Deutschland Neu(n) Null

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Film
Titel Deutschland Neu(n) Null
Originaltitel Allemagne année 90 neuf zéro
Produktionsland Frankreich
Originalsprache Französisch, Deutsch
Erscheinungsjahr 1991
Länge 61 Minuten
Stab
Regie Jean-Luc Godard
Drehbuch Jean-Luc Godard
Produktion Nicole Ruellé
Kamera Stepan Benda,
Andreas Erben,
Christophe Pollock
Besetzung

Deutschland Neu(n) Null (französischer Originaltitel: Allemagne année 90 neuf zéro) ist ein Essayfilm[A 1] von Jean-Luc Godard aus dem Jahr 1991. Geplant ab 1988 und gedreht unmittelbar nach der Wiedervereinigung im Spätherbst 1990 und Winter 1990/1991, ist das Thema des Films die Einsamkeit Ost-Deutschlands und seines Volkes.[1] Die Hauptrollen spielen Eddie Constantine, Hanns Zischler und Claudia Michelsen. Die Uraufführung des Films fand im September 1991 auf den Internationalen Filmfestspielen von Venedig statt, wo er mit zwei Preisen ausgezeichnet wurde. Seine deutsche Erstaufführung hatte der Film am 21. März 1992 im Fernsehprogramm des WDR.[2]

Der Agent Lemmy Caution wurde vor dreißig Jahren von den alliierten Besatzungsmächten als Schläfer unter dem falschen Namen Konrad Witrowsky in Ost-Berlin stationiert. Hier wird er nach langer Suche von Graf Zelten vom Bundesnachrichtendienst gefunden. Dieser gesteht, dass Lemmys Akten verschwunden sind und er deshalb in Vergessenheit geraten ist. Zelten schickt Lemmy auf eine letzte Reise nach Westen. Auf dem Weg durch das wieder vereinte Deutschland trifft er auf bekannte Persönlichkeiten wie Charlotte Kestner oder Don Quichotte, der im Tagebau gegen die Drachen in Form von Schaufelradbaggern in den Kampf zieht. Er besucht berühmte Schauplätze wie das Alexander-Puschkin-Denkmal, das Schillerhaus, er sieht in Ausschnitten der Wochenschau die Geschehnisse im KZ Dachau. Erinnerungen an Goethes Faust oder Grimmelshausens Der abenteuerliche Simplicissimus zeigen positive Entwicklungen in Deutschland. Lemmys Reise, die er stets mit Zitaten kommentiert hat, endet in einem Hotelzimmer, wo er sich über die stets in den Nachttischen liegende vorhandene Bibel wundert.

Allemagne 90 neuf zéro trägt den Untertitel, der eigentlich als Titel einer geplanten TV-Filmserie[A 2] vorgesehen war: „SOLITUDES – un état et des variations“ („EINSAMKEITEN – ein Zustand und Variationen“). Nach einem kurzen einleitenden Teil gliedert sich der Film in sechs Variationen:

  1. Le dernier espionDer letzte Spion
  2. Charlotte à Weimar – Französischer Titel von Thomas Manns Roman Lotte in Weimar
  3. Les dragons de notre vieAlle Drachen unseres Lebens; Teil eines Satzes aus Rainer Maria Rilkes Sammlung Briefe an einen jungen Dichter[A 3]
  4. Un sourire russeEin russisches Lächeln
  5. Le mur sans lamentationsDie Mauer ohne Klagen; Umkehrung des französischen Ausdrucks für die Klagemauer in Jerusalem: Le Mur des Lamentations
  6. Le Déclin de l'Occident – Französischer Titel von Oswald Spenglers Buch Der Untergang des Abendlandes

Bild-/Ton-Montagen

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Die beschriebene Handlung bildet so etwas wie den „roten Faden“[3] des Films. Bereits in vielen Bildern, Dialogen und sonstigen O-Tönen der Handlung fügt Godard äußerst disparate Elemente zusammen. Das ist so beispielsweise in den Einstellungen, in denen man Lemmy Caution sieht, als er gerade auf Sancho Pansa, der einen offenbar nicht mehr anspringenden Trabant-Pkw schieben muss,[A 4] und auf den hoch zu Ross sitzenden und mit Lanze bewehrten Don Quijote trifft. Im Hintergrund der Einstellungen sieht man, in einer Richtung, eine Windmühle, in anderer, die riesigen Schaufelradbagger eines Braunkohletagebaus.[4]

Der Film ist mit der beschriebenen Handlung nicht gleichzusetzen. Es kommen diverse „Schichtungen“ hinzu, die für eine „Konfrontation der Filmbilder (Ost-Deutschlands der Jahre 1990/1991) mit der Historie“[5] sorgen: Aus dem Off gesprochene Kommentare Lemmy Cautions, weitere Off-Kommentare, die aus deutscher und französischer Literatur zitieren (zweimal wird auch Russisch gesprochen, einmal aus dem Off, einmal von einem Soldaten: Dimitri), zahlreiche kurze Ausschnitte aus Spielfilmen, Dokumentarfilmen und Kino-Wochenschauen sowie – in den meisten Fällen nur kurz angespielte, sich jedoch zuweilen an anderer Stelle im Film wiederholende – Partikel aus klassischer und moderner Musik. – Abgesehen von einzelnen Ausnahmen, wenn z. B. Buchcover in Einstellungen aufgenommen werden, bleiben sämtliche Bild- und Ton-Zitate ohne Quellenangabe.

Hinzu kommen noch zahlreiche Zwischentitel, die die Handlung unterbrechen oder zwischen Handlung und Bild-Dokumente gesetzt sind. Es sind jeweils kurze Texte in weißer Versalienschrift auf schwarzem Hintergrund; oft enthalten sie kurze Zitate oder Werktitel. Bevor zum Beispiel die Figur „Dora / Charlotte Kestner“ durch die lange Zimmerflucht im Goethehaus am Weimarer Frauenplan geht, zitiert ein Zwischentitel den berühmten Faust-Vers: DEUX ÂMES HÉLAS / HABITENT / MA POITRINE („Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust“). – Den Effekt dieser Zwischentitel hat Hanns Zischler so beschrieben: „Frappierender kann Desillusionierung nicht sein als durch diese hart inserierten Texte.“[6]

Die Musik des Films

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In meist sehr kurzen Fragmenten sind Ausschnitte zu hören aus Kompositionen von Pjotr Tschaikowski, Gavin Bryars, Giacinto Scelsi, Franz Liszt, Johann Sebastian Bach, Igor Strawinsky und Paul Hindemith sowie – „im Bild“, von Kim Kashkashian gespielt, aber ebenfalls nur als Fragment im Film – von Dmitri Schostakowitsch. Am einprägsamsten sind zwei Kompositionen, die ausschnittweise – jeweils die ersten Takte daraus, ungefähr zehn bis maximal dreißig Sekunden – mehrmals im Film anklingen. Es sind dies von Wolfgang Amadeus Mozart der vierte Satz des Streichquintetts in g-Moll, KV516, und von Ludwig van Beethoven der zweite Satz der 7. Sinfonie, opus 92.

Daneben setzt Godard einige Male Teile von Liedern ein, deren Komponisten oder Texter im Abspann nicht genannt werden und die deutlich als Dokumente ihrer Entstehungszeit wirken: Zweimal werden kurz Lieder von Marlene Dietrich angespielt; einmal ist das Solidaritätslied von Eisler/Brecht zu hören; und einmal, in einer der ersten Szenen des Films, als Graf Zelten noch auf der Suche nach Lemmy Caution ist, setzt Godard den Refrain eines Songs aus einer ganz anderen Musikgattung ein: Macht kaputt, was euch kaputt macht der Band Ton Steine Scherben.[7]

Die Filmidee entstand bereits 1988, vor dem Zusammenbruch der DDR also. Die Schauplätze wurden von Hanns Zischler ausgesucht,[8] der im Vorspann des Films, neben Romain Goupil, auch als verantwortlich für die Produktionsleitung angegeben wird.

Der französische Originaltitel, Allemagne année 90 neuf zéro, ist eine Variation des Titels von Roberto Rossellinis 1947 im zerbombten Berlin gedrehtem Film Germania anno zero (Deutschland im Jahre Null). – Das „Neu(n)“ des deutschen Filmtitels ergibt sich aus der Doppelbedeutung des Wortes „neuf“ im Französischen: es bedeutet sowohl „neu“ als auch „neun“.

Namen der Protagonisten

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Eddie Constantine hatte hier in seiner Paraderolle als „Lemmy Caution“, den er zuvor bereits viele Male verkörpert hatte, darunter 1965 in Godards Lemmy Caution gegen Alpha 60, zugleich seinen letzten Filmauftritt. In Deutschland Neu(n) Null erscheint der gealterte Agent als müde und vereinsamt.

„Graf Zelten“, dargestellt von Hanns Zischler, ist der Name einer Figur aus Jean Giraudoux’ Roman Siegfried et le Limousin (Siegfried oder Die zwei Leben des Jacques Forestier), aus dem im Film mehrere Passagen zitiert werden.

Claudia Michelsen stellt eine Figur mit zwei Namen dar, die sie – gleich nach ihrem ersten Auftritt in Variation 1 – innerhalb von ein paar Sätzen wechselt: „Ich heiße Dora. Aber das war gestern. Gestern hieß ich Dora. Aber heute heiße ich Charlotte Kestner.“ – Unmittelbar vorher im Film war das „Lager Dora“, ein Außenlager des KZ Buchenwald, erwähnt worden, und vor einer Lagerbaracke hatte man die junge Frau gesehen. Später stellt sich noch ein anderer Zusammenhang her, wenn Lemmy Caution aus Sigmund Freuds Bruchstück einer Hysterie-Analyse zitiert – eine Studie, die bekannt wurde als „Fall Dora“. – Charlotte Kestner (geb. Charlotte Buff) war das Vorbild der Lotte in Johann Wolfgang von Goethes Die Leiden des jungen Werthers und Titelfigur von Thomas Manns Lotte in Weimar.

Montierte Filmausschnitte (Auswahl)

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Bei der „48. Mostra internazionale d’arte cinematografica di Venezia“, den Internationalen Filmfestspielen von Venedig im September 1991, wurde Deutschland Neu(n) Null mit zwei Preisen ausgezeichnet:

  • mit einer „Osella d’oro“ für seine „colonna sonora“ (seinen Soundtrack)
  • sowie mit der „Medaglia d'oro della Presidenza del Senato“ (der Goldmedaille des Senatspräsidenten).[9]

Der Filmdienst schrieb: „Godard jongliert mit Assoziationen und Zitaten, die sich zu einem eigenwilligen Beziehungsgeflecht verdichten“.[10]

Die Programmzeitschrift Prisma nannte den Film „Ein schwieriges, episodisch aufgezogenes Film-Essay mit vielen doppeldeutigen Anspielungen“.[11]

  • Alain Bergala (Hrsg.): Jean-Luc Godard par Jean-Luc Godard. Tome 2: 1984–1998. Cahiers du cinéma, Paris 1998, ISBN 2-86642-198-1, S. 223–235. – Dort u. a. Äußerungen von Godard auf der Pressekonferenz nach Uraufführung des Films und neunzehn von „Lemmy Caution“ gesprochene „Kommentare“ (Zitate aus literarischen Werken) im Wortlaut.
  • Jean-Luc Godard: Allemagne neuf zéro – Phrases. P.O.L éditeur, Paris 1998, ISBN 2-86744-632-5. – Protokoll aller Dialoge und Off-Kommentare des Films.
  • Frieda Grafe: Wessen Geschichte – Jean-Luc Godard zwischen den Medien. Ursprünglich erschienen in: „documenta documents 2“, 1996; wiederveröffentlicht in: Frieda Grafe: Nur das Kino – 40 Jahre mit der Nouvelle Vague. Schriften, 3 Band, Brinkmann & Bose, Berlin 2003, ISBN 3-922660-82-7, S. 148–160.
  • Ute Holl: Historiografie als Déraisonnement. Zu Godards Allemagne Neuf Zéro. In: Inge Stephan, Alexandra Tacke (Hrsg.): NachBilder der Wende. Böhlau Verlag, Köln Weimar Wien 2008, ISBN 978-3-412-20083-1, S. 161–173. Online als PDF verfügbar bei uteholl.de.
  • Jürg Stenzl: Jean-Luc Godard – musicien. Die Musik in den Filmen von Jean-Luc Godard. edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag, München 2010, ISBN 978-3-86916-097-9, S. 281–292 sowie, im Anhang, ein Gespräch von Christa Blümlinger mit Hanns Zischler.
  • Klaus Theweleit: One + One – Rede für Jean-Luc Godard zum Adornopreis. Brinkmann und Bose, Berlin 1995, ISBN 3-922660-65-7, S. 45–53.
  • Klaus Theweleit: Deutschlandfilme. Filmdenken & Gewalt. Godard Hitchcock Pasolini. Stroemfeld / Roter Stern, Frankfurt am Main 2003, ISBN 3-87877-827-9, S. 13–34.
  1. Deutschland Neu(n) Null lässt sich nicht eindeutig einer Filmgattung zuordnen. „Weder ein Spielfilm noch ein Dokumentarfilm“ – „ce film qui n'est ni une fiction ni un documentaire“, hieß es in Le Monde vom 8. August 1993 (abgerufen am 30. Juli 2023). Am ehesten kann man Deutschland Neu(n) Null als „Essayfilm“ bezeichnen, wie z. B. in einer Ankündigung des Zeughauskinos im Deutschen Historischen Museum vom 3. Oktober 2020 (abgerufen am 30. Juli 2023).
  2. Der Sender Antenne 2 hatte auch bei Ingmar Bergman, Stanley Kubrick und Wim Wenders für deren Beteiligung an der TV-Serie angefragt; Godards Allemagne année 90 neuf zéro blieb schließlich der einzige realisierte Film des Projektes. – Gemäß Jürg Stenzl: Jean-Luc Godard – musicien (s. Literatur), S. 282.
  3. Der vollständige Satz lautet: „Vielleicht sind alle Drachen unseres Lebens Prinzessinnen, die nur darauf warten uns einmal schön und mutig zu sehen.“ Er wird im Film einmal auf Deutsch, einmal in französischer Übersetzung zitiert.
  4. Dass es Sancho Pansa ist, der dort den Trabi anschiebt, ist erkennbar an seiner Antwort auf Lemmy Cautions Frage „Hey you, which way is the west ?“: „Se pregunta al señor“ – da müsse er schon seinen Herrn fragen.

Einzelnachweise

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  1. Der Film entstand als Teil eines Projektes des französischen Fernsehsenders Antenne 2, in dem es um „Einsamkeit“ gehen sollte. Godard sagte zu, betonte aber, dass es in seinem Film nicht um individuelle Einsamkeit, sondern um „die Idee der Einsamkeit eines Volkes oder einer Nation“ gehen werde. („Je préférerais l’idée de solitude d’un peuple ou d’une nation.“ Zitiert nach Jean-Luc Godard par Jean-Luc Godard, Tome 2: 1984–1998. Cahiers du cinéma, Paris 1998, ISBN 2-86642-198-1, S. 224.) Und da er immer schon an Ost-Deutschland interessiert gewesen sei, sagte er sich: „Gut, nehmen wir also Ost-Deutschland.“ („Bon, on va faire l’Allemagne de l’Est.“)
  2. Andreas Kilb: Tod und Verklarung. Fernseh-Vorschau (I): Jean-Luc Godards "Deutschland Neu(n) Null". In: Die Zeit. 20. März 1992, abgerufen am 3. August 2023.
  3. Frieda Grafe: Nur das Kino – 40 Jahre mit der Nouvelle Vague (s. Literatur), S. 152.
  4. Klaus Theweleit hat diese Einstellungen detailliert beschrieben in: Deutschlandfilme (s. Literatur), S. 13 ff.
  5. Hanns Zischler: Das Kino und sein Kopf (s. Weblinks).
  6. Hanns Zischler: Das Kino und sein Kopf (s. Weblinks).
  7. Eine detaillierte Darstellung der Musik des Films gibt Jürg Stenzl in Jean-Luc Godard – musicien (s. Literatur).
  8. Willi Winkler: Warten auf Godard. In: Süddeutsche Zeitung. 3. Februar 2020, abgerufen am 3. Februar 2020.
  9. Gemäß Website bei ansa.it vom 13. September 2022 (italienisch; abgerufen am 31. Juli 2023).
  10. Deutschland Neu(n) Null. In: Lexikon des internationalen Films. Filmdienst, abgerufen am 5. April 2021.
  11. Deutschland Neu(n) Null. In: prisma. Abgerufen am 5. April 2021.