DER kann beides bedeuten:
(16) a. Ich mag diesen Kuchen. = Ich mag DEN Kuchen (hier).
b. Ich mag jenen Kuchen. = Ich mag DEN Kuchen (dort).
Adverbien können auch Deixis angeben. Hier bedeutet in der Nähe des Sprechers, dort
bedeutet weiter weg vom Sprecher und da kann beides bedeuten:
Temporaldeixis wird durch Adverbien wie jetzt, dann, heute, gestern u.s.w. ausgedrückt.
Temporaldeixis weist auf die Zeit hin, in der ein Ereignis geschieht mit Bezug auf eine andere
Zeit. Das Wort gestern bekommt seine Referenz von der Zeit der Äußerung; man kann die
Referenz von gestern nur wissen, wenn man weiß, wann der Satz geäußert wurde. (Sie können
jetzt Übung 7 versuchen.)
99
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 6
Wenden wir uns wieder an die Funktionen von NPs in einem Satz. Der Begriff Nominativ
ist rein morphologisch, denn es umfasst mehrere Funktionen, und eine NP kann auch außerhalb
eines Satzes im Nominativ sein. Subjekt ist eine syntaktische Funktion, aber hat weniger mit
Semantik zu tun, als man vielleicht denkt. Identifizieren Sie das Subjekt und (gegebenfalls) das
direkte Objekt in den folgenden Beispielen:
Das Subjekt in (18a) ist der Pförtner, denn es steht im Nominativ und das Verb öffnet
kongruiert mit ihm. Der Pförtner führt auch die Handlung des Satzes aus, also er öffnet die
Türen. Das Subjekt in (18b-d) ist die Türen, denn das Verb kongruiert im Plural. Das Subjekt in
(18e) ist der Schlüssel, denn es steht jetzt im Nominativ und das Verb kongruiert mit ihm. Aber
wer führt die Handlung aus, also wer öffnet die Türen, in (18b-e)? In (18b) ist es der Pförtner, in
(18c) könnte es irgendjemand sein, der es versucht, in (18d) sind die Türen vielleicht
automatisch und in (18e) ist es jemand mit dem Schlüssel. Also das Subjekt eines Satzes ist nicht
unbedingt die Person, die die Handlung ausführt.
Jemand, die eine Handlung absichtlich ausführt, ist das Agens. Agens ist kein
grammatikalischer Begriff sondern eine semantische Rolle.4 Es gibt auch ein Agens in (18b),
nämlich der Pförtner. Das Agens in (18c) ist es ein implizites, generisches Agens, denn der Satz
bedeutet „Es ist (für alle) schwierig, die Türen zu öffnen.“ Das Agens in (18e) ist implizit und
kann generisch sein („Wer auch immer den Schlüssel hat, kann die Türen damit öffnen“) oder
spezifisch („Jemand öffnet die Türen mit dem Schlüssel“). Nur (18d) braucht kein Agens, denn
es ist möglich den Satz so zu deutet, dass die Türen sich automatisch oder wegen des Winds
öffnen.
Maibauer et al. (2007: 152) definieren die wichtigsten semantischen Rollen so:
4
Semantische Rollen werden auch thematische Rollen, Theta-Rollen, oder θ-Rollen genannt.
100
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 6
Das erste Argument in den Klammern ist normalerweise das Subjekt. Das Verb fahren kann ein
Thema als direktes Objekt haben (ich fahre einen Mercedes) oder ein Ziel als PP (ich fahre nach
Hause), also die Argumentstruktur von fahren ist [NPAg, NPTh] oder [NPAg, PPZiel]. Sie können
die Argumentstruktur von weiteren Verben in Übung 9 analysieren.
6.4.1 Tempus
Das Tempus von einem Verb bezieht sich auf die Zeit, in der die Handlung eines Satzes
passiert. Tempus entspricht der physikalischen Zeit jedoch nicht sehr genau. Erstens kann ein
Tempus sich auf unterschiedliche Zeitpunkte beziehen. Das Präsens wird z.B. bei Ereignissen zu
keinem bestimmten Zeitpunkt (21a), in der Gegenwart (21b), in der Zukunft (21c) oder sogar in
der Vergangenheit verwendet (21d).
101
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 6
Zweitens gibt es mehrere Tempora, die sich oft auf die Vergangenheit beziehen
(Präteritum, Perfekt, Plusquamperfekt). Im gesprochenen Deutschen wird das Perfekt oft nicht
vom Präteritum semantisch unterschieden:5
(22) Ich habe gestern Karten gespielt. = Ich spielte gestern Karten.
Im geschriebenen Deutschen ist der Unterschied zwischen diesen Tempora (und zwischen Futur
I und II) nicht unbedingt ein Unterschied in der Ereigniszeit, sondern in der Ereigniszeit relativ
zur Sprechzeit und einer Betrachtzeit. Die Sprechzeit (SZ) ist die Zeit, in der man den Satz
sagt. Die Betrachtzeit (BZ) ist die Zeit, von der man das Ereignis betrachtet. Die Ereigniszeit
(EZ) ist die Zeit, wann das Ereignis eigentlich passiert.6
Im Präsens sind alle drei Zeiten (BZ, EZ und SZ) meistens in der Gegenwart. In den
Sätzen in (23) finden die Ereignisse statt, als die Sätze gesprochen werden, und die Ereignisse
werden aus der selben Zeitperspektive betrachtet:
Im Präteritum passiert das Ereignis vor der Sprechzeit, und das Ereignis wird auch aus
der Perspektive der Vergangenheit betrachet. In (24b) geht es um ein Ereignis, das in der
Vergangenheit abgeschlossen ist, denn der Satz impliziert das Anke nicht mehr Linguistik
studiert. Im Perfekt liegt nur die Ereigniszeit in der Vergangenheit, denn die Handlung wird aus
der Perspektive der Sprechzeit betrachtet (25).
Obwohl Präteritum und Perfekt oft austauschbar sind wie (24a) und (25a), gibt es Kontexte, in
denen man nur das Perfekt benutzen kann. Das ist der Fall, wenn die Betrachtzeit klar der
Sprechzeit entspricht, weil das Ereignis eine Wirkung auf die Sprechzeit hat:
Im Plusquamperfekt ist die Betrachtzeit vor der Sprechzeit, und die Ereigniszeit ist noch
früher. Das Plusquamperfekt kommt oft im Zusammenhang mit dem Präteritum vor, das die
5
Dialekte in Süddeutschland, Österreich und in der Schweiz haben gar kein Präteritum und benutzen stattdessen das
Perfekt mit präteritaler Bedeutung. Diese Eigenschaft hat auch die gesprochene Standardsprache in diesen Regionen
beeinflusst.
6
Folgende Diskussion und Beispiele aus Wöllstein-Leisten et al. (1997: 83-88).
102
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 6
Betrachtzeit darstellt. Z.B. in (27a) wird der ganze Satz aus der Zeit der Ankunft der Mutter
betrachtet; die Ankunft findet dann statt (also Präteritum) aber das Einschlafen geschah schon
vorher (also Plusquamperfekt):
Beim Futur I geht es um ein Ereignis in der Zukunft, das aus der Perspektive der
Sprechzeit betrachtet wird:
Beim Futur II geht es um ein Ereignis, das aus einer zukunftigen Perspektive betrachtet wird.
Hier ist die Betrachtzeit bis Freitag und die Ereigniszeit ist irgendwann vor Freitag (es könnte
vor oder nach der Sprechzeit sein):
Jedoch gibt es auch eine modale Bedeutung vom Futur I & II (s. 6.4.2 unten). Futur I kann eine
Aussage über die Sprechzeit machen, aber drückt aus, dass der Sprecher etwas unsicher ist (30a).
Futur II kann dementsprechend eine unsichere Aussage über die Vergangenheit machen (30b).
(30) a. Er wird jetzt schon da sein. (=Er ist wahrscheinlich schon da.)
b. Er wird schon geschlafen haben. (=Er hat wahrscheinlich schon geschlafen.)
103
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 6
Ein letztes Thema, was Tempus betrifft, ist die Wahl zwischen den Hilfsverben haben
und sein. Die vielleicht wichtigste Regel ist, dass alle transitive Verben haben als Hilfsverb
nehmen. Auch Verben, die oft intransitiv sind, nehmen haben wenn ein direktes Objekt
vorhanden ist (32a-b). Verben mit dem Präfix be- sind transitiv und nehmen deswegen haben
(32c), auch wenn das unpräfigierte Verb intransitiv ist. Reflexivverben nehmen immer haben,
auch wenn es nur um ein formales Reflexivpronomen geht (32d).
Bei intransitiven Verben geht es um die Bedeutung des Verbs. Handlungen, die von
einem Agens kontrolliert werden, nehmen haben:
Intransitive Verben, die eine zielgerichtete Bewegung (34) oder eine Zustandsveränderung (35)
bezeichnen, nehmen normalerweise sein:
Einige dieser Verben können auch mit haben erscheinen, wenn die Bewegung nicht zielgerichtet
ist (36a-b) oder das Ereignis eher als ein andauerender Zustand betrachtet wird (36c-d).
(36) a. Ich habe oft auf der Nordsee gesegelt. (vgl. (34b))
b. Das Paar hat auf dem Ball getanzt. (vgl. (34b))
c. Der Mann hat lange im Flugzeug geschlafen. (vgl. (35a))
d. Das Haus hat stundenlang gebrannt. (vgl. (35b))
Bei manchen Verben gibt es Unsicherheiten. Im Süden des deutschsprachigen Raums tendiert
man, die Verben liegen, sitzen, und stehen mit sein zu benutzen, während Norddeutsche mit
diesen Verben haben vorziehen.
6.4.2 Modalität
Modalverben haben besondere semantische Eigenschaften, die mit dem Begriff Modalität
umfasst werden. Jedes Modalverb hat sowohl eine „objektive“ wie eine „subjektive“ Leseart.
Bei der objektiven Modalität („objektiv“ im Sinne „sachlich, vorurteilslos“) geht es um
die Kernbedeutung der Modalverben. Die objektive Bedeutung eines Modalverbs zeigt ein
104
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 6
Verhältnis zwischen dem Subjekt des Satzes und dem Hauptverb. Dieses Verhältnis kann der
Wille, die Notwendigkeit, die Fähigkeit, das Erlaubnis, u.s.w. des Subjekts sein, die Handlung
auszuführen. Laut Fagan (2009: 166-168) haben die Modalverben die folgenden objektiven
Bedeutungen:
(37) wollen
a. Wille: Willst du mir helfen?
b. Absicht: Er will das Buch kaufen.
c. Zukunft: Er will es nicht zugeben.
(38) müssen
a. Notwendigkeit: Ich muss auf die Toilette gehen.
b. Pflicht: Sie müssen hier parken.
(39) können
a. Möglichkeit: Wir können heute baden gehen, es ist warm genug.
b. Fähigkeit: Du kannst gut schwimmen.
c. Erlaubnis: Du kannst herein kommen.
(40) dürfen
Erlaubnis: Sie dürfen hier parken.
(41) sollen
a. Forderung: Ich soll nicht so viel fernsehen.
b. Zukunft: Das fehlende Stück der Autobahn soll bald gebaut werden.
Wenn man Englisch als Muttersprache hat, muss man auf die negativen Bedeutungen der
Modalverben besonders aufpassen. Etwas nicht müssen bedeutet z.B. die Abwesendheit eines
Pflichts oder einer Notwendingkeit. Ich muss nicht gehen bedeutet also nicht *I must not go
sondern I don’t have to go.
Die subjektive Modalität drückt eine Behauptung oder eine subjektive Einschätzung
aus. Die subjektiven Bedeutungen von müssen, dürfen, mögen und können geben die
Einschätzung des Sprechers über die Wahrheit der Handlung an. Das Hilfsverb werden hat
dieselbe Funktion in seiner modalen Bedeutung. Fagan (2009: 164) gibt diese Verben in dieser
Reihenfolge an, wo der Sprecher in (43a) über die
Handlung am sichersten und in (43f) am wenigsten Mini‐Übung:
sicher ist: In den Sätzen (43a‐f) ist der Sprecher
implizit. Schreiben Sie die Sätze um, in
(43) a. Das muss ein Tippfehler sein. dem der Sprecher im Satz erscheint.
b. Das dürfte ein Tippfehler sein. Beispiel (43a): Ich bin sicher, dass das
c. Das wird wohl ein Tippfehler sein.
ein Tippfehler ist.
7
Mögen wird im Indikativ ohne einen Infinitiv benutzt, wenn es gefallen bedeutet. Also Ich mag Musik bedeutet Mir
gefällt Musik.
105
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 6
Die Verben müssen, werden, und mögen in der subjektiven Bedeutung erscheinen im Indikativ.
Dürfen (43b) kann aber in der subjektiven Bedeutung nur im Konjunktiv II erscheinen und
können erscheint in beiden Modi mit einem Unterschied im Grad der Sicherheit (43e-f).
Bei der subjektiven Bedeutungen von sollen und wollen, ist die Behauptung nicht vom
Sprecher wie bei den meisten subjektiven Modalverben (44a). Wollen drückt aus, dass der Satz
eine Behauptung des Subjekts selbst ist (44b). Bei sollen geht us um eine Behauptung eines
anderen, der entweder der Sprecher noch das Subjekt ist (44c):
(44) a. Anna muss krank sein. > Ich behaupte, dass Anna krank ist.
b. Anna will krank sein. > Anna behauptet, dass sie krank ist.
c. Anna soll krank sein. > Jemand behauptet, dass Anna krank ist.
Das Deutsche hat vier Genera verbi, das Aktiv, das werden-Passiv, das sein-Passiv und
das Mediopassiv. Die Passiva und das Mediopassiv verändern die grammatikalische Erscheinung
der semantischen Rollen eines Satzes. Beginnen wir mit dem Aktiv, in dem das Subjekt eine
Handlung ausführt, verursacht, u.s.w. (45). Diese Subjekte sind oft Agenten, Experiencer, oder
Instrumente. Identifizieren Sie die Thematischen Rollen der NPs in diesen Sätzen:
Im werden-Passiv (oder Vorgangspassiv) wird das Thema des Aktivsatzes zum Subjekt
das Passivsatzes. Bemerken Sie, wie die Akkusativobjekte aus (45) in den Passivsätzen im
Nominativ erscheinen (46). Im werden-Passiv kann das Agens oder Experiencer fakultativ
erscheinen, aber nur in einer PP mit von (46a-b). Andere semantische Rollen erscheinen mit
anderen Präpositionen (46c).
Man kann auch einen Passivsatz aus einem intransitiven Aktivsatz bilden. Diese unpersönlichen
Passiva haben kein echtes Subjekt (47a) sondern nur das Vorfeld-es (47b), denn die aktivischen
Äquivalente haben kein direktes Objekt, das zum passivischen Subjekt werden könnte.
106
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 6
Andererseits kann man kein passivisches Subjekt aus einem Possessor (48a), Rezipient (48b-c),
oder einer PP (48d) bilden. Sie können jetzt Übung 12 machen.
(48) a. Ich habe einen Hund. > *Ein Hund wird von mir gehabt.
b. Ich schenke ihm einen Hund. > *Er wird (von mir) einen Hund geschenkt.8
c. Jemand half mir. > *Ich wurde geholfen.9
d. Der Hund schlief in dem Bett. > *Das Bett wurde (vom Hund) in geschlafen.10
(49) a. Jemand hat die Tür geöffnet. > Die Tür ist geöffnet.
b. *Die Tür ist von jemandem geöffnet.
c. Die Tür ist geöffnet. = Die Tür ist offen.
Ein viertes Genus verbi im Deutschen ist das Mediopassiv, eine Konstruktion zwischen
Aktiv und Passiv.11 Das Mediopassiv ist nach der Form ein aktivisches Verb mit einem
Reflexivpronomen, aber die Bedeutung ist passivisch. Hier geht es um ein Thema, das zum
Subjekt wird (50a). Es kann kein Agens in einer PP erscheinen (50b), denn ein Mediopassiv ist
eine allgemeine Aussage mit einem impliziten generischen Agens. Dieses Rad fährt sich leicht
bedeutet also Alle finden es leicht, dieses Rad zu fahren. Ein Mediopassiv verlangt auch ein
Adverb wie leicht (50c).
(50) a. Jemand fährt dieses Rad. > Dieses Rad fährt sich leicht.
b. *Dieses Rad fährt sich leicht von jemandem/von meiner Frau.
c. *Dieses Rad fährt sich.
8
Dieser Satz kann nur passivisiert werden, indem das Thema zum Subjekt wird: Der Hund wird ihm (von mir)
geschenkt.
9
Im Englischen sind solche Passiva erlaubt: I was helped. Im Deutschen kann man nur ein unpersönliches Passiv
bilden und das Dativobjekt bleibt im Dativ: Mir wurde geholfen.
10
Solche Passiva sind auch im Englischen möglich: This bed was slept in by a dog.
11
Beispiele hier aus Fagan (2009: 175-176). Diese Konstruktion wird in Fagan 1992 ausführlich behandelt.
107
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 6
6.5 Pragmatik
Man kann die Bedeutung eines Satzes verstehen, ohne zu wissen, was der Zweck des
Satzes ist. Nehmen wir als Beispiel den Satz Das Fenster ist geschlossen. Die Semantik erläutert
die Bedeutung von das, Fenster, geschlossen, dem Präsens, dem Zustandspassiv, u.s.w., aber die
Semantik kann nicht erklären, warum man diesen Satz verwendet hat. Der Satz könnte
informativ sein, wenn er auf eine Frage antwortet wie Warum höre ich keine Vögel singen? Der
Satz könnte auch eine implizite Bitte sein, wenn der Sprecher will, dass der Hörer das Fenster
öffnet. Die Pragmatik untersucht die Funktion von Sätzen als sprachliches Handeln mit anderen
Menschen. In der Pragmatik versteht man, dass man die Bedeutung eines Ausdrucks nur in
einem gewissen Kontext verstehen kann:
Kontext
Abb. 1: Die drei Seiten der Sprache12
Ein wichtiger Teil der Pragmatik ist die Analyse von Sätzen als Sprechakte. Die erste
Art Sprechakt ist der Repräsentativ, eine Aussage über Tatsachen in der Welt. Hier geht es
sowohl um den Ausdruck von reinen Fakten (51a) wie von Glauben (51b) und Meinungen (51c):
Vielleicht würden Sie glauben, dass ein Repräsentativ einfach ein Aussagesatz ist, aber ein
Sprechakt entspricht keiner einzelnen Satzart. Ein Repräsentativ muss nicht unbedingt ein
Aussagesatz sein, denn eine Frage kann auch Information mitteilen:
Ein Aussagesatz muss auch nicht unbedingt ein Repräsentativ sein. Er ist nur ein Repräsentativ,
wenn der Sprecher dem Hörer einfach Information mitteilen will. Wenn diese Information den
Hörer motivieren sollte, etwas zu machen, ist es kein Repräsentativ mehr, wie die Aussagesätze
in (53c-d), (54), (56a) und (57) unten zeigen.
Eine andere Art Sprechakt ist der Direktiv, also ein “Versuch des Sprechers, Hörer dazu
zu bringen, etwas zu tun” (Vater 2002: 184). Ein Direktiv kann durch unterschiedliche Satzarten
dargestellt werden:
12
Nach Finegan (2012: 6).
108
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 6
Während (53a) ein Aufforderungssatz ist, ist (53b) eine Frage und (53c-d) sind Aussagesätze.
Trotzdem sind alle Direktiva, weil der Sprecher will, dass der Hörer das Fenster zumacht. Die
Aufforderung in (53a) ist ein direkter Sprechakt, weil seine grammatikalsche Form seinem
pragmatischen Zweck entspricht, und (53b-d) sind indirekte Sprechakte, weil die Form der
Funktion nicht entspricht. Fragen nach Information (Wie spät ist es?) können auch als Direktiva
verstanden werden, denn der Sprecher will, dass der Hörer etwas erzählt. Indirekte Sprechakte
gelten als höflicher, besonders wenn sie im Konjunktiv stehen (53b-c).
In einem Komissiv verpflichtet sich der Sprecher, etwas zu machen. Das könnte ein
Versprechen (54a), eine Absichtserklärung (54b) oder eine Bedrohung (54c) sein. Kommissiva
können auch direkt (54) oder indirekt (55) sein.
Expressiva drücken eine Emotion des Sprechers aus. Dazu gehören sowohl Ausrufe
(56a-b) als auch Gratulationen (56c), Entschludigungen (56d), u.s.w. Auch dieser Sprechakt wird
durch unterschiedliche Satzarten dargestellt:
In einem Deklarativ verwirklicht der Sprecher eine Situation. Man kann z.B. Ich
kündige! als Witz sagen, aber wenn man das seinem Chef sagt, verlässt man im Prinzip die
Arbeitstelle. Um als Deklarativ zu gelten, muss der Kontext richtig sein (z.B. im Büro des Chefs)
und der Sprecher muss die Authorität haben, die Situation zu verwirklichen. Andere Beispiele
von Deklarativa sind:
109
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 6
6.6 Übungen
Übung 1: Entscheiden Sie sich, ob die Bedeutung der folgenden Komposita kompositionell oder
lexikalisch ist.
a. Katzenallergie
b. Katzenfreund
c. Katzenmusik
d. Katzenzunge (Schokolade)
e. Hundearbeit
f. Hundebesitzer
g. Hundeschnauze
h. Hundewetter
i. Löwenanteil
j. Löwenjagd
k. Löwenzahn
l. Partylöwe
Übung 2: Sind die folgenden Paare Homophone oder Polyseme? Bei den Polysemen erklären Sie
die Beziehung zwischen den Bedeutungen.
a. der Ton (Stoff), der Ton (Klang)
b. das Schloss (der Palast), das Schloss (Apparat zum Verschließen)
c. der Bauer (Landwirt), das Bauer (Vogelkäfig)
d. die Decke (eines Betts), die Decke (eines Zimmers)
e. die Kiefer (Baum), der Kiefer (Körperteil)
f. die Birne (Obst), die Birne (elektrische Lichtquelle)
g. der Ball (Sportgerät), der Ball (Tanzveranstaltung)
h. die Bank (Sitzplatz), die Bank (Geldinstitut)
i. klar (transparent), klar (verständlich)
Übung 3: Entscheiden Sie sich, ob die folgenden Wortpaare Synonyme sind. Wenn Sie keine
Synonyme sind, was ist der Bedeutungsunterschied? Bei den Synonymen, wie unterscheiden sich
die zwei Wörter?
a. Bullion, Brühe
b. Mineralwasser, Sprudel
c. abkratzen, sterben
d. Fleischer, Metzger
e. anfangen, beginnen
f. spazieren, wandern
g. Samstag, Sonnabend
h. Fräulein, Mädchen
Übung 4: Sind die folgenden Paare binäre Antonyme, gradierte Antonyme, oder Konversen?
a. schwarz, weiß
b. dick, dünn
110
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 6
c. Lehrer, Schüler
d. freundlich, unfreundlich,
e. verheiratet, ledig
f. innen, außen
g. vorn, hinten
h. hoch, tief
i. höher, tiefer
Übung 5: Sind die folgenden Wörter Hyponyme oder Teile des Ganzen? Nennen Sie das
Hyperonym bzw. das Ganze!
a. Mutter, Vater
b. gehen, fahren, fliegen, laufen
c. Auge, Mund, Nase, Ohr, Haar
d. Finger, Daumen
e. Gabel, Messer, Löffel
f. Tulpe, Rose, Lilie
Übung 6: Entscheiden Sie sich, ob die unterstrichenen NPs a) bestimmt oder unbestimmt, b)
generisch oder partikulär, und wenn partikulär c) spezifisch oder unspezifisch. Bei den
Reflexivpronomina, entscheiden Sie sich ob das Pronomen überhaupt Referenz hat.
a. Das schnellste Auto der Welt ist der Ferrari.
b. Ein Ferrari ist vielleicht nicht das sicherste Auto.
c. Michael hat einen goldenen Ferrari gekauft.
d. Michael sucht einen goldenen Ferrari.
e. Michaels Auto ist schneller als deins.
f. Michael möchte sich den Ferrari kaufen.
g. Ferraris verkaufen sich gut in Deutschland.
Übung 7: Handelt es sich unten um einen Ort/Gegenstand in der Nähe des Sprechers oder weiter
weg?
a. Dieses Buch gefällt mir am besten.
b. Meinst du dieses oder jenes?
c. Kannst du mir ein Stück von DEM Kuchen geben?
d. Es ist so schön hier.
e. Was hast du dort gemacht?
f. Da war ich noch nie.
g. Ich gehe, aber ich bin gleich wieder da.
Übung 8: Bestimmen Sie die semantischen Rollen von den unterstrichenen NPs und PPs:
a. Mir ist kalt.
b. Ich habe Hunger.
c. Ich habe einen Hund.
d. Ich esse kein Schweinefleisch.
e. Ich mag kein Schweinefleisch.
111
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 6
f. Schweinefleisch schmeckt mir nicht.
g. Ich fahre mit dem Bus nach Hause.
h. Ich habe eine Email von ihr bekommen.
Übung 9: Geben Sie die Argumentstruktur von den folgenden Verben an. (Herausforderung:
Verben behalten ihre Argumentstruktur, wenn sie nominalisiert werden. In welcher
grammatischen Form erscheinen die Argumente von Zerstörung? Gabe?)
Beispiel: essen: V (NPAg, NPTh)
a. haben
b. nehmen
c. bekommen
d. zerstören
e. sich schämen
f. treten
g. betreten
h. geben
i. helfen
j. gefallen
Übung 10: Identifizieren Sie das Tempus von jedem Verb(komplex) in den folgenden Sätzen
(aus dem „Froschkönig“ der Brüder Grimm). Erklären Sie das Tempus anhand der Sprech-,
Betracht- und Ereigniszeit. (Beim Perfekt und Plusquamperfekt, erklären Sie die Wahl zwischen
haben und sein.)
a. In den alten Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat, lebte ein König, dessen
Töchter waren alle schön;
b. aber die jüngste war so schön, daß die Sonne selber, die doch so vieles gesehen hat, sich
verwunderte, sooft sie ihr ins Gesicht schien.
c. Nun trug es einmal zu, daß die goldene Kugel der Königstochter nicht in ihr Händchen fiel,
das sie in die Höhe gehalten hatte ...
d. „Ich weine über meine goldene Kugel, die mir in den Brunnen hinabgefallen ist.“
e. Der Frosch, als er die Zusage erhalten hatte, tauchte seinen Kopf unter ...
f. Sie hörte nicht darauf, eilte nach Hause und hatte bald den armen Frosch vergessen...
g. Da sagte der König: „Was du versprochen hast, das mußt du auch halten...“
h. „Nun wirst du Ruhe haben, du garstiger Frosch.“
i. Und als sie ein Stück Wegs gefahren waren, hörte der Königssohn ...
Übung 11: Entscheiden Sie sich, ob die folgenden Modalverben objektiv oder subjektiv
verwendet werden. Schreiben Sie die Sätze um: Zeigen Sie dabei die Bedeutung des objektiven
Modalverbs bzw. den Sicherheitsgrad der Einschätzung des subjektiven Modalverbs (und wer
diese Einschätzung macht).
Beispiele: Er möchte nach Tahiti reisen. > Objektiv: Er hat den Wunsch, nach Tahiti zu reisen.
Er mag nach Tahiti reisen. > Subjektiv: Ich denke, dass er vielleicht nach Tahiti reist.
a. Dürfte ich auf die Toilette gehen?
b. Er dürfte auf der Toilette sein.
112
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 6
c. Das kann keine gute Idee sein.
d. Das kann ich nicht glauben.
e. Sie müssen Herr Livingston sein.
f. Sie müssen mehr lernen.
g. Der Hund soll die Hausaufgaben gefressen haben.
h. Der Schüler soll seine Hausufgaben machen.
i. Der Angeklagte will nicht mit der Polizei sprechen.
j. Der Angeklagte will zum Zeitpunkt des Verbrechens irgendwo anders gewesen sein.
Übung 12: Schreiben Sie die folgenden Sätze ins werden-Passiv um. Wenn ein Passiv nicht
möglich ist, erklären Sie das.
a. 455 zerstörten die Barbarer Rom.
b. Man kann dieses Buch leicht lesen.
c. Die Männer arbeiten auf der Baustelle.
d. Das Kind hat das Fenster geschlossen.
e. Der Kapitän verheiratete die Passagiere.
f. Jemand hilft Ihnen da.
g. Der Vater schenkte seiner Tochter den Wagen.
h. Martin Luther übernachtete in diesem Hotel.
Übung 13: Schreiben Sie die folgenden Sätze ins sein-Passiv oder Mediopassiv um, je nach
deren Bedeutung. Erklären Sie Ihre Wahl. (In einigen Fällen ist sowohl ein sein-Passiv wie ein
Mediopassiv möglich.)
a. Die Barbarer zerstörten Rom.
b. Man kann dieses Buch leicht lesen.
c. Ich habe die Seminararbeit schnell geschrieben.
d. Das Kind hat das Fenster geschlossen.
e. Der Kapitän verheiratete die Passagiere.
f. Autohändler verkaufen oft dieses Auto.
Übung 14: Identifizieren Sie den Sprechakt (Repräsentativ, Direktiv, Komissiv, Expressiv,
Deklarativ) der folgenden Sätze und erklären Sie, ob der Sprechakt direkt oder indirekt ist.
Schreiben Sie den Satz um, um den Sprechakt klarer zu machen. In allen Fällen sind mehrere
Antworten möglich.
Beispiel: Das Fest ist eröffnet! ‐> Deklarativ (indirekt): Hiermit erkläre ich das Fest eröffnet!
a. Das Wetter ist schön heute.
b. Die Musik ist sehr laut.
c. Entschuldigen Sie.
d. Sag das noch einmal!
e. Herzlichen Glückwunsch: Sie haben den Job.
f. Ich werde nie wieder so etwas tun.
113
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 6
Weiterführende Literatur:
Fagan, Sarah M.B. 1992. The Syntax and Semantics of Middle Constructions: A Study with
Special Reference to German. Cambridge, U.K.: Cambridge University Press.
Fagan, Sarah M.B. 2009. German: A linguistic introduction. Cambridge, U.K.: Cambridge
University Press.
Kessel, Katja & Sandra Reimann. 2012. Basiswissen Deutsche Gegenwartssprache. Tübingen
und Basel: A. Francke.
Wöllstein-Leisten, Angelika, Axel Heilmann, Peter Stepan, und Sten Vikner. 2007. Deutsche
Satzstruktur. Tübingen: Stauffenberg.
114
Kapitel 7:
Dialektologie: Regionale Variation in Mitteleuropa
Überblick:
Eine kurze Geschichte der Sprache
Dialekte des modernen Deutschen
Umgangssprache
Standarddeutsch in Deutschland, Österreich und in der Schweiz
7.1 Einführung
Als Sie am Anfang ihres Deutschstudiums waren, haben Sie bereits über
Dialektunterschiede gelernt? Oft lernt man schon am ersten Tag des Deutschunterrichts, dass
man in Bayern und Österreich Grüß Gott aber in den meisten Regionen Guten Tag sagt. Dieses
Kapitel behandelt die deutsche Dialektologie, d.h. die Untersuchung der regionalen Variation in
der Sprache.
Wir brauchen zunächst eine Definition des Wortes Dialekt. Im Volksmund wird das Wort
„Dialekt“ oft negativ benutzt („Das ist keine echte Sprache, sondern nur ein Dialekt.“)
Linguisten sehen Dialekte ganz anders: In der Linguistik gelten alle sprachlichen Varianten als
gleichwertige Kommunikationsmittel. Ein Dialekt ist eine Variante, die in einer spezifischen
Region gesprochen wird. Eine Standardsprache ist auch eine Variante, die überregional ist und
oft geschrieben wird. Eine Sprache ist also die Sammlung von diesen Varianten:
Plattdeutsch
Kölsch Berlin‐
Standardsprache erisch
Deutsch
Bayrisch‐
Schweizerdeutsch Österreichisch
Um die Dialekte des Deutschen besser zu verstehen, brauchen wir eine kurze Einführung
in die Geschichte der Sprache (Teil 7.2). Auf dieser Basis werden wir in Teil 7.3 die wichtigsten
Dialektunterschiede untersuchen. Teil 7.4 behandelt die überregionalen Umgangsprachen und
die Standardsprache. Andere Arten von sprachlicher Variation (Jugendsprache,
Zweisprachigkeit, u.s.w.) werden im Kapitel 8 diskutiert.
sowie einige Sprachen dazwischen wie Kurdisch und Persisch. Man sieht die Ähnlichkeiten
zwischen diesen Sprachen, wenn man die Wörter für Mutter, Fuß und drei vergleicht:
Das Wort für Mutter beginnt mit /m/ in allen Sprachen und hat meistens einen alveolaren Plosiv
und ein /r/. Das Wort für Fuß beginnt in allen Fällen mit einem labialen Konsonanten und hat oft
einen alveolaren Konsonanten danach. Die Nummer 3 beginnt mit einem alveolaren
Konsonanten (oft von einem /r/ gefolgt) und hat als Vokal ein /e/ oder /i/.
Das Indogermanische wird in kleinere Gruppen geteil und das Deutsche befindet sich in
der germanischen Gruppe. Wenn man diesselben drei Wörter in einigen germanischen Sprachen
vergleicht, sieht man viel mehr Ähnlichkeiten:
Vor allem am ersten Konsonanten in Fuß sehen wir, dass das Deutsche mit diesen Sprachen viel
näher verwandt ist als mit den anderen indogermanischen Sprachen. Im Wort für die Nummer
drei sieht man, dass das Niederländische dem Deutschen am ähnlichsten ist.
Indogermanisch
Germanisch … Latein … Slawisch Indo‐Iranisch
Nordgerm. Westgerm. Spanish … Tschechisch … Persisch Hindi
Schw. Isl. … Engl. Fries. Niederl. Deutsch
Niederdt. Hochdeutsch
Abb. 2: Ein abgekürzter Stammbaum des Deutschen
1
Daten für das Westfriesische von http://dictionaries.travlang.com/EnglishFrisian/. Mutter hieß im Altfriesischen
moder, also das moderne Wort mem ist wahrscheinlich von einem Kosenamen, wie Mama oder Mom.
116
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 7
117
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 7
Abb. 3: Die hochdeutsche Lautverschiebung (König 1994: 64)
Diese Entwicklung fand während der frühneuhochdeutschen Zeit statt und hat hauptsächlich die
mitteldeutschen Dialekte betroffen:
2
Bemerken Sie, dass <ie> im modernen Deutschen den langen Monophthong /i:/ darstellt, auch wenn es mit zwei
Buchstaben geschrieben wird.
118
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 7
Wie die Monophthongierung, hat die Diphthongierung nicht alle Dialekte betroffen:
119
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 7
Auch so ein formeller Text wurde im Dialekt geschrieben! Man merkt das Fehlen der
Diphthongierung (dyn rich statt dein reich), mitteldeutsche Konsonanten (d statt t in hude und
doen, f statt b in vergijff) und regionale Schreibweisen für lange Vokale (<oi> für /o:/, <ij> für
/i:/ und <oe> für /u:/).
Woher kommt also die moderne Standardsprache? Viele Lerner des Deutschen haben
den Eindruck, dass die Standardsprache aus Norddeutschland kommt. Das kann aber nicht der
3
Aus Ernst (2005: 140).
120
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 7
Fall sein, denn die Dialekte im Norden sind Niederdeutsch und haben ein ganz anderes
Konsonantensystem als das Hochdeutsche! Wenn man die hochdeutsche
Konsonantenverschiebung und die frühneuhochdeutsche Diphthongierung und
Monophthongierung in Betracht nimmt, sieht es so aus, als ob die Konsonanten der
Standardsprache aus dem Oberdeutschen und die Vokale aus dem Mitteldeutschen stammen.
Wie ist diese Situation entstanden?
Die Entwicklung einer überregionalen Schriftsprache begann schon in der
frühneuhochdeutschen Zeit. Nach der Erfindung des Buchdrucks von Johannes Gutenberg
(1450) konnten Texte sehr schnell produziert werden. Die Drucker wollten, dass ihre Bücher von
einem breiten Publikum gelesen wurden, und wählten oft Formen aus anderen Regionen.
Drucker im Südosten haben also mitteldeutsche Vokale verwendet, während Drucker im
ostmitteldeutschen Raum den oberdeutschen Konsonanten <pf> benutzten. Dieser Kompromiss
wurde dann im Rheinland und in der Schweiz übernommen. Die Bibelübersetzung von Martin
Luther (1534) wurde in dieser überregionalen Sprache gedruckt. Weil Luthers Bibel in
protestantischen Kirchen im Norden benutzt wurde, wurde die norddeutsche Schriftsprache
langsam durch die hochdeutsche Schriftsprache ersetzt. Wegen der großen Unterschiede
zwischen Niederdeutsch und Hochdeutsch war diese hochdeutsche Schriftsprache praktisch eine
Fremdsprache im Norden.
Obwohl der Kompromiss zwischen Mittel- und Oberdeutsch zur Basis für die deutsche
Schriftsprache wurde, gab es lange keine einheitlichen Regeln zur Rechtschreibung. Im Laufe
der 17., 18. und 19. Jahrhunderte versuchten viele Dichter, Gesellschaften und Grammatiker, die
geschriebene Sprache zu normieren. Jedoch gab es erst 1876 die erste internationale
Rechtschreibkonferenz in Berlin. Auf einer zweiten orthographischen Konferenz in 1901wurden
Reformen angenommen, die im Deutschen Reich, in Österreich und in der Schweiz verbindlich
waren. Diese Reformen wurden 1902 im Orthographischen Wörterbuch vom Schulleiter Konrad
Duden veröffentlicht.
Es gab zu dieser Zeit auch keine normierte Aussprache des Deutschen. Das kann man
auch in der klassischen deutschen Literatur sehen. Goethe reimte wegen seines hessischen
Dialekts Zweifel mit Teufel (beide mit /ai/) und Schiller reimte wie im Schwäbischen gehn ~
Höhn und Miene ~ Bühne.4 Vor allem im Theater wollten Dichter eine überregionale Aussprache
und Goethe schlug die norddeutsche Aussprache vor: “Die Aussprache der Norddeutschen ließ
im Ganzen wenig zu wünschen übrig. Sie ist rein und kann in mancher Hinsicht als musterhaft
gelten.”5 Weil Sprecher des Niederdeutschen das Hochdeutsche als zweite Sprache lernen
mussten, haben sie einen geschriebenen Text so gelesen, wie er buchstabiert wurde. Tatsächlich
wurde die norddeutsche Aussprache zur Sprache des Theaters nach der Veröffentlichung der
Deutschen Bühnenaussprache (1898) von Theodor Siebs. Diese etwas künstliche
Bühnenaussprache wurde dann zur Basis der Aussprache in den Massenmedien im 20.
Jahrhundert. Das führt zum Eindruck, dass das “richtige” Hochdeutsch in Norddeutschland
gesprochen wird, obwohl Hochdeutsch ursprünglich aus den mittleren und südlichen Teilen des
deutschen Sprachraums stammte.
4
Schmidt (1996: 146).
5
Schmidt (1996: 147).
121
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 7
Abb. 6: Die Dialekte des Deutschen und Niederländischen ca. 1920 (Niebaum & Macha 1999:193)
122
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 7
(Haus) aber nicht von der Monophthongierung (guat). Das Suffix für Diminutiva heißt nicht -
chen oder -lein sondern einfach -l, woher wir im Standarddeutschen Wörter wie Mädel, Semmel
und Schnitzel haben.
Die südwestlichen Dialekte heißen oft Allemanisch. Ein klares Kennzeichen für diese
Dialekte ist die Aussprache von st: Während die Standardsprache [ʃt] nur am Wortanfang hat,
wird st im Allemanischen immer [ʃt] ausgesprochen (du bischt, erschtens, Donnerschtag, u.s.w.)
Diminutiva im Allemanischen enden auf -le oder -li.
Ein bekannter allemanischer Dialekt ist das Mini‐Übung:
Schwäbische, das im östlichen Baden-Württemberg Warum hat Friedrich Schiller, ein
und im westlichen Bayern gesprochen wird. Wie das geborener Schwabe, Höhn mit
Bairische nimmt Schwäbisch an die Diphthongierung gehn und Bühne mit Miene
aber nicht die Monophthongierung teil (Haus, guat) gereimt?
und hat Entrundung von ö und ü.
Ein zweites sehr wichtiges Dialektgebiet ist Hochallemanisch oder Schweizerdeutsch.
Schweizerdeutsch wurde weder von der Diphthongierung noch der Monophthongierung noch der
Entrundung betroffen, also das Vokalsystem ist dem Mittelhochdeutschen noch sehr ähnlich
(Hūs, guat, müed). Das Schweizerdeutsche hat die hochdeutsche Lautverschiebung weiter
geführt als andere Dialekte, indem auch k am Wortanfang zu /x/ wurde (also Kind heißt Chind.)
Es gibt auch kein /ç/, sondern <ch> wird immer /x/ ausgesprochen (ich heißt [ɪx]). Das r in der
Schweiz ist schließlich ein alveolares /r/, das auch am Wortende ausgesprochen wird (also
[mʊtər] statt [mʊtɐ]).
Charakteristisch für das Mitteldeutsche ist ein Konsonantensystem, das nur teilweise die
hochdeutsche Lautverschiebung zeigt. Jeder mitteldeutsche Dialekt hat die Verschiebungen von
k zu ch (machen) und t zu ts (Herz), aber kein mitteldeutscher Dialekt hat p zu pf (Appel statt
Apfel; Pund oder Fund statt Pfund). Der Status von den anderen Konsonanten kommt auf den
Dialekt an (s. unten). Diminutiva in diesen Dialekten enden meistens auf -chen. Die meisten
mitteldeutschen Dialekte haben die frühneuhochdeutsche Diphthongierung (Haus) und
Monophthongierung (gut). Einige Dialekte behalten die vorderen, gerundeten Vokale (müd) und
andere haben noch das wortfinale /ə/ (müde oder miede).
Das Ostmitteldeutsche (Thüringisch, Sächsisch) hat alle Teil der Lautverschiebung außer
p zu pf. Wortintern bleibt p unverschoben (Appel) und am Wortanfang wird es zu f (Fund).
Das Westmitteldeutsche zeigt mehr Variation, wie in Abb. 3 zu erkennen ist. Im Norden
(um Köln) gibt es die hochdeutsche Lautverschiebung am wenigsten, z.B. man sagt dat und dorp
für das und dorf. Weiter südlich (entlang der Mosel) sagt man das aber immer noch dorp.
Südöstlich davon (Hessisch, Pfälzisch) spricht man beide Wörter mit den verschobenen
Konsonanten aus (das, dorf).
Berlinerisch kann auch als mitteldeutscher Dialekt eingeordnet werden, denn es zeigt eine
Mischung von nieder- und hochdeutschen Eigenschaften. Die Konsonanten sind meist
verschoben, mit den Ausnahmen von den Wörtern ik, dat, wat und et. Der Laut g wird [j]
ausgesprochen (janz jut für ganz gut). Eine grammatikalische Einzelheit von diesem Dialekt ist
die Verwechslung von Akkusativ und Dativ (ik liebe dir), die aus niederdeutschem Einfluss
entstanden ist.
123
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 7
7.3.3 Niederdeutsch
Charakteristisch für die niederdeutschen Dialekte (auch Plattdeutsch genannt) ist die
völlige Abwesenheit der hochdeutschen Konsonantenverschiebung. Also das
Konsonantensystem des Niederdeutschen ist dem Konsonantensystem des Niederländischen und
des Englischen sehr ähnlich. Andere phonologische Unterschiede zwischen Niederdeutsch und
Hochdeutsch sind die Abwesenheit der frühneuhochdeutschen Diphthongierung (Hus) und das
Behalten der Umlautvokale und des wortfinalen -ə (möde). Es gibt auch starke grammatikalische
Unterschiede vom Hochdeutschen. Erstens gibt es in den meisten niederdeutschen Dialekten nur
einen Kasus für Objekte (z.B. mi für beide mich und mir). Zweitens gibt es nur eine Form des
Verbs im Plural: Einige Dialekte haben wi/ji/si maken und andere haben wi/ji/si makt.
Diminutiva werden mit -ken gebildet. Der Wortschatz sieht oft dem Englischen und
Niederländischen sehr ähnlich aus (he für er, Pott für Topf, lütt für klein).
Das Niederdeutsche ist also in vielen Hinsichten dem Niederländischen ähnlicher als dem
Hochdeutschen. Im Mittelalter war Niederdeutsch auch eine geschriebene Sprache und die
Europäische Union betrachtet Niederdeutsch noch heute als eine selbständige Minderheitsprache.
Jedoch kann man Niederdeutsch als einen Dialekt des Deutschen in dem Sinn betrachten, dass
Sprecher des Niederdeutschen Deutsch als ihre Hochsprache benutzen. (Sie können jetzt Übung
3 machen.)
Bis jetzt haben wir uns die Sprachsituation so vorgestellt, dass es nur zwei Arten von
Deutsch gibt--die Standardsprache und die Dialekte. Die Lage ist eigentlich viel komplizierter,
denn Dialekt und Standardsprache befinden sich eher auf einer Skala. Auf der einen Seite dieser
Skala gibt es die Dialekte, die geographisch begrenzt sind, sich von einem Ort zum anderen sehr
unterscheiden, und sehr informell sind. Auf der anderen Seite der Skala ist die Standardsprache,
die international benutzt wird, linguistisch sehr einheitlich ist, und relativ formell ist. Die
Varietäten in der Mitte dieser Skala nennen wir Umgangssprachen. Eine Umgangssprache ist
„die gesprochene Sprache im Alltag“ (Kessel & Reimann 2012: 143). Eine Umgangsprache ist
überregional, unterscheidet sich weniger von Stadt zu Stadt als die Dialekte, und wird in
informellen und auch relativ formellen Kontexten benutzt.
Obwohl die Umgangsprache einer bestimmten Region durch die umgebenden Dialekte
beeinflusst wird, gibt es viele Merkmale, die es in allen Umgangsprachen ohne regionale
Beschränkung gibt. Erstens gibt es Reduktionen und Kontraktionen von Funktionswörtern:
124
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 7
Drittens gibt es Vokabeln, die als umgangsprachlich gelten, wie kriegen statt bekommen, zu statt
geschlossen, mies statt schlecht, Quatsch statt Unsinn, u.s.w. Man benutzt oft die
“Allerweltswörter” machen, tun und Ding, wo man in der Standardsprache eher nuancierte
Wörter verwenden würde (handeln, ausführen, unternehmen, Gegenstand, Objekt, u.s.w.) Zum
Schluss hat die Umgangssprache seine eigenen grammatikalischen Strukturen, wie Artikel mit
Vornamen (der Hans), Partikel wie doch und mal, das Fehlen des Genitivs (wegen dem Wetter),
weil als koordinierende Konjunktion (weil ich habe keine Zeit) und das Perfekt als einzige
Vergangenheitstempus.9
Trotz des überregionalen Charakters der Umgangsprache gibt es einige Unterschiede
zwischen den Umgangsprachen im Norden und im Süden des deutschsprachigen Raums. Diese
Unterschiede sind im Wortschatz (7), Phonologie (8) und Grammatik (9):10
8
Siehe Hall (2003: 138-157) für Details zu Assimilation und anderen phonologischen Prozessen in formellem und
informellem gesprochem Deutsch.
9
Beispiele aus Kessel & Reimann (2012: 143), Fagan (2009: 249) und Schmidt (1996: 150).
10
Einige Beispiele sind aus Schmidt (1996: 150), andere aus Fagan (2009: 216-219).
125
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 7
Die Umgangsprache in (10b) hat seinen Wortschatz hauptsächlich von der Standardsprache
(heute Abend statt heute auf der Nacht), aber die umgangsprachliche Aussprache ist ein
Kompromiss zwischen der Standardsprache und dem Dialekt (z.B. in heit ist der Vokal wie im
Dialekt, aber ohne n). Eine Form, z’Haus, existiert nur in der Umgangssprache. (Sie können jetzt
Übung 4 und Übung 5 machen.)
Wie wir in 7.2 oben sahen, benutzen Linguisten den Begriff „Hochdeutsch“, um alle
Dialekte zu bezeichnen, die in der hochdeutschen Lautverschiebung teilnahmen. Um die
formelle, oft geschriebene Form des Deutschen zu bezeichnen, können wir die Begriffe
Standarddeutsch, Standardsprache oder Hochsprache benutzen. Kessel & Reimann definieren
die Standardsprache als „die überregionale, schriftnahe Sprache, die in der Regel nicht die
primäre Sprache im Spracherwerb darstellt“ (2012: 140). Eine Standardsprache ist normiert, d.h.
dass es Grammtiken und Wörterbücher gibt, die bestimmen, wie man die Sprache schreiben
sollte. Das Standarddeutsch wird im deutschsprachigen Raum als Unterrichtsmittel benutzt, und
fast alle Sprecher des Deutschen verwenden die Standardsprache, wenn sie schreiben.
Das Standarddeutsche ist vor allem eine geschriebene Sprache. Jedoch wird die
Standardsprache in offiziellen, öffentlichen Kontexten wie in den Medien, im Theater, im
politischen Diskurs, bei wissenschaftlichen Treffen, u.s.w. benutzt. Die Aussprache des
Standarddeutschen ist durch Aussprachewörterbücher normiert. Die Standardsprache wird an
fremdsprachige Lerner als das korrekte Deutsch unterrichtet.
Deutsch ist die offizielle Sprache in Deutschland, Österreich und Liechtenstein, eine von
drei offiziellen Sprachen von Luxemburg (mit Luxemburgisch und Französisch) und Belgien
(mit Niederländisch und Französisch) und eine von vier offiziellen Sprachen der Schweiz (mit
Französisch, Italienisch und Rätoromanisch). Das Deutsche hat auch offiziellen Status in der
126
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 7
7.5 Übungen
Übung 1: Hochdeutsche Lautverschiebung: Benutzen Sie die hochdeutsche Lautverschiebung,
um von den folgenden niederdeutschen Wörtern ein hochdeutsches Wort abzuleiten. Erklären Sie
Ihre Wahl:
a. Vadder
b. Döör
c. hüppen
d. Plumm
e. schimpen
f. anropen
g. hopen
h. twee
i. Lent
127
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 7
j. sitten
k. sat
l. beter
m. Kinner
n. söken
o. ick
Übung 2: Frühneuhochdeutsche Monophthongierung und Diphthongierung: Erklären Sie die
Unterschiede zwischen den unterstrichenen Vokalen und ihren modernen Äquivalenten:
Got vater unser, dâ du bist in dem himelrîche gewaltic alles des dir ist,
geheiliget sô werde dîn nam, zuo müeze uns komen das rîche dîn.
Dîn wille werde dem gelîch Hie ûf der erde …
(aus dem mittelhochdeutschen Vaterunser, Ernst 2005: 101)
a. himelrîche
b. dîn
c. zuo
d. müeze
e. hie
f. ûf
Ein ritter sô gelêret was, daz er an den buochen las, swaz er daran geschriben
vant, der was Hartmann genant, dienstman was er z Ouwe. … dar an
begunde er suochen … dâ mite er sich möhte gelieben den liuten.
(aus Dem armen Heinrich von Hartmann von Aue)
g. buoch
h. dienst
i. suochen
j. lieben
k. liute
Übung 3: Entscheiden Sie sich, ob die folgenden Texte Niederdeutsch, Mitteldeutsch, oder
Oberdeutsch sind. Erklären Sie Ihre Wahl anhand der hochdeutschen Lautverschiebung.
(Herausforderung: Bei den Mittel- und Oberdeutschen Texten, versuchen Sie, den Dialekt näher
zu bestimmen.)11
a. En chüele Wind strycht über s Land und bewegt daa und deet es Gresli. D Luft isch na chalt,
und wänn e Bluem wott uufgaa, so verschrickt si ab der Chüeli und planget uf der
Wëërmi vo der Sune.
b. Sehr viel, is‘ ja überhaupt nicht wiederzuerkennen. ... det sieht ja heute furchtbar aus. Ik
kann mir det ooch gar nicht angucken. ... Ja, zweiundfuffzich hat denn wohl meine
Tochter jeheiratet, und denn kam Peter vierundfuffzig uff da Welt. Na ja, denn ging et
eigentlich denn, kam paar bessre Jahre, denn mußte mein Mann uff Rente gehn, weil er
schwere Arteriosklerose hatte, nich‘, der hat ‘n Beipaß jekriegt ...
11
Texte aus Fagan (2009: 234), Stevenson (1997: 79- 80), Russ (1994: 38) und Grimm („Von dem Fischer un syner
Fru“).
128
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 7
c. Avv und zo merk ich dann, wie joot et dunn kann,
wemmer Luftschlösser baut un op Zufäll vertraut,
janix mieh plant, op janix mieh waat, nur su.
Dann weet alles verdräng, weil sons nix mieh jet bring,
weil sons himmelblau grau weet und mir alles zovill weet
weil em jeden Jedanke e Bild vun dir steck, jank weg.
d. Drauss tuats schneebebberln
koid [=kalt] blost der Wind.
Jetz gschiecht, was gescheng muaß
fürs himmlische Kind.
e. Dar wöör maal eens en Fischer un syne Fru, de waanden tosamen in’n Pißputt, dicht an der
See, un de Fischer güng alle Dage hen un angeld: un he angeld un angeld. So seet he
ook eens by de Angel un seeg jümmer in dat blanke Water henin: un he seet un seet.
Do güng de Angel to Grund, deep ünner, un as he se heruphaald, so haald he enen
grooten Butt heruut. Do säd de Butt to em „hör mal, Fischer, ik bidd dy, laat my lewen,
ik bün keen rechten Butt, ik bün’n verwünschten Prins. Wat helpt dy dat, dat du my doot
maakst? ik würr dy doch nich recht smecken: sett my wedder in dat Water un laat my
swemmen.“ „Nu,“ säd de Mann, „du bruukst nich so veel Wöörd to maken, eenen Butt,
de spreken kann, hadd ik doch wol swemmen laten.“
Übung 4: Transkribieren Sie die folgenden Sätze zweimal-- einmal in eine standardsprachliche
Aussprache und einmal in die Umgangssprache:
a. Gehen wir in den Zoologischen Garten.
b. Ich habe keine Ahnung.
c. Hast du ihn gesehen?
d. Das kann man nicht sagen.
Übung 5: Schauen Sie die folgenden umgangsprachlichen Texte an und schreiben Sie sie in die
Standardsprache um:12
a. Hätt’st Lust, heut’ mit ins Kino zu gehen? Dort soll so’n neuer Streifen mit Antonio
Banderas laufen. – Hmm, ach nee, is‘ zwar lieb gemeint, aber ich hab schon was vor.
Ich treff‘ Nicole, weißte, und wir wollten heut‘ mal richtig einen drauf machen
zusammen mit Frank und ... na, jetzt fällt mir der ihr Name net ein ... du weißt scho,
die Dings, ... ah ja – Michaela. Magst vielleicht auch mit?
b. Die Fete in der Aula von der High School stattgefuden, und wie wir drin waren, hab ich
mit ‘n paar von den andern das Klo gesucht. Aber wie ich den Reißverschluß
aufmachen will, geht der nich runter, weil da is ‘n Hemdzipfel eingeklemmt. Wie ich
‘ne Zeitlang dran rumprobiert hab, geht ‘n netter kleiner Kerl von ‘ner gegnerischen
Schule den Trainer suchen, und der kommt mit den zwei Gorillas, und sie probieren,
ob sie meine Hose nich aufkriegen.
12
Aus Kessel & Reimann (2012: 143) und Stevenson (1997: 84).
129
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 7
Übung 6: Entscheiden Sie sich, aus welchem Land die folgenden standardsprachlichen Texten
stammen. Erklären Sie Ihre Wahl.13
a. Der Höhepunkt jeder ... Mahlzeit aber ist die ‘Mehlspeis‘ . Eigentlich eine falsche
Bezeichung, denn zur Zubereitung wird zwar Mehl verwendet, was jedoch geschickt
durch die Beigabe von Schlagobers oder ähnlichem vertuscht wird. Die besonderen
Spezialitäten sind gewiß warme Mehlspeisen wie Strudel, wiederum in tausend
Variationen, Aufläufe, Palatschinken, Schmarren, ... und Fruchtknödel. ... Ob warm
oder kalt, immer aber süß und sehr gehaltvoll, bringt sie jeden Kalorienberechner in
unlösbare Konflikte. Zur Mehlspeise trinkt man meist noch eine Schaler Kaffee, auf
diese oder jene Art zubereitet, mit oder ohne Milch, mit oder ohne Schlag, je
nachdem.
b. Der ... Autocar [= Reisebus] verweigerte dem Velofahrer den Vortritt und drängte ihn
über das Strassenbord hinaus. Der Velofahrer, ein Ausläufer der Konfisierie Müller,
trug ein Hutte [=einen Rückentragkorb] und erlitt deshalb beim Sturz Verletzungen.
Der Carführer wurde gebüsst [= musste eine Geldstrafe bezahlen]; sein Anwalt
gelangte aber an die höhere Instanz. Er machte geltend, dass der Gebüsste wegen
den beidseitig parkierten Autos und Camions sowie den Bretterbeigen [=Stapeln] vor
der Sägerei Lorenz den Burschen nicht rechtzeitig habe sehen können. Ausserdem
hätten Kinder, die bei der Papeterie Meyer Trottinett [=Roller] fuhren, die
Aufmerksamkeit des Chauffeurs erheischt, ebenso eine Gruppe von Wehrmännern,
die sich eben beim Lebhag [=Hecke] rechts von der Strasse besammelte. Nach
Ausweis des Fahrtenschreibers sei der Car in Tat und Wahrheit bloss mit fünfzig und
nicht, wie von Zeugen behauptet, mit siebzig Stundenkilometern gefahren.
Weiterführende Literatur:
Boase-Beier, & Ken Lodge. 2001. The German Language: A Linguistic Introduction. Oxford:
Blackwell.
Digitaler Wenker-Atlas, Jürgen Erich Schmidt & Joachim Herrgen (Hg.). www.diwa.info
Ernst, Peter. 2005. Deutsche Sprachgeschichte. UTB basics. Wien: WUV Facultas.
Fagan, Sarah M.B. 2009. German: A linguistic introduction. Cambridge, U.K.: Cambridge
University Press.
Grimm, Jacob & Wilhelm Grimm. 1993. Die Märchen der Brüder Grimm. München: Goldmann.
Hall, Christopher. 2003. Modern German Pronunciation: An introduction for speakers of
English. Manchester: Manchster University Press.
Kessel, Katja & Sandra Reimann. 2012. Basiswissen Deutsche Gegenwartssprache. Tübingen
und Basel: A. Francke.
König, Werner. 1994. dtv-Atlas zur deutschen Sprache. München: Deutscher
Taschenbuchverlag.
Niebaum, Hermann und Jürgen Macha. 1999. Einführung in die Dialektologie des Deutschen.
Tübingen: Niemeyer.
13
Aus Russ (1994: 72, 96).
130
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 7
Russ, Charles. 1994. The German Language Today: A Linguistic Introduction. London:
Routledge.
Schmidt, Willhelm. 1996. Geschichte der deutschen Sprache. Stuttgart: Hirzel.
Stevenson, Patrick. 1997. The German Speaking World: A practical introduction to
sociolinguistic issues. London: Routledge.
131
Kapitel 8:
Soziolinguistik: Soziale Variation im Deutschen
Überblick:
Soziolekte: Gastarbeiterdeutsch, Jugendsprache, Fachsprachen
Deutsch im Sprachkontakt
Geschlechtsneutralität
Anglizismen
Höflichkeit
8.1 Einführung
Im letzten Kapitel haben wir die regionale Variation im Deutschen untersucht. Es gibt
aber auch andere Arten von Variation, die nicht regional beschränkt sind. Die Untersuchung von
Varietäten, die eher sozial als regional differenziert werden, heißt Soziolinguistik. Varietäten,
die von bestimmten sozialen Gruppen gesprochen werden, heißen Soziolekte (Teil 8.2). Einige
Sprecher können sogar zwischen unterschiedlichen Sprachen wählen, vor allem in
mehrsprachigen Regionen (8.3). Andere soziolinguistische Themen werden in Teil 8.4 behandelt.
8.2 Soziolekte
Ein Soziolekt ist eine Varietät der Sprache, die von einer bestimmten Gruppe benutzt
wird. Soziolekte unterscheiden sich von Dialekten, in dem sie nicht unbedingt zu einer gewissen
Region gehören, sondern zu einer sozialen Gruppe (die regional oder überregional sein kann).
Ein Beispiel von einem regional beschränkten Soziolekt ist die Seemannssprache, die sich auf
das Niederdeutsch basiert aber ihren eigenen Fachwortschatz hat. In diesem Teil untersuchen wir
Soziolekte, die nicht regional gebunden sind, nämlich das Deutsche der Einwanderer (und ihre
Kinder), die Jugendsprache, und die Fachsprachen der Linguisten und Juristen.
In den 1960er und 1970er kamen viele Migranten aus Griechenland, Italien, Jugoslawien
und der Türkei als sogenannte Gastarbeiter nach Westdeutschland. Sie mussten schnell und
meistens ohne Unterricht Deutsch lernen, woraus sich eine Varietät namens
Gastarbeiterdeutsch entwickelte. Gastarbeiterdeutsch ist eine Überbrückungssprache für
Menschen, die zu Hause ihre Muttersprache sprechen, aber am Arbeitsplatz mit ihren
Mitarbeitern Deutsch sprechen müssen.
Obwohl Gastarbeiterdeutsch sich stark von Sprecher zu Sprecher unterscheiden kann,
gibt es die folgenden Tendenzen.1 Erstens fehlen Funktionswörter wie Artikel, Präpositionen und
das Verb sein. In (1b) fehlt sogar das Verb bekommen:
1
Merkmale und Beispiele des Gastarbeiterdeutsch aus Fagan (2009: 269-271).
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 8
Drittens ist die Wortfolge oft Subjekt-Verb-Objekt (3a-b), und trennbare Präfixe werden nicht
vom Verb getrennt (3b):
In (3a) sieht man auch, dass nix in negativen Sätzen allgemein benutzt wird, wo man im
Standarddeutschen zwischen nicht, nichts, nie und kein wählen muss. (Sie können jetzt Übung 1
versuchen.)
In den letzten Jahren haben Linguisten bemerkt, dass die in Deutschland geborenen
Kinder von Migranten eine neue Varietät sprechen. Diese Varietät wird manchmal Kanak Sprak
genannt, aber dieser Begriff hat negative Konnotationen und impliziert, dass es nur von
Menschen mit Migrationshintergrund gesprochen wird.2 Ein neuerer Name dafür ist
Kiezdeutsch, von dem berlinerischen Wort Kiez „Stadtteil“.3 Der Name Kiezdeutsch ist eher
positiv und impliziert nicht, dass es nur von Menschen mit einem bestimmten Hintergrund
benutzt wird. Kiezdeutsch wird von jüngeren Menschen aller Ethnizitäten (auch ohne
Migrationshintergrund) gesprochen, vor allem in Stadtteilen mit einer hohen Anzahl von
Einwanderern.
Während Gastarbeiterdeutsch eine Überbrückungsprache für ausländische Arbeiter ist, ist
Kiezdeutsch eine erste Sprache für Menschen, die in Deutschland aufgewachsen sind. Eine
Eigenschaft von Kiezdeutsch ist eine Anzahl von Entlehnungen aus Türkisch (Lan ‚Mann‘) und
Arabisch (wallah ‚echt‘, ursprünglich ‚und Allah‘). Allerdings wird die Aussprache und Flexion
dieser Wörter eingedeutscht und sie werden auch von Sprechern verwendet, die kein Türkisch
oder Arabisch können. Zweitens fehlen viele Funktionswörter wie der Artikel ein in (4a) und die
Präposition zum in (5a). Drittens bleiben einige Wörter unflektiert wie mein in (4b).
Allerdings sind diese Abweichungen von der standardsprachlichen Grammatik viel begrenzter
als in Gastarbeiterdeutsch, wie man an den Funktionswörtern das, ist und mein sieht (4b), sowie
an den flektierten Verben ist und hast.
Viertens hat Kiezdeutsch neue grammatikalische Konstruktionen entwickelt. Eine
Konstruktion ist die Aufforderung mit einem Aufforderungspartikel lassma oder musstu:
2
“Kanake” ist ein Schimpfwort für Menschen mit Herkunft in Südeuropa oder im nahen Osten.
3
Die folgende Beschreibung basiert sich auf dem Artikel von Wiese (2010). Noch ausführlicher ist Wieses Buch
(2012) und Internetseite http://www.kiezdeutsch.de/.
133
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 8
Dass musstu wirklich ein Partikel ist und nicht einfach ein verschmolzenes musst du, erkennt
man an der Bedeutung, denn (5b) kann sowohl singular (‚halt hier an‘) als auch plural sein
(‚haltet hier an‘). Eine andere neue Konstruktion ist eine Verwendung von so, die es in der
Standardsprache nicht gibt:
Hier ist so nicht ein Adverb (‚in dieser Weise‘) sondern ein Fokuspartikel: Es steht direkt vor der
wichtigsten Konstituente in jedem Teilsatz. Weil diese Konstruktionen nicht unter Einfluss einer
Fremdsprache entstanden sind, und weil die Sprecher des Kiezdeutschen nicht unbedingt eine
andere Sprache sprechen, kann man nicht sagen, dass Kiezdeutsch eine Mischsprache ist. Vielmehr
ist Kiezdeutsch eine Varietät des Deutschen, die von einer bestimmten sozialen Gruppe
gesprochen wird, also ein Soziolekt. (In Übung 2 können sie weitere Beispiele von Kiezdeutsch
untersuchen.)
8.2.2 Jugendsprache
Der Soziolekt vieler Jugendlichen heißt die Jugendsprache. Charakteristisch für die
Jugendsprache ist Slang, Vokabeln die schnell in die Mode kommen und dann aus der Mode
wieder gehen. Slang wird verwendet, um zu zeigen, dass man zu der sozialen Gruppe gehört, und
um ältere Leute auszuschließen. Es gibt viele Ausdrücke für Themen, die vor allem Jugendliche
interessieren, wie „betrügen,“ „in der Schule abwesend
sein,“ „Alkohol,“ „Junge,“ „Lehrer/Lehrerin,“ Mini‐Übung:
„Mädchen,“ usw. Diese Ausdrücke sind oft Wörter aus Denken Sie an Slang in Ihrer
dem normalen Wortschatz aber mit einer Muttersprache. Gibt es ähnliche
Bedeutungsveränderung, z.B. Hase als Bezeichnung für Tendenzen wie im Deutschen?
„Mädchen“. Einige Ausdrücke der früheren
Jugendsprache sind jetzt allgemein bekannt, wie prima und geil (im Sinne ‚cool’).
Die Jugendsprache (genau wie die Standardsprache) kann auch neue Wörter durch
Präfigierung (7), Suffigierung (8), Komposition (9) und Reduktion (10) bilden:4
4
Beispiele in diesem Teil aus Russ (1994: 48-52), Fagan (2009: 263-264) und Kessel & Reimann (2012:145).
134
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 8
Ein anderes Merkmal der Jugendsprache ist die große Anzahl an Anglizismen, d.h.
Entlehnungen aus dem Englischen. Es gibt auch Anglizismen in der Standardsprache (s. 8.4.2
unten) aber die jugendsprachlichen Anglizismen zeigen oft die Bedeutungsveränderungen (11a-
b) und Wortbildungsprozesse (11b), die für die Jugendsprache typisch sind:
Auch typisch für die Jugendsprache ist die Verwendung von Intensifikatoren (oder
Gradadverbien), d.h. Adverbien, die ein Adjektiv verstärken. Beispiele von standardsprachlichen
Intensifikatoren sind ganz und sehr. In der Jugendsprache gibt es viele weitere Intensifikatoren
wie echt, total, voll und sogar porno. Die Jugendsprache erlaubt mehr als einen Intensifikatoren
vor einem Adjektiv (12a) und erlaubt auch Intensifiers vor NPs (12b):
8.2.3 Fachsprachen
135
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 8
Gerichte ... gebracht werden) und einem sehr komplexen Nebensatz, der selber aus zwei Teilen
besteht:
(13) Vor die Gerichte für Arbeitssachen können auch nicht unter die Absätze 1 und 2 fallende
Rechtsstreitigkeiten gebracht werden, wenn der Anspruch mit einer bei einem
Arbeitsgericht anhängigen oder gleichzeitig anhängig werdenden bürgerlichen
Rechtsstreitigkeit der in den Absätzen 1 und 2 bezeichneten Art in rechtlichem oder
unmittelbar wirtschaftlichem Zusammenhang steht und für seine Geltendmachung nicht
die ausschließiche Zuständigkeit eines anderen Gerichts gegeben ist.
8
Informationen von dem Bundesministerium des Innern (http://www.bmi.bund.de) und dem Statistischen
Bundesamt (http://www.destatis.de). Österreich hat eine ähnliche Sprachsituation, mit den einheimischen
Minderheitssprachen Kroatisch, Romanes, Slowensich und Ungarisch sowie Sprachen der neueren Einwanderer.
9
Ein dritter friesischer Dialekt, das Westfriesische, wird von fast eine halbe Million Menschen in den Niederlanden
gesprochen.
136
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 8
Wegen der Anzahl von Minderheitssprachen in Schleswig kann die Sprachsituation dort
manchmal recht kompliziert sein. Stevenson (1997: 35) diskutiert als Beispiel die Sprachwahl
von einer nordfriesischen Familie. Die Mutter und der Vater sprechen Niederdeutsch mit
einander aber Standarddeutsch mit ihren Kindern. Die Kinder sprechen Standarddeutsch mit
einander, Niederdeutsch mit den Eltern, und Standarddeutsch mit ihrer Großmutter aber
Friesisch mit dem Großvater. Mit dem Onkel und den Kusinen sprechen alle Friesisch, aber sie
sprechen Niederdeutsch mit der Tante!
Neben der einheimischen Minderheitssprachen gibt es natürlich auch die Sprachen der
Einwanderer. 2011 lebten in Deutschland fast 7 Millionen Menschen mit ausländischem Pass.
Die größte Gruppe sind aus der Türkei (1.6 Millionen), aber es gibt viel mehr Einwanderer aus
den EU-Ländern (2.6 Millionen), worunter die größten Gruppen aus Italien, Polen, Griechenland,
und Österreich kommen. Andere kommen aus Asien (855.000), Osteuropa (halbe Million),
Afrika (276.000) und Nord- und Südamerika (224.000). Viele dieser Menschen beherrschen
mehr als eine Sprache. (Sie können jetzt Übung 7 machen.)
137
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 8
(14) İndim, Sema’yı arıyom bakıyom. Bi baktım Matthias’ı diyor: „Hey, kannsch du mi’
mitnehmen?“ Is’n Freund von mir, mit dem ich früher inner Klasse war. „He, kannschte
mi’ mitnehmen?“, diyo, „I hab niemand“, diyo, „sonst muss ich mit’m Bus oder mit der
U-Bahn . . .“
Der Sprecher erklärt, wer Matthias ist, auf Deutsch. Warum? (Ein anderes Beispiel von Code-
switching können Sie in Übung 8 analysieren.)
Es gibt drei europäische Länder, in denen Deutsch eine von vielen offiziellen Sprachen
ist: Belgien, Luxemburg und die Schweiz. Da Deutsch in Belgien von einer sehr kleinen
Minderheit gesprochen wird, konzentriert sich die folgende Diskussion auf die Schweiz und
Luxemburg.
Die Schweiz, mit 7.3 Millionen Einwohner, hat vier offizielle Sprachen.10 Die größte
Anzahl der Schweizer (64%) sprechen einen Dialekt des Deutschen als Muttersprache.
Französisch wird im Westen des Landes von 20% der Schweizer gesprochen. Südlich der Alpen
sprechen fast eine halbe Million Menschen (6.5%) Italienisch. Seit 1996 gibt es eine vierte
offizielle Sprache, Rätoromanisch (oder Rumantsch). Rätoromanisch ist eine romanische
Sprache wie Französisch und Italienisch und wird von 35.000 Menschen (weniger als 1% der
Schweizer Bevölkerung) gesprochen. Rätoromanisch wird nur im Kanton Graubunden
gesprochen und alle erwachsenen Sprecher können auch Deutsch.
10
Daten von Statistik Schweiz, http://www.bfs.admin.ch/bfs/portal/en/index/themen/01/05/blank/key/sprachen.html.
138
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 8
Luxemburg hat drei offizielle Sprachen: Deutsch, Französisch und Luxemburgisch. Die
Muttersprache der meisten Luxemburger ist der mitteldeutsche Dialekt Luxemburgisch. Wegen
seiner Lage zwischen Belgien, Deutschland und Frankreich waren bis 1984 sowohl Deutsch als
auch Französisch die offiziellen Sprachen. Seit 1984 ist Luxemburgisch auch eine offizielle
Sprache und ist sogar die einzige Nationalsprache des Landes. Luxemburgisch wird in der
Schule unterrichtet und im Radio und Fernsehen benutzt.
Während die Wahl zwischen Sprachen in der Schweiz hauptsächlich geographisch ist,
gibt es im kleinen Luxemburg keine regionalen Unterschiede, weil alle Luxemburger alle drei
offiziellen Sprachen beherrschen. Vielmehr ist die Sprachwahl nach Situation bedingt. Stevenson
(1997: 36-37) gibt das Beispiel von der Sprachwahl im Gericht. Der Richter spricht
Luxemburgisch mit dem Angeklagten und mit den Zeugen. Der Richter und die Anwälte
sprechen Französisch mit einander. Der Richter liest das Urteil auf Deutsch oder Französisch und
erklärt dem Angeklagten das Urteil noch einmal auf Luxemburgisch. Das ganze Verfahren wird
auf Deutsch abgeschrieben.
Deutsch wird auch in anderen europäischen Ländern von einer Minderheit gesprochen.11
Der italienischen Provinz Südtirol/Alto-Adige gehörte früher zu Österreich und hat 290.000
Sprecher des Deutschen. Deutsch ist mit Italienisch eine offizielle Sprache im Provinz. Deutsch
hat auch offiziellen Status als Regionalsprache in Süddänemark. Obwohl es ungefähr eine
Million Muttlersprachler eines deutschen Dialekts (Lothringer Platt und Elsässisch) im östlichen
Frankreich gibt, hat das Deutsche in Frankreich keinen offiziellen Status, auch nicht auf
regionaler Ebene.
11
Daten von http://ec.europa.eu/languages/euromosaic/euromosaic-study_en.htm.
139
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 8
8.4.1 Geschlechtsneutralität
Die Soziolinguistik untersucht nicht nur die sozialen Varietäten einer Sprache, sondern
kann auch kritisieren, wie die Sprache in der Gesellschaft benutzt wird. Ab den 1970er Jahren
wird vor allem kritisiert, wie die Struktur des Deutschen männliche Formen privilegiert und
dadurch Frauen einen sekundären Status gibt. Fagan (2009: 256) gibt einige Beispiele, wo die
ältere Formen gegen Frauen diskriminieren:
Im Plural besteht ein ähnliches Problem. Traditionell galt die mask.pl. Form als
geschlechtsneutral, also die Lehrer konnte eine gemischte Gruppe von Lehrern und Lehrerinnen
sein. Jedoch gilt diese Verwendung der mask.pl. einerseits als unklar (bezieht es sich in diesem
Fall nur auf männliche Lehrer oder auf Lehrer und Lehrerinnen?) und andererseits als sexistisch,
weil Frauen nicht explizit erwähnt werden.
Eine geschlechtsneutrale Möglichkeit ist ein abstraktes Wort zu benutzen, das weder auf
Männer noch Frauen deutet, wie die Lehrkraft (pl. die Lehrkräfte). Jedoch werden solche
Alternativen kritisiert, weil sie Frauen immer noch unsichtbar machen. Eine besser Möglichkeit,
geschlechtsneutral zu schreiben, ist die Beidnennung:
140
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 8
(17) Der Fachbereich Informatik verleiht den Grad einer Doktorin - bei männlichen
Kandidaten den Grad eines Doktors - der Naturwissenschaften (Dr. rer. nat.).
8.4.2 Anglizismen
Ein sehr bekanntes Thema in der Soziolinguistik ist die hohe Anzahl der Anglizismen,
d.h. Lehnwörter aus dem Englischen. Obwohl die Verwendung von Anglizismen ein wichtiges
Merkmal der Jugendsprache ist, werden Anglizismen häufig in anderen Varietäten benutzt, auch
in der Standardsprache. Die Anzahl von Anglizismen wie Band, Jeans und Teenager stieg sehr
schnell nach dem zweiten Weltkrieg durch dein Einfluss der populären Kultur Großbritaniens
und Nordamerikas. Nicht nur einzelne Wörter werden entlehnt: Es gibt auch
Lehnübersetzungen, in der deutsche Wörter benutzt werden, um ein englisches Kompositum zu
übersetzen, wie Taschenbuch (von pocket book) und Einkaufszentrum (von shopping center) und
Luftbrücke (teilweise von air-lift). Ein schon existierendes deutsches Wort kann auch eine neue
Bedeutung bekommen (Lehnbedeutung); beispielsweise bedeutete realiserien ursprünglich nur
‚verwirklichen‘, aber durch den Einfluss von realize wird es von manchen Sprechern auch in der
Bedeutung ‚merken‘ benutzt. In den letzten 20 Jahren ist die Anzahl von Anglizismen drastisch
gestiegen, vor allem in der Werbung (18a) und in der Technologiebranche (18b).12
(18) a. Miles & More führt ein flexibleres Upgrade-Verfahren ein: mit dem neuen
Standby oneway Upgrade-Voucher kann direkt beim Check-in das Ticket
aufgewertet werden.
b. In der Pipeline ist das Upgrade eines Kalibrationskits für Proofscreenmonitore
und als Highlight ein Digitizer für CAD-Applikationen.
12
Beispiele aus Fagan (2009: 274-275) und Stedje (1997: 29).
141
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 8
8.6 Übungen
Übung 1: Sehen Sie den folgenden Ausschnitt aus dem Film Angst essen seele auf (1974)13 und
identifizieren Sie die Merkmale von Gastarbeiterdeutsch in Salems Rede:
Salem: Du tanzen mit mir?
Emmi: Wie bitte? Tanzen?
Salem: Ja. Du allein sitzen, makt viel traurig. Allein sitzen nikt gut.
Emmi: Warum eigentlich nicht. Obwohl ich hab‘ mindestens 20 Jahre nicht mehr getanzt.
Eher mehr. Vielleicht kann ich gar nicht mehr tanzen.
Salem: Makt nix. Tanzen ganz langsam. [Sie gehen auf die Tanzfläche]
Emmi: Wo kommen Sie den her?
Salem: Klein Stadt in Marokko, Tismit.
Emmi: Ach, Marokko.
Salem: Ja, viel schön. Aber nix Arbeit.
Emmi: Sie sprechen aber gut deutsch. Sind Sie schon lange hier?
Salem: Zwei Jahre. Immer viel arbeiten.
Emmi: Ich habe auch viel Arbeit. Arbeit ist das halbe Leben.
Salem: Du nix Mann, verheiratet?
Emmi: Mein Mann ist tot. Schon lange. Was arbeiten Sie denn?
Salem: Mit Autos. Ganze Tag. Immer.
Emmi: Und abends gehen Sie dann hierher?
Salem: Ja, hat schön Musik. Viele Kollega Arabisch, weiß nikt andere Platz. Deutsch mit
Arabisch nikt gut.
Emmi: Warum?
Salem: Weiß nikt. Deutsch mit Arabisch nikt gleiche Mensch.
Emmi: Aber am Arbeitsplatz?
Salem: Nicht gleich. Deutscher – Herr. Arabisch – Hund.
Emmi: Aber das...
Salem: Egal. Nix viel denken – gut. Viel denken – viel weinen.
Übung 2: Schauen Sie die folgenden Beispiele von Kiezdeutsch an.14 Welche Eigenschaften von
Kiezdeutsch werden hier dargestellt?
a. Ey, rockst du, lan, Alter.
b. Gibs auch 'ne Abkürzung.
c. Ischwör, Alter, war so.
d. Wir sind jetzt neues Thema.
e. Ich werde zweiter Mai fünfzehn.
f. Also mein Schule ist schon längst fertig.
g. Was denn los hier?
13
Aus Stevenson (1997: 165-166).
14
Von www.kiezdeutsch.de
142
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 8
Übung 3: Unten sehen Sie eine Liste von Vokabeln aus der Jugendsprache der 1950er und
1960er Jahre.15 Welche werden noch in der heutigen Jugendsprache benutzt? (Wenn sie keine
persönliche Erfahrung mit der deutschen Jugendsprache haben, suchen Sie die Begriffe im
Internet.)
a. Baby, Biene, Bombe, Hase, Puppe, Zahn (‚Mädchen’)
b. Alleswisser, Drummler, Klassenschreck (‚Lehrer’)
c. bohren, büffeln, jobben, ochsen, pauken, strebern (‚lernen’)
d. dufte, prima, jumbig, posch, hip (‚cool’)
Übung 4: Recherchieren Sie im Internet Beispiele von diesen Merkmalen der heutigen
Jugendsprache:
a. Bedeutungsveränderung
b. Wortbildung durch Präfigierung
c. Wortbildung durch Suffigierung
d. Wortbildung durch Reduktionen
e. Komposition
f. Anglizismen
g. Intensifikatoren
Übung 5: Fachsprache der Linguistik: Finden Sie Beispiele in diesem Buch (Kapitel 2-8) für die
folgenden Charakteristika der Fachsprache. (Herausforderung: Bei den Entlehnungen (a) stellen
Sie fest ob es einen einheimisch deutschen Begriff dafür gibt. Bei den Konstruktionen (d-g)
schreiben Sie die Phrasen oder Sätze durch einfachere Konstruktionen um.)
a. fachsprachliche Entlehnungen
b. fachsprachliche Komposita
c. allgemeine Vokabeln, die eine fachsprachliche Bedeutung haben
d. eine Nominalisierung
e. ein Passivsatz
f. ein Infinitivsatz mit um ... zu
g. eine erweiterte Adjektivkonstruktion
Übung 6: Fachsprache der Juristen: Finden Sie Beispiele in dem folgenden Text für die
folgenden Charakteristika der Fachsprache. (Herausforderung: Schreiben Sie den Text durch
einfachere Konstruktionen und Vokabeln um.)
a. fachsprachliche Vokabeln
b. Nominalisierungen
c. Passiva
d. erweiterte Adjektivkonstruktionen
15
Von der Untersuchung von Küpper (1970), zitiert in Russ (1994: 49-50).
143
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 8
“Rotkappchen” auf Juristendeutsch16
Als in unserer Stadt wohnhaft ist eine Minderjährige aktenkundig, welche infolge
ihrer hierorts üblichen Kopfbedeckung gewohnheitsrecchtlich Rotkäppchen genannt zu
werden pflegt . . .
Vor ihrer Inmarschsetzung wurde die R. seitens ihrer Mutter über das Verbot betreffs
Verlassens der Waldwege auf Kreisebene belehrt. Sie machte sich infolge Nichtbeachtung
dieser Vorschrift straffällig und begegnete beim Überschreiten des diesbezüglichen
Blumenpflückverbotes einem polizeilich nicht gemeldeten Wolf ohne festen Wohnsitz. Dieser
verlangte in unberechtigter Amtsanmaßung. Einsichtnahme in den zum Transport von
Konsumgütern dienenden Korb und traf zwecks Tötungsabsicht die Feststellung, daß die R.
zu ihrer verwandten und verschwägerten Großmutter eilends war.
Da bei dem Wolfe Verknappungen auf dem Ernährungssektor vorherrschend waren,
beschloß er, bei der Großmutter der R. unter Vorlage falscher Papiere vorsprachig zu
werden. Da dieselbe wegen Augenleidens krank geschrieben war, gelang dem Wolf die
diesfällige Täuschungsabsicht, worauf er unter Verschlingung der Bettlägrigen einen
strafbaren Mundraub ausführteMundraub ausführte.
Übung 7: Dänisch wird als Minderheitssprache in Deutschland von der Bundesregierung
gefödert. Andererseits werden Sprachen wie Italienisch, Russisch und Türkisch nicht als
Minderheitssprache offiziell anerkannt. Warum werden diese Sprachen von der Regierung
unterschiedlich behandelt? Ist dieser Unterschied fair?
Übung 8: Sehen Sie die folgenden Dialoge aus dem Elsaß an. In allen Fällen wird zwischen dem
Elsäßischen (einem Dialekt des Deutschen) und dem Französischen (der offiziellen Sprache im
Land) gewechselt. Versuchen Sie, diese Beispiele von Code-switching zu erklären. Warum
wählen diese Sprecherinnen und Sprecher in einigen Situationen Französisch und in anderen
Elsäßisch. (Nehmen Sie an, dass alle Personen zweisprachig sind.)17
Dialog A: In einem Kopierladen spricht ein älterer Kunde mit dem Inhaber des Ladens,
während der Inhaber noch mit anderen Kunden handelt.
Kunde: Macha ma hundert fufztig. [Machen wir 150 (Kopien).]
Inhaber: Oui, d’accord. [Ja, einverstanden.]
Kunde: ... Nei, mach mir hundert fimfa sevetzig. [Nein, mach mir 175.]
Inhaber: Bon. [Gut.]
Dialog B: Eine Dame besucht eine Bäckerei zum ersten Mal.
Bäckerin: Madame. [Meine Dame?]
Kundin: Donnez‐moi deux petits pains aux raisins. Vu dana runda.
[Fr.: Geben Sie mir zwei Rosinenbrötchen. Els.: Von den runden.]
Bäckerin: Die do? [Die da?]
Kundin: Nei, die dunda. [Nein, die drunter.]
Bäckerin: Oui, voilá, six francs, Madame. [Ja, bitte schön, 6 Francs, meine Dame.]
16
Aus Stevenson (1997: 109-110).
17
Aus Stevenson (1997: 39-40).
144
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 8
Kundin: Merci, Madame. [Danke, meine Dame.]
Bäckerin: Au revoir, Madame. [Auf wiedersehen.]
Dialog C: In einem Restaurant stößt eine Kundin gegen den Stuhl einer anderen Kundin am
benachbarten Tisch.
Erste Frau: Oh, pardon, Madame.
Zweite Frau: Il n’y a pas de quoi, Madame. [Das macht nichts, meine Dame.]
Erste Frau: Ich ha gmeint ich bin an ehra Stüehl kumma.
[Ich dachte, ich bin gegen Ihren Stuhl gestossen.]
Zweite Frau: Ich ha nit gschpürt. [Ich habe nichts gespürt.]
Übung 9: Schreiben Sie die folgenden Sätze um, damit sie geschlechtsneutral werden. Benutzen
Sie möglichst viele Alternative für jeden Satz.18
a. Wieviele Studenten leben in Heidelberg?
b. Der Bundeskanzler wird nicht direkt vom Volk gewählt, sondern von den
Bundestagsabgeordneten.
c. Der Inhaber dieses Passes ist Deutscher.
d. Jeder Passagier möge seinen Platz nehmen.
Übung 10: Charakterisieren Sie die folgenden Anglizismen. In welchen Aspekten
(Rechtschreibung, Morphologie, Aussprache, Bedeutung) werden sie eingedeutscht? Welche
Unterschiede gibt es zu ihren englischen Äquivalentent.19
a. der Bodybag
b. der Boss
c. die City
d. das Doping
e. das Fotoshooting
f. der Layouter
g. die Party
h. der Schock
i. der Slip
j. das Soft‐Eis
k. der Teenager
l. der Trainer
m. aufladen/runterladen
n. babysitten
o. recyceln
p. cool
q. fair
18
Einige Beispiele aus Fagan (2009: 256).
19
Beispiele aus Russ (1994: 254-259) und Fagan (2009: 277).
145
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Kap. 8
Weiterführende Literatur:
Fagan, Sarah M.B. 2009. German: A linguistic introduction. Cambridge, U.K.: Cambridge
University Press.
Hinnenkamp, Volker. 2010. Vom Umgang mit Mehrsprachigkeiten. Aus Politik und
Zeitgeschichte 2010 (8): 27-32.
[http://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/32943/sprache]
Kessel, Katja & Sandra Reimann. 2012. Basiswissen Deutsche Gegenwartssprache. Tübingen
und Basel: A. Francke.
Küpper, H. 1970. Wörterbuch der deutschen Umgangssprache, vol. VI: Jugenddeutsch von A bis
Z. Hamburg: Claassen.
Rein, Detlev B. & Ines Hilger (Hgg.). 2008. Regional- und Minderheitenssprachen in
Deutschland. Berlin: Bundesministerium des Innern.
Russ, Charles. 1994. The German Language Today: A Linguistic Introduction. London:
Routledge.
Stedje, Astrid. 2007. Deutsche Sprache Gestern und Heute. Paderborn: Fink.
Stevenson, Patrick. 1997. The German Speaking World: A practical introduction to
sociolinguistic issues. London: Routledge.
Wiese, Heike. 2010. Kiezdeutsch - ein neuer Dialekt. Aus Politik und Zeitgeschichte 2010 (8):
33-38. [http://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/32943/sprache]
Wiese, Heike. 2012. Kiezdeutsch: Ein neuer Dialekt entsteht. Beck.
146
Glossar
Anmerkungen:
Bei Substantiven werden das Genus und die Flexion (gen.sg. und nom.pl) angegeben.
Englische Äquivalente werden kursiv angegeben, es sei denn der englische Begriff ist
dem deutschen Wort identisch.
Adjektiv, das (-s,-e): adjective; die Wortart, die die Bedeutung eines Nomens modifiziert
Adjektivphrase, die (--, -en): adjective phrase (AdjP); die Konstituente, die aus einem Adjektiv
und seinen Modifikatoren besteht
Adjektivsuffix, das (-es, -e): adjectivizing suffix; ein Suffix, das ein neues Adjektiv bildet
Adverb, das (-s, Adverbien): adverb; die Wortart, die ein Verb, einen Satz, ein Adjektiv, oder
ein anderes Adverb modifiziert
Affix, das (-es, -e): affix; ein Morphem, das nicht allein stehen kann
Affrikate, die (--, -n): affricate; ein Laut, der als Plosiv beginnt und als Frikativ endet
Agens, das (--, Agenzien oder Agentia): agent; die NP, die die Handlung des Verbs absichtlich
ausführt
Aktiv, das (-s, -e): active voice; das Genus Verbi, in dem das Subjekt eine Handlung ausführt
Allophon, das (-s,-e): allophone; eine Aussprachevariante eines Phonems
alveolar (Adj.): bezeichnet einen Konsonanten, der direkt hinter den Zähnen artikuliert wird
alveopalatal (Adj.): bezeichnet einen Konsonanten, der zwischen alveolar und palatal artikuliert
wird
Anglizismus, der (--, -ismen): anglicism; ein Lehnwort aus dem Englischen
Antonym, das (-s, -e): antonym; ein Wort, dessen Bedeutung das Gegenteil von einem anderen
Wort ist
arbiträr, (Adj.): arbitrary; es gibt keine Beziehung zwischen der Form und der Bedeutung eines
Symbols
Argumentstruktur, die (--, -en): argument structure; eine Liste von den semantischen Rollen,
die von einem Verb verlangt werden
Artikulationsart, die (--, -en): manner of articulation; die Art der Hinderung im Mund bei
Konsonanten
Artikulationsort, der (-[e]s, -en): place of articulation; der Platz im Mund, wo die Hinderung
auftritt
artikulatorisches Merkmal, das (-s, -e): articulatory feature; Komponente der Beischreiben
eines Konsonanten oder Vokals
Aspiration, die (--, -en): die Puste bei der Öffnung von [ph], [th] und [kh]
aspiriert (Adj.): aspirated; bezeichnet einen Konsonanten, der mit Aspirationen artikuliert wird
Assimilation, die (--, en): assimilation; die Angleichung eines Lauts an einem Laut in seiner
Nähe
attributiv, (Adj.): attributive; beschreibt ein Adjektiv vor einem Nomen in der Nominalphrase
Auslautverhärtung, die (--, -en): final devoicing; die Entstimmung von Plosiven und Frikativen
am Wortenende
Basisstruktur, die (--, -en): deep structure, underlying structure; die abstrakte Repräsentation
eines Satzes, aus der alle mögliche Variationen des Satzes abgeleitet werden
bestimmter Artikel, der (-s, --): definite article; das Wort der/die/das
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Glossar
betonte Silbe, die (--, -en): stressed syllable: eine Silbe, die einen Haupt- oder Nebenakzent
trägt
betontes (oder trennbares) Präfix, das (-es, -e): stressed (separable) prefix; Verbalprafix wie
mit-, das betont ist und vom Verbalstamm getrennt werden kann (ich komme ... mit)
Betrachtzeit die (--, -en): reference time; die Zeit, von der man das Ereignis betrachtet
bilabial (Adj.): bezeichnet einen Konsonanten, mit beiden Lippen artikuliert wird
Buchstabe, der (-en, -en): letter; ein Symbol im Schreibsystem einer Sprache
C: complementizer; a) eine subordinierende Konjunktion; b) die Stelle im Satz, wo eine
subordinierende Konjunktion oder ein finites Verb stehen kann
Code-switching, der (-s, --): code-switching: die Abwechslung von zwei Sprachen innerhalb
eines Gesprächs
CP, die (--, -n): complementizer phrase (CP); ein Satz (Haupt- oder Nebensatz) im generativen
Modell
Deixis, die (--, --): drückt die Nähe einer NP zum Sprecher oder Hörer aus
Deklarativ, der (-s, -a): expressive; Sprechakt, in dem der Sprecher eine Situation verwicklicht
Deklination, die (--,-en): declension; die Flexion der Nomina, Determinatoren, Pronomina und
Adjektive
Demonstrativum, das (-s, Demonstrativa): demonstrative; die Wörter dieser, DER und jener
Determinativkompositum, das (-s, Kompositen/Komposita); subordinate compound; ein
Kompositum, in dem der erste Teil den zweiten Teil modifiziert
Determinator, der (-s, -en): determiner; die Wortart, die Artikel, Demonstrativa, Possessiva,
und Quantoren einschließt
Dialekt, der (-[e]s, -e): dialect; eine Variante, die in einer spezifischen Region gesprochen wird
Dialektologie, die (--, --): dialectology; die Untersuchung der regionalen Variation in der
Sprache
Diphthong, der (-s, -e): ein Vokal, der aus zwei Vokallauten besteht
direktes Objekt, das ([e]s, -e): direct object; die Nominalphrase im Prädikat eines transitiven
Verbs, die das Verb ergänzt und erklärt, wer oder was von der Handlung betroffen wird
Direktiv, der (-s, -a): directive; Sprechakt, in dem der Sprecher den Hörer dazu bringen will,
etwas zu tun
ditransitiv, (Adj.): ditransitive; ein Verb, das zwei Objekte erlaubt
einfacher Satz, der (-es, Sätze): simple sentence; ein Satz, der aus einem einzelnen Hauptsatz
besteht
Einsatz, der (-es, Einsätze): onset; der Konsonant (oder die Konsonanten), der dem Nukleus
einer Silbe vorangeht
enge Transkription, die (--, -en): narrow transcription; eine detaillierte, phonetische
Repräsentation der Aussprache eines Worts
Ereigniszeit, die (--, -en): event time; die Zeit, wann das Ereignis eigentlich passiert ist
Ergänzung, die (--, - en): complement; eine Phrase, die die Bedeutung des Verbs ergänzt, oft ein
direktes Objekt
Ersatzinfinitiv, der (-s, -e): infinitivus pro participio (IPP); ein Verbalkomplex im Perfekt mit
einem Modalverb im Infinitiv anstatt im Partizip
Experiencer, der (--, -s): die NP, die die Handlung des Verbs empfindet oder sich bewusst ist
Expressiv, der (-s, -e): expressive; Sprechakt, in dem der Sprecher eine Emotion ausdrückt
Fachsprache, die (--, -n): jargon; ein Soziolekt, der von einer bestimmten professionellen
Gruppe verwendet wird
148
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Glossar
fallende Intonation, die (--, -en): falling intonation; das Intonationsmuster, in dem die
Satzmelodie nach dem Satzakzent senkt
finit, (Adj.): finite; bezeichnet ein Verb, das in einem Tempus steht und mit dem Subjekt
kongruiert
Flexion, die (--,-en): inflection; die Veränderungen eines Worts (meistens durch Affixe) um
grammatikalische Merkmale zu zeigen
Flexionsklasse, die (--,-en): declension or conjugation class; eine Gruppe von Wörtern einer
Wortart, die ähnlich flektiert werden
Frikativ, der (-s, -e): fricative; die Artikulationsart, bei der es Friktion gibt, wenn der Luftstrom
durch die Sprechorgane fließt
Funktionswort, das (-[e]s, Funktionswörter): function word; ein Wort, das eher eine
grammatische Funktion als eine Bedeutung hat; Artikel, Hilfsverben, Präpositionen und
Pronomina
Gastarbeiterdeutsch, (Adj.): guest-worker German; der Soziolekt von den Migranten, vor
allem aus dem Mittelmeergebiet, die als Arbeiter nach Deutschland kamen
Gaumen, der ( -s, --): palate; das Palatum und das Velum
generisch, (Adj.): generic reference; eine NP bezieht sich auf eine ganze Art, nicht auf konkrete
Beispiele dieser Art
Genus verbi, das (--, Genera verbi): voice; das grammatikalische Merkmal bei Verben, das das
Aktiv und Passiv einschließt
Genus, das (--, Genera): gender; das grammatikalische Merkmal bei Substantiven, das das
Maskulinum, Femininum und Neutrum einschließt
Germanisch, (Adj.): Germanic; die Unterfamilie des Indogermanischen, die unter anderen das
Deutsche und das Englische einschließt
gerundet (Adj.): rounded; bezeichnet einen Vokal, der mit Lippenrundung arikuliert wird
geschlechtsneutral, (Adj.): gender-neutral; linguistische Formen, die weder Frauen noch
Männer ausschließen
gespannt (Adj.): tense; bezeichnet einen Vokal, der mit Spannung in den Muskeln des Munds
artikuliert wird
Gespanntheit, ( --, -en): tenseness; s. gespannt
Glottis, die (--, --): die Öffnung der Luftröhre, die Stimmbänder enthält
Glottisverschluss, der (-es, Verschlüsse): glottal stop; ein Plosiv, der gebildet wird, in dem man
die Stimmbänder schließt und wieder öffnet
grammatikalisches Merkmal, das (-[e]s, -e): feature; grammatikalische Information, die auf
einer gewissen Wortart markiert werden kann, z.B. Genus (bei Nomen) oder Tempus (bei
Verben)
Hauptakzent, der (-[e]s, -e): primary accent; die am stärksten betonte Silbe eines Wortes
Hauptsatz, der (-es, Sätze): main clause, independent clause; ein Satz, der allein als Aussage
steht und der auch Nebensätze enthalten kann
Hilfsverb, das ([e]s, -en): auxiliary verb; ein Verb, das zusammen mit einem lexikalischen Verb
eine periphrastische Verbalform bildet; haben (im Perfekt), sein (im Perfekt und
Zustandspassiv), werden (im Futur und Passiv) und würde (im Konjunktiv II)
hinten/hinter- (Adj.): back; bezeichnet einen Vokal, der mit zurückgezogener Zunge artikuliert
wird
hoch/hoh- (Adj.): high; bezeichnet einen Vokal, bei dem die Zunge hoch und der Mund relativ
geschlossen ist
149
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Glossar
Hochdeutsch, (Adj.): High German; die Dialekte des Deutschen, die teilweise oder ganz an der
hochdeutschen Lautverschiebung teilgenommen haben; Oberdeutsch mit Mitteldeutsch;
(NICHT die Standardsprache)
hochdeutsche Lautverschiebung, die (--, --): High German consonant shift; die Veränderungen
im althochdeutschen Konsonantensystem, die das Hochdeutsche vom Niederdeutschen
und den anderen germanischen Sprachen unterscheiden
Homophonie, die (--, -en): homphony; die Beziehung zwischen Wörtern, die phonetisch
identisch sind, aber zwei ganz verschiedene Bedeutungen haben
horizontale Zungenlage, die (--, -n): frontness; artikulatorisches Merkmal, das die Lage der
Zunge vorn oder hinten im Mund beschreibt
Hyperonym, das (-s, -e): hypernym; ein Oberbegriff, der mehrere Unterbegriffe umfasst
Hyponym, das (-s, -e): hyponym; ein Unterbegriff von einem Hyperonym
ikonisch, (Adj.): iconic; es gibt eine klare Beziehung zwischen der Form und der Bedeutung
eines Symbols
indirektes Objekt, das ([e]s, -e): indirect object; die Nominalphrase im Prädikat eines
ditransitiven Verbs, die erklärt, wer das direkte Objekt bekommt
Indogermanisch, (Adj.): Indo-European; die Sprachfamilie, die die meisten Sprachen Europas
und Nordindiens einschließt
Inhaltswort, das (-[e]s, Inhaltswörter): content word; ein Wort mit einer lexikalischen
Bedeutung, d.h. Nomen, Adjektive und Verben
Instrument, das (-[e]s, -e): die NP, die bei der Handlung des Verbs benutzt wird
Intensifikator, der (-s, -en): intensifier; Adverbien, die den Grad eines Adjektivs verstärken
Intonation, die (--, -en): die Satzmelodie: das Muster von steigenden und fallenden Tönen durch
den Satz
IPA, das (-s, -e): das Internationale Phonetische Alphabet
Jugendsprache, (--, -n): youth language; der Soziolekt vieler Jugendlichen
Kasus, der (--, Kasus): case; das grammatikalische Merkmal bei Nominalphrasen, das den
Nominativ, Akkusativ, Dativ und Genitiv einschließt
Kiezdeutsch, (Adj.): Kiezdeutsch; ein Soziolekt des Deutschen, die moistens von Jugendlichen
in deutschen Großstädten Gruppe gesprochen wird
Knacklaut , der (-[e]s, -e): glottal stop; s. Glottisverschluss
Koda, die (--, -s) coda; der Konsonant (oder die Konsonanten), der dem Nukleus einer Silbe
folgt
Komissiv, der (-s, -a): commissive; Sprechakt, in dem sich der Sprecher verpflichtet, etwas zu
machen
Komparation, die (--,-en): comparison; das grammatikalische Merkmal bei Adjektiven und
Adverbien, das den Komparativ und Superlativ einschließt
komplementäre Distribution, die (--, -en): complementary distribution; zwei Laute sind
Allophone eines einzelnen Phonems, wenn sie in unterschiedlichen Umgebungen
erscheinen
komplexer Satz, der (-es, Sätze): complex sentence; ein Satz, der aus einem Hauptsatz mit
einem (oder mehr) Nebensatz besteht
Komposition, die (--,-en): compounding; die Zusammensetzung zwei oder mehr unabhängige
Wörter, um ein neues Wort zu bilden
kompositionell, (Adj.): compositional; die Bedeutung besteht aus den Bedeutungen der Teile
150
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Glossar
151
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Glossar
Mitteldeutsch, (Adj.): Middle German; bezeichnet die mittleren Dialekte des Deutschen, die nur
teilweise an der hochdeutschen Lautverschiebung teilgenommen haben
Modalverb, das ([e]s, -en): modal verb; eine Art Verb, das ein Verhältnis zwischen dem Subjekt
des Satzes und dem Hauptverb bestimmt, oder das die Haltung des Sprechers zum
Prädikat erklärt; dürfen, können, mögen, müssen, sollen und wollen
Modifikator, der (-s, -en): modifier; s. modifizieren
modifizieren, V.: modify; etwas beschreiben, die Bedeutung ändern oder ergänzen
Modus, der (--, Modi): mood; das grammatikalische Merkmal bei Verben, das die Haltung des
Sprechers zum Inhalt des Satzes ausdruckt und den Indikativ, Imperativ und Konjunktiv I
& II einschließt
Morphem, das (-s,-e): morpheme; die kleinste bedeutungstragende Einheit der Sprache
Morphologie, die (--,-en): morphology; die Teildisziplin der Sprachwissenschaft, die die
Struktur von Wörtern behandelt
Mundhöhle, die (--, -n): oral cavity; der offene Raum zwischen der Zunge und dem Gaumen
Nasal, der (-s, -e): die Artikulationsart, bei dem der Mund abgesperrt und der Luftstrom durch
die Nasenhöhle freigelassen wird
Nasalvokal, der (-s, -e): nasal vowel; Vokal, bei der der Luftstrom durch die Nasenhöhle fließt
Nasenhöhle, die (--, -n): nasal cavity; der offene Raum hinter der Nase
Nebenakzent, der (-[e]s, -e): secondary accent; bei längeren Wörtern die am zweitstärksten
betonte Silbe
Nebensatz, der (-es, Sätze): subordinate clause, dependent clause; ein Satz, der nicht allein
stehen kann, sondern einen Teil eines Hauptsatzes bildet
nicht-finit, (Adj.): non-finite; bezeichnet ein Verb, das weder Tempus noch Kongruenz zeigt,
d.h. ein Infinitiv oder Partizip
Niederdeutsch, (Adj.): Low German; bezeichnet die nördlichen Dialekte des Deutschen, die gar
nicht an der hochdeutschen Lautverschiebung teilnahmen; auch Plattdeutsch genannt
Nomen, das (-s, --/Nomina): noun; ein Substantiv; die Wortart, die Genus hat und oft Personen
oder Dinge darstellt
Nominalisierung, die (--, -en): nominalization; die Bildung einer Nominalphrase aus einem Satz
Nominalphrase, die (--, -en): noun phrase (NP); die Konstituente, die aus einem Nomen und
seinen Modifikatoren besteht
Nominalsuffix, das (-es, -e): nominalizing suffix; ein Suffix, das ein neues Nomen bildet
Nukleus, der (--, Nuklei): nucleus; der Kern der Silbe, normalerweise ein Vokal
Numerus, der (--, Numeri); number; das grammatikalische Merkmal, das den Singular und
Plural einschließt
Oberdeutsch, (Adj.): Upper German; bezeichnet die südlichen Dialekte des Deutschen, die ganz
an der hochdeutschen Lautverschiebung teilgenommen haben
objektive Modalität, die (--, -en): objective, root, or deontic modality; die Kernbedeutung der
Modalverben, die eine Beziehung (Fähigkeit, Notwendigkeit, Erlaubnis, u.s.w.) zwischen
dem Subjekt und dem Hauptverb beschreibt
palatal (Adj.): bezeichnet einen Konsonanten, der entlang den harten Gaumen artikuliert wird
Palatum, das (-s, Palata): (hard) palate; der glatte, harte Teil des Gaumens
Partikel, die (--, -n): particle; ein nichtflektierbares Funktionswort
partikulär, (Adj.): object reference; eine NP bezieht sich nicht auf die Art sondern auf ein
konkretes Beispiel dieser Art
152
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Glossar
periphrastisch, (Adj.): periphrastic; bezeichnet eine Verbalform, das aus zwei oder mehr
Verben bestehen muss, z.B. das Perfekt (habe gemacht)
Person, die (--,en): person; das grammatikalische Merkmal bei Pronomina, das den Sprecher (1.
Person), den Hörer (2. Person) oder andere (3. Person) anzeigt
Phonem, das (-s,-e): phoneme; eine abstrakte Einheit des Lautsystems einer Sprache, mit dem
man Wörter bildet
Phonologie, die (--, -en): phonology; die Untersuchung des Lautsystems einer Sprache
phonologische Regel, die (--, -en): phonological rule; eine Regel, die die Beziehung zwischen
einem Phonem und seinen Allophonen erklärt
Phrase, die (--, -en): phrase; eine Konstituente, die einen Kopf mit seinen Modifikatoren und
Ergänzungen enthält
Plosiv, der (- s, -e): stop; die Artikulationsart, bei der man den Luftstrom völlig absperrt und
dann freilässt
Polysemie, die (--, -en): polysemy; die Beziehung zwischen verwandten Bedeutungen eines
Worts
Possessivum, das (-s, Possessiva): possessive; ein Determinator oder Pronomen, das Besitz
anzeigt
Possessor, der (-s, -en): die NP, die etwas besitzt
Prädikat, das (-[e]s, -e): predicate; eine Beschreibung, eine Tätigkeit, oder ein Zustand des
Subjekts; die Verbalphrase
prädikativ, (Adj.): predicative; im Prädikat, d.h. nach dem Verb sein
Präfix, das (-es, -e): prefix; ein Affix vor dem Stamm
Pragmatik, die (--, -en): pragmatics; ein Teildisziplin der Linguistik, die die Funktion von
Sätzen als sprachliches Handeln mit anderen Menschen untersucht
Präposition, die (--,-en): preposition; die Wortart, die often ein Verhältnis zwischen zwei
Nominalphrasen darstellt
Präpositionalphrase, die (--, -en): prepositional phrase (PP); die Konstituente, die aus einer
Präposition und einer NP besteht
Präterito-Präsens, das (--, Präsentia): preterit-present; die Flexionsklasse der Verben, die alle
Modalverben sowie wissen enthält
progressiv, (Adj.): progressive; ein Tempus, das eine andauernde Handlung beschreibt, z.B.
Englisch I am singing
Pronomen, das (-s, --/Pronomina): pronoun; die Wortart, die ein Nomen ersetzen kann
Quantor, der (-[e]s, -en): quantifier; die Subkategorie von Determinator, die die Anzahl oder
Menge des Nomens angibt
Quelle, die (--, -en): source; die NP, von der sich etwas weg bewegt
Reduktion, die (--,-en): reduction; die Kurzwortbildung, d.h. die Bildung neuer Wörter durch
Kürzung, Anfangsbuchstaben, u.s.w.
Referenz, die (--, -en): reference; die Beziehung zwischen einer Nominalphrase und
Gegenstände in der Welt
Reim, der (-[e]s,- e): rhyme; der Nukleus und die Koda einer Silbe
Repräsentativ, der (-s, -a): representative; Sprechakt, in dem der Sprecher sich über Tatsachen
in der Welt äußert
Rezipient, der (-en, -en): recipient; die NP, die etwas durch die Handlung des Verbs bekommt
Righthand Head Rule, engl.: Der Kopf einer Wortstruktur ist die am weitesten rechts stehende
Konstituente, die eine Wortartmarkierung trägt
153
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Glossar
Rundung , die (--, -en): rounding; die Rundung der Lippen bei gewissen Vokalen
Satz, der (-es, Sätze): sentence, clause; ein Subjekt und sein Prädikat; eine CP
Satzakzent, der (-[e]s, -e): sentential accent; das am stärksten betonte Wort eines Satzes
Schwa, das (-s, -s): der mittlere, zentrale, kurze, ungespannte Vokal [ə]
schwach, (Adj.): weak declension or conjugation; 1) die adjektivische Deklination nach einem
der-Wort; 2) die Flexionsklassen der mask./neut. Nomen, die ein -en oder -ens im Genitiv
haben; 3) die Flexionsklasse der Verben, die das Präteritum mit -te markieren
Schwa-Tilgung, die (--, -en): schwa deletion; die Tilgung des /ə/ vor /l/, /m/, /n/, oder /r/
Semantik, die (--, -en): semantics; die Teildisziplin der Linguistik, die die Bedeutung untersucht
semantische Rolle, die (--, -n): semantic or thematic role; die Rolle, die eine NP mit Bezug auf
das Verb spielt
Signifikant, der (-en, -en): signifier; die Form (Laut, u.s.w.) eines Symbols
Signifikat, das (-[e]s, -e): signified; die Bedeutung eines Symbols
Silbe, die (--, -en): syllable; eine Einheit der Phonologie, die normalerweise aus einem Vokal
eventuell mit voranstehenden und folgenden Konsonanten besteht
silbische Konsonant, der (-en, -en): syllabic consonant; ein Konsonant, der nach Schwa-Tilgung
der Nukleus einer Silbe bildet
Slang, der (-s, -s): slang; Vokabeln eines Soziolekts (vor allem der Umgangssprache und
Jugendsprache), die schnell in die Mode kommen und dann wieder aus der Mode gehen
Soziolekt, der (-[e]s, -e): sociolect; eine Varietät der Sprache, die von einer bestimmten sozialen
Gruppe benutzt wird
Soziolinguistik, die (--, --): sociolinguistics; die Untersuchung von Variation in der Sprache je
nach sozialer Gruppe und Situation
spezifisch, (Adj.): specific reference; eine NP bezieht sich auf ein konkretes Beispiel, das vom
Sprecher bekannt ist
Sprechakt, der (-[e]s, -e): speech act; beschreibt die Funktion einer Äußerung; was für eine
Wirkung der Sprecher auf den Hörer haben möchte
Sprechzeit die (--, -en): speech time; die Zeit, in der man den Satz sagt
Stamm, der (-[e]s, Stämme): stem; die Form eines Wortes ohne Affixe
Standardsprache, die (--, -n): standard language; eine normierte, internationale, meist
geschriebene Variante einer Sprache
stark, (Adj.): strong declension or conjugation; 1) die adjektivische Deklination ohne
vorangehenden Artikel; 2) die Flexionsklassen der mask./neut. Nomen, die ein -s im
Genitiv haben; 3) die Flexionsklasse der Verben, die das Präteritum durch Ablaut
markieren
steigende Intonation, die (--, -en): rising intonation; das Intonationsmuster, in dem die
Satzmelodie nach dem Satzakzent steigt
Stimmbänder, die (pl.): vocal cords; zwei Falten in der Glottis, die bei der Artikulation von
Vokalen und stimmhaften Konsonanten vibrieren
stimmhaft (Adj.): voiced; bezeichnet Laute, die mit Vibration der Stimmbänder produziert
werden
Stimmhaftigkeit, die (--, -en): voicing; das phonetische Merkmal, das beschreibt, ob die
Stimmbänder vibrieren
stimmlos (Adj.): voiceless; bezeichnet Laute, die ohne Vibration der Stimmbänder produziert
werden
154
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Glossar
Subjekt, das ([e]s, -e): subject; die Nominalphrase, die nicht zum Prädikat gehört und deren
Stelle in der Basisstrukture direct vor der VP ist
subjektive Modalität, die (--, -en) : subjective or epistemic modality; drückt eine Behauptung
oder eine subjektive Einschätzung aus
Subkategorie, die (--, -n): subcategory; die Unterart eines Wortes, d.h. was für ein Nomen, was
für ein Verb, u.s.w.
Suffix, das (-es, -e): suffix; ein Affix nach dem Stamm
Symbol, das (-s, -e): die Verknüpfung einer Form mit einer Bedeutung
Synonym, das (-s, -e): ein Wort, das (fast) die gleiche Bedeutung wie ein anderes Wort hat
Syntax, die (--, -en): die Teildisziplin der Sprachwissenschaft, die die Struktur von Sätzen
behandelt
Temporaldeixis, die (--, --): temporal deixis; drückt die Zeit einer Ereignis mit Bezug auf die
Sprechzeit aus
Tempus, das (--, Tempora): tense; das grammatikalische Merkmal bei Verben, das mit Zeit zu
tun hat und das Präsens, Perfekt, Präteritum, Plusquamperfekt und Futur I & II
einschließt
Thema, das (-s, Themen oder Themata): theme; die NP, die durch die Handlung des Verbs
betroffen oder bewegt wird
tief (Adj.): low; bezeichnet einen Vokal, bei dem die Zunge tief und der Mund relativ offen ist
transitiv, (Adj.): transitive; ein Verb, das ein direktes Objekt erlaubt
transkribieren (Verb): to transcribe; die Aussprache eines Wortes mit der IPA-Schrift
darstellen
Transkription, die (--, -en): transcription; die Darstellung der Aussprache eines Wortes
Umgangssprache, die (--, -en): colloquial language, vernacular; die gesprochene Sprache im
Alltag, die nicht auf eine kleine Region beschränkt ist
Umlaut, der (-[e]s, -e): umlaut or apophony; der morpho-phonologische Prozess, der a zu ä, au
zu äu, o zu ö und u zu ü verändert
unbestimmter Artikel, der (-s, --): indefinite article; die Wörter ein und kein
unbetontes (oder untrennbares) Präfix, das (-es, -e): unstressed (inseparable) prefix;
Verbalprafix wie ver-, das unbetont ist und die nicht vom Verbalstamm getrennt werden
kann (ich verstehe)
ungespannt (Adj.): lax; s. gespannt
unpersönliches Passivum, das (-s, Passiven oder Passiva): impersonal passive; ein Passiv ohne
Subjekt; das Ergebnis der Passivisierung eines intransitiven Verbs
unspezifisch, Adj.: non-specific reference; eine NP bezieht sich auf ein konkretes Beispiel, das
aber vom Sprecher nicht bekannt ist
Uvula, die (--, -e): ein weiches Stück Fleisch, das vom Velum hängt; das Zäpfchen
velar (Adj.): bezeichnet einen Konsonanten, der entlang den weichen Gaumen artikuliert wird
Velum, das (-s, Vela): soft palate or velum; der weiche Gaumen
Verb, das (-[e]s, -en): verb; die Wortart, die Handlungen oder Zustände in einem Satz darstellt
Verbalphrase, die (--, -en): verb phrase (VP); die Konstituente, die aus einem Verb und seinen
Ergänzungen und Modifikatoren besteht; das Prädikat
Verbalsuffix, das (-es, -e): verbalizing suffix; ein Suffix, das ein neues Verb bildet
Verbendsatz, der (-es, -sätze): verb-final clause; ein Satz, in dem das finite Verb am Satzende
steht; ein Nebensatz, der von einer subordinierenden Konjunktion eingeleitet wird
155
Sapp, Einführung in die deutsche Linguistik, Glossar
Verberstsatz, der (-es, -sätze): verb-first clause; ein Satz, in dem das finite Verb am Satzanfang
steht
Verbzweitsatz, der (-es, -sätze): verb-second clause; ein Satz, in dem das finite Verb die zweite
Konstituente bildet
Verschlusslaut, der (- [e]s, -e): stop; s. Plosiv
Vibrant, der (-en, -en): trill; die Artikulationsart von [r] und [ʀ]
Vokal, der (-s, -e): vowel; ein Laut, bei dem der Luftstrom ohne Hindernis durch die
Sprechorgane fließt und in der Mundhöhle Resonanz erzeugt
Vorfeld-es, das: prefield-es; das Pronomen es, das kein Subjekt ist, sondern nur existiert um das
Vorfeld zu besitzen
Vorgangspassiv, das (-s, -e): passive; beschreibt ein Ereignis, in dem das Thema eines
Aktivsatzes zum Subjekt des Passivsatzes wird
vorn/vorder- (Adj.): front; bezeichnet einen Vokal, der mit nach vorne gerückter Zunge
artikuliert wird
Wechselpräposition, die (--, -en); two-way preposition; eine Präposition, die manchmal
Akkusativ und manchmal Dativ verlangt
Wortakzent, der (-[e]s, -e): word accent; die Betonung (Haupt- und evt. Nebenakzent) eines
Wortes
Wortart, die (--,-en): part of speech; die syntaktische Kategorie eines Wortes, also Nomen,
Pronomen, Adjektiv, Artikel, Adverb, Verb, Präposition oder Konjunktion
Wortform, die (--,-en): grammatical word; eine morphologische Form eines Worts
Zahndamm, der (-[e]s, Zahndämme): alveolar ridge; das harte, holprige Gebiet hinter den
Zähnen und vor dem Palatum
Zäpfchen, das (-s, --): uvula; s. Uvula
zentral (Adj.): central; bezeichnet einen Vokal, dessen horizontale Zungenlage zwischen hoch
und tief ist
Ziel, das (-[e]s, -e): goal; die NP, zu dem etwas sich hin bewegt
Zungenhöhe, die (--, -n): height; artikulatorisches Merkmal, das die Lage der Zunge hoch oder
tief im Mund beschreibt
zusammengesetzer Satz, der (-es, Sätze): compound sentence; ein Satz, der aus zwei oder mehr
Hauptsätzen besteht
Zustandspassiv, das (-s, -e): statal passive; beschreibt einen Zustand, der sich aus einem
Ereignis ergibt
156