Nukleare Kettenreaktion im Haigerlocher Bierkeller

1945 haben deutsche Physiker im Auftrag der Nazis eine nukleare Kettenreaktion in Gang gesetzt. Die Versuche dienen der Entwicklung atomarer Waffen. Doch so weit kommt es nicht.
Anfang 1945 südwestlich von Stuttgart: In einer kleinen Gasse im beschaulichen Städtchen Haigerloch am Rande der Schwäbischen Alb verschwinden Männer in einem Bierkeller. Nicht um zu trinken - die Wissenschaftler versuchen, eine nukleare Kettenreaktion in Gang zu setzen.
Die Bombenangriffe auf Berlin am Ende des Zweiten Weltkriegs zwingen die Forschergruppe um den Physiker und Nobelpreisträger Werner Heisenberg (1901 - 1976), ihre Versuchsreihe aus der Hauptstadt zu verlagern. Aus dem Bierkeller wird ein Höhlenforschungslabor.
Seit 1980 zeugt an der Stelle ein Museum von dem Uranprojekt, das unter der Aufsicht des Nazi-Regimes das Wissen über atomare Waffen voran treiben sollte, sich aber auf den Bau eines Reaktors konzentrierte.
Der höhlenartige Felsenkeller in dem engen Tal im schwäbischen Zollernalbkreis scheint für die Forscher des Berliner Kaiser-Wilhelm-Instituts für Physik ideal gelegen.
Kettenreaktion kann sich nicht selbst erhalten
Ungestört können sie Versuche mit schwerem Wasser und Natururan-Würfeln in dem Atomreaktor starten - die Kettenreaktion gelingt zwar, doch sie kann sich nicht selbst erhalten. Materialmangel zwingt die Forscher schließlich zum Abbruch des Projekts. Der große Wurf gelingt ihnen nicht.
Die Kernphysikforschung in Deutschland hinkt anderen Ländern wie den USA damals bereits weit hinterher - eine Atombombe herzustellen ist den hiesigen Wissenschaftlern zu diesem Zeitpunkt unmöglich, wie der ehemalige Vorstandsvorsitzende des Forschungszentrums Karlsruhe, Manfred Popp, bestätigt. „Die Weltspitze haben die Deutschen in dem Moment verloren, als die Nazis jüdische Wissenschaftler wie Albert Einstein 1933 vertrieben haben.
Aber die Wissenschaftler haben auch bewusst einen Umweg zu der von ihnen verlangten Bombe eingeschlagen, der sehr viele Jahre gedauert hätte - damit haben sie verhindert, dass Hitler die Atombombe erhielt.“
Uranwürfel im Acker vergraben
Die nahenden Alliierten veranlassen 1945 die Forscher schließlich, Spuren zu beseitigen, sagt der Leiter des Haigerlocher Amts für Kultur und Tourismus, Egidius Fechter. „Die Würfel haben sie beim Haigerlocher Schloss in einem Acker vergraben.“
Wissenschaftler Popp ist überzeugt, dass das keine gesundheitlichen Folgen für die Haigerlocher nach sich zog. Das Natururan sei bei den Versuchen nur geringfügig aktiviert und gespalten worden, sodass nur die natürliche Strahlung von ihm ausgegangen sei.
US-amerikanische Soldaten finden den Felsenkeller, buddeln die Würfel wieder aus und sprengen im April 1945 den Reaktor - die verbogenen Reste sind heute in einer Gewölbeecke des Atomkellers drapiert.
Ein Rentner in knallgelber Radlerhose steht im Museum vor dem Nachbau des Atomreaktors. Dieser ist in den Boden eingelassen und bildet das Zentrum der überschaubaren Schau.
Die Hinweisschilder auf das Museum, die es in Haigerloch zuhauf gibt, seien ihm auf seiner Radtour aufgefallen, sagt der Tourist. Zwar lebe er seit vielen Jahren in Baden-Württemberg. „Das Museum ist vielen aber kein Begriff“, ist er überzeugt.
Kunst, Kultur und Kernspaltung
Dabei legt sich Haigerloch mächtig ins Zeug, um die einstige Stippvisite der Forscher touristisch zu verwerten: In einer Imagebroschüre wirbt die knapp 11.000 Einwohner große Stadt mit dem Slogan „Kunst, Kultur und Kernspaltung“. Jährlich kommen der Einrichtung zufolge 10.000 Besucher in die Ausstellung.
Fechter will die Schau, die ursprünglich von einem Mitglied der Forschergruppe konzipiert wurde, im kommenden Jahr weiterentwickeln. Ein neuer Themenkomplex werde sich mit Atombomben befassen, sagt er. Dieser Bereich war bislang komplett ausgespart.
Haigerloch will vor allem aber auf Regionalität und das Verhältnis der Bürger zu dem Atomprojekt setzen, sagt Fechter. Nicht die großen Fragen wie die nach Atomwaffen oder atomaren Katastrophen sollen es sein, die in dem Felsenkellerraum beantwortet werden, sondern eher diese: „Was haben die Haigerlocher Bürger gewusst, was haben die erlebt?“, betont Fechter.
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