Aufwachsen am Bergisel
Von Christine Zucchelli und Gerhard Lagger
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Über dieses E-Book
Die Kindheits- und Jugenderinnerungen von Gerhard Lagger, Jahrgang 1943, führen uns durch das Wilten der Vierziger- bis frühen Sechzigerjahre, als trotz Entbehrungen allerorts Aufbruchstimmung zu spüren war. An jeder Ecke wurde ein stetig breiter werdendes Sortiment von Waren des täglichen Bedarfs angeboten, es gab zahlreiche Gaststätten und mit den beiden Bahnstationen am Fuße des Bergisels war Wilten Drehscheibe für den innerstädtischen Verkehr sowie für Ausflüge ins Stubai oder ins südliche Mittelgebirge.
Gerhard Laggers Tochter, Christine Zucchelli, hat die Erinnerungen ihres Vaters zusammengetragen. Gemeinsam zeichnen sie ein lebendiges Bild vom Aufwachsen in der Zeit zwischen Wiederaufbau und Wirtschaftswunder und laden die Leserinnen und Leser ein, sie auf ihren Streifzügen zwischen Sprungschanze und Triumphpforte zu begleiten.
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Buchvorschau
Aufwachsen am Bergisel - Christine Zucchelli
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WENN VATER ERZÄHLT …
Mein Vater, Gerhard Lagger, 1943 in Innsbruck geboren und am Bergisel aufgewachsen, war ein typisches Kind der Nachkriegszeit: wild, frei, unbeschwert und oft sich selbst überlassen. Die Welt seiner Kindheit erstreckte sich vom Bergisel bis zur Triumphpforte, erst im Jugendalter wurde sie etwas weiter. Nicht groß war diese Welt, aber vertraut, abenteuerlich und reich durch die Freundschaft mit einer kleinen Gruppe gleichaltriger BergislerInnen. Die Lebensumstände brachten es mit sich, dass Vater, kaum dem Jugendalter entwachsen, vom Bergisel fortzog; wohl kehrte er über Jahre immer wieder mit seiner eigenen jungen Familie auf Besuch bei seiner Mutter zurück, der Kontakt zu den Freunden und Nachbarn der Kindheit aber verlor sich bald.
Nicht so die Erinnerung, denn im Herzen ist mein Vater bis heute ein Bergisler geblieben. Das merkt man, wenn er von früher spricht, was er oft und gerne macht. Erstaunlich detailreich beschreibt er dann Abenteuer und Lausbubenstreiche der jungen Bergisler, Begegnungen mit unvergesslichen Wiltener Originalen oder Episoden aus Schulzeit und Alltagsleben. Oft sind es die kleinen Geschichten, die berühren. Etwa vom Zusammensitzen der staunenden Jugend vor dem ersten Fernseher am Bergisel, vom Glück, beim Greißler eine Handvoll Zuckerln geschenkt zu bekommen, oder von den Ohrfeigen, die Lehrer und Pfarrer freigiebig verteilten.
Vater wuchs in einer Zeit heran, in der die Spuren des Krieges in Wilten weitgehend beseitigt waren und allerorts Aufbruchstimmung herrschte. Greißler, Bäcker und Fleischhauer boten ein stetig größer werdendes Sortiment von Waren des täglichen Bedarfs an, Gaststätten waren zahlreich und gut besucht. Die Leopoldstraße bildete mit ihren Geschäften und Handwerkerläden die Lebensader des Stadtteils Wilten, zwei Bahnstationen am Fuß des Bergisels machten ihn zur Drehscheibe für den innerstädtischen Verkehr und für Ausflugsfahrten ins Stubai oder aufs südliche Mittelgebirge; auch die private Motorisierung schritt zügig voran. Ab Mitte der 1950er Jahre wurde an allen Ecken gebaut. Mit neugierigem Interesse beobachtete Vater, wie Wohnhäuser Bombenlücken füllten, Bahngeleise neue Trassen erhielten und Straßen verbreitert und asphaltiert wurden. Auch den Baubeginn der Brennerautobahn und die Vorbereitungsarbeiten für die Olympischen Winterspiele 1964 erlebte er als Bergisler hautnah mit.
Vater erzählt mit Begeisterung vom Aufwachsen am Bergisel, das Erzählte niederzuschreiben ist nicht sein Fall. Und so darf ich das mit großer Freude für ihn übernehmen. Denn der Bergisel war auch für mich immer etwas Besonders. Bergisel, das bedeutete Zeit mit Oma und ihren Geschichten vom alten Wilten, mit Spaziergängen am Andreas-Hofer-Weg, einem Kracherl im Springerstüberl bei der Sprungschanze und der Geborgenheit in der Villa am Bergiselweg mit der sonnigen Veranda und dem knorrigen Weinstock an der Hausmauer.
Dieses Buch besteht im Wesentlichen aus den Erinnerungen meines Vaters und den Antworten auf Fragen, die er mir auf unzähligen Spaziergängen durch Wilten beantwortete, ergänzt um einige historische Hintergrundinformationen, die dem persönlich Erlebten einen Rahmen geben sollen. Eine Stadtteilchronik kann und will dieses Buch nicht sein, für Interessierte haben wir eine kurze Zusammenfassung der Geschichte Wiltens und des Bergisels an den Anfang gestellt.
Meinem Vater und mir hat es viel Spaß bereitet, gemeinsam die Orte seiner Kindheit und Jugend aufzusuchen und uns dabei in Geschichten von damals zu verlieren. Schön, dass Sie uns nun auf unserer Zeitreise durch das Wilten der späten 1940er bis frühen 1960er begleiten. Wir wünschen Ihnen viel Freude dabei.
Christine Zucchelli
VOM KULTPLATZ ZUR VILLENSIEDLUNG, VOM BAUERNDORF ZUM STADTTEIL
Der Bergisel misst an seinem höchsten Punkt bescheidene 749 m. Sein Name ist vorrömisch, leitet sich von burgusinum her, was so viel wie „Erhebung" bedeutet, und bezog sich ursprünglich auf den gesamten Höhenrücken zwischen der Sillschlucht im Osten und dem Geroldsbach und dem Klosterberg nördlich von Natters im Westen.
Die eigentliche Bergiselkuppe und ihre unmittelbare Umgebung zählen zu den ältesten Siedlungsgebieten im Bereich des heutigen Innsbruck, ihre früheste Geschichte lässt sich sehr schön bei einem Besuch in der archäologischen Abteilung des Tiroler Landesmuseums Ferdinandeum erkunden. Fundstücke aus Wilten zeigen, dass sich bereits während der Bronzezeit vor etwa 3000 Jahren und der nachfolgenden Eisenzeit an den nördlichen Abhängen des Bergisels Menschen niedergelassen hatten. Am Bergiselplateau und im Bereich der Sprungschanzenkuppe lagen ihre Kultplätze, an denen sie Tiere als Brandopfer darbrachten; die Toten verbrannten sie und setzten sie am ehemaligen Lorenziacker südlich der Basilika, wo heute die Remisen der Innsbrucker Verkehrsbetriebe stehen, in Urnengräbern bei. Seit dem 19. Jahrhundert stößt man bei Bauarbeiten immer wieder auf ihre Spuren, auf Grabstätten und Gebäudefundamente, auf Schmuck, Waffen und Keramik.
Um Christi Geburt drangen die Römer über die Alpen gegen Norden vor und überzogen die eroberten Gebiete mit einem dichten Straßennetz. Eine Nebenlinie der bekannten Via Claudia Augusta legten sie über den Brennerpass und das Wipptal zum Bergiselsattel am heutigen Sonnenburgerhof an und von dort – dem Hohlweg entsprechend – hinunter in die Ebene am Fuß des Bergisels. Dort errichteten sie eine Straßenstation, die sie Veldidena nannten. Der Name geht auf die vorrömische Bevölkerung zurück, seine Bedeutung ist unklar. Von Veldidena setzte sich die Nebenlinie der Via Claudia Augusta über Zirl, damals Teriolis, und den Seefelder Sattel nach Augsburg fort; eine weitere Straße querte die Sill bei Veldidena auf der pons sulle, der Sillbrücke, und führte, in etwa der heutigen Wiesengasse entsprechend, gegen Osten.
Um das Jahr 300 bauten die Römer Veldidena zum befestigten Kastell aus, mit Mauern, Wehrtürmen und lang gestreckten Hallen, die als Lager und Soldatenquartiere dienten. Das Kastell lag nördlich des heutigen Stifts; außerhalb, gegen Westen hin, standen die Häuser der Zivilbevölkerung. Dort lebte im 1. Jahrhundert die älteste namentlich bekannte Wiltenerin, eine gewisse Secundina. Ihr hatte ein unbekannter Dieb zwei Rinder gestohlen, worauf sie in ein kleines bleiernes Täfelchen die Bitte an die Götter ritzte, den Dieb zu fassen und vor Gericht zu bringen. Auch dieses Fluchtäfelchen kann im Ferdinandeum bestaunt werden.
Mit den Römern kam das Christentum nach Veldidena. Die Gründungslegende der Basilika wusste davon schon lange zu berichten, die Wissenschaft bestätigte es in den 1990er Jahren, als Grabungen zeigten, dass die Wiltener Basilika tatsächlich auf frühchristlichen Fundamenten des 5. Jahrhunderts steht. Vermutlich handelt es sich dabei um die bei Bischof Gregor von Tours im 6. Jahrhundert erwähnte Laurentiuskirche.
Veldidena. Sgraffito des Innsbrucker Malers und Künstlers Max Spielmann am Haus Leopoldstraße 44 (Foto: C. Zucchelli)
Veldidena wurde kurz vor 600 von Bajuwaren erobert und zerstört. Neben den Ruinen entstand eine neue Siedlung, die im 9. Jahrhundert erstmals als Vuiltina urkundlich genannt wird. Um diese Zeit dürfte auch das Kloster Wilten gegründet worden sein; der einzige Hinweis auf seinen Ursprung ist die Sage vom Riesen Haymon, der am Ausgang der Sillschlucht als Sühne für eine Mordtat ein Kloster errichtet hätte.
Das Kloster, und hier wird es wieder historisch, wurde im Jahr 1128 durch Bischof Reginbert von Brixen dem damals noch sehr jungen Orden der Prämonstratenser übergeben, zusammen mit ausgedehnten Ländereien, die den Unterhalt des Klosters sichern sollten. Zehn Jahre später bestätigte Papst Innozenz II. die Niederlassung und stellte sie unter päpstlichen Schutz. Die Ländereien des Stiftes umfassten im Mittelalter die so genannte „Hofmark Wilten", die aus dem Ober- und Unterdorf Wilten bestand und sich darüber hinaus gegen Norden bis an den Inn und im Westen bis zur Schlucht des Geroldsbaches erstreckte; gegen Osten begrenzte im Wesentlichen die Sill die Hofmark, wobei das Stift aber mit den Sillhöfen, dem Lemmenhof am Paschberg und dem Zenzenhof oberhalb von Gärberbach auch Besitz am östlichen Flussufer hatte. Das Sellraintal und das innere Senderstal mit der Kemater Alm gehörten ebenfalls zur Hofmark. Dazu kamen durch Schenkungen weitere Höfe, Ländereien und Weingärten in Nord- und Südtirol.
In seiner Versorgung war das Stift Wilten weitgehend autark. Nördlich des Klosters, wo heute das Fremdenverkehrskolleg steht, lag der klostereigene Bauernhof oder Stiftsmeierhof, am Sillkanal arbeiteten Stiftsmühle, Stiftsschmiede und Stiftsbrauerei; außerdem gehörten zum Stift ein Steinbruch, eine Ziegelbrennerei und eine Sandgrube am Fuße des Bergisels. Innerhalb der Hofmark verfügte das Stift über Polizeigewalt und Gerichtsbarkeit für Zivil- und Strafsachen. Das Stift war auch für die Seelsorge in seinem Einflussbereich zuständig; eine erste Pfarrkirche von Wilten zu „Unserer lieben Frau unter den vier Säulen" wird 1140 urkundlich erwähnt und ist die Vorgängerin der heutigen Basilika.
Der „Historische Plan der k. und k. Provincial-Hauptstadt Innsbruck" zeigt Wilten Mitte des 19. Jahrhunderts. (Foto: Wikimedia Commons)
Über die Jahrhunderte sollte das Stift seinen Grundbesitz mehrfach durch Verkäufe verkleinern. Im Jahr 1180 erwarb der bayrische Graf Berthold III. von Andechs vom Stift ein Stück Land am südlichen Innufer, um dort einen mauerbewehrten Marktplatz zu gründen. Dieser erhielt um 1200 das Stadtrecht und bildet die heutige Altstadt von Innsbruck. Das rasch anwachsende Innsbruck kaufte später noch mehrfach Land von Wilten, so etwa im 13. Jahrhundert das Gebiet zwischen Altstadt und Triumphpforte, im 15. Jahrhundert den heutigen Stadtteil Saggen, im 19. Jahrhundert den Bereich des Hauptbahnhofs.
Das Dorf Wilten blieb bis herauf ins frühe 19. Jahrhundert klein und im Wesentlichen bäuerlich geprägt mit einigen recht versprengten Adelssitzen: aus dem Ansitz Augenwaidstein wurde später der Gasthof zum Riesen Haymon, den Ansitz Straßfried erwarb die Glockengießerfamilie Grassmayr, Liebenegg und das dazugehörige Wiesbergschlössl am Wiltener Platzl sind heute Wohnhäuser, Windegg in der Adamgasse ging in der Adambrauerei auf; Sitz Mentlberg auf der Gallwiese wurde um 1900 zum Schloss umgebaut, die Liesingburg am Fuß des Bergisels musste dem modernen Wohnbau weichen. Die meisten Ansitze und Bauernhöfe lagen entlang der alten Landstraße von Innsbruck gegen Süden, die der heutigen Leopoldstraße und Haymongasse entspricht. Weitere Höfe standen in der Fischergasse, die von der Landstraße über Felder und Wiesen gegen Westen bis an den Inn verlief, und in der Neurauthgasse, der Liebeneggstraße und der Mentlgasse, die die Leopoldstraße gegen Osten mit dem Sillkanal verbanden. An der Landstraße befanden sich auch die beiden Dorfzentren, der so genannte Brunnenplatz oder Obere Dorfplatz im Zwickel von Haymongasse, Rotem Gassl und Leopoldstraße und der von Bürgerhäusern gesäumte Untere Dorfplatz, heute Wiltener Platzl. Zwischen dem Wiltener Platzl und der Triumphpforte, hinter der Innsbruck damals begann, dehnten sich Wiesen und Felder aus. Auch der Bereich zwischen Brunnenplatz und Bergisel war, abgesehen von Stiftsgebäuden und Pfarrkirche, weitgehend unbebaut.
Im Zuge der napoleonischen Kriege wurde Tirol von Österreich getrennt; 1807 hoben die neuen, bayrischen Landesherren das Stift Wilten samt seinen Privilegien auf, Wilten wurde von der Hofmark zur Gemeinde. Als es im Frühjahr 1809 zu bewaffneten Aufständen der Tiroler gegen die französisch-bayrische Fremdherrschaft kam, sollte Wilten und vor allem der Bergisel zum Symbol für Tiroler Freiheitswillen und Identität werden. Vom Lemmenhof am Paschberg ober dem östlichen Sillufer, über den Hohlweg und den Bergiselsattel bis zur Gallwiese am Mentlberg fanden die erbittertsten Kämpfe statt, vom Talgrund um Pfarrkirche und Stift Wilten stürmten die Feinde wiederholt gegen Bergisel und Mentlberg an. Nach drei erfolgreichen Abwehrkämpfen erlitten die Tiroler in der vierten Bergiselschlacht am 1. November 1809 eine vernichtende Niederlage.
Nach dem Niedergang Napoleons und dem