Mit den Peanuts lernt man, nie aufzugeben
Die „Peanuts“ von Charles M. Schulz zu lesen, ist wie eine Einübung in die Kunst, zu verlieren, ohne zu resignieren. Aber wer weiß: Vielleicht wird Charlie Brown doch das rothaarige Mädchen erobern.
Mein ganzes Leben habe ich Comics geliebt. Nur einen Comic habe ich gefürchtet: Charles M. Schulz’ „Peanuts“. Und das aus gutem Grund.
Als Kind lösten keineswegs alle Comics Freude in mir aus. Öde galten mir etwa die biederen Füchse aus „Fix und Foxi“. Welche aber die guten Comics waren, dafür besaß ich als Kind ein feineres Gespür als heute.
Ganz sicher zählten die Entengeschichten von Carl Barks in der Übersetzung von Dr. Erika Fuchs dazu. Meine Comics versetzten mich in einen allen Natur- und Klassengesetzen Hohn sprechenden Rausch des Möglichen, einen Rausch, der, wenn ich ehrlich bin, bis heute nicht vollkommen abgeklungen ist. Als Kind begeisterten mich nicht nur „Funnies“, sondern auch Superhelden- und natürlich Gruselcomics.
Ich hatte Angst vor Charlie Brown
Echte Angst in mir hervorzurufen vermochte aber nur ein kleiner, nahezu kahlköpfiger Junge mit abstehenden Ohren namens Charlie Brown. Diese Angst, deren Nachbeben ich bis heute spüre, rührt vom Einzigen her, was in unter wie über Zehnjährigen tatsächlich Furcht und Schrecken auslösen kann: dem Erwachsenwerden mit seinem schaurigen Gefolge, dem Wissen um Sex und Tod und Vergeblichkeit.
So sehr ich den seine Lebensfreude tanzenden Beagle Snoopy liebte und die Idee, dass das Innere einer kleinen Hundehütte geräumig genug für einen Billardtisch und einen echten van Gogh ist, mehr noch: dass getreu des Mottos „Platz ist auf der kleinsten Hütte“ das Dach von Snoopys Behausung Schauplatz von endlosen Luftkämpfen mit dem Roten Baron, mit komischen Vögeln, ja sogar einer Begegnung mit Beagles auf dem Mond sein konnte – so sehr erschreckten, quälten und verunsicherten mich die spezifischen Regeln des Umgangs in der Welt der „Peanuts“.
Wie bei Samuel Beckett
Lucy und Linus, Sally und Charlie, Schroeder und Peppermint Patty, Snoopy und all die anderen waren liebenswürdig, aber eben auch gemein, niederträchtig, schadenfreudig und gehässig, beherrscht von Launen und dunklen Wünschen, uneingestandenen Ambitionen und unerfüllten Sehnsüchten. Mit anderen Worten: Sie waren erwachsen.
Die Sorgen und Nöte der Peanuts sind kein billiger Ersatz, kein im kindgerechten Maßstab verkleinertes Modell der Menschenwelt, sondern das reale Welttheater kleiner und großer Leute selbst. Und das hat Konsequenzen.
Nicht nur für den Seelenhaushalt kindlicher Comicleser. Wenn Charlie Brown darüber nachgrübelt, warum er sich nicht ein kleines bisschen verändern kann: „Why can’t I change just a little bit?“, wird ihm durch Lucy van Pelt eine bündige und unzweideutige Antwort zuteil, die aus dem Wurm des Selbstzweifels einen Drachen zu machen vermag, eine Antwort jedenfalls, die trostloser nicht ausfallen könnte: „You were doomed from birth“, sagt Lucy zu Charlie Brown: Du bist von Geburt an verdammt.
Es sind solche Antworten mit Anklängen an die Erbsünde, Antworten der Art, wie sie auch Samuel Beckett bereithält, die Seelenstärke erfordern. Als Kind besaß ich diese Seelenstärke nicht. Heute muss ich mich um sie bemühen. Charlie Brown wird das kleine rothaarige Mädchen nie für sich gewinnen.
Ein Leben mit unerfüllter Liebe
Auf ihn wartet nicht nur ein Leben mit einer unerfüllten und vermutlich unerwiderten Liebe, sondern ein Leben ohne Erfolg und ohne Freunde. „Peanuts“ lesen ist eine Einübung in die Kunst, zu verlieren, ohne zu resignieren. In der ersten deutschen Übersetzung sucht Linus nicht wie im Original Charles Dickens’ „Bleak House“ und Henry Fieldings „Joseph Andrews“, sondern Thomas Manns „Buddenbrooks“ und Arno Schmidts „Zettels Traum“.
Ich war 13 Jahre alt, als ich diesen Strip zum ersten Mal las. Wenige Wochen zuvor hatte mir ein literarischer Übersetzer von einem Schriftsteller namens Arno Schmidt erzählt. Ohne diesen Übersetzer, ohne Charles M. Schulz hätte ich gewiss nie „Zettels Traum“ gelesen. In einer Sprechblase der „Peanuts“ heute den Titel „Zettels Traum“ zitiert zu sehen, löst in mir einen Flashback jenes Rauschs des Möglichen aus, der meine Kindheit ist.
Wer weiß: Eines Tages wird Charlie Brown vielleicht doch das rothaarige Mädchen erobern. Eines Tages werden Lucy und Schroeder ein Paar. Eines Tages werden aus kleinen Leuten freie Menschen.
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