„Es kann nie genug Erinnerungskultur geben“
Felix Klein, der Beauftragte der Bundesregierung für den Kampf gegen Antisemitismus, muss an vielen Fronten gleichzeitig wirken. Er warnt vor einer Verharmlosung linken und islamischen Judenhasses.
Erst kam im Sommer 2017 heraus, dass die Dienstvilla des Bundespräsidenten in der Berliner Pücklerstraße unter höchst dubiosen Umständen 1933 von ihrem jüdischen Eigentümer verkauft werden musste. Jetzt hat das Magazin „Cicero“ enthüllt, dass auch die heutige irakische Botschaft in der Bundesrepublik, gelegen in der Pacelliallee ebenfalls im Ortsteil Dahlem, 1934 „arisiert“ wurde.
Was bedeuten solche Erkenntnisse? Welche Konsequenzen muss man daraus ziehen? Erster Ansprechpartner für solche Fragen ist Felix Klein, Diplomat und Beauftragter der Bundesregierung für den Kampf gegen den Antisemitismus. Der 51-Jährige ist seit anderthalb Jahren im Amt.
WELT: Haben Sie damit gerechnet, dass bei Bundes- oder anderen politisch relevanten Immobilien noch Fälle verfolgungsbedingter Vermögensentziehung entdeckt werden?
Felix Klein: Es gibt viele Immobilien, deren Vergangenheit noch nicht hinreichend ausgeleuchtet ist. Daher liegt schon nahe, dass auch Bundesliegenschaften in den Blick geraten – nicht nur wegen der Arisierung, es können auch andere hochproblematische Themen sein, etwa Euthanasie. Ich halte es für richtig, das systematisch anzugehen.
WELT: Der Historiker Julien Reitzenstein, der die Vorgeschichte der beiden Immobilien in der Pücklerstraße und der Pacelliallee aufgedeckt hat, schlägt in einem Brief an Innen- und Bauminister Horst Seehofer (CSU) vor, in diesem Ministerium eine Art Stabsstelle einzurichten, um die Vergangenheit aller Bundesimmobilien zu überprüfen. Unterstützen Sie das?
Klein: Ohne dem Minister vorgreifen zu wollen, halte ich das aus meiner Sicht als Antisemitismusbeauftragter der Bundesregierung für einen guten Vorschlag. Allerdings wäre nicht das Innen- und Bauministerium zuständig, sondern die dem Bundesfinanzministerium nachgeordnete Bundesanstalt für Immobilienaufgaben. Ich habe Herrn Reitzenstein gebeten, sich an Olaf Scholz zu wenden, und werde seinen Vorschlag unterstützen. Aber jenseits solcher Zuständigkeitsfragen gilt: Es wäre gut, wenn der Bund mehr Sensibilität entwickelte und im Zusammenhang mit eigenen Immobilien systematisch darauf hinwiese, welche Folgen Antisemitismus haben kann. Und dass wir verantwortungsbewusst damit umgehen.
WELT: Was sollte das konkrete Ziel einer solchen Stelle sein?
Klein: Restitutionsfragen stehen hier nicht im Vordergrund, da sind die maßgeblichen Fristen abgelaufen. Es geht um historische Sensibilisierung. Die Nutzer der Liegenschaften sollten wissen, ob es in der Vergangenheit eine hochproblematische Nutzung gegeben hat. Ein Beispiel: die Berliner Villa, in der am 20. Januar 1942 die berüchtigte Wannsee-Konferenz stattgefunden hat. Diese Liegenschaft kann natürlich nie mehr als „normale“ Immobilie genutzt werden. Folgerichtig arbeitet ja dort schon seit fast 30 Jahren eine Gedenkstätte. Das ist natürlich ein Extremfall.
WELT: Nun besteht zumindest in Berlin kein Mangel an Gedenkorten für Opfer des Nationalsozialismus...
Klein: ...es ist eine Daueraufgabe der Bundesregierung, der Verwaltung und der Zivilgesellschaft, an die Schrecken des Nationalsozialismus und des Holocaust zu erinnern. Das hört nie auf, sondern ist eine immerwährende Verantwortung. Dazu gehört, authentische Orte sichtbar zu machen. Wie genau, muss man im Einzelfall entscheiden – ob durch das extrem gute Projekt der Stolpersteine oder der Bundespräsidentenvilla durch eine Stele.
WELT: Man könnte kritisieren, das sei allzu rückwärtsgewandt.
Klein: Nein, im Gegenteil. Ich halte eine gelungene, emotional ansprechende Erinnerungskultur für ein ganz wichtiges Mittel im Kampf gegen Antisemitismus heute. Davon kann es nie genug geben.
WELT: Wo sehen Sie abseits der Überprüfung von Immobilien weiteren Handlungsbedarf bei der Aufarbeitung des nationalsozialistischen Antisemitismus?
Klein: Da gibt es schon einiges, denken Sie an die Diskussion über die Formulierung des Mordparagrafen im Strafgesetzbuch, die aus der Nazizeit stammt. Den halte ich für reformbedürftig. Grundsätzlich würde ich sagen: Wenn eine rechtliche Regelung damals wesentlich von der Rassenideologie oder ähnlichen nationalsozialistischen Vorstellungen beeinflusst worden ist, dann müssen wir da ran.
WELT: Derzeit gibt es zumindest zwei Abgeordnete in Deutschland, die nach eigenen Äußerungen die „Protokolle der Weisen von Zion“ für echt halten. Muss man mit so einem Bodensatz von Antisemitismus einfach leben?
Klein: Nein, auf keinen Fall, wir müssen gegen alle Formen von Antisemitismus vorgehen. Es gibt nämlich keine harmlose Judenfeindschaft. Ich verwahre mich auch dagegen, eine Art Hierarchisierung von Antisemitismus vorzunehmen, nach dem Motto: Rechtsextremer Judenhass ist aber schlimmer als islamischer oder linker oder israelbezogener Antisemitismus. Jede Form muss auf unseren entschiedenen Widerstand stoßen.
WELT: Der Bundestag hat es abgelehnt, einen Vertreter der AfD ins Kuratorium der Berliner Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas, besser bekannt als Holocaust-Mahnmal, zu wählen. Eine angemessene Entscheidung?
Klein: Nun, ein Spitzenpolitiker dieser Partei hat das Denkmal für die ermordeten Juden Europas als „Denkmal der Schande“ bezeichnet. Weder die Parteiführung noch die Bundestagsfraktion haben sich davon distanziert. Es gibt also ein sehr problematisches Verhältnis der AfD zu dem Denkmal. Das muss aus meiner Sicht geklärt werden, bevor die AfD einen Sitz im Kuratorium einnehmen kann.
WELT: In der deutschen Geschichte hat der alte, der nationalistisch-völkische Antisemitismus eine große Rolle mit verheerenden Folgen gespielt – sechs Millionen europäische Juden wurden Opfer des Holocaust. Heute gibt es zusätzlich einen neuen, arabisch-islamischen Antisemitismus. Mit den gleichen Ansätzen kann man nicht gegen zwei so unterschiedliche Formen der Judenfeindschaft vorgehen...
Klein: ...wir müssen passgenaue Strategien im Kampf gegen jede Form von Antisemitismus entwickeln. Zu meinen wichtigsten Projekten gehört die Erfassung antisemitischer Vorfälle, die unterhalb der Strafbarkeitsgrenze liegen. Wir müssen dafür sorgen, dass Polizei und Staatsanwaltschaften Antisemitismus als solchen erkennen und dann konsequent ahnden. Darüber hinaus müssen wir stärker aufklären über die Hintergründe der Entstehung des Staates Israel.
WELT: Justizpolitik und innere Sicherheit obliegen in unserem föderalen System der Kompetenz der Länder, ebenso Bildungs- und Kulturpolitik. Das ist alles nicht Sache der Bundesregierung. Was können Sie überhaupt erreichen?
Klein: Ich bin sehr froh, dass wir eine Bund-Länder-Kommission Kampf gegen den Antisemitismus gegründet haben, am 6. Juni 2019. Wir haben informell schon begonnen und treffen uns offiziell im September zum ersten Mal. In diesem Rahmen wollen wir genau diese Fragen beraten und verschiedene Ansätze koordinieren. Ich nenne beispielhaft die Bildung von Schwerpunktstaatsanwaltschaften, die antisemitische Übergriffe verfolgen – jetzt folgen Baden-Württemberg und Bayern dem Beispiel Berlin. Was ich mir wünsche, ist ein regelrechter produktiver Wettbewerb der Ideen in den Ländern.
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