09.09.2024

Untröstlich? – Was ein Suizid mit den Überlebenden macht

Diesen Bericht einer ehrenamtlichen Kollegin veröffentlichen wir hier anlässlich des Weltsuizidpräventionstages. Der 10. September erinnert jährlich daran, dass wir nicht hinnehmen dürfen, dass sich Menschen selbst töten. Was ein solcher Schritt für Angehörige bedeutet, wird hier eindrucksvoll geschildert.

So persönlich hätte ich es mir gar nicht vorgestellt. Ich hatte die Leiterin der AGUS-Gruppe in meiner Gemeinde um ein Gespräch gebeten. Ich wollte wissen, wie Menschen getröstet werden können, die einen Angehörigen durch Suizid verloren haben. Ich habe verstanden: Jeder, jede Betroffene findet Trost auf eine vollkommen individuelle Weise.

Für Tina Schreiber (deren Namen ich geändert habe, damit es nicht über das Individuelle hinaus zu persönlich wird) gab es nach dem Suizid ihres Mannes erstmal keinen Trost – es ging nur darum, selbst am Leben zu bleiben, den Kontakt zur Welt irgendwie aufrecht zu erhalten. Hilfe dafür gab es schon, und die war essenziell. „Nach dem Suizid eines Angehörigen halbiert sich Dein Freundeskreis – im besten Fall“, konstatiert Tina Schreiber nüchtern. Nach wie vor können viele Menschen mit diesem Thema nicht umgehen, begnügen sich mit hilflosen Floskeln, nicht aus Bösartigkeit, sondern weil sie dem Ereignis ratlos gegenüber stehen. „Am schlimmsten ist der bestimmt gutgemeinte Satz: ‚Ruf mich an, wenn Du etwas brauchst.‘ – Denn genau das können Menschen in einer solchen Situation eben nicht: selbst aktiv werden, sich Hilfe holen.“

Tina Schreiber hatte Glück im tiefsten Unglück: ihre Familie und die engsten Freundinnen und Freunde sorgten dafür, dass sie so sein konnte, wie ihr zumute war. Dass sie nicht funktionieren musste – was sie gar nicht gekonnt hätte. Und sorgten gleichzeitig dafür, dass sie den Kontakt zum Alltag nicht völlig verlor. Indem sie ihr, nicht andauernd, aber immer wieder, Fragen stellten, die selbstständige Unternehmerin immer wieder in Entscheidungen für ihre Firma einbanden, ihr auf diese Weise kleine Schritte zurück in einen Lebenszusammenhang ermöglichten.

Schritte zurück ins Leben

Sechs Wochen nach dem Suizid ihres Mannes konnte Tina Schreiber aktiv werden: sie suchte sich eine Selbsthilfegruppe. Zwei Jahre fuhr sie regelmäßig zu den Gruppentreffen der AGUS in eine rund 200 Kilometer entfernte Stadt. Sie lernte viel in dieser Zeit. „Vielleicht die schmerzhafteste Erkenntnis: das Trauerjahr gibt es nicht. Es ist nicht so, dass die Trauer nach einem Jahr abklingt. Für mich fing sie dann eigentlich erst an“, sagt Tina Schreiber.

Es ging quälend langsam – auch in der Selbsthilfegruppe. Lange Zeit hatte sie das Gefühl zu stagnieren, festzustecken in einem Alptraum ohne Erwachen. „So blöd das klingt: geholfen hat mir, in der Selbsthilfe Menschen zu erleben, die nach mir dorthin kamen. Da habe ich gemerkt, ich habe doch ein paar Schritte gemacht.“ Welche Schritte das waren? „Ich habe alle Informationen zum Suizid meines Mannes gesammelt, die ich irgendwie bekommen konnte – von der Klinik, in der er wegen seiner Depressionen war, von Freunden, mit denen er gesprochen haben könnte, von der Familie. Es war der Versuch, ein Puzzle zusammenzusetzen. Und um es gleich dazu zu sagen: Alle Steine habe ich nicht gefunden, das Bild ist bis heute unvollständig. Trotzdem hat mir das geholfen. Ich konnte die Frage nach dem Warum beenden, weil ich wusste, ich würde keine weiteren Antworten bekommen.“

Geholfen hat Tina Schreiber auch der regelmäßige Austausch mit einer befreundeten Seelsorgerin. „Sie hat mich dort abgeholt, wo ich gerade war – mir aber auch gleichzeitig immer wieder gespiegelt, dass meine damals sehr negative Weltsicht nicht die einzig mögliche ist.“ Welche Gefühle hatte Tina Schreiber in Bezug auf ihren Mann? „Klar war ich auch wütend. Wie konnte er mir, wie konnte er unseren Kindern das antun? Gerade um die Kinder hatte ich auch große Angst. Ein Elternteil verlässt Dich auf so eine Weise? Ein schlimmerer Beziehungsabbruch ist schwer vorstellbar. Auch hier war mir übrigens AGUS eine große Hilfe: es gibt dort regelmäßige Jahrestagungen, wo auch die Kinder einbezogen sind. Dort zu erleben, dass andere Kinder und Jugendliche das gleiche durchgemacht haben, kann für sie sehr hilfreich sein.“

Hilfe durch Selbsthilfe

Apropos AGUS: die Selbsthilfeorganisation „AGUS – Angehörige um Suizid“ war und ist für Tina Schreiber ein wesentlicher Bestandteil ihres Lebens. „AGUS ist wirklich Selbsthilfe – jede und jeder kann aufgrund der eigenen Erfahrung eine Gruppe gründen. Und genau das habe ich dann irgendwann getan. Als AGUS Gruppenleiterin hast Du sehr viel Freiraum. Du musst Räume organisieren und Zeiten festlegen. Ansonsten gilt für alle Gruppen, dass die Themen vertraulich behandelt werden, dass die Gruppe weltanschaulich neutral ist und dass sie kostenlos ist. Darüber hinaus hat die Gruppenleiterin sehr große Freiheit darin, wie sie ihre Gruppe leitet.“

In den Selbsthilfegruppen gibt es übrigens viele Menschen, die erst nach Jahren einsteigen: die Verarbeitungswege sind so individuell wie die Menschen. Wann der Zeitpunkt gekommen ist, sich mit dem Trauma dieses Verlusts auseinanderzusetzen, kann jeder Mensch nur für sich selbst entscheiden. Es gibt rund 125 Gruppen in Deutschland: große und kleine. In einigen Orten gibt es Gruppen nach Betroffenheit, am häufigsten solche für Eltern, aber auch für junge Betroffene oder Partnerinnen und Partner. Es finden jährliche Weiterbildungstreffen für die Gruppenleitungen statt; AGUS empfiehlt eine Teilnahme alle zwei Jahre.

Tina Schreiber hat den Weg zurück ins Leben gefunden. Sie ist beruflich erfolgreich, lebt in einer Partnerschaft und steht in gutem Kontakt zu ihren Kindern und Enkeln. Sind Trauer und Schmerz tatsächlich Vergangenheit? „Nein, nicht endgültig. Sie sind Teil meines Lebens, meiner Geschichte, und das akzeptiere ich.“

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Das Foto zu diesem Beitrag stammt von Lars Nissen/Pixabay

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