CEO erschossen

Das seltsame Verständnis für einen Mörder

Autorenprofilbild von Hannes Stein
Von Hannes SteinFreier Korrespondent
Veröffentlicht am 19.12.2024Lesedauer: 5 Minuten
(FILES) This December 9, 2024, booking photo obtained from the Pennsylvania Department of Corrections shows Luigi Mangione. US authorities on December 17, 2024, charged Mangione, suspected of gunning down UnitedHealthcare chief executive Brian Thompson in New York on December 4, with murder, including a charge of second-degree murder "as an act of terrorism." (Photo by Handout / Pennsylvania Department of Corrections / AFP) / RESTRICTED TO EDITORIAL USE - MANDATORY CREDIT "AFP PHOTO / Pennsylvania Department of Corrections" - NO MARKETING NO ADVERTISING CAMPAIGNS - DISTRIBUTED AS A SERVICE TO CLIENTS
Luigi Mangione nach seiner VerhaftungQuelle: AFP/HANDOUT

Der Chef der größten privaten Krankenversicherung in den USA wurde erschossen. Doch statt Mitgefühl für das Opfer zeigen vor allem junge amerikanische Männer Verständnis für den mutmaßlichen Täter. Eine Erklärung dafür liefert das US-Gesundheitssystem.

Anzeige

Es war eine regelrechte Hinrichtung. Auf dem Video ist ein Mann in einer blauen Anzugjacke zu sehen, der seelenruhig auf einer nächtlichen Straße spazieren geht. Hinter ihm tritt ein dunkler Kapuzentyp ins Bild. Er trägt einen Rucksack auf dem Rücken und wäre nicht weiter auffällig, wenn er nicht eine Waffe mit Schalldämpfer auf den Hinterkopf seines Opfers richten würde.

Es ist noch zu sehen, wie er über dem Mann in der blauen Jacke steht und ein zweites Mal die Waffe auf ihn richtet. Drückt er noch einmal ab? Jedenfalls überquert er danach gemessenen Schrittes die Straße; er beginnt erst zu laufen, als er die andere Straßenseite erreicht hat.

Anzeige

Der Tatort war eine Straße in Manhattan. Mittlerweile ist der Name des Toten bekannt: Brian Thompson, 50, Vater von zwei Kindern. Auch ein Tatverdächtiger ist in Haft, ein junger Mann namens Luigi Mangione; er wurde in einem McDonald’s in Altoona im Bundesstaat Pennsylvania festgenommen.

Lesen Sie auch

Bei sich trug er einen Rucksack mit verschiedenen gefälschten Ausweisen, eine selbstgefertigte – also von der Polizei nicht rückverfolgbare – Waffe, ein Notizbuch und Aufsätze, in denen Mangione seine Wut über das amerikanische Gesundheitssystem äußerte. Das ist ein wichtiges Detail, denn Thompson, das Opfer, war der Geschäftsführer von United Healthcare, der größten privaten Krankenversicherung der USA.

Anzeige

Es stellte sich heraus, dass Mangione unter Spondylolisthesis litt, einer äußerst schmerzhaften Erkrankung der Wirbelsäule. Eine Operation hatte ihm geholfen, aber er war danach für Monate untergetaucht; Freunde und Familie hatten hektisch nach ihm gesucht.

Online hatte er unterdessen sowohl links- als auch rechtsradikale Ansichten vertreten, über die hohen Krankenversicherungsbeiträge geflucht und seine Bewunderung für Ted Kaczynski geäußert, den hochintelligenten „Unabomber“, der aus Hass auf die moderne Zivilisation in einer Serie von Sprengstoffanschlägen drei Menschen umbrachte.

In den ersten zwei Tagen nach dem Mord war im Internet eine interessante Entwicklung zu beobachten: Die rechten Medien der USA versuchten, Brian Thompson als Vertreter der weisen und guten Kapitalistenklasse zu schildern, zu der auch Trump-Unterstützer wie Elon Musk und Peter Thiel gehören; der Mörder war für sie ein linker Jammerlappen, ein typischer Vertreter der Demokratischen Partei. Und dann hörten sie abrupt auf damit. Warum?

Vielleicht deshalb, weil ein Teil ihres Publikums mit Luigi Mangione sympathisierte. Eine Umfrage des Center for Strategic Politics ergab, dass der Mörder auf der Sympathieskala zwar Minuswerte von zehn Prozent verzeichnete, aber die Sympathiewerte des Opfers waren noch schlechter: minus 24 Prozent. Und private Krankenkassen insgesamt hatten Sympathiewerte von minus 34 Prozent. Wirklich niemand mag sie.

Nur Veteranen und Senioren sind krankenversichert

Der eher linke Stand-up-Comedian Bill Burr sprach das Unsagbare in einem Podcast laut aus: „Was ist herzloser als der Scheißgeschäftsführer eines Konzerns?“ Er wolle ja nicht andeuten, dass Mord okay sei, aber die Konzerne dürften sich andererseits auch nicht wundern, wenn so etwas passiert. Vor allem junge amerikanische Männer neigen laut Umfragen derselben Meinung zu.

Um zu verstehen, was hier vor sich geht, muss man sich vor Augen halten, dass es in den USA – außer für Veteranen und Senioren ab 65 – keine staatlichen Krankenkassen gibt. Alle Versuche, eine solche Krankenkasse zu schaffen, standen seit 100 Jahren unter dringendem Bolschewismusverdacht und wurden darum verhindert.

Lesen Sie auch

Barack Obama hat es in seiner Amtszeit immerhin geschafft, mit dem „Affordable Care Act“ den Markt der privaten Krankenkassen zu regulieren. Seither dürfen Krankenkassen niemanden mehr ablehnen, weil er eine Vorerkrankung hat; es gibt Internetportale, durch die man eine Krankenkasse leichter kaufen kann; und rein theoretisch gilt sogar eine Versicherungspflicht.

In der Summe hat all dies dazu geführt, dass die Zahl der Leute ohne Krankenversicherung in Amerika heute so niedrig ist wie nie zuvor. Aber es hat das Grundübel nicht beseitigt: Die Krankenkassenbeiträge sind für europäische Verhältnisse immer noch absurd hoch.

Außerdem verdienen private Krankenversicherungen Geld, indem sie Zahlungen verweigern, nicht, indem sie Zahlungen leisten. Eigentlich jeder Amerikaner kann Briefwechsel mit Krankenversicherungen vorzeigen, in denen notwendige ärztliche Eingriffe erst einmal ohne Begründung abgelehnt werden.

Mehr als 75 Nobelpreisträger gegen Kennedy als Gesundheitsminister

Die Nominierung von Robert F. Kennedy Jr. als Gesundheitsminister für das Kabinett Trump sorgt für heftige Kritik. Mehr als 75 Nobelpreisträger haben in einem offenen Brief vor dem strikten Impfgegner gewarnt. Sie sehen Amerikas Gesundheitssystem in Gefahr.

Hinzu kommt, dass nicht alle Ärzte und Krankenhäuser sämtliche Kassen akzeptieren. So kann es passieren, dass während einer Operation in einem Krankenhaus die Narkose von einem Anästhesisten verabreicht wird, der „out of network“ ist, also die Versicherung des Patienten nicht annimmt; nach dem Aufwachen wird ihm dann eine Rechnung über zehntausende Dollar präsentiert.

Nicht zu vergessen: Die Preise schwanken von Krankenhaus zu Krankenhaus und von Arztpraxis zu Arztpraxis – da kann eine routinemäßige Röntgenaufnahme schon hunderte Dollar kosten. Oft ist es unmöglich, den Preis vorher zu erfragen; naturgemäß haben die Krankenkassen nicht das geringste Interesse, für Transparenz zu sorgen. Kurzum: Der Umgang mit Krankenkassen ist für alle Amerikaner demütigend, zeitaufreibend und teuer.

Im Falle von United Healthcare kommt hinzu, dass die Geschäftsführer durch den Verkauf von Aktien ihrer eigenen Firma 102 Millionen Dollar netto verdient hatten. Sie wussten nämlich, dass ihr Konzern vom Justizministerium untersucht wurde, weil es möglicherweise gegen die Anti-Trust-Gesetze verstoßen hatte; die Öffentlichkeit wurde aber erst Monate später über diese Untersuchung informiert. In der Zwischenzeit verdiente sich die Geschäftsführung mehrere goldene Nasen.

Lesen Sie auch

Heißt das, dass die jungen amerikanischen Männer recht haben, die Brian Thompson ins Grab nachrufen, er habe sein Schicksal verdient? Gewiss nicht – und zwar schon aus folgendem Grund: Der mutmaßliche Mörder war weiß.

Hätte an seiner Stelle ein junger schwarzer Mann die Waffe mit dem Schalldämpfer auf den Hinterkopf des Opfers gerichtet, würde Amerika heute eine ganz andere Debatte führen. Es würde dann heißen, dass sich die amerikanischen Großstädte in Dschungel verwandelt haben, in denen man als normaler Bürger seines Lebens nicht mehr sicher sei.


Mehr aus dem Web

Neues aus der Redaktion

Auch interessant

Mehr zum Thema

Weitere Themen