Langfassung des Interviews
Frau Tchakarova, Russland will als Großmacht anerkannt werden. Der Westen verweigert Russland diesen Status, und China?
China ist der wirtschaftlich deutlich stärkere Partner, behandelt jedoch Russland eher als gleichberechtigten denn als untergeordneten Partner. Gegenseitiger Respekt spielt in dieser bilateralen Beziehung, in der sich die beiden Präsidenten bereits achtunddreißig Mal getroffen haben, eine überaus wichtige Rolle. Zu bedenken ist jedoch, dass es sich um eine asymmetrische Beziehung handelt, in welcher China über die handelspolitische, wirtschaftliche und finanzielle Dominanz verfügt, während Russland nach wie vor eine verteidigungspolitische und in vielerlei Hinsicht diplomatische Überlegenheit durch seine regionale Machtprojektion und erfolgreichen Militäreinsätze aufweist.
Schon früher wurde Russland als "asiatisch" beschrieben, nicht wirklich zu Europa dazu gehörend. Das was damals vor allem abwertend gemeint. Asiatisch hieß grausam, despotisch und zurückgeblieben. Heute ist Europa nicht mehr das Zentrum der Welt, die Schwerpunkte verlagern sich nach Asien. Was bedeutet das für die Orientierung Russlands?
Europa wird zunehmend zum geopolitischen Hinterhof der internationalen Politik. Die Militäreskalation durch Russland entlang der ukrainischen Grenze hat wiederum die geopolitische Irrelevanz der europäischen Mächte, vor allem Deutschland und Frankreich, zum Vorschein gebracht, da sie nicht in der Lage sind, einen Militärangriff seitens Russlands in der direkten Nachbarschaft zu verhindern. Ihre diplomatischen Bemühungen sind zwar nicht unwichtig, allerdings sind sie von sekundärer Bedeutung, denn der russische Präsident zielte auf die Reaktion der USA seit Beginn der Militäreskalation gegen die Ukraine.
Russlands geostrategischer Ansatz verfolgt eigentlich eine vertikale (Nord-Süd-)Ausdehnung seiner geopolitischen und geoökonomischen Interessen, die den Arktischen Ozean und die Barentssee umfasst, sein "nahes Ausland" in Osteuropa und im Südkaukasus umspannt und bis nach Eurasien, in den Nahen Osten und nach Nordafrika reicht. Die Westflanke, die für die europäischen NATO-Mitglieder die Ostflanke darstellt, bleibt aufgrund der Konzentration der russischen Bevölkerung in diesem Gebiet einer der wichtigsten geostrategischen Hotspots. Russland verlagert langsam, aber sicher den Schwerpunkt auf Eurasien (Zentralasien, Südkaukasus und Osteuropa), Südasien (Indien, Pakistan, Afghanistan) und in den indopazifischen Raum. Aus diesem Grund will der russische Präsident die Sicherheitsgarantien für Russlands "Einflusssphäre" sowie die Zukunft der Europäischen Sicherheitsarchitektur mit den USA gegenwärtig ausverhandeln, damit er sich zunehmend auf die neuen geopolitischen und geoökonomischen Terrains konzentrieren kann.
Im Vergleich zum aufstrebenden China wird Russland immer nur der kleine Juniorpartner sein. Inwieweit ist das mit dem Moskauer Selbstverständnis zu vereinbaren?
Russland braucht aufgrund seiner Isolation im Westen einen mächtigen Verbündeten, während China einen verlässlichen Juniorpartner mit regionaler Machtprojektion benötigt, um seinen internationalen Einfluss zu stärken. Inwieweit sich diese Beziehung vertiefen wird, ist abhängig von Chinas weiterem wirtschaftlichem Aufstieg. Es liegt im Interesse beider Länder, den Eindruck einer stabilen und widerstandsfähigen Allianz gegen den Westen nach außen zu projizieren. Allerdings gibt es gegenwärtig keine eindeutigen Signale für ein Verteidigungsbündnis zwischen den beiden Mächten. Die Annäherung scheint eher taktischer als strategischer Natur zu sein. Auch die Erhaltung des Status quo wäre wohl für beide Staaten akzeptabel, solange Chinas Aufstieg keine direkte Bedrohung für Russlands strategische Interessen innerhalb der eigenen geografischen Einflusssphäre darstellt.
Peking braucht Russland, um seine Macht in Eurasien zu projizieren?
Moskau profitiert von Chinas terrestrischer Überdehnung, die Asien und Europa über die eurasische Landmasse hinweg verbindet. Darüber hinaus verkörpert die chinesische Seidenstraße eine horizontale geopolitische Ausdehnung, die sich von den westlichen Teilen Chinas bis nach Europa erstreckt und damit Chinas Aufmerksamkeit von Russlands Fernem Osten ablenkt, während sie gleichzeitig die Notwendigkeit der Rolle Russlands bei der Schließung der geopolitischen Lücken in Zentralasien, dem Nahen Osten und Ostafrika unterstreicht. Südasien ist der geografische Raum, in dem Moskau Peking hilft, Afghanistan zu stabilisieren und negative Auswirkungen des Terrorismus auf Kasachstan, Tadschikistan, Usbekistan und Turkmenistan zu verhindern. Der Bau von Brücken zwischen Afghanistan, Pakistan und dem Iran ist für die russischen Interessen von Vorteil. Moskau entwickelt sich zu einem wertvollen Sicherheitsanbieter, der für Chinas geoökonomische Interessen in diesen Regionen von entscheidender Bedeutung ist. Angesichts der systemischen Konfrontation zwischen den USA und China könnte Russland in Zukunft eine unverzichtbare Rolle als globale Söldnermacht für Chinas geoökonomische Interessen in Asien und Afrika spielen.
Dragon-Bear hört sich furchteinflößend an, der deutsche Drachenbär hört sich etwas mehr nach Wolpertinger an. Wo liegen die Spannungsfelder dieser Nicht-Allianz?
Der "Drachenbär" ist weder eine Allianz oder Entente noch eine Scheinehe, sondern eine vorübergehende asymmetrische Beziehung, in der China überwiegend tonangebend ist, aber auf Russland in vielerlei Hinsicht angewiesen bleibt. Solange es das gemeinsame geopolitische Interesse gibt, den globalen Einfluss der USA in den internationalen Angelegenheiten zurückzudrängen, wird die systemische Koordinierung verschiedenster Maßnahmen und Handlungen zwischen Peking und Moskau trotz der sich abzeichnenden Spannungen in Bereichen, in denen sich die jeweiligen nationalen Interessen überschneiden, fortgeführt werden.
Beim "Drachenbären" geht es darum, auf Umwälzungen in allen Schlüsselbereichen adäquat zu reagieren – von der Weltwirtschaft, dem Finanz- und Handelswesen über Diplomatie und politischen Partnerschaften bis hin zu militärischen, verteidigungspolitischen und strategischen Bündnissen und Partnerschaften. Beide Akteure gehen davon aus, dass sich die globale Ordnung in einer Systemtransformation befindet, deren Endergebnis unvorhersehbar ist und deren Auswirkungen auf Russland und China sehr gefährlich sein könnten. Die USA werden versuchen, China und Russland gegeneinander auszuspielen und sich während der systemischen Rivalität mit China Russland zu nähern.
Der Drachenbär ist also kein klassisches Bündnis nach westlichen Vorstellungen. China und Russland haben sich taktisch zusammengefunden, um die unsichere Übergangsphase der Bifurkation des globalen Systems zu bewältigen, ohne dass die strategische Notwendigkeit besteht, eine Allianz einzugehen.
Kommen wir zu den Konflikten zwischen dem Bären und dem Drachen?
Potenzielle Konfliktpunkte zwischen Russland und China ergeben sich aus dieser geografischen Priorisierung und den sich überschneidenden geopolitischen Interessen. Es gibt eine verfestigte russische Angst vor einer zu starken chinesischen Einflussnahme in Zentralasien, im Fernen Osten und in anderen traditionellen Einflusssphären des postsowjetischen Raums. Die allgemeine Hypothese, dass China und Russland eher konkurrierende Interessen in Zentralasien, Afrika, Indien und der Arktis aufweisen, die eine systemische Koordinierung langfristig verhindern, kann gegenwärtig nicht validiert werden.
In wessen Labor ist dieses Frankenstein-Wesen entstanden? Geboren wurde der Drachenbär nach der der Annexion der Krim und den Sanktionen des Westens. Waren die Konflikte um die Krim und die Ostukraine ein historischer Glücksfall für Peking?
Russland hat die Gelegenheit genutzt und seit der Isolierung durch den Westen 2014 sukzessiv einen neuen Modus Vivendi der Zweckgemeinschaft mit China aufgebaut. Seit 2014 vertieften sich die Beziehungen zwischen China und Russland unter dem permanenten Druck der USA. In jenem Jahr verhängten die USA und ihre Verbündeten Sanktionen gegen russische Einrichtungen und Einzelpersonen als Antwort auf die Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim durch den Kreml und die darauffolgende Anstiftung zum Aufstand im Osten der Ukraine. Russland braucht aufgrund seiner Isolation im Westen einen mächtigen Verbündeten, während China einen verlässlichen Juniorpartner mit regionaler Machtprojektion benötigt, um seinen internationalen Einfluss zu stärken.
Hier wird Russland gern als zurückgeblieben beschrieben, was bringt Russland in diese Beziehung ein?
Jahrzehntelang war Russland auch der wichtigste Waffenlieferant Chinas. Weitere wesentliche Bausteine der russisch-chinesischen Kooperation sind die Lieferung der S-400- Luftabwehrsysteme sowie Su-35-Kampfflugzeuge, die Pekings Fähigkeit, amerikanische Kriegsschiffe anzugreifen, verbessern sollten. Seit 2019 entwickelten Russland und China gemeinsam das chinesische Raketenabwehr-Frühwarnsystem. Des Weiteren unterstützt Moskau Pekings Militär mit Technologien, über die der russische Präsident Putin keine weiteren Details verraten will. Russische wissenschaftliche Nachwuchskräfte kommen in China zum Einsatz, um dort bei erfolgreichen Tech- und Telekommunikationsunternehmen wie Huawei zu arbeiten. Chinas fortschrittliche Computerchips stellen für Russland eine weitere Möglichkeit dar, Militärtechnologien zu erwerben, die immer noch von westlichen Sanktionen betroffen sind. Darüber hinaus wurden weitere Kooperationsmöglichkeiten genutzt, z.B. im Bereich der Entwicklung gemeinsamer Satelliten sowie der Errichtung einer künftigen Mondstation. Die Zusammenarbeit mit Blick auf den Weltraum bzw. Neue Technologien der Vierten Industriellen Revolution sind besonders gefahrenträchtig aus der Sicht des Westens. China und Russland haben ihre langjährigen Territorialstreitigkeiten beigelegt und ihre gemeinsame Grenze einvernehmlich demilitarisiert. Ihren bilateralen Beziehungen dürften also weder territoriale Ansprüche noch Grenzstreitigkeiten im Wege stehen. Obwohl beide in territoriale Konflikte mit Drittländern verwickelt sind, meiden sie die direkte Auseinandersetzung miteinander.
Derzeit versucht der Westen etwas dem russischen Muskelspiel gegenüber der Ukraine entgegenzusetzen. Aber was ist, denn der Drache gemeinsam mit dem Bären agiert? Die Provokation um die Ukraine herum von Machtdemonstrationen Pekings ergänzt werden?
Für die USA wäre eine Allianz zwischen China und Russland und somit ein Zwei Fronten-Szenario außerordentlich bedrohlich. Viele Experten zu Russland und China betrachten sie immer noch als getrennte Bedrohungen, dennoch stellt die systemische Koordinierung zwischen Peking und Moskau zunehmend einen komplexen "Bedrohungsmultiplikator" dar. Der russische Präsident Putin versucht, aus dem aktuellen geopolitischen Wettbewerb mit den USA Kapital zu schlagen. Sein Ansatz mit Blick auf die aktuelle Militäreskalation in Osteuropa ist eigentlich dreidimensional: 1) gegen die Ukraine, die stets einen drohenden militärischen Angriff Russlands fürchten muss; 2) gegen die Europäische Union (EU), die bei der jüngsten militärischen Eskalation in der Ostukraine trotz der Drohungen mit weiteren Sanktionen gegen Moskau kein reelles Gegengewicht darstellt und somit in eine geopolitische Irrelevanz gerät; und schließlich 3) gegen China und die USA, indem Moskau den Preis für Russlands künftige Beteiligung an der Systemrivalität zwischen China und den USA deutlich erhöht. Das diplomatische Zwei-Fronten-Szenario, in welchem Russland Chinas Position zu Taiwan und China Russlands Position zur Ukraine ganz offenkundig unterstützen, schafft eine neue Ebene der Konfrontation zwischen dem Drachenbären und den USA. Was China mit Blick auf die Ukraine als "Russlands strategischen Raum" definiert, definiert Russland entsprechend mit Blick auf Taiwan und das Südchinesische Meer als "Chinas strategischen Raum". Man kann den Drachenbären angesichts dieses Zwei Fronten-Szenarios nicht mehr ignorieren.
Der Drachenbär hat nicht allein militärische sicherheitspolitische Interessen. Sie haben die Kooperationen im Bereich von Hight-Tech genannt, dazu kommt die enge Beziehung zwischen Wladimir Putin und Xi Jinping.
Richtig, die chinesisch-russischen Beziehungen werden auf höchster Ebene – zwischen den Präsidenten Wladimir Putin und Xi Jinping – vorangetrieben. Beide Länder sind aktiv darum bemüht, ihre Wirtschaftsbeziehungen zu diversifizieren, indem sie potenzielle Geschäftsinteressen identifizieren und forcieren. Das Handelsvolumen wird kontinuierlich und erfolgreich ausgebaut. Die sicherheitspolitische Kooperation entwickelt sich auch innerhalb der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ), deren Rolle als aufstrebende regionale Struktur nach dem Beitritt Indiens, Pakistans und dem bevorstehenden Beitritt des Irans an Bedeutung gewinnen wird. Diplomatisch blüht die bilaterale Beziehung ebenso auf. Der chinesische Außenminister Wang Yi hat bereits die Vertiefung der Beziehungen und deren inhaltlichen Ausbau im Blick. Der russische Präsident Putin betont, die Beziehungen zu China hätten ein noch nie gekanntes Niveau erreicht. Dennoch werden die Beziehungen zwischen China und Russland offiziell nicht als Allianz, sondern als etwas bezeichnet, das "besser sei als sämtliche Bündnisse".
International erleben wir bereits eine neue Blockbildung durch die beiden Akteure.
Vor allem in internationalen Organisationen ist die verstärkte systemische Koordinierung schwer zu übersehen. Das Stimmverhalten beider Staaten im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zeigt einen zunehmend positiven Trend, wenn es um die Abstimmung ihrer Positionen gegenüber aktuellen internationalen Angelegenheiten geht. Im Energiesektor ist die Interessenslage komplementär, da Russland zusammengerechnet der größte Öl- und Gaslieferant weltweit ist, während China nach wie vor der größte Energieverbraucher bleibt. Eine ähnliche Energieabhängigkeit wie zwischen Russland und Europa könnte in Zukunft entstehen, weil Moskau zunehmend China über verschiedene Pipelines mit Öl und Erdgas, aber auch mit Elektrizität versorgt. Andererseits profiliert sich Russland dadurch verstärkt auf den asiatischen Märkten und kann zugleich sein eigenes Energieportfolio weg von Europa diversifizieren.
Den USA dienen die Weltmeere als Raum der Machtprojektion, demgegenüber über entsteht ein Bündnis, das sich auf die eurasische Landmasse stützt.
Der wichtigste gemeinsame Nenner ist nicht nur die Zielsetzung, sich den USA entgegenzustellen, sondern auch die Schaffung einer bedeutsamen eurasischen Konnektivität als Antwort auf die maritime Dominanz der USA im indopazifischen Raum, um damit die Versorgungssicherheit im Falle künftiger Blockaden der Seewege sicherzustellen.
Mit dem Vorteil, dass die Meere internationales Gebiet sind, die Landmasse aber national – man anderen Akteuren einfach den Zutritt verweigern kann.
Moskau und Peking verfolgen auch das gemeinsame Ziel, den Einfluss der USA und Europas in Eurasien zu reduzieren. Der diesjährige Militäreinsatz Russlands mit der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) zur raschen und effizienten Stabilisierung der Lage in Kasachstan half Moskau, seine regionale Position gegenüber den USA und China inmitten der Bifurkation des globalen Systems und der militärischen Eskalation in Osteuropa zu verbessern. Russland verhalf dem kasachischen Präsidenten Tokajew an der Macht zu bleiben und erlangte über zusätzliche politische Hebelfunktionen im Land, das einen bedeutenden Anteil an Rohstoffen aufweist und eine wesentliche Rolle bei der chinesischen Seidenstraßen-Projekten spielt. Kasachstan ist auch Mitglied in den beiden wichtigsten regionalen Organisationen Russlands und Chinas. Der russische Präsident Putin wird den Preis für die künftige Involvierung Russlands auf Einladung autoritärer Regime, die an der Macht bleiben wollen, erhöhen. Nach Russlands Unterstützung für den syrischen Präsidenten Assad und den belarussischen Präsidenten Lukaschenko ist nun der kasachische Präsident Tokajew die nächste Führungspersönlichkeit, die die russischen Interessen vor Ort und darüber hinaus wahren soll.
Putin tritt dabei international als brutaler Rüpel auf, welche Rolle spielt China?
China wird von Russlands Machtprojektion im nahen Ausland und in Eurasien insofern profitieren, da es diesen Ländern wirtschaftliche und finanzielle Anreize bietet, sobald die Lage dort stabilisiert wird. Moskau entwickelt sich zu einem globalen Sicherheitsanbieter, der für Chinas geoökonomische Interessen in Eurasien und anderen Teilen der Welt agieren könnte. Der Drachenbär hat vielleicht eine erfolgreiche Formel der Aufgabenteilung entdeckt (Russland ist der Sicherheitsanbieter, China ist der Finanz- und Wirtschaftsanbieter), welche auch in anderen Teilen der Welt angewendet werden kann.
Sie vertreten die These, dass das Scheitern der Ambitionen der USA häufig nicht primär militärische Gründe hat, auch wenn sich die Aufmerksamkeit im Falle von Afghanistan darauf richtet.
Die Großmächte haben immer wieder versucht, Afghanistan zu einer Bühne für ihre geopolitischen Ambitionen zu machen, und sind dabei gescheitert. Amerika ist die jüngste Supermacht, die nach zwei Jahrzehnten erfolgloser Besatzung und Staatsbildung eine katastrophale Niederlage in dem Land erlitten hat. Washingtons Misserfolg bei der Durchführung von Großprojekten in den Bereichen Energie, Infrastruktur und Konnektivität war einer der Hauptgründe für den unzureichenden Stabilisierungserfolg in den letzten zwanzig Jahren. Inzwischen bereitet sich Peking mit russischer Unterstützung sorgfältig darauf vor, die von den USA hinterlassene geopolitische und geoökonomische Lücke zu füllen. Der Schwerpunkt liegt auf terrestrischer Konnektivität (Transport, Handel und Energie) in Verbindung mit den zentralasiatischen Ländern sowie Pakistan und dem Iran.
Die Welt steht an einer Weichenstellung. Sie benutzen dafür den Begriff "Bifurkation" – "Gabelung". Das ist nicht ganz so griffig wie der Drachenbär. Was meinen Sie damit?
Das globale System wird zunehmend vernetzt und eine unerwartete, aber logische Manifestation der COVID-19-Krise ist dessen Bifurkation. Die internationale Ordnung ist in eine Übergangsphase eingetreten, in der sich zwei Machtzentren herausbilden – die USA und China. Die USA hat die internationalen Beziehungen sowie die maßgeblichen sozioökonomischen Netzwerke seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion durch ihre unangefochtene globale Machtprojektion geprägt. China hat in Anbetracht seines beeindruckenden Wirtschaftswachstums die Erwartungen an seinen weiteren Aufstieg hochschnellen lassen. Es bleibt jedoch abzuwarten, ob Peking in der Lage sein wird, sein wachsendes geoökonomisches Gewicht und seinen geopolitischen Einfluss in globale Machtprojektion umzuwandeln.
Die Covid-Pandemie hat diese Transformation noch beschleunigt.
Aufgrund der sozioökonomischen Turbulenzen und der langwierigen Auswirkungen der weltweiten Pandemie befinden sich die internationalen Angelegenheiten derzeit an einem Wendepunkt. Der Prozess zunehmender Bipolarisierung der Netzwerke und Strukturen der Globalen Ordnung ist bereits im Gang und manifestiert sich durch die Vertiefung der systemischen Rivalität zwischen China und den USA, während alle bedeutenden regionalen Akteure und Trittbrettfahrer (einschließlich Russland) sich früher oder später in diesem neuen Machtwettbewerb positionieren müssen.
Die schöne Zeit des Westens, der unangefochtenen weltweiten Dominanz der USA und ihrer Verbündeten, geht zu Ende. In der neuen Phase erwähnen Sie drei Akteure China, USA und Russland. Warum spielen die Staaten der EU keine Rolle?
Europa ergreift in der wachsenden systemischen Rivalität zwischen den USA und China nicht Partei, und die EU meidet auch, in dieser Rivalität "Entweder/Oder"-Entscheidungen zu treffen. Brüssel versucht einen einzigartigen europäischen Weg verfolgen, um durch die wachsende systemische Bipolarität mit mehreren regionalen Krisenherden und die sich abzeichnende Polarisierung zwischen zwei Machtzentren des Globalen Systems – den USA und China – zu navigieren. Sowohl die EU als auch Russland sind Trittbrettfahrer im globalen Machtwettbewerb, aber die europäischen Mächte versuchen, potenzielle Gefahrsituationen zu vermeiden, in denen ein Einsatz von "Hard Power" erforderlich wäre, während Moskau versucht, harte Macht in jenen Situationen einzusetzen, die zu mehr Verhandlungsmacht oder einer Ausweitung der eigenen Machtprojektion führen könnten.
Die EU-Staaten schrecken vor dem Einsatz von Gewalt zurück. Während, wie Sie sagten, "Hard Power" das Gebiet ist, in dem Putin seine Nützlichkeit gegenüber China beweist. Gleichzeitig wird die Welt unruhiger, weil mehr regional potente Akteure mit eigenen Interessen auftauchen.
Das größte Risiko für Europa ist neben der zunehmenden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Destabilisierung des Kontinents das Entstehen von Fragmentierungslinien entlang konkurrierender geopolitischer Interessen externer Akteure. Die Vertiefung dieser Trennungslinien könnte die EU daran hindern, auf der globalen Weltbühne kohärent und strategisch zu handeln. Die divergierenden Ziele der Hauptakteure – USA, China, Russland, Türkei usw. – spalten die europäischen Mitgliedstaaten und Institutionen in geopolitischen Fragen weiter. Dies hat zur Folge, dass die EU in den zunehmend umkämpften Gebieten in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft im Süden und Osten immer weniger Handlungsspielraum hat, während andere regionale Akteure nicht nur über Kampferfahrung verfügen, sondern auch vor dem Einsatz von Gewalt nicht zurückschrecken. Die geopolitischen Lücken, die sich im Nahen Osten, in Nordafrika und in Osteuropa zunehmend auftun, werden auch von diesen agilen regionalen Akteuren gefüllt werden, was die konfliktreichen Beziehungen der EU zu Moskau und Ankara weiter verschärft. Ein gemeinsamer Nenner wird darin bestehen, eine Annäherung der europäischen Positionen gegenüber Russland und der Türkei zu erreichen.
Die vielbeschworenen "Soft Power" kommen an ein Ende, wenn die Staaten der EU sich nicht einig sind und andere auf nackte Gewalt setzen?
Auch die EU muss in der Lage sein, in der unmittelbaren europäischen Nachbarschaft im Süden und Osten schnell und effizient "harte" Macht auszuüben. Nur so können die EU und ihre Mitglieder als geopolitischer Akteur wahrgenommen werden, indem sie die Entwicklungen vor Ort direkt mitgestalten und sich aktiv an wichtigen politischen Verhandlungen beteiligen. Wenn man "die Sprache der Macht" lernen will, muss man anfangen, innerhalb der EU die gleiche Sprache zu sprechen, zumindest auf strategischer Ebene. Zwischen dem europäischen Anspruch und der Realität liegt jedoch noch ein weiter Weg. Es braucht vor allem einen strategischen Konsens innerhalb der EU, der von allen Mitgliedsstaaten getragen wird. Dies ist nicht unmöglich, wird aber durch das Fehlen einer einheitlichen Position gegenüber gemeinsamen Bedrohungen, geopolitischen Zielen und großen Konkurrenten und Rivalen erschwert. Solange man nach außen hin den Eindruck erweckt, in grundlegenden außenpolitischen Fragen uneins zu sein, wird man in einer Welt, die zunehmend von Großmachtpolitik geprägt ist, nicht ernst genommen.
Beim Muskelspiel Russlands geht es also weniger um etwaige Landgewinne in der Ukraine, sondern um eine Positionierung Russlands in diesem Dreieck USA China Russland? Welches Spiel spielt Putin?
Die jüngste militärische Eskalation an der ukrainischen Grenze und die unrealistischen Forderungen Russlands an die USA und die NATO hinsichtlich der Sicherheitsarchitektur in Europa zeigen Moskau in einem Vorbereitungsmodus auf "das lange Spiel", d.h. die systemische Rivalität zwischen Washington und Peking, sowie Russlands künftige Positionierung darin. Der russische Präsident Wladimir Putin versucht, die regionale Position Russlands gegenwärtig zu verbessern, indem er die amerikanische Reaktion auf Moskaus Forderungen in Bezug auf Europas Sicherheitsarchitektur testet. Er rechnet damit, dass die USA aufgrund der bevorstehenden Zwischenwahlen am 8. November eine direkte Involvierung in einen möglichen militärischen Konflikt zwischen Russland und der Ukraine meiden werden.
In einer verdrehten Logik kann man sagen: Indem Putin die Ukraine bedroht, macht er den USA ein Angebot?
Russland macht sich durch seine Machtdemonstration zu einem unverzichtbaren Akteur, ohne den keiner der beiden Rivalen – Amerika und China – den Wettbewerb gegeneinander gewinnen könnte. Der russische Präsident betrachtet es als eine einmalige Gelegenheit, die Bereitschaft der USA zu bilateralen Gesprächen mit Moskau sowie die roten Linien Amerikas für künftige Zugeständnisse gegenüber Russland zu testen. Sollte Washington tatsächlich beabsichtigen, Russland langfristig aus Chinas Einflussbereich ausbrechen zu lassen, so hat Moskau dafür seine Bedingungen gegenüber den USA deutlich bekundet.
Wir blicken auf Europa, die Ukraine und jetzt mal wieder auf Nord-Afrika, aber international spielt die Musik ganz woanders. Wohn blickt der Drachenbär?
Für die USA wäre eine Allianz zwischen China und Russland und somit ein Zwei Fronten-Szenario in der Zukunft außerordentlich bedrohlich. Allerdings wird der wichtigste gemeinsame Nenner dieser Zweckgemeinschaft die Zielsetzung bleiben, sich den USA in allen relevanten Bereichen der internationalen Politik entgegenzustellen. Langfristig ist auch zu erwarten, dass die USA sich zunehmend aus Europa zurückziehen werden, um sich dem Indopazifik, vor allem Chinas Aufstieg in Ostasien, zu widmen. Auch Russland könnte sich einen signifikanten Zugang zum Indopazifik über mehrere geopolitische Korridore verschaffen. Derzeit baut Moskau seine militärische Präsenz in Afrika aus und strebt die Errichtung von Militärstützpunkten in mehreren afrikanischen Ländern an, darunter Madagaskar, Mosambik und Sudan. Auf diese Weise könnte Russland einen maritimen Zugang zum Indischen Ozean erhalten und auf lange Sicht seine Machtprojektion gemeinsam mit China, aber auch Indien, im Indopazifik ausbauen. Darüber hinaus bleibt Indien trotz der Vertiefung der Beziehungen zwischen Moskau und Peking ein strategischer und traditionell zuverlässiger Partner Russlands. Auf diplomatischer Ebene unterstützt Russland Chinas Haltung im indopazifischen Raum und erklärt sich offen gegen geopolitische Blöcke wie den Sicherheits- und Verteidigungspakt zwischen den USA, Großbritannien und Australien (AUKUS) und QUAD (USA, Indien, Australien und Japan). Moskau ist auch offen für Indiens Vorschlag einer aktiveren Rolle Russlands im indopazifischen Raum. Neu-Delhi und Moskau haben ein gemeinsames geoökonomisches Interesse an der Schaffung einer Alternative zu Chinas terrestrischer Seidenstraßen-Konnektivität in Süd- und Zentralasien, weshalb sie den Internationalen Nord-Süd-Transportkorridor (INSTC) als multimodale Transitroute fördern, die Indien mit Europa, Zentralasien und Russland verbindet. Auch wenn Russland im Wettbewerb zwischen den Großmächten im indopazifischen Raum derzeit keine Schlüsselrolle spielt, wird das Land in den künftigen geopolitischen Konstellationen in diesem bedeutendsten geografischen Raum ein unverzichtbarer Akteur werden. Somit werden die USA mit dem Drachenbären auch in anderen Teilen der Welt zu tun haben.
Im Machtpoker zwischen Peking und Washington spielt Russland den Joker. Die USA würden Moskau am liebsten aus der Nähe zu Peking herausbringen. Gibt es dafür eine Chance? Was kann der Westen Russland geben, ohne seine Glaubwürdigkeit zu verlieren?
Momentan sehen die Chancen schlecht aus. Obwohl beide in territoriale Konflikte mit Drittländern verwickelt sind, meiden China und Russland die direkte Auseinandersetzung miteinander. Das diplomatische Zwei-Fronten-Szenario, in welchem Russland Chinas Position zu Taiwan und China Russlands Position zur Ukraine ganz offenkundig unterstützen, schafft eine neue Ebene der Konfrontation zwischen dem Drachenbären und den USA. Was China mit Blick auf die Ukraine als "Russlands strategischen Raum" definiert, definiert Russland entsprechend mit Blick auf Taiwan und das Südchinesische Meer als "Chinas strategischen Raum". Man kann den Drachenbären angesichts dieses Zwei Fronten-Szenarios nicht mehr ignorieren.
Weder die USA noch China wollen ein Szenario, in welchem Russland Teil des gegnerischen geopolitischen Blocks wird. Aus Chinas Sicht wäre eine Ad-hoc-Partnerschaft zwischen Russland und den USA das Worst-Case-Szenario. Umgekehrt wird Russland keine chinesische Vorherrschaft im Sinne einer "Pax Sinica" in Eurasien und den benachbarten Gebieten im "nahen Ausland" (Schwarzmeerraum, Ostmittelmeerraum, Südkaukasus und Osteuropa) jemals billigen. Für die USA wäre eine Allianz zwischen China und Russland und somit ein Zwei Fronten-Szenario außerordentlich bedrohlich.