Tscherkessen in der Türkei

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Ethem der Tscherkesse und seine tscherkessischen Männer der Kuvayı Milliye sowie Mustafa Kemal Atatürk vor dem Hauptgebäude des Bahnhofs, die auf dem Weg zum Yozgat-Aufstand waren, Juni 1920

Die Tscherkessen in der Türkei (kabardinisch und adygeisch Адыгэхэр Тырку/Adyghexer Tyrku, türkisch Türkiye Çerkezleri) stellen mit etwa 2 Millionen Personen (2,8 Prozent der türkischen Gesamtbevölkerung)[1][2] eine der größten ethnischen Minderheiten in der Türkei dar. Zu den Tscherkessen werden in der Türkei auch die eng verwandten Ethnien Abasinen (10.000[3]), Tschetschenen (100.000[4][5]) und Abchasen (39.000[6]) gezählt. Die Tscherkessen sind Nachkommen eines Kaukasusvolkes, die vertrieben wurden, geflohen sind oder einwanderten. Die große Mehrheit von ihnen wurde assimiliert und nur knapp die Hälfte beherrscht noch eine der tscherkessischen Sprachen, überwiegend Kabardinisch (550.000 Sprecher) und an zweiter Stelle Adygeisch (275.000 Sprecher). Die Tscherkessen in der Türkei sind nahezu ausschließlich sunnitische Muslime hanafitischer Richtung.

Emische und etische Definitionen und ethnische Identität

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Die Tscherkessen und verwandte Gruppen in der Türkei bildeten ihre Gruppenidentität nach Abstammungsgruppe und Sprachzugehörigkeit. Auf Ebene des „Stammes“ wurde zudem bevorzugt Endogamie praktiziert. Eine weitere bindende Kraft kann der gemeinsamen Erinnerung an das Exil zugeschrieben werden. Ihre gemeinsame Geschichte der Vertreibung aus derselben Kaukasusregion scheint bei der Bildung kultureller Organisationen mehr Einfluss gehabt zu haben als die Sprache, besonders indem sich die Gemeinschaften als solche bedroht wahrgenommen und zu einer breiter definierten Gruppe zusammengeschlossen haben. Die Sprache als Kriterium der ethnischen Zugehörigkeit wurde im türkischen Exil besonders im urbanen Bereich durch den Einfluss von Massenmedien und türkischem Bildungswesen zunehmend ausgehebelt. Teilweise kam es zu einer internen Assimilation einer der Gruppen durch eine andere, insbesondere der Ubychen, die mehrheitlich die Sprache der tscherkessischen Majorität übernahmen[7][7] und deren eigene Sprache inzwischen ausgestorben ist.[8]

Als klar definierte Gruppen können die (teils nur noch ursprünglichen) Sprecher der adygeischen Sprache (Adıġèbze), der abchasischen Sprache (Abhāz) und der ubychischen Sprache (Ubıḫ) voneinander unterschieden werden. Diese Gruppen können auch als zwei Gruppen aufgefasst werden, namentlich erstens die „Tscherkessen“ (türkisch: Çerkes oder Çerkez, Plural: Çerkes oder Çerkezler) und zweitens die „Abchasen“, „Abasen[A 1] und „Ubychen“ (türkisch: Abaza und Ubıh).[7] Diesen (von außen verwendeten, also etischen) Fremdbezeichnungen entsprechen als (emische) Eigenbezeichnungen in der ersten Gruppe die Bezeichnung Adıġe und in der zweiten Gruppe die Bezeichnungen Aapswa oder Apsua (deutsch: Abchasen) und Ubıḫ. Allerdings werden diese beiden Gruppen oft miteinander vermischt und leben auch in einem vermischten Verbreitungsgebiet in der Türkei.[7][9]

Es ist umstritten, ob diese Hauptkategorien als eigenständige Völker oder lediglich als Volksstämme betrachtet werden sollten.[7] Alle drei Hauptgruppen (also ursprüngliche Sprecher der adygeischen, der abchasischen und der ubychischen Sprache) werden selbst wissenschaftlich zuweilen zusammen behandelt, da sie etisch als „Tscherkessen“ (im weiteren Sinne) wahrgenommen und ihnen daher von den osmanischen Behörden oft gemeinsame Siedlungen zugeteilt wurden.[7] Deswegen im Folgenden nach emischer und etischer Perspektive unterschieden.

Etische Perspektiven

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Eine enggefasste Definition des Begriffes „Tscherkessen“ in der Türkei wird insbesondere von einigen Wissenschaftlern verwendet, die mit dem Terminus allein die Vertreter der adıghe-sprechenden Gruppen ansprechen.[9]

Im modernen amtlichen und umgangssprachlichen Gebrauch in der Türkei fasst die Bezeichnung „Tscherkessen“ in einem sehr weitgehaltenen Sinne fast alle ethnischen Gruppen zusammen, die ab 1850 aus dem Nordkaukasus in die heutige Türkei immigriert sind. Diese Definition spricht damit über die eigentlichen Tscherkessen hinaus auch die Tschetschenen, Osseten, Lesgier, Karatschaier und Dagestaner an und führt somit zu einer unscharfen Begrifflichkeit. Diese ungenaue Begriffsbildung geht auf die Öffentlichkeitsarbeit kaukasischer Vereine ab 1951 zurück, die eine Vereinigung der von den verschiedenen Kaukasusvölkern abstammenden Immigranten anstrebten, um auf diese Weise die Anzahl der Tscherkessen zu erhöhen und somit ihre Assimilation an die ethnischen Türken zu verhindern. Die damit verbundene politische Ideologie wurde allerdings selbst unter den Kaukasiern nicht begrüßt und hinterließ als negative Folge die Unklarheit des Begriffes „Tscherkessen“.[9]

Özbek (1989) schlug eine weder derart eng- noch weitgefasste Verwendung des Begriffes „Tscherkessen“ vor, die sowohl die Vertreter der adıghe-sprechenden, als auch der abkhaz-sprechenden ethnischen Gruppen anspricht, einschließlich der ursprünglich ubychisch sprechenden Gruppe, die ihre Sprache im türkischen Exil aus freien Stücken aufgegeben und die adıghe-Sprache der tscherkessischen Mehrheit übernommen hatte.[9]

Die Abchasen in der Türkei sprechen die Adıghe (also eigentlichen Tscherkessen) in der Regel spezifisch als Adıga an.[9]

Emische Perspektiven

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Sowohl der adygeischen Sprache, als auch der abchasischen Sprache ist das Wort „Tscherkesse“ fremd. Sprecher einer der beiden Sprachen verwenden den Begriff „Tscherkesse“ als Selbstbezeichnung entsprechend nur gegenüber Sprechern anderer Sprachen.[9]

Gegenüber den Adıghe (also eigentlichen Tscherkessen) verwenden die Abchasen als Selbstbezeichnung Apsua oder Ashiwe, wenn sie nicht die türkische Bezeichnung Abaza wählen. Auf der Uzun Yayla-Hochebene bei Kayseri sprachen die Abchasen bereits in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts fast geschlossen die sehr nahe mit dem Adygeischen verwandte kabardinische Sprache (ehemals als Dialekt des Adygeischen aufgefasst) und identifizierten sich offen mit dem Tscherkessentum.[9]

Tschetschenen und Dagestander bezeichneten sich dagegen laut Özbek (1989) nicht als „Tscherkessen“.[9]

Den Tscherkessen verwandte Abchasen, entweder Flüchtlinge 1864, oder eher Teilnehmer eines Aufstandes 1866/67, dem eine weitere Fluchtwelle ins Osmanische Reich folgte.

1770 betraten die Russen erstmals das kaukasische Gebiet. Fast 100 Jahre lang leisteten die tscherkessischen Stämme Widerstand gegen die russische Kolonisation des Kaukasus. Nach dem Kaukasuskrieg trat der Krieg zur Unterwerfung des Kaukasus in seine entscheidende Phase, in der die Tscherkessen schließlich der Übermacht der kaiserlich russischen Armee unterlagen. Am 21. Maijul. / 2. Juni 1864greg. wurde der Krieg vom Zaren Alexander II. für beendet erklärt. Nachdem bereits während des Krieges Tscherkessen aus dem Gebiet geflohen waren, wurden nun viele der Verbliebenen in das Osmanische Reich deportiert. Bei Flucht und Deportation über das Schwarze Meer in offenen Barkassen und kleinen Booten kamen viele ums Leben, anschließend verringerten Hungersnot und Krankheiten ihre Zahl weiter.[10]

Nach dem Russisch-Türkischen Krieg 1877–1878 kamen dann weitere tscherkessische Flüchtlinge ins Osmanische Reich. Zwischen den Jahren 1855 und 1880 kamen insgesamt etwa 600.000 tscherkessische Flüchtlinge im Osmanischen Reich an, die überwiegend in den west- und zentralanatolischen Vilayets sowie im Vilâyet Aleppo, im Sandschak Deir ez-Zor, Vilâyet Mossul und Vilâyet Syrien angesiedelt wurden. Rund 150.000 Tscherkessen wurden von den Russen in anderen Regionen des Russischen Kaiserreichs angesiedelt; im nordwestlichen Kaukasus, dem Siedlungsgebiet der Tscherkessen, wurden zumeist christliche russische Bauern und Kosaken aus dem Landesinneren des Russischen Kaiserreichs angesiedelt. 1864 war der nordwestliche Kaukasus fast vollständig russifiziert. Die Zahl der Tscherkessen, die bei den Vertreibungen zwischen 1855 und 1880 umgekommen sind, liegt bei etwa 1,5 Millionen.[11][12]

Die tscherkessischen Flüchtlinge wurden zumeist bei ihrer Ankunft im Hafen von Istanbul, Samsun und Trabzon empfangen

In der Geschichte des Osmanischen Reiches sowie der Türkei waren die Tscherkessen stets loyal gegenüber den herrschenden Parteien, Politikern und Sultanen. So spielten die Tscherkessen in der Organisationsphase des türkischen Befreiungskrieges 1919–1922 eine bedeutende Rolle; sie schlossen sich den Truppen der Kuvayı Milliye unter der Führung Mustafa Kemal Atatürks an. Nach der siegreichen Beendigung des Befreiungskrieges und der Unabhängigkeitserklärung Atatürks 1923 wurde den Tscherkessen jedoch jede kulturelle Betätigung untersagt. Kulturvereine wurden geschlossen, ihre Veröffentlichungen in tscherkessischer Sprache verbrannt und die Mitglieder wurden inhaftiert. In den 1930er Jahren wurde die tscherkessische Sprache zusammen mit den anderen Minderheitensprachen verboten.

Seit den 1960er Jahren verbesserte sich die Lage der Tscherkessen in der Türkei und im ganzen Land gründeten die Tscherkessen Kulturvereine wie den Kaukasischen Verein (türk. Kafkas Derneği) oder die Föderation der Kaukasischen Vereine (türk. Kafkas Dernekleri Federasyonu).

Die in der Türkei lebenden Tscherkessen sind oft in demokratischen und liberalorientierten Parteien wiederzufinden. Durch die europaorientierte Politik der Türkei seit den Beitrittsverhandlungen und die daraus resultierende minderheitsfreundliche Politik erhofften sich die Tscherkessen und ihre Kulturvereine ein liberaleres und effektiveres Wirken gegen das Fortschreiten der Assimilation und Sprachensterben unter den Tscherkessen in der Türkei. Unter den Tscherkessen in der Türkei und in der Diaspora gibt es jedes Jahr am 21. Mai eine Veranstaltung zum Gedenken an die etwa 1,5 Millionen Verstorbenen bei Zwangsdeportationen.[13]

Siedlungsgebiet

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Das Siedlungsgebiet der Tscherkessen (grün) sowie Abchasen und Abasinen (rot) in der Türkei.

Tscherkessen leben verstreut in der gesamten Türkei und hauptsächlich in Dörfern in den Provinzen Adana, Amasya, Balıkesir, Bolu, Bursa, Bilecik, Çanakkale, Çorum, Düzce, Eskişehir, Kahramanmaraş, Kayseri, Kocaeli, Samsun, Sivas, Tokat und Yozgat. Dazu kommt die Diaspora-Gemeinde in der Metropole Istanbul und weiteren Großstädten wie Adana, Ankara, Bursa und Izmir.

Bekannte Tscherkessen

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(* = väterlicherseits tscherkessischer Abstammung)
(** = mütterlicherseits tscherkessischer Abstammung)

Aus dem Osmanischen Reich

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Aus der Republik Türkei

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Aus anderen Staaten

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  • Çetin Öner, Cornelius Bischoff: Der letzte Tscherkesse. Literaturca Verlag, Frankfurt am Main 2004, ISBN 978-3-935535-08-3.
  • Monika Höhlig: Kontaktbedingter Sprachwandel in der adygeischen Umgangssprache im Kaukasus und in der Türkei. LINCOM Europa, München 1997, ISBN 3-89586-083-2.
  • Yalçın Karadaş: Çerkes kimliği – Türkiye'nin sorunları. Sorun Yayınları, Istanbul 2009, ISBN 978-975-431-176-1. (Türkisch)
  • Nihat Berzeg: Çerkezler – Kafkas sürgünü: Vatansız bırakılan bir halk. Chiviyazıları Yayınevi, Istanbul 2006, ISBN 975-9187-06-X. (Türkisch)
  • Arsen Avagyan: Çerkesler – Osmanlı İmparatorluğu ve Kemalist Türkiye'nin devlet-iktidar sisteminde. Belge Yayınları, Istanbul 2006, ISBN 978-975-344-301-2. (Türkisch)
  • Siyami Akyel: Türkiye'deki ünlü Çerkesler. Kutup Yıldızı Yayınları, Istanbul 2007, ISBN 975-6462-68-X. (Türkisch)
  • Kai Merten: Untereinander, nicht nebeneinander: Das Zusammenleben religiöser und kultureller Gruppen im Osmanischen Reich des 19. Jahrhunderts. Band 6 von Marburger religionsgeschichtliche Beiträge. LIT Verlag, Münster 2014, ISBN 978-3-643-12359-6, 5. Tscherkessen im Osmanischen Reich, S. 181–203 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
Commons: Tscherkessen in der Türkei – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

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  1. UNPO: Tscherkessien (englisch)
  2. Ülkü Bilgin: Azınlık hakları ve Türkiye. Kitap Yayınevi, Istanbul 2007; S. 85. ISBN 975-6051-80-9 (türkisch)
  3. Ethnologue: Abasinen (englisch)
  4. Archivierte Kopie (Memento vom 3. März 2016 im Internet Archive) (türkisch)
  5. http://www.orsam.org.tr/tr/trUploads/Yazilar/Dosyalar/20121116_134turing.pdf (türkisch)
  6. Ethnologue: Abchasen (englisch)
  7. a b c d e f 44. Circassians and Related Groups. In: Peter Alford Andrews, unter Mitarb. von Rüdiger Benninghaus (Hrsg.): Ethnic Groups in the Republic of Turkey (= Heinz Gaube, Wolfgang Röllig [Hrsg.]: Beihefte zum Tübinger Atlas des Vorderen Orients. B, Nr. 60.1). Reichert, Wiesbaden 2002, ISBN 3-89500-297-6, S. 167–171 (Erstausgabe: 1989). Die Auflage von 2002 ist ein unveränderter Reprint der Erstauflage
  8. Ubykh: The language that died with a man. In: dailysabah.com. 8. Oktober 2015, abgerufen am 27. November 2024 (englisch, Quelle: Anadolu Agency).
  9. a b c d e f g h Batıray Özbek: Tscherkessen in der Türkei. In: Peter Alford Andrews, unter Mitarb. von Rüdiger Benninghaus (Hrsg.): Ethnic Groups in the Republic of Turkey (= Heinz Gaube, Wolfgang Röllig [Hrsg.]: Beihefte zum Tübinger Atlas des Vorderen Orients. B, Nr. 60.1). Reichert, Wiesbaden 2002, ISBN 3-89500-297-6, S. 581–590 (Erstausgabe: 1989).
  10. Justin A. McCarthy: Death and Exile – The Ethnic Cleansing of Ottoman Muslims, 1821–1922. Darwin Press, Princeton 1996; S. 37–38. ISBN 0-87850-094-4 (englisch)
  11. W.E.D. Allen, Paul Muratoff: Caucasian Battlefields – A History of the Wars on the Turco-Caucasian Border 1828–1921. Battery Press, Nashville 1966; S. 104. ISBN 0-89839-296-9 (englisch)
  12. Nihat Berzeg: Çerkezler: Kafkas Sürgünü – Vatansız bırakılan bir halk. Chiviyazıları Yayınevi, Istanbul 2006; S. 193. ISBN 975-9187-06-X (türkisch)
  13. Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV): 145 Jahre Genozid: Tscherkessen gedenken in Berlin, abgerufen am 26. Mai 2009
  1. Die abasinische Sprache wird in der Fachliteratur manchmal als eigenständige Sprache innerhalb dieser zweiten Gruppe angesehen, manchmal aber auch lediglich als ein Dialekt des Abchasischen. (Quelle: 44. Circassians and Related Groups. In: Peter Alford Andrews, unter Mitarb. von Rüdiger Benninghaus (Hrsg.): Ethnic Groups in the Republic of Turkey (= Heinz Gaube, Wolfgang Röllig [Hrsg.]: Beihefte zum Tübinger Atlas des Vorderen Orients. B, Nr. 60.1). Reichert, Wiesbaden 2002, ISBN 3-89500-297-6, S. 167–171 (Erstausgabe: 1989).)