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Trallafitti: Kriminalroman
Trallafitti: Kriminalroman
Trallafitti: Kriminalroman
eBook366 Seiten4 Stunden

Trallafitti: Kriminalroman

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Über dieses E-Book

Privatermittlerin Esther Roloff ist zurück - und hat die Nase gestrichen voll. Sie schwört sich: Diesmal soll alles anders werden. Sprich: keine Leichen, keine Morde und erst recht keine Kripo. Doch kaum kehrt sie aus ihrem Urlaub nach Bochum zurück, stolpert sie auch schon über die erste Leiche, und zwar direkt vor ihrer Wohnungstür. Erste Diagnose: Herzinfarkt. Alles im Lot also. Doch dann bittet Hauptkommissar Ansmann sie in dem Fall um Hilfe.
SpracheDeutsch
HerausgeberGmeiner-Verlag
Erscheinungsdatum9. Juli 2012
ISBN9783839239704
Trallafitti: Kriminalroman
Autor

Sonja Ullrich

Sonja Ullrich wurde 1977 in Lünen geboren und ist, neben einem beruflich bedingten Abstecher in den Düsseldorfer Raum, dem Ruhrgebiet immer treu geblieben. Heute lebt sie mit ihrer Tochter in Bochum. Im Hauptberuf wirkt sie als Paralegal in der Rechtsabteilung eines global agierenden Chemieunternehmens. »Trallafitti« ist der dritte Hard-boiled-Krimi aus Sonja Ullrichs Feder.

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    Buchvorschau

    Trallafitti - Sonja Ullrich

    Sonja Ullrich

    Trallafitti

    Kriminalroman

    Personen und Handlung sind frei erfunden.

    Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

    sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

    Besuchen Sie uns im Internet:

    www.gmeiner-verlag.de

    © 2012 – Gmeiner-Verlag GmbH

    Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

    Telefon 0 75 75/20 95-0

    [email protected]

    Alle Rechte vorbehalten

    Lektorat: Katja Ernst

    Herstellung: Christoph Neubert

    Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

    unter Verwendung eines Fotos von: © jeremias münch – Fotolia.com

    ISBN 978-3-8392-3970-4

    1.

    »Grundgütiger, Esther. Bitte keine Toten mehr!« Anastasios Galanis kauerte auf meinem türkisfarbenen Hartschalenkoffer, die klobige Kiste fest zwischen die Fersen geklemmt. Sein langes schwarzes Haar wallte wie feines Wurzelwerk über die Schultern, sein Gesicht war weißer als die Kalkwand hinter ihm. Er war unausgeschlafen und gereizt, geplatzte Adern rahmten seine Linsen ein und er hatte sichtlich Mühe, meinen Blick zu finden. Seine Wimpern flimmerten, der Rest seines Gesichtes war wie versteinert.

    Er hatte die Buchsen voll.

    »Er ist nur eingeschlafen.« Ich flüsterte beinahe. »Er ist nicht tot.« Ich ging die letzten Stufen zu meiner Wohnung hinauf und die Gummisohlen meiner Flipflops applaudierten gegen meine Fersen. Eine Gänsepelle zog sich über meine Haut. Einerseits, weil ich fünf Stunden zuvor das Flugzeug nach Hause noch in Urlaubskluft bestiegen hatte und mir nun kalt war. Andererseits, weil der Mann, der mit ungemütlich verschränkten Beinen neben meiner Tür kauerte, schon ziemlich tot aussah.

    Das konnte doch alles nicht wahr sein.

    Hormone spülten durch meinen Verstand und je näher ich dem Fremden kam, umso schwammiger wurden die Gedanken. Mein Kopf kribbelte, in meinen Ohren begann es zu knirschen und im Langzeitgedächtnis zirkulierten die Erinnerungen wie ein Haufen bunter Pullis hinter dem Bullauge einer Waschmaschine. Alte Bilder klatschten gegen meine Netzhaut und ich sah mein Leben wie einen Film an mir vorüberziehen. Irgendwann machte der Streifen eine Vollbremsung und alles, woran ich denken konnte, waren Videorekorder.

    Videorekorder! In Stresssituationen konnte das Hirn schon irre Spielchen mit einem treiben.

    Nach dem großen Formatkrieg Mitte der 80er gehörte der Haushalt meiner Eltern zu den wenigen, die noch in Besitz eines Betamax-Videorekorders waren. Schon damals war es ein altes Schätzken, ohne ShowView, VPS oder achtfachem Vorspulmodus. Die Fernbedienung kostete 100 Eier extra. Es gab einen Ablauf, den man einhalten musste, damit die Kassette unversehrt wieder ausgespuckt wurde, und nur Knallschoten spulten das Band im Bildrücklauf bis ultimo. Den Rekorder bekam Mutti zur Keramik-Hochzeit. Von da an musste sie nicht mehr die Werbeblöcke, die seinerzeit eher kurz und selten waren, abpassen, um zu pinkeln. Stattdessen drückte sie die Pausetaste, das Bild flackerte im Stand und die Bösewichte warteten mit dem Abschlachten, bis sie zurück war.

    Aber die Pausetaste war Müll, denn sie versaute allmählich das Band.

    Und ganz gleich, wie lange man das Bild flackern ließ, an der Situation auf der Mattscheibe änderte sich überhaupt nichts. Geschlachtet wurde trotzdem und wem es bestimmt war zu sterben, der musste krepieren; auf Gedeih und Verderb. Es war eine Kausalität, die jedem einhellig in den Kopf ging.

    Jedem. Nur mir nicht. Aber hierfür müsste ich etwas ausholen:

    Mein Name ist Esther Roloff, ich bin 34 Jahre alt und höchstwahrscheinlich arbeitslos. Zuletzt arbeitete ich als Privatermittlerin bei Tozduman Securities, einer Detektivklitsche im Herzen von Bochum-Wattenscheid. Der Inhaber, Metin Tozduman, war ein untersetzter, metroreligiöser Türke Anfang 40 mit einem zweiten Standbein als Produzent, Regisseur und Schmierzettelautor für die lokal angesiedelte Pornoindustrie. Wir hatten uns zerworfen, nachdem Panko, ein straffälliger Exbulle, in Metins Filmvorführraum, der nicht mehr als eine Garage mit Sessel und Fernseher war, gepflegt ausblutete. Ich war diejenige, die Panko fand. Und sein Anblick brannte sich auf ewig in meine Hirnrinde. Metins Hirn glühte auch; allerdings erst, als die Kripolenten in seine Garage einfielen, um alles Filmmaterial zu beschlagnahmen, was in ihren Hosenbunden und Achselhöhlen Platz hatte. Die Tozduman-Dynastie tobte nach dem Vorfall und Metin begann nach langer Zeit wieder den Koran zu lesen. Ab diesem Zeitpunkt machte ich mir ernsthaft Gedanken darüber, ob es nicht Zeit für eine Pause sei. Denn Tatsache war: Ich war müde. Nicht nur vom Job, sondern auch, weil ich nicht schlafen konnte. Schuld daran war eine Geldwäscheangelegenheit, welcher ich Ende Juni in einem Dortmunder Casino nachgegangen war. Ganz schlimme Sache, wie sich herausstellte. Zwar versuchte ich mich undercover. Doch die Drahtzieher, ein Haufen mafiaähnlich organisierter Niederländer, kamen mir bald auf die Schliche und wollten mich nach alter Tradition mit einer Kugel beseitigen. Das Ende vom Lied spielte Pankowiak, der mich Dank seiner Connections aus der Schusslinie schob. Wenn auch mit bereits erwähntem blutigem Nachspiel. Sie hatten Panko beinahe umgelegt. Und ich konnte schwören, die lauerten mir immer noch da draußen auf. Wahrscheinlich konferierten sie darüber, auf welch grobe und brutale Weise sie mich, die Zeugin, doch noch ausschalten sollten.

    Allein dieser Gedanke fuhr in meinem Schädel unentwegt Karussell und ich tat nachts kein Auge zu – entweder weil gerade kein Messer unter dem Kissen lag oder weil ich Angst hatte, ich könnte mir mit dem Messer unterm Kissen ein Auge ausstechen. Das nächste Problem war die Stromrechnung, weil ich die Nächte nur noch bei Licht ertrug, und zwar mit Licht in allen Zimmern. Also schaltete ich mein kleines Leben auf Standbild, räumte meine Sachen zusammen und setzte mich nach Ungarn ab, ohne irgendeiner Seele Bescheid zu geben.

    Es half.

    Doch es tröstete nicht über die kausale Ordnung hinweg, dass auf eine Pause eine Fortsetzung folgen musste. Rechnungen mussten bezahlt und Flurwochen nachgeholt werden. Also kam ich zurück.

    Und es fühlte sich an wie damals, wenn Mutti auf den Start-Knopf drückte, nachdem sie von der Toilette zurückgekehrt war: Nichts hatte sich geändert. Alles lief weiter, als wäre sie nie weg gewesen.

    Als wäre ich nie weg gewesen.

    Womöglich war es sogar noch schlimmer als zuvor, als sich die Leute noch nicht extra die Treppe hinaufbemühten, um unter meiner Türklingel zu sterben.

    Vor Wut hätte ich am liebsten über die Brüstung gekotzt.

    »Nun sag endlich! Ist er tot?«, fragte Anastasios ungeduldig vom Treppenansatz hinauf. Der Möchtegern-Samsonite seufzte unter seinem Gewicht.

    Ich rollte wortlos mit den Augen, dann senkte ich meinen Blick. Der Fremde saß mit dem Rücken zur Wand neben meiner Tür, die linke Schulter lehnte gegen das Treppengeländer. Die Augen waren geschlossen, seine Gesichtszüge entspannt. Alter Schweiß glänzte über seine Augenbrauen und auf dem heruntergeklappten Kinn. Er hatte halblanges blondes Haar – einen Deut dunkler als meines –, das von seinem Seitenscheitel hinweg über seine Ohren zauste. Seine Haut war fahl. Ich war mir sicher, dass er tot war, weil seine kalte Aura meine Körperwärme absorbierte. Doch mein Verstand wollte sich nicht damit abfinden. Schweiß brach auf meinen Handrücken aus, als ich mich vorbeugte, um an seiner Schulter zu rütteln, erst zaghaft, dann stärker. Und ich schrak zurück, als sein Kopf wie ein loser Puppenschädel vornüberkippte. Anastasios’ Schuhsohlen scharrten über den Boden. Ich kniete mich hin und betrachtete den Scheitel des Fremden. Dann streckte ich meine Finger aus, um nach dessen Hand zu greifen. Sie war kühl, die aschgraue Haut weich, das Fleisch darunter von der Rigor mortis verhärtet. Es hätte mich nicht überraschen dürfen. Ich kannte die Starre, hatte viel über sie gelesen. Aber ich erschrak trotzdem. Mein Puls tobte in meinen Ohren.

    »Er ist tot.« Meine Stimme klang weit entfernt. Ich ließ seine Hand los.

    Anastasios durchpflügte beidhändig seinen Haaransatz. »Oh Gott, oh Gott, oh Gott«, stammelte er wie ein Mantra. »Geh rein. Du musst die Polizei rufen.«

    Mag sein, dass er recht hatte. Doch irgendetwas hinderte mich daran, aufzustehen und nach dem Telefon zu greifen. Wer war er?, fragte ich mich im Stillen. Was wollte er hier? Und was zum Teufel hat ihn dahingerafft? Hier, unter meiner Türklingel?

    Er antwortete nicht. Ich überlegte angestrengt, doch ich sträubte mich, anzunehmen sein Hiersein könnte irgendetwas mit mir zu tun haben. Warum auch? Ich war für etliche Wochen fort gewesen und gerade erst angekommen. Ich hatte niemandem meine Rückkehr gesteckt, nicht einmal meinen Eltern. Besuch war bis auf Weiteres eingestellt.

    »Wir müssen die Polizei rufen«, wiederholte Anastasios.

    »Noch nicht«, sagte ich und breitete das Taschentuch aus meiner Hosentasche auf der Handfläche aus und begann, seine Jacke abzutasten, was außerordentlich schwierig war, weil die Fasern des Papiertuchs wie Klett am Wildleder pappten. Und weil meine Hand zitterte.

    »Was zum Teufel machst du da?«

    »Ich muss wissen, wer er ist. – Wer er war«, korrigierte ich.

    »Bist du völlig durchgeknallt? Schon mal was von Seuchengefahr gehört? Oder hast du nichts aus dem Tsunami oder der Katastrophe auf Haiti gelernt? Wenn der an irgendeiner Krankheit gestorben ist, sind seine Viren bestimmt schon im Umlauf.«

    Ich sah zu ihm hinunter und beobachtete seine Augäpfel, wie sie flink von einem Winkel in den nächsten ruderten. Fast so, als konnte er die Viren an sich vorbeifliegen sehen. »Du hyperventilierst«, sagte ich.

    »Kann die Polizei das nicht machen?«, bohrte er weiter.

    »Natürlich kann sie das. Aber wenn Ansmann die Sache übernimmt, werde ich kein Sterbenswörtchen aus ihm herauskriegen.«

    »Wer ist Ansmann?«

    »Kripo Bochum. Ist schon einige Male durch diesen Flur geschwirrt.« Ich stöhnte auf. »Und der wird sicher an die Decke gehen, wenn er hiervon Wind bekommt.«

    Die Brustinnentasche des Toten war ausgebeult. Ich faltete die Jacke zur Seite und zog seine Brieftasche heraus. Sein Ausweis verriet mir die Stammdaten: Arthur Brülling, 42 Jahre alt, wohnhaft in Altenbochum. Ich kannte die Adresse, weil sie sich im Dunstkreis des Krematoriums befand. Verwirrt steckte ich den Ausweis zurück. Der Name kam mir bekannt vor. Brülling, Brülling … Aber ich konnte ihn einfach nicht einordnen.

    Ich setzte die Durchsuchung fort und fand einen gefalteten Zettel im Geldscheinfach, auf welchem mein Name und meine Adresse gekritzelt stand. Es gab keinen Zweifel mehr: Arthur Brülling war meinetwegen hier.

    Zitterig strich ich den Zettel mit dem Zeigefinger glatt. Mit einer Büroklammer war das Passfoto eines jungen Mädchens daran geklemmt. Das Bild war lädiert, weiße Knickfalten querten ihr hübsches Gesicht. Anhand der trüben Farben nahm ich an, dass das Foto bereits vor etlichen Jahren aufgenommen worden war. Sie war blond, trug ihr langes Haar offen und lächelte nicht. Ich steckte das Bild und den Zettel in meine Hosentasche und bat Anastasios, den Notruf zu wählen. Doch erst als die Antwort ausblieb, merkte ich, dass der Grieche sich längst aus dem Treppenhaus verdünnisiert hatte.

    2.

    Unnötigerweise kam der Notarzt mit Blaulicht angefahren. Ich stand in der Haustür und umarmte mich selbst. Draußen nieselte es. Der Wind pustete den Niederschlag vor sich her und in mein Gesicht. Es war Anfang Oktober, Freitag, Erntedankfest. Und es war arschkalt. In Ungarn hatte gestern noch strahlender Sonnenschein geherrscht.

    Der Notarzt war eine knochige Gestalt in einem schlackernden Pulli. Sein graubraunes Haar lag platt auf seinem Schädel und seine Augen quollen wie Tischtennisbälle aus den Höhlen hervor. Er hatte ein fliehendes, glatt rasiertes Kinn, auf dem ein stecknadelkopfgroßer Pickel nistete. Dessen Anblick war so einnehmend, dass ich auf nichts anderes mehr gucken konnte.

    »Haben Sie angerufen?«, fragte mich der Pickel und ich nickte. Dann machte ich ihn mit den drei Geschossen des Hauses bekannt und beschrieb ihm, wo er den Toten finden konnte, da ich nicht vorhatte, ihn zu begleiten.

    Ich drehte mich um in Richtung Straße und hörte seine Schritte, wie sie sich beschleunigten – wohl in der Erwartung, dem armen Mann noch helfen zu können. Wenige Momente später schrammte ein weißer Ford Focus die Bürgersteigkante vor mir hinauf. Eine mobile Rundumleuchte, irrsinnigerweise im Innenraum des Wagens, schleuderte ihr Blaulicht gegen die benetzte Windschutzscheibe und auf die Stirn von Edgar Ansmann, dessen Schulter sich mühselig aus dem Gurtsystem des Fahrersitzes befreite. Ich verzog die Mundwinkel. Ansmann. Er war viel zu früh und vor seinen uniformierten Kollegen da. Ein eindeutiges Indiz dafür, dass ihm jemand den Fauxpas vor meiner Tür gesteckt haben musste.

    Edgar Ansmann war Kriminalhauptkommissar im Bochumer Präsidium. Wegen seiner Art, sich alles und jeden einverleiben zu wollen, wurde er oftmals zu Unrecht als Leiter des Kommissariats 1 tituliert. Stimmen sagten, er hätte den Sprung dorthin schon vor Jahren verbockt. Aber vielleicht hatte er auch einfach keine Lust, seine Lakaien nur noch vom Bürostuhl aus umherzuscheuchen.

    »Frau Roloff«, begrüßte er mich und knallte die Fahrertür zu. »Sie sind wieder im Lande. Und haben sich gleich etwas Arbeit mit nach Hause gebracht?« Hämisch bleckte er seine Zähne. Er trug eine Windjacke, schwarze Stoffhosen und einen schwarzen Rolli, der seinen Hals dünner wirken ließ. Sein Haar war anders als früher, länger. Doch sein Gesicht war wie eh und je von sämtlichen Barthaaren befreit. Er war Mitte 40, konnte bei günstigem Licht aber für Ende 30 durchgehen.

    Ich antwortete mit einer Grimasse. Die Sirenen des Rettungswagens jaulten uns aus der Ferne entgegen. Tröpfchen nieselten lautlos auf seine Schultern.

    »Also? Was haben wir?«, fragte er voller Tatendrang.

    Ich wies in Richtung Tür. »Das können Sie sich vom Notarzt erklären lassen.«

    Seine gute Laune begann zu schwinden. »Unkooperativ wie immer, was?« Er trat in den Hausflur und nahm die ersten Treppenstufen. »Und Sie sind sich sicher, dass der Exitus vor Ihrer Heimkehr eingetreten ist?«

    »Das ist nicht witzig!« Ich versuchte ihm zu folgen, musste jedoch feststellen, dass sich mein Körper von den Beinen an gegen den Aufstieg sträubte.

    Ansmann bemerkte meine Anstrengung. »Kommen Sie«, ordnete er an.

    »Danke. Aber ich habe genug gesehen.«.

    »Blödsinn. Toter als jetzt kann der Kerl nicht mehr werden.«

    Hast du eine Ahnung, du forensische Null.

    »Außerdem will ich Sie im Auge behalten. Nicht, dass Sie mir wieder klammheimlich die Fliege machen.«

    »Was soll das denn heißen?«, rief ich ihm hinterher. »Bin ich für Sie etwa so was wie eine Verdächtige?« Ich nahm zwei Treppenstufen auf einmal, mehrmals hintereinander, was ich sonst nie tat. Infolgedessen hechelte ich nach Luft, als ich ihn in der zweiten Etage einholte. Mein lädierter Unterschenkel begann zu kribbeln; ein kleines Souvenir, verabreicht von einem äußerst angepissten, bewaffneten Holländer. Mittlerweile war mir klar, dass ich außerordentliches Glück gehabt hatte, denn es hätte genauso gut in meinem Kopf landen können. Damals allerdings wusste ich nichts, außer dass es scheiße wehgetan hat.

    Ansmann grinste, was ihm besser stand als sein üblicher Terrierblick. »Im Moment verdächtige ich Sie nicht. Aber es wäre ja nichts Neues, würden Sie nach einer Stresssituation wie dieser das Land verlassen.« Er lächelte mich an. Dann schaute er über das Geländer hinweg zu meiner Wohnungstür und ich sah zu, wie ihm das Lächeln allmählich wieder abhanden ging. Beinahe stolperte er über die letzte Stufe, weil sein Blick am Gesicht des Toten klebte. Seine Sohlen quietschten an den Notarzt heran und seine Hände ballten sich zu Fäusten, die er flugs in seinen Taschen vergrub.

    »Kennen Sie den Mann?«, fragte ich vorsichtig.

    Ansmann erwiderte mit eisigen Augen: »Ich stelle hier die Fragen.«

    Der Notarzt, der vor dem Toten kauerte, sah zu uns hinauf. Feuchte Strähnen pappten an seiner Stirn. »Sind Sie von der Polizei?«

    Ansmann zog seinen Dienstausweis aus der Tasche. »Kripo Bochum.«

    »Kripo?«, fragte der Doktor zu Recht.

    »Ich war gerade in der Gegend.«

    Der Arzt räusperte sich. »Also. Die Totenstarre setzt ein. Ich konnte Totenflecke im unteren Beinbereich feststellen, passend zur Lage des Körpers.« Er schob ein Hosenbein des Toten hoch. Marmorierte, bläuliche Haut schimmerte über dem Sockenrand und mein Herz begann in Richtung Magen zu rutschen. »Er ist höchstwahrscheinlich hier verstorben.«

    »Todesursache?«

    Er zuckte mit den Schultern. »Sieht nicht nach Fremdverschulden aus. Ich gehe von Herzversagen aus. Vielleicht ein Infarkt.«

    Ansmann machte Telleraugen. »Sie machen Witze. Dieser Mann? Vor der Tür dieser Frau?« Er zeigte auf mich. »Auf gar keinen Fall.«

    Einige Füße, vier oder sechs, trabten das Treppenhaus hinauf. Offenbar die Besatzung vom Rettungswagen. Ansmann beugte sich über die Brüstung. »Kripo Bochum. Bleiben Sie unten. Hier gibt es nichts mehr für Sie zu retten.« Dann eine Pause. »Sind meine Kollegen schon da?«

    Von trabenden Füßen war nichts mehr zu hören. Offensichtlich waren sie auf halbem Wege stehen geblieben. »Nein«, rief einer der Retter hoch.

    Ansmann nickte die Brüstung hinunter. »Dann schicken Sie sie rauf, wenn Sie sie sehen.« Er wich zurück und wandte sich wieder dem Notarzt zu. »Stellen Sie den Totenschein aus?«

    Er nickte.

    »Was wird drinstehen?«

    »Ich bin mit der Leichenschau noch nicht fertig.«

    »Dann machen Sie weiter.« Er sah mich an. »Und wir unterhalten uns drinnen.«

    »Drinnen?«, wiederholte ich. »Aber da gibt es nichts zu unterhalten.«

    »Ich glaube, Sie verstehen mich falsch«, raunte er zurück und trat mit großen, leisen Schritten an mich heran. So nah, dass ich sehen konnte, wie seine Pupillen zu Stecknadelköpfen einschrumpften, um dem Braun seiner Regenbogenhäute Platz zu machen. »Das hier ist kein Zirkus und ich bin nicht zu Ihrer Unterhaltung hier! Also los, rein da!« Er zog die rechte Faust aus der Tasche und ließ den Zeigefinger wie eine Klinge hervorspringen.

    Ich zuckte zusammen, auch wenn ich es längst gewohnt war, dass Ansmann gern die Furie machte. Die Übellaunigkeit, die urplötzlich über ihn hereingebrochen war, kaum, dass er die Leiche gesehen hatte, machte mich allerdings stutzig. Und neugierig. Daher gab ich nach, ließ zwei Finger in meiner Tasche versinken und zog den dünnen Bund heraus. Ungeduldig rückte er an mich heran, bis ich sein Rasierwasser riechen konnte. Seine Windjacke raschelte wie eine Brötchentüte und mir kam der Gedanke an ein zweites Frühstück.

    »Hallo, Sie da oben!« Die Sanitäterstimme von vorhin hallte aus dem Treppenhaus.

    Ansmann trat ans Geländer. »Was ist?«

    »Ihre Kollegen sind jetzt da. Sollen wir sie hochschicken?«

    »Ja, sicher sollen Sie das!«

    Quatschende Schuhsohlen beherrschten den Augenblick. Dann tauchten zwei Gestalten in feucht geregneten hellblauen Hemden hinter dem Geländer auf. Ein Duo mit Pferdeschwänzen, der eine Teil weiblich, der andere mit Kinnbart. Das Haar des Mannes war schwarz, wollig und zwirbelte sich an den Spitzen, seine Augen standen weit auseinander. Er schien hartgesotten zu sein, auch wenn er wohl kaum über 25 war, denn sein Grinsen blieb hartnäckig, trotz – oder wegen – der Leiche unter der Klingel. Seine Dienstbegleitung war blond mit einer Blesse aus ölig glänzendem Make-up. Ihr Teint war anstrengend anzusehen, blass am Hals, ein Schminkrand unter den Ohrläppchen. Ihre Augenringe funkelten blau, teilweise lila, und bildeten Furchen wie Reifenspuren auf der Haut. Ihr Mund war halb geöffnet und es war kaum zu übersehen, dass sie um Fassung rang und ihr Hirn anstrengte, es möge ihrer linken Hand befehlen, endlich den Ärmel ihres Kollegen loszulassen. Endlich lockerte sich die Krampfhand.

    »Ist das der Tote?«, pisperte sie.

    Ansmanns Wangen färbten sich rosig. Ein ärgerliches Rosa. Er sah den Uniformierten an. »Was soll die Anwärterin hier?«

    Die Beamtin stemmte ihre Hände in die Hüften. Sie war winzig, um die 1,65, roch süß nach Abitur und machte einen schluderigen Eindruck: Ihre Haare standen elektrisiert in alle Richtungen, ihr Gürtelholster schlang sich lustlos um ihre Taille und ihre Dienstknarre hing wie ein sperriger Werkzeugkasten an ihrer Hüfte. Bei dem Anblick musste ich unweigerlich an Corinna Gläser denken, Metins Sekretärin und Azubi bei Tozduman Securities; und offensichtlich lächelte ich dabei, denn plötzlich starrten mich alle an.

    Ansmann hörte als Erster auf damit. »Also, Leute, Schulprogramm.« Er hob die Augenbrauen und sah zur Blondine, als wäre sie begriffsstutzig. »Erster Angriff.« Er buchstabierte es fast. »Irgendjemand muss mit dem Notarzt die Leichenschau zu Ende bringen. Dann solltet ihr euch den Griechen im unteren Geschoss vorknöpfen. Ich bin nicht für den Kriminaldauerdienst hier, der muss auch angerufen werden, damit der Tatort übergeben werden kann. Und keiner drückt auf die Klingel hier! Ich will wissen, ob der Tote das getan hat.« Er wandte sich an mich. »Ziehen Sie sich was an.«

    »Mir ist nicht kalt.«

    »Ihnen wird gleich kalt werden, wenn wir zur Wache fahren.«

    »Ich will aber nicht zur Wache!«

    Die Anwärterin bemühte sich erst gar nicht, ihren Hohn zu verbergen, sondern ließ ein Kichern entlang des Gaumens rollen. Ansmann mochte keinen Spott. Seine rosigen Wangen wechselten ins Tomatige, wenige Nuancen unter fuchsteufelsrot.

    »Los jetzt!«, fuhr er mich an und wies erneut auf meine Tür. Ich ließ meine Schlüssel zwischen den Fingern klimpern und überlegte, ob ich weiter aufmucken sollte, schloss dann aber – nach fast drei Monaten Abwesenheit – die Tür auf. Ansmann trat nach mir in den Flur.

    Dann wurde es zappenduster.

    Sämtliche Rollläden in meiner Bude waren heruntergelassen und ließen höchstens ein paar Fetzen Licht in die Zimmer. Die bleierne Schwärze drückte von oben auf mich herab. Ich mochte keine Dunkelheit, und ich hasste es regelrecht, wenn man die eigene Hand vor Augen nicht sehen konnte. Im Flur roch es nach moderiger Pappe und alter Wäsche. Der Mief schnürte mir die Kehle zu und in Kombination mit der Lichtlosigkeit führte das zu einer Hysterie, die für mich völlig neu war. Meine Lungenflügel flatterten, mein Herz hämmerte und der Schwindel fühlte sich träge und frustrierend an, weil mir nicht schwärzer vor Augen werden konnte, als es ohnehin schon war. Ich hörte mich. Ich schnaufte.

    »Alles in Ordnung mit Ihnen? Wo haben Sie Licht?« Ansmanns Stimme war ganz nah. Ich hörte, wie seine Schuhe auf dem Parkettboden knatschten. Aber ich erinnerte mich nicht mehr, wo ich war. Ich glaubte, ich sei im Flur; der Raum fühlte sich eng und beklemmend an, obwohl ich es nicht schaffte, mit ausgebreiteten Armen auch nur eine Wand zu ertasten. Seine Windjacke raschelte an der Raufaser. Er entfernte sich von mir. Dann knarrte eine Klinke, Lichtfetzen drangen wie Sternenstaub in meine Augen und jemand knipste das Licht im Nebenzimmer an. Das alles passierte binnen Sekunden. Mir kam es wie eine Ewigkeit vor.

    Angespannt sog ich die moderige Luft ein. Ansmann betrachtete mich wie einen Geist. »Meine Güte«, hauchte er und schüttelte ungläubig den Kopf. »Sie haben die Hosen voll.«

    »Hab ich nicht«, fauchte ich und ging von Zimmer zu Zimmer, um sämtliche Türen aufzureißen und die Rollläden hochzuziehen. Das Plastik schepperte auf dem Rollband. Manche Fenster öffnete ich. Der Regen war stärker geworden und sein Rauschen erfüllte meine Wohnung. Meine blonden Haare flogen wild durcheinander und ich bekam eine Gänsehaut. Eine Tür knallte zu. In der Bude zog es wie am Wattenscheider Bahnsteig.

    Ansmann lachte. »Eine Privatermittlerin, die Angst im Dunkeln hat. Ich habe bis heute nicht verstanden, was Tozduman an Ihnen findet.«

    »Das tut nichts zur Sache«, knurrte ich ihn an. »Nicht mehr.« Fröstelnd riss ich die Türen meines antiquarischen Kleiderschranks auf und betrachtete die Wollartikel im höchsten Regal.

    Er verschränkte die Arme vor der Brust und bestaunte mich. »Habe ich mich verhört oder herrscht etwa Stunk in der Voedestraße?«

    Mit einem Pulli in der Hand knallte ich die Schranktür zu. »Ach kommen Sie! Sie wissen ganz genau, wovon ich rede!«

    Er legte eine Hand auf die Brust. »Ich? Woher soll ich was wissen? Was habe ich schon mit Tozduman zu schaffen?«

    Er mochte recht haben. Und trotzdem. »Sie waren mit seiner Schwester verheiratet.«

    Angesäuerte Züge legten sich auf sein Gesicht. Ich wusste, er sprach nicht gern darüber. »Das befähigt ihn noch nicht dazu, von mir gemocht zu werden.«

    Dieses Credo beruhte auf Gegenseitigkeit, denn Metin und Ansmann mieden einander schon immer wie die Pest.

    »Also«, ermunterte er mich plötzlich. »Spucken Sie es aus.«

    Ich klemmte mir den Pulli unter den Arm und sah ihn lange an. Ich konnte mir nicht erklären, aus welchem Grund er Interesse für meine Belange zeigte, aber ich beschloss, sein Spiel mitzuspielen und die Sympathiekarte auszuspielen. Vielleicht war es ja für etwas gut. »Wissen Sie, Herr Kommissar, soweit ich die Lage einschätzen kann, arbeite ich nicht mehr für Tozduman Securities.«

    »Ich verstehe nicht. Welche Lage gibt es denn da einzuschätzen?«

    Ich kaute auf der Unterlippe. »Ich war eine ganze Weile weg.«

    »Ist mir zu Ohren gekommen. Wo waren Sie überhaupt?«

    »In Balatonfüred. Mein Onkel hat einen Campingwagen dort.«

    Er sah an meiner flatterigen, knielangen Hose herunter und blieb an meinen Flipflops hängen. »Und dort ist es Anfang Oktober immer noch richtig warm?«

    »Normalerweise nicht. Aber dieses Jahr irgendwie schon.«

    »Verdammter Klimawandel«, sagte er. »Und was für ein Problem haben Sie mit Tozduman?«

    »Ich habe kein Problem mit ihm.«

    Er nickte. »Er hat ein Problem mit Ihnen.«

    »Es ist so: Meine Abreise war sehr spontan.«

    »Überstürzt würde es besser beschreiben.« Er schnaubte.

    Dann, einige Sekunden später, merkte ich, dass der Groschen bei ihm gefallen war. Sein zerknittertes Gesicht löste sich in Erstaunen auf. »Sie haben sich von dem Türken nicht verabschiedet, oder?«

    »Er hätte meine Auszeit nicht verstanden«, rechtfertigte ich mich. »Und Konflikten mit ihm gehe ich lieber aus dem Weg.«

    »Das wird ja immer besser. Sagen Sie mal, haben Sie überhaupt irgendeine Qualität, die Sie dazu befähigt, diesen Detektivjob zu machen?«

    Ich stemmte die Hände in die Hüften. »Ich habe einige Qualitäten.«

    »Die müssen mir wohl entfallen sein.«

    »Ich habe zwei Mordfälle gelöst!«

    »Blödsinn«, pöbelte er. »Das Einzige, was Sie geschafft haben, ist unnötig Ihr Leben zu riskieren. Und zwar beide Male. Außerdem haben Sie anderen dabei eine Menge Ärger eingebrockt, weil sie für Sie in die Bresche gesprungen sind.«

    Ich schmollte, aber ich schwieg, weil ich nicht über die ›anderen‹ reden wollte. Es

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