SPD-Spitze auf Werbetour Oh, wie schön ist der Koalitionsvertrag

Klar haben die SPD-Mitglieder einiges am Koalitionsvertrag zu kritisieren. Aber bei einer Veranstaltung mit Sigmar Gabriel in Hamburg gab es vor allem Zustimmung. Sagen die Genossen nun doch "Ja" ?

SPD-Chef Sigmar Gabriel betritt mit dem Ersten Bürgermeister Olaf Scholz den Saal. Gabriel lächelt und geht auf die Bühne. Die rund 900 Genossen, die am Dienstagabend ins Hamburger Curio-Haus gekommen sind, wo der Parteichef persönlich für den Koalitionsvertrag werben will, spenden hanseatisch höflich Applaus. Gabriel winkt und setzt sich. Der Applaus steigert sich plötzlich. Ein paar Parteimitglieder johlen. Für das Hamburger Gemüt ist das nahezu ein Gefühlsausbruch.

Nanu, was soll die Freude? Wo sind die renitenten GroKo-Skeptiker? Die "Nein"-Wähler, die Oppositionsbefürworter und die, die Angst vor dem Bedeutungsschwund der SPD haben? Diejenigen unter den knapp 475.000 Parteimitgliedern, welche die Große Koalition verhindern könnten und damit Gabriel um den politischen Aufstieg bringen und in Deutschland eine Staatskrise auslösen könnten? Sie scheinen sich in Luft aufgelöst zu haben, zumindest bei der Hamburger Regionalkonferenz, der 13. von insgesamt 32 Veranstaltungen, auf denen die SPD-Spitze der Basis die Große Koalition anpreist.

"Ich habe schon mit "Ja" gestimmt, der Wahlzettel ist auf dem Weg nach Berlin", sagt ein Parteimitglied, ein älterer Herr aus einem Vorort Hamburgs. Der Stimmzettel sei bereits am Vortag im Briefkasten gelandet. In neun Tagen müssen sie alle in Berlin sein, denn am 14. Dezember soll ausgezählt und das Ergebnis verkündet werden. "Ich bin ein Vernunftmensch", sagt das langjährige SPD-Mitglied. Es gebe zwar einiges, was ihm im Koalitionsvertrag nicht passe, etwa die Regelung zur Elternzeit, die sei zu kurz. "Aber man muss eben Kompromisse machen." So sehe es auch sein Ortsverband, in dem 40 Mitglieder sind, die alle "Ja" ankreuzen wollten.

Einmalige Chance für Mindestlohn

"Die Chance, einen Mindestlohn einzuführen gibt es nur einmal und zwar jetzt", sagt eine Parteiangehörige aus dem Stadtteil Altona. Würde diese Chance vergeben, sei das Thema für alle Zeiten vom Tisch, meint sie. Und im Verhältnis zum miesen Ergebnis der SPD bei der Bundestagswahl von 25,7 Prozent sei der Koalitionsvertrag doch erstaunlich sozialdemokratisch geworden.

Kein Wunder, dass Gabriel so gelassen auf der Bühne in der ehemaligen Mensa der Universität Hamburg steht. Er erzählt, was die SPD-Spitze in den Verhandlungen mit CDU und CSU erreicht hat: Mindestlohn, Entgeltausgleich und doppelte Staatsbürgerschaft. Aber er verschweigt auch nicht, was die sozialdemokratischen Verhandlungsführer nicht durchgesetzt haben: Bürgerversicherung, Steuererhöhung für Spitzenverdiener und die Gleichstellung homosexueller Partnerschaften. Er beschwichtigt, wo es nur noch wenig zu beschwichtigen gibt: "Es ist nicht so, dass Angela Merkel wie die schwarze Witwe im Netz sitzt und wartet, bis die SPD kommt, um sie zu fressen."

Vor wenigen Wochen, vor der Veröffentlichung des 185 Seiten starken Vertragswerks, war das noch anders. Kreis- und Ortsverbände, Jusos und Gewerkschaften lehnten die Große Koalition ab. Aus Angst, das die neu definierten Werte der Sozialdemokraten von der übermächtigen CDU/CSU-Fraktion zerrieben werden und in vier Jahren ein noch schlechteres Wahlergebnis als in diesem Jahr droht. Aus Angst um die Demokratie, da die Opposition im Bundestag so klein ist, dass sie kaum Rechte besitzt. Doch vor zwei Tagen bestätigte eine Forsa-Umfrage, dass drei Viertel der SPD-Mitglieder der Großen Koalition zustimmen wollen.

"Ich bin Fan"

Doch es gibt noch "Nein"-Sager. "Mich stört, dass Sigmar überall das Gleiche erzählt, ich habe das alles schon im Fernsehen gesehen", sagt ein 26-Jähriger Deutsch-Türke, einer der Jüngsten hier. Das sei nur Werbung, aber keine offene Debatte. "Die Große Koalition bedeutet Stillstand der SPD auf Bundesebene", sagt er. Und das, so befürchtet er, werde sich dann negativ auf die SPD-regierten Länder auswirken. Die Kompromisse im Koalitionsvertrag seien faul, etwa sei die Finanzierung der Mütterrente nicht plausibel, und die doppelte Staatsbürgerschaft könne auch nicht jeder beantragen. "Eigentlich denken alle so wie ich, aber sie folgen dem Vorstand aus Parteisolidarität", glaubt er.

Trotz Ablehnung der Großen Koalition lässt er nichts auf Gabriel kommen. "Ich bin Fan", sagt er. Und ein Parteimitglied aus Hamburg Mitte sagt sogar: "Dass Sigmar so redet, dass es alle verstehen und auch sagt, was schiefläuft, das liebe ich an ihm." Die "Basta"-Politik von Gerhard Schröder hatten viele in der SPD satt. Gabriel tendiere zwar auch zu Wutausbrüchen, aber er habe Ruhe und Ordnung in die Partei gebracht. "Seit er und Andrea Nahles vor drei Jahren begonnen haben, hat die SPD einen Schub nach vorne erlebt."

Gabriel, der Unermüdliche, ist auf dem Weg zum Zenit. Er hat einen Koalitionsvertrag ausgehandelt, von dem FDP-Chef Christian Lindner meint, dass er sozialdemokratisch sei. In den vergangenen Wochen hat er Sympathiepunkte gewonnen, und sogar das patzige Interview mit ZDF-Moderatorin Marietta Slomka, in dem sie ihn hart mit verfassungsrechtlichen Bedenken bezüglich des Mitgliederentscheids angriff, hat er zu seinen Gunsten nutzen können. "Manchmal muss man sich ja fast bedanken, über solche Begebenheiten", sagt er dazu. Er wirkt gelassen. Stoppen können ihn jetzt nur noch die Mitglieder der eigenen Partei. Aber das werden sie voraussichtlich nicht machen.

Birgit Haas