Jäger des verlorenen Zeitgeists: Frank Jöricke erklärt die Welt
Von Frank Jöricke und Nils A. Werner
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Über dieses E-Book
Wie Indiana Jones auf der Jagd nach dem heiligen Gral, ist Frank Jöricke dem Zeitgeist auf der Spur. Der Autor des erfolgreichen Debüts, "Mein liebestoller Onkel, mein kleinkrimineller Vetter und der Rest der Bagage", jagt unser aller Lebensgefühl.
Dieses Sachbuch ist eigentlich eine Fortsetzung seines Erfolgsromans mit anderen Mitteln. Wieder nimmt uns Werbetexter, Bad-Taste-Dj und Autor Frank Jöricke mit auf eine ebenso kurzweilige wie erhellende Tour durch die jüngere Populärkulturgeschichte der Bundesrepublik. Er erklärt, dass früher nicht alles besser, aber vieles anders war. Und warum Grönemeyers Frage, "Wann ist ein Mann ein Mann?", noch immer nicht beantwortet ist. Warum es die Frauen auch nicht leichter haben. Und wie es mental um die heute Dreißig-, Vierzig- und Fünfzigjährigen steht. Höchste Zeit, sich die 70er, 80er, 90er und 00er Jahre mal näher anzuschauen. Und die Gegenwart gleich mit. Denn die Welt ist ziemlich kompliziert geworden. Kaum einer blickt noch durch. Einer schon: Frank Jöricke begibt sich in den Dschungel von Vergangenheit und Gegenwart, rodet die Nostalgie und stürzt sich in die Untiefen der Popkultur. Greift, wenn es sein muss, zur Peitsche und legt mit spitzer Feder reihenweise Wahrheiten frei: Warum Michael Jackson ein Revolutionär war, warum die 80er eine Lüge sind und warum das mit der Liebe so schwierig geworden ist.
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Buchvorschau
Jäger des verlorenen Zeitgeists - Frank Jöricke
Früher war alles besser? Ein Streifzug durch die letzten Jahrzehnte
Die 80er – das verlorene Jahrzehnt
Ständig werden die 80er abgefeiert – warum eigentlich?
Je weiter die 80er Jahre zurückliegen, desto großartiger erscheinen sie vielen – höchste Zeit für eine Richtigstellung.
Irgendwas muss schiefgelaufen sein in der Gegenwart: Depeche Mode beschallen immer noch die Großraumhallen der Welt, Michael Jackson verkauft als Toter mehr Alben als die meisten Lebenden, und unlängst ist die gefühlte 17te Best-of-Zusammenstellung von Frankie Goes To Hollywood erschienen – bemerkenswert für eine Band, die nur zwei reguläre Platten veröffentlicht hat.
Sagte ich „Platten? Es muss natürlich CDs heißen. Zu den technischen Neuerungen, die uns die 80er brachten, gehören auch jene kleinen Scheiben, die Musikredakteure seinerzeit gern als „Silberlinge
bezeichneten – ein gewagter Begriff für ein Produkt, dessen Herstellungskosten bei unter 10 Cent liegen, und dennoch passend zu einem Jahrzehnt, das um große hohle Worte nie verlegen war.
Dafür sorgten schon die Wanderprediger der Sekten BAP und U2, Wolfgang Niedecken und Bono Vox. Junge Menschen, die sich von den Amtskirchen abgewandt hatten, suchten ihr Heil bei selbst ernannten Messiassen, die zwar kein Wasser in Wein verwandeln konnten, aber Phrasen in Gold.
Bloß verkündeten Bono und Niedecken keine frohe Botschaft, sondern die Apokalypse. Wenn nicht grad wieder Bloody Sunday oder Kristallnaach drohte, herrschte die Sinnkrise. Das Leben als Jammertal. Die Passionsgeschichte, neu interpretiert von Wolle Niedecken. Keiner konnte so allumfassend leiden wie er, von A wie Afrika (Hunger) bis Z wie Zerrüttung (Beziehung). Der Anlass war dabei beliebig. Ob Nackt im Wind-Benefizsong oder Anti-WAAhnsinns-Festival in Wackersdorf – es gab immer eine Gelegenheit, die Schlechtigkeit der Welt anzuprangern. Was dabei auf der Strecke blieb, war der Spaß. Die Lebensfreude. Die Unbeschwertheit.
Und es sollte noch schlimmer kommen: Vernichtung drohte nicht nur in Tschernobyl, sondern auch in fremden Betten. Mit dem Aufkommen von Aids hörte das Liebesspiel auf, ein Spiel zu sein. Der kleine Tod konnte den großen nach sich ziehen. Spätestens, wenn Fragen wie „Kann man vom Küssen Aids kriegen?" öffentlich diskutiert wurden, erhielten verunsicherte Jugendliche den ultimativen Angstkick.
Denn das war die eigentliche Seuche jener Jahre: Angst. In den 60ern konnte man unschuldig rebellieren, in den 70ern unschuldig kopulieren. In den 80ern war es unmöglich geworden, unschuldig zu agieren. Ganz gleich, ob es um den Umgang mit Rohstoffen ging oder den mit Geschlechtspartnern – mit einem Mal hatte jedes Fehlverhalten üble Konsequenzen. Selbst ein harmloses Biergartenbesäufnis musste mit dem Tod zigtausender Gehirnzellen bezahlt werden. Nichts blieb folgenlos. Und gutmeinende Menschen, wie Journalisten mit Enthüllungs-, Mediziner mit Aufklärungs- und Pädagogen mit Weltverbesserungsanspruch, wurden nicht müde, einen überall und ständig daran zu erinnern. So wurde eine ganze Generation zum Opfer der Informationsflut. Wir, die Kinder der 80er, wussten alles und kapierten nichts. Vor lauter Fakten verloren wir den Überblick. Wir lernten für die Schule, aber nicht fürs Leben. Wir gingen zur Uni, aber ohne Plan und ohne Ziel (weshalb jeder Dritte von uns das Studium abbrach). Anstatt uns auf das Leben einzulassen, simulierten wir es nur.
Weil auch die 80er nur eine Simulation waren. Die einen täuschten Musik vor (Modern Talking, Milli Vanilli), die anderen Regiekunst (Adrian Lyne, Tony Scott, Alan Parker). Es ist kein Zufall, dass die prägenden Filme jenes Jahrzehnts – Flashdance, Top Gun, Neuneinhalb Wochen, Angel Heart, Eine verhängnisvolle Affäre – von Werbefilmern stammen. Von Leuten, die wissen, wie man Oberflächen so zum Glitzern bringt, dass keiner mehr darauf achtet, was sich darunter abspielt.
Dort nämlich gärte es, gab es Menschen, die beides satthatten – die Penetranz der Oberlehrer wie den Zynismus der Verkäufer – und die nur auf einen Impuls warteten, um loszulegen. Doch das ist eine andere Geschichte. Die der 90er.
Zeitgeistentdeckung Nr. 1:
In den 80er Jahren wurde die geschickt verpackte Lüge gesellschaftsfähig. Davon haben wir uns bis heute nicht erholt.
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Gemetzel auf dem Schlachtfeld, Gemetzel auf der Leinwand – und dennoch waren die 90er gar kein so schlechtes Jahrzehnt.
Das Tor zum Paradies stand sperrangelweit offen. Endlich war der Augenblick gekommen, die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Ein neues goldenes Zeitalter stand unmittelbar bevor.
Das zumindest behaupteten 1990 die Leitartikelschreiber der großen Zeitungen. Mit dem Fall der Berliner Mauer wäre – so glaubten sie – nicht nur der Kalte Krieg zu Ende, nein, endlich würde auch der Weltfrieden Einzug halten. Alle Menschen würden Brüder.
An Brudermord hatte dabei leider niemand gedacht. Doch genau das geschah. Die jugoslawische Großfamilie, die jahrzehntelang leidlich miteinander ausgekommen war, zerstritt sich, als das Haushaltsgeld knapp wurde. Der folgende Geschwisterkrieg zwischen Kroaten, Serben, Bosniern und Albanern war die erste Überraschung der 90er: Das neue Zeitalter fühlte sich ziemlich alt an, ein wenig wie 1914.
Die zweite Überraschung war die, dass auch an anderen Orten der Welt kein Friede einkehrte. Solange zwischen den USA und der UdSSR das „Gleichgewicht des Schreckens" geherrscht hatte, überlegten sich selbst durchgeknallte Drittweltdiktatoren zweimal, ob Sie beim Nachbarn einmarschieren sollten. Nun aber, da die UdSSR in ihre 15 Republiken zerfiel, rumste es an allen Ecken und Enden. Ob Kuwait, Tschetschenien oder Ruanda – plötzlich waren Krieg und Völkermord wieder en vogue. Worum es dabei im Einzelnen ging, war für Menschen, die nicht Peter Scholl-Latour hießen, meist kaum nachvollziehbar. Wer waren die Guten und wer die Bösen im Bergkarabach-Konflikt? Und wo lag dieser Berg Karabach überhaupt?
Alles war so schrecklich kompliziert geworden. Und nicht einmal die Musik brachte Klarheit. Denn auch dort hatten sich die alten Frontstellungen – hier Radiopop und Stadionrock, dort Indie-Pop und Punkrock – aufgelöst. Am 11. Januar 1992 endete der Kalte Krieg der Musikszene. An diesem Tag erreichten Nirvana mit Nevermind Platz 1 der US-Charts. Damit war das Unvorstellbare eingetreten: Eine Independent-Band führte die Verkaufshitparade an, und das auch noch mit Grunge, einem musikalischen Bastard aus Hardcore-Punk und Metal!
Einen Kontinent weiter verhalfen Rammstein der Neuen Deutschen Härte zum kommerziellen Durchbruch. Sogar der oft atonale Techno fand seine Herde. An der ersten Loveparade 1989 hatten 150 Leute teilgenommen, 1994 waren es 120.000, 1999 über 1,5 Millionen.
Der Underground war Mainstream geworden. Das Extreme zog die Massen. Selbst Gewaltverherrlichung war nicht länger ein Fall für die Subkultur. Mit Reservoir Dogs, einem anderthalbstündigen Blutbad für Menschen mit robustem Magen, machte der ehemalige Videothekar Quentin Tarantino die Bosse in Hollywood auf sich aufmerksam. Dort stürzte man sich auf sein Drehbuch für Natural Born Killers und stellte ihm einen Blankoscheck für Pulp Fiction aus – zwei Filme, die Serien- und Auftragskiller ziemlich cool aussehen lassen. Was Millionen von Kinogängern nicht weiter störte.
Auch Gangsta-Rapper, wie Ice-T oder Snoop Doggy Dogg, wurden allenfalls milde dafür gerügt, dass sie in ihren Texten Straftatbestände wie Zuhälterei und Drogenhandel anpriesen. Schwerer hatten es da jene, die wie eh und je brav ihre drei Akkorde droschen. So schimpfte der Techno-Pionier Wolfram Neugebauer (Wolle XDP): „Rock ist reaktionär. Leute, die heute Rockmusik hören, leben in der Vergangenheit."
Nur traf dies nicht auf Bands wie Pulp, Blur und Oasis zu, die Rockmusik spielten und dennoch auf der Höhe der Zeit waren. Und genau das machte die 90er aus: Für jede Behauptung ließ sich ein Dutzend Gegenbeispiele finden. Kein Wunder, dass FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher in der Aufsatzsammlung Der westliche Kreuzzug nicht weniger als „41 Positionen zum Kosovo-Krieg" versammelte. Und jeder der 41 Autoren hatte irgendwie recht und irgendwie unrecht.
Das war verwirrend, aber gleichzeitig befreiend – weil Sowohl-als-auch mehr Spaß macht als Entweder-oder und weil die großen Vereinfacher (Ideologen, Extremisten, Verschwörungstheoretiker) plötzlich als Dummköpfe dastanden. Und so lösten die 90er dann doch noch das Versprechen der 80er ein: „Anything goes! Alles geht! Oder, um mit der großen Philosophin Pippilotta Viktualia Rollgardina Pfefferminz Efraimstochter Langstrumpf zu sprechen: „Wir machen uns die Welt, widde widde wie sie uns gefällt.
Zeitgeistentdeckung Nr. 2:
In den 90er Jahren begann die große Unübersichtlichkeit. Seitdem wissen wir nicht mehr, wer die Guten sind und wer die Bösen.
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