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Die Komponistin von Köln: Historischer Roman
Die Komponistin von Köln: Historischer Roman
Die Komponistin von Köln: Historischer Roman
eBook393 Seiten4 Stunden

Die Komponistin von Köln: Historischer Roman

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Über dieses E-Book

Das bewegende Schicksal zweier jüdischer Frauen zur Zeit des wirtschaftlichen und kulturellen Aufbruchs in Köln.

Köln, um 1900. Maria und Franzi kennen sich seit ihrer Schulzeit. Doch ihre Wege trennen sich, als Maria sich verliebt und nach England zieht, wo sie eine Familie gründet und Musikerin werden will. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs verflicht das Leben der beiden jungen jüdischen Frauen erneut miteinander. Zwischen Zerstörung, Angst und Wut versuchen sie, sich ihre Träume zu bewahren und trotz aller Widrigkeiten ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen.
SpracheDeutsch
HerausgeberEmons Verlag
Erscheinungsdatum23. Mai 2024
ISBN9783987071362
Die Komponistin von Köln: Historischer Roman
Autor

Hanka Meves

Hanka Meves arbeitet als Autorin und Journalistin in Köln. Sie hat ein Geschichts- und postgraduiertes Europastudium absolviert und schreibt Sachbücher sowie Kurz- und Kindergeschichten. Mit »Die Komponistin von Köln« legt sie ihren ersten historischen Roman vor.

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    Buchvorschau

    Die Komponistin von Köln - Hanka Meves

    Umschlag

    Hanka Meves arbeitet als Autorin und Journalistin in Köln. Sie hat ein Geschichts- und Postgraduierten-Europastudium absolviert und schreibt Sachbücher sowie Kurz- und Kindergeschichten. Mit »Die Komponistin von Köln« legt sie ihren ersten historischen Roman vor.

    Die Geschichte von Maria Herz, geborene Bing, genannt Mariechen, ist von ihren vielen Briefen und dem Familiennachlass inspiriert. Einige Ereignisse sind im Interesse der Dramaturgie erfunden oder zeitlich versetzt. Die Familie von Franziska Beyer, geborene Stein, genannt Franzi, dazugehörige Namen und Dialoge sind sämtlich erfunden. Jede Ähnlichkeit mit realen Begebenheiten, Personen, Namen und Orten ist rein zufällig und nicht beabsichtigt. Im Anhang befindet sich ein Personenverzeichnis.

    © 2024 Emons Verlag GmbH

    Alle Rechte vorbehalten

    Umschlagmotiv: Auguste Renoir, Yvonne et Christine Lerolle au piano, 1897 via Wikimedia Commons

    Umschlaggestaltung: Leonardo Magrelli

    Lektorat: Hilla Czinczoll

    E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

    ISBN 978-3-98707-136-2

    Historischer Roman

    Originalausgabe

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    Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

    Für meine Freundin Barbara, meine Schwester Heike

    und meinen Vater

    Prolog

    1948

    Ich hatte Mühe, ihren Brief zu öffnen. Meine Hände zitterten vor Aufregung. Wie lange war es her, dass ich von ihr gehört hatte? Dabei hatten wir uns geschworen, uns wöchentlich zu schreiben. Hatten!

    Während des Krieges hatte ich sie schreiben sehen, als sie mich in England aufnahm, jede Woche einen nummerierten Brief an ihre Kinder in den Vereinigten Staaten, egal ob sie erschöpft von der Hausarbeit war oder von der Arbeit an ihrem Buch über Musiker oder einem Beitrag für den Rundfunk. Ich hatte sie arbeiten sehen, so wie immer in ihrem Leben, während ich darauf wartete, endlich zu meinen Söhnen nach Palästina ausreisen zu dürfen.

    Ein gezackter Riss im Briefumschlag gab die Öffnung frei. Ein Foto fiel heraus. Ihr Foto. Eine Aufnahme vom Auftritt des Bing-Quartetts, aus der Zeit, die uns zu Freundinnen gemacht hatte. Neugierig schauten mich ihre Augen an. Stolz. Ein leichtes Lächeln. Überzeugt von sich selbst. Sie könnte ein Junge sein: kurze Haare, dunkle Augen wie ihre Brüder Moritz, den alle Menny nannten, und Hugo und ihr Cousin Richard. Sie war damals zehn Jahre alt, ihre Brüder wenig älter als sie. Die Jungs schauten ernst drein, ihre Geigenbogen nach unten gerichtet. Richard wirkte erwachsen, obgleich er gerade einmal vierzehn Jahre alt war. Doch sie, sie lächelte. Sie war sich ihrer Sache sicher gewesen. Die Musik war ihr Leben. Während ich grübelte, hatte sie längst ihre Entscheidung getroffen. Ob dies heute noch so war?

    Das Visum lag vor, die Überfahrt war gebucht für den 11. März 1948, in die USA zu Nora und Marga. Natürlich mit ihrem Sohn Robert. Treuer Robert! Unwillkürlich stellten sich mir die Haare an den Armen auf. Wie würde es ihr wohl dort ergehen? Ihr, die so sehr den kühlen Wind Yorkshires mochte, die sich bei Schwüle in die Mitte ihres Hauses verkroch, deren Arme nicht mehr schön genug für ein ärmelloses, luftiges Kleid waren. Ihr, die es vorzog, sich in die warme, weiche Wollunterwäsche Englands zu kuscheln. Worsted spinning. Feinstes Kammgarn aus Bradford. Ihr, die in den schwülen Sommern so häufig in Ohnmacht gefallen war. Wie ich sie beneidet hatte, wenn eine Traube von Schulmädchen sich um die Gefallene versammelte und um Hilfe schrie. Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn. Es war heiß heute, zum Glück nicht schwül. Der Sommer in Palästina ist unerträglich heiß.

    Teil I

    Ein weiter Weg

    Köln, 1888

    »Hier entlang!«, rief Mariechen mir zu, als wir auf die Straße traten.

    Ich richtete meinen Blick in die andere Richtung. »Ich dachte, du wohnst dort.«

    Sie schüttelte den Kopf. »Ich zeige euch was.«

    Meine kleine Schwester Lea zupfte an meinem Rock. »Wir dürfen keinen Umweg gehen.«

    Mariechen lachte. »Fünf Minuten.« Schon griff sie meine Hand und zog mich hinter sich her. Lea folgte uns widerwillig, als könnte sie uns mit ihrer Langsamkeit aufhalten.

    Wir liefen vor bis zu dem breiten Streifen, durch den das Sonnenlicht fiel, das uns blendete, weil die alte Stadtmauer Stück für Stück abgerissen wurde. Dort erst warteten wir auf Lea, die sich bitterlich beschwerte.

    »Das hier wird alles abgerissen«, trompetete Mariechen in das Jammern hinein. »Für eine Oper, ein Konzerthaus.« Sie hob begeistert die Arme. »Und ich spiele das erste Cello.« Sie fasste Lea und mich an den Händen und drehte sich mit uns im Kreis.

    Und ich?

    Bereits am ersten Schultag war mir ihr Lachen aufgefallen. Unweigerlich musste ich sie anstarren. Sie stand am Eingang der Schule und klopfte mit ihrem rechten Fuß einen Takt. Ihre Haare hatte sie – oder war es das Kindermädchen gewesen? – streng zurückgekämmt und zu einem Zopf geflochten. Doch die Locken versuchten der Strenge zu entfliehen. Ihr Kleid war von feinstem Stoff, die Rüschen lagen sorgfältig an den Puffärmeln und auf der Brust, ein aprikosenfarbenes Taillenband zog meinen Blick magisch an. Es passte wunderbar zum Blau des Rockes und zu ihren dunklen Augen. Dann schaute ich an mir hinunter und wieder hoch. Mittelblau, alles in einem Ton. Inzwischen war sie aus meinem Blickfeld verschwunden.

    Es war ein kalter Frühlingstag. Die Sonne beleuchtete die engen Gassen nur spärlich, strahlte einmal auf dieses, einmal auf jenes Dreifensterhaus. Wir liefen an Kneipen und Geschäften vorbei, deren üppige Auslagen den Spaziergang verlängerten.

    Lea und ich hatten viel Freude an dem zehnminütigen Weg zur neuen Schule. Wir dachten, dass die Tornister leicht wären, obgleich die Lederriemen in unsere Schultern schnitten. So wie sich unsere Ranzen leicht anfühlten, fühlte ich mich frei. Endlich kam ich aus der einzig erlaubten Elisenstraße heraus in die Welt. Bisher hatten wir sie nur in Begleitung verlassen dürfen.

    Die Schaufenster am Rande des Wegs waren mit leckeren Kamellen gefüllt, mit Glasmurmeln, von denen wir nie genug bekommen konnten, und mit Stoffen, von denen die Bewohner dieser Stadt nie genug bekamen.

    »Komm, komm schon!«, rief ich und trieb Lea zur Eile an. Sie ließ es geschehen, ohne die Augen von den Auslagen zu lösen, und lief mehr rück- als vorwärts. Es dauerte länger als die zehn Minuten, doch dann sahen wir das Eingangstor zu unserer Schule, der Evangelischen Höheren Töchterschule in der Antoniterstraße, davor warteten die Mädchen.

    Die Bänke in unserem Klassenzimmer standen eng aneinandergedrängt. Die Wände waren bis zu unserer Augenhöhe mit einer tiefdunkelgrünen Ölfarbe geschützt. Darüber hellte ein fahles Gelb die Wand etwas auf. Außer einem Bild mit einer Schneelandschaft war der Raum schmucklos. Es roch nach Putzmittel. Ich ließ meine Augen durch das Klassenzimmer wandern. Sofort erspähte ich das Mädchen mit dem lauten Lachen wieder. Sie hatte sich einen bequemen Platz in der dritten Reihe ausgesucht. So saß sie nicht zu sehr im Blickfeld der Lehrerin, aber auch nicht im toten Winkel, der dazu führen konnte, dass man nicht auffiel und keine guten Noten bekam. Ich drängelte mich an den anderen Schülerinnen vorbei und ergatterte tatsächlich den Stuhl neben ihr.

    »Franziska«, flüsterte ich ihr zu.

    »Genau wie meine Großtante Franzi«, erwiderte sie und streckte mir ihre schmale Hand entgegen. »Mariechen.«

    »Wie das Funkenmariechen?«

    Sie kicherte leise und wehrte ab. »Ich mag Karneval nicht so sehr.« Dann klopfte sie auf der Heftablage unter dem Tisch einen Rhythmus. Langsam, danach etwas schneller.

    Ich starrte auf ihre Finger, die sich federleicht bewegten, konzentrierte mich, strengte mich an und flüsterte: »Robert Schumann.«

    Sie nickte. Ich war erleichtert.

    Mit einem lauten Knarzen öffnete sich die Tür, und unsere Lehrerin betrat den Raum. Wir sprangen auf, um sie zu begrüßen.

    »Guten Morgen!«

    »Guten Morgen, Fräulein Baumann!«

    Seelenruhig blieb Mariechen sitzen, klopfte ihren Rhythmus zu Ende, erhob sich dann und stimmte in das Begrüßungsritual der Klasse ein. Von diesem Tag an nannten mich alle Franzi.

    Brüder

    Fräulein Baumann hatte die schönste Schrift, die wir uns vorstellen konnten. Sie hinterließ keine Schliere auf der Tafel. Ihre Stimme war warm und freundlich. Und ihre Taille! Wie schön sich ihr Kleid um ihre Figur schmiegte. Ich versuchte, ihre Schrift nachzuahmen, Mariechen trommelte ihre Musik auf die untere Tischplatte. Ich strich meinen Rock glatt, meine neue Freundin störte sich nicht an einem Fleck auf ihrem Kleid. Als meine Kreide vom Tisch rutschte, berührte ich aus Versehen Mariechens Taillenband. »Wie weich es war!«

    Einen Tag später fand ich es in einem Briefumschlag in meinem Ranzen mit den Worten: »Sowieso zu grell für mich.« Auf dem Briefumschlag stand eine gedruckte Adresse: Gebr. Bing & Söhne, Samt- und Seidenband-Lager, Pipinstraße 6 – 8. Einen Tag später lud sie mich zu sich ein. Sofort sagte ich zu.

    Mein Herz klopfte vor Aufregung, als wir unser Zuhause verließen. Wieder hatte ich Lea im Schlepptau. Schon nach wenigen Schritten bogen wir in die prächtige Hohe Straße ein. Große Fenster präsentierten Kleider, Schuhe, Hüte, wunderbare Leckereien. Meine Schwester hüpfte voller Freude, hielt dann plötzlich an und drückte ihre Nase an eine Scheibe, hinter der Süßigkeiten auslagen. Lutscher und Bonbons waren nach Farben sortiert, aufgereiht wie in einem Regenbogen. Aus der offenen Tür wehte uns der Duft von süßem gebranntem Zucker entgegen. Mir lief das Wasser im Mund zusammen. Doch ich wollte zu Mariechen.

    »Komm!«, sagte ich und zog Lea hinter mir her. Endlich standen wir vor der Nummer 47.

    »H. und Alb. Rauch, Mainzer Möbelfabrik«, las meine Schwester langsam vor, was auf dem Schild neben der Haustür stand. Ich klingelte.

    »Ich denke, sie heißt Bing, und wo gibt es hier Seidenbänder?« Kleine Schwestern können unendlich nerven.

    »Das Geschäft ist nicht weit weg von hier. Hier wohnen sie.«

    Lea stampfte mit den Füßen auf. »Ich wollte die Seidenbänder sehen.«

    Ein junges Mädchen öffnete die Tür. »Die Damen Stein und Stein?«

    Ich nickte eifrig und spürte, wie mir Röte vor Aufregung ins Gesicht schoss.

    »Über dem Laden.« Das Mädchen schob uns in den Hausflur und verschwand im Gewühl der geschäftigen Ladenstraße.

    »Hierher, hier oben!«, tönte uns eine bekannte Stimme entgegen. Mariechen beugte sich über die Treppenbrüstung und winkte.

    Zugleich drang ein Gewirr von Tönen zu uns, das sogleich von einer hohen Stimme unterbrochen wurde: »Es reicht!«

    Mariechen war ein Abbild ihrer Mutter Henriette. Glücklicherweise fehlte ihr deren Strenge. Henriette trug ein langes graues Kleid, das den Hals durch eine helle Rüsche verdeckte, die schwarzen Haare streng gebunden. Sie sah ernst aus.

    Die Tür zur Wohnung stand offen. Eine riesige Diele führte direkt in den Salon, in dem wie bei uns ein Flügel den Raum füllte. Doch während bei uns nur unsere Mutter diesen Platz beanspruchte, lehnten hier drei Knaben mit ihren Geigen lässig daran. Eine dunkel- und hellgrün gestreifte Stofftapete schützte die Wände. Ein schweres Ledersofa und zwei dicke Sessel luden zum Verweilen ein. Auf dem runden Tisch davor stand ein großer Blumenstrauß, von dem ein betörender Duft ausging. Ein blumiger Teppich bedeckte den Boden.

    Ich zog meine Schuhe am Eingang aus und versank in dem unendlich weichen Bodenbelag. Lea tat es mir nach. Wir waren sprachlos.

    Mariechen zeigte auf ihre Familie. »Meine Frau Mutter, meine Brüder Menny und Hugo, mein Cousin Richard.«

    Ihre Mutter verabschiedete sich in ihr Zimmer. Schon setzten die drei Jungen ihre Streichinstrumente wieder an und begannen ihr schauerliches Musikspiel von Neuem.

    »Schluss!«, rief Mariechen und tat so, als würde sie einen Taktstock halten.

    Lachend schubste Hugo den imaginären Dirigentenstab weg. »Eine Dirigentin. Das ist nicht zugelassen.«

    Sie stellte sich auf den Klavierhocker, hob stolz ihren Kopf und erwiderte: »Dann bin ich eben der Dirigent.«

    Richard trat an sie heran und schaute seiner Cousine auf dem Hocker direkt in die Augen. »Lass gut sein, Kleine.« Er war lang und schlaksig, selbst seine Hände und Finger waren schmal und lang, wie auch sein Gesicht, besonders im Vergleich zu dem weichen, runden von Mariechen. Menny und Hugo hingegen waren kaum größer als Marie. Sie wirkten wie Zwillinge, waren jedoch zwei und drei Jahre älter als ihre Schwester. Was alle vier einte, waren die unglaublich dichten dunklen Haare und Augenbrauen, die ihre Blicke verwegen und mutig aussehen ließen. Besonders hatte es mir Richard angetan.

    »Wir wissen, dass du Musikerin werden willst, aber wir dürfen auch mal experimentieren. Außerdem hast du Besuch.« Richard zeigte mit seinem Bogen auf Lea und mich.

    Mariechen hüpfte mit einem Satz vom Hocker, griff meine Hand und ging hocherhobenen Kopfes aus dem Raum. »Ihr werdet schon sehen, was ihr davon habt.«

    »Jetzt bin ich doch froh, dass ich eine große Schwester habe«, lobte mich Lea am Abend, als wir in unseren Betten lagen.

    Erst hatten Richard, Menny und Hugo uns aus dem Salon geschickt, dann waren sie immer wieder in Mariechens Zimmer gestürzt, um mal einen Berg Noten als Inspiration vor uns hinzuwerfen, ein anderes Mal, um unser Klavierspiel mit vier Händen durch fürchterliches Geigengekratze zu unterbrechen. Meine Schwester war immer wieder aufgeschreckt, gerade wenn sie sich in eines der vielen Bücher vertieft hatte, über die Mariechen verfügte.

    »Wie hältst du deine Brüder nur aus?«, fragte ich sie am nächsten Tag während der Pause.

    Mariechen zuckte mit den Schultern. »Sie waren schon vor mir da.«

    »Und Richard?«

    »Auch. Seitdem mein Vater nicht mehr ist.« Dann schmunzelte sie. »Willst du mehr über Richard erfahren?«

    Natürlich wollte ich das.

    Richard wohnte mit seinen Eltern Nathan und Marie Goetz, seiner älteren Schwester Anna und dem jüngeren Bruder Alfred in der Wohnung über den Bings. Im Raum der Brüder stand neben dem Klavier eine große Staffelei, die bei den Bings keinen Liebhaber gefunden hätte. Otto, Richards großer Bruder, studierte und tauchte nur zu Feiertagen zu Hause auf.

    Ihr Vater Nathan Goetz war nach dem plötzlichen Tod von Mariechens Vater vor fünf Jahren mit seiner Familie nach Köln gezogen. Seine Frau Marie war die Schwester von Mariechens Vater, also ihre Tante. Während Mariechens Mutter sich der Trauer um ihren Mann und, wie meine Mutter, dem Klavierspiel widmete, hatte Tante Marie nun das Sagen im Haus und ihr Onkel Nathan das in der Firma.

    Mariechen machte ein wichtiges Gesicht. »Otto wird einmal das Geschäft übernehmen.« Dazu nickte sie, als wollte sie dieser Behauptung noch mehr Bedeutung verleihen.

    »Und Richard?«

    »Er kann machen, was er will. Im Moment will er Maler werden, Alfred Physiker.«

    Ich nickte, denn auch bei uns würde mein Bruder den Arztkittel meines Vaters erben.

    »Nur Anna muss heiraten, die Arme«, ergänzte Mariechen.

    Ich lachte. »Ich will auch einmal heiraten.«

    Das Geschenk

    Wenig später besuchte Mariechen uns. Richard begleitete sie. Unser kleiner Bruder Fritz hüpfte an ihm hoch wie ein junger Hund. Mariechens Cousin ließ sich davon nicht beeindrucken, bleiben wollte er aber nicht. Das Kindermädchen zog Fritz in sein Zimmer, und unsere Mutter machte sich mit der Köchin Berta zum Markt auf. Wir hatten also fast die gesamte Wohnung für uns.

    Mariechen warf einen Blick in den Salon. »Ein Bechstein. Wie schön!«

    Während Lea und ich pflichtgemäß die tägliche Unterrichtsstunde bei unserer Klavierlehrerin absolvierten und nur mit Mühe hier und da das Üben in die Woche einfließen ließen, spielte Mariechen jede freie Minute mal auf dem Cello, mal auf ihrem Klavier oder im Schulunterricht mit den Fingern unter dem Tisch. Fräulein Baumann rief sie mehrfach zur Ordnung. Das Klopfen wurde leiser, aber es hörte nie auf.

    Ich zog Mariechen zum Flügel und bot ihr den Klavierhocker an. Lea bekam rote Flecken im Gesicht. »Das ist Mutters Flügel.«

    Mariechens dunkle Augen blitzten zwischen zwei Schlitzen hervor. »Nur einen kleinen Moment.«

    Ich nickte ihr kräftig zu. »Mutter und Berta kommen bestimmt erst in einer Stunde wieder.«

    »Nein, nein«, jammerte Lea. »Das gibt Ärger.«

    Doch schon berührte Mariechen die Tasten, schloss die Augen und begann zu spielen. Lea hörte auf zu schimpfen und zog sich in eine Ecke zurück. Mariechen spielte die Melodie, die ich schon so oft auf der Tischplatte gehört hatte, erst leise, dann etwas lauter. Nachdem sie ihr Spiel beendet hatte, öffnete sie die Augen. »Was für ein schönes Instrument.«

    In diesem Moment hörte ich einen Schlüssel im Schloss klacken. Ich zuckte zusammen, Lea sprang von ihrem Stuhl auf.

    Unsere Mutter betrat die Wohnung. »Ich hatte …«

    »Entschuldige!«, erwiderte ich und senkte den Kopf.

    Mariechen stand vom Hocker auf. »Entschuldigen Sie bitte, Frau Stein. Ich habe Franzi gedrängt. So ein schönes Instrument. Ich wollte es unbedingt ausprobieren.«

    Auf der Stirn unserer Mutter erschien eine tiefe Falte. »Dann will ich hören, was du unbedingt spielen musstest.«

    Mariechen setzte sich erneut an den Flügel. Meine Hände waren eiskalt, und ich fragte mich, wie sie sich in dieser Situation konzentrieren konnte. Sie begann zu spielen. Es war ihr Schumann, die »Träumerei«, der Anfang. Sie bewegte langsam ihre Finger, spielte ruhig und mit viel Gefühl, als hätte sie dieses Stück schon Tausende Male vorgespielt. Noch im Mantel trat Mutter in den Salon und schaute Mariechen ruhig zu. Uns beachtete sie nicht.

    Nach zwei, drei Minuten hörte Mariechen auf. »Mehr kann ich noch nicht.«

    Unsere Mutter lächelte sie an. »Bei wem nimmst du Unterricht?«

    Mariechen stand auf und machte einen Knicks. »Nur Cello bisher.«

    »Das scheint aber ein besonders guter Cellolehrer zu sein.« Unsere Mutter ging in die Diele, reichte dem Mädchen ihren Mantel und verschwand in ihrem Zimmer.

    »Kein Donnerwetter«, staunte Lea.

    Verwundert schaute ich meine Freundin an. »Danke!«

    Von diesem Tag an suchte ich nach einer Gelegenheit, unsere Freundschaft mit einem kleinen Mitbringsel zu besiegeln. Als meine Mutter darüber klagte, dass ihr die Tinte für die Noten ausginge, kam mir die passende Idee. »Wir könnten auf dem Heimweg von der Schule bei Tante Bompart vorbeigehen.«

    Das war ein wunderbares Geschäft. Natürlich waren Süßigkeiten, zum Beispiel die Kamellen von Stollwerck, noch besser, aber der Schreibwarenhandel kam gleich danach. Es war ein kleiner, schöner Laden über zwei Etagen, in den die alte Frau Bompart, eine entfernte Verwandte unserer Familie, all ihre Liebe sowie Papiere, Stifte, Malutensilien und vor allem ihre berühmten Füller gestopft hatte. Das Beste war, dass Tante Bompart, wie wir sie nannten, keine Kinder hatte und uns bei jedem Besuch immer einen Schatz zusteckte. Vielleicht würde es mir auch diesmal gelingen, ihr etwas zu entlocken, das ich Mariechen schenken könnte.

    Bei Einkäufen begleitete uns unser Kindermädchen. Uns war es nicht erlaubt, einen noch so kleinen Geldbeutel mitzunehmen. »Überall lauern Taschendiebe«, klagte Mutter stets.

    Wir hüpften freudig vor dem Kindermädchen her und erreichten den Laden vor ihr. Sie war ohnehin mehr mit den Auslagen der Geschäfte beschäftigt als mit dem Aufpassen auf uns. Die Türklingel schellte laut, und wir platzten in den Laden hinein. Obgleich es ein gewöhnlicher Nachmittag war und es weder regnete noch stürmte, waren wir allein.

    Auf dem Tresen hatte Tante Bompart unter einer Scheibe die schönsten Neuheiten ausgebreitet. Wir drückten unsere Nasen am Glas platt. Ich entdeckte einen wunderschönen goldenen Füller. Es klingelte ein zweites Mal. Unser Kindermädchen trat ein. Sie stellte Mutters Tintenfass mit einem Klirren auf das Glas. Tante Bompart kam aus ihrem Kabuff, das hinter dem Verkaufsraum lag, herangeschlurft.

    »Vorsichtig, vorsichtig! Das Glas ist teuer.« Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus, als sie uns erkannte. »Na, was wollen denn meine liebsten Mädchen heute?« Sie nahm das Fass und hielt es gegen das Licht, das durch die großen Auslagefenster fiel. »Tinte für die fleißige Notenschreiberin?«

    Aus einem der vielen Schränke mit unendlich vielen kleinen Schubladen nahm sie zielsicher ein Fläschchen, aus dem sie die gute Flüssigkeit in Mutters Fässchen füllte.

    »Wie weißt du, wo sich was befindet?«, rief Lea dazwischen.

    Tante Bompart lachte. »Ich habe sie doch auch alle gefüllt.«

    »Ich habe nur eine Kommode mit sechs Schubladen und finde dennoch nichts.«

    »Du brauchst eine kleine Hilfe.« Tante Bompart fasste unter ihren Tresen und holte eine Holzkiste mit genau neun Schubladen heraus. »Vielleicht fängst du damit an.«

    Begeistert drückte Lea die Kiste an ihre Brust und hüpfte dreimal im Kreis.

    »Und du?«

    Ich musste tief Luft holen. Dann zeigte ich auf den goldenen Füller. »Was kostet er?«

    Tante Bompart zog ihre Stirn kraus. »Den kannst du bezahlen, wenn du Frau Doktor bist.«

    »Aber es dürfen doch nur Jungen studieren.«

    »Eben genau.« Dann setzte sie wieder ihr Lächeln auf und fasste nochmals unter den Tresen. Sie gab mir ein winziges Kästchen. Mein Herz fing an zu pochen, als ich es umständlich aufzog. Tante Bompart strahlte mich an. »Er ist nicht aus Gold, aber genauso schön.«

    Und tatsächlich befand sich in dem winzigen Kästchen, das nicht länger als mein kleiner Finger war, ein ebenso kleiner Füller, der zwar nicht golden, dafür aber leuchtend dunkelrot war.

    Der Kamm

    Ein lautes Grummeln ging durch die Reihen der Mädchen, als er den Raum betrat. Es war tatsächlich ein Lehrer, der uns in Physik unterrichten sollte, Professor Raue. Er musste unendlich alt sein. Sein graues, schütteres Haar sprach davon. Dennoch schritt er geraden Rückens zum Pult, schlug zweimal mit seinem Stock darauf und forderte uns auf, uns zu setzen.

    Mit Schwung öffnete er den Schrank hinter sich und holte verschiedene Utensilien heraus, darunter ein Pendel. »Meine Damen, wir werden uns mit richtiger Physik beschäftigen.«

    Alle Mädchen raunten vor Begeisterung. Auf seinem Gesicht breitete sich ein Lächeln aus.

    Mariechen rempelte mich an und flüsterte: »Menny und Hugo haben das auch.«

    Ich bemerkte, dass Professor Raue die Augen auf uns richtete, und senkte vorsorglich meinen Blick. Er rückte das Pendel, das aus sieben an Metallseilen hängenden Metallkugeln bestand, zurecht und schubste die rechte Kugel an.

    »Sie sehen, wie sich Kraft in Bewegung umwandelt.« Die Kugel schlug an die nächstgelegene, diese gab ihre Energie weiter bis zur letzten, die das Spiel von Neuem, diesmal in die andere Richtung, fortsetzte.

    Mariechen flüsterte erneut: »Stell dir vor, so würde ein Klavier funktionieren.«

    Urplötzlich schlug Professor Raue mit seinem Stock auf das Pult. Ein lauter Knall entlud sich. Alle zuckten zusammen. »Was haben die jungen Damen denn zu tuscheln, Fräulein Bing?«

    Ruhig stand Mariechen auf. »Meine großen Brüder haben mir das Experiment bereits gezeigt.«

    »Na, dann weißt du ja schon alles und kannst mir gleich helfen.« Professor Raue winkte Mariechen an seine Seite. Ihre Augen leuchteten. Mir hingegen fiel ein Stein vom Herzen, dass er nicht mich gewählt hatte.

    »Nicht nur sichtbare Kräfte können Dinge bewegen.« Er hob die Kugel ein weiteres Mal hoch und setzte das Pendel in Bewegung. Ein ruhiges, gleichmäßiges Klacken erfüllte den Raum. Es erinnerte mich an das Metronom, das unsere Klavierstunden monoton beherrschte. Unser Lehrer sprach im Takt weiter.

    »Es gibt unsichtbare Kräfte, die etwas in Gang setzen können.« Er griff noch einmal hinter sich in den Schrank und nahm einen großen Kamm und ein Tuch heraus. Dann rieb er beides aneinander, hob den Kamm triumphierend in die Höhe und hielt ihn an Mariechens Haar. Nichts geschah. Er schüttelte den Kopf. Erneut grummelte es im Raum, denn alle verstanden, dass irgendetwas nicht funktioniert hatte. Wir wussten nur nicht, was.

    Mariechen ließ sich davon nicht beeindrucken, sondern stand nach wie vor lächelnd vor der Klasse. Also rieb er nochmals den Kamm am Tuch und berührte mit ihm hastig Mariechens Haar. Nichts geschah. Aus den hinteren Reihen hörte ich leises Gekicher.

    Professor Raue raunte unglücklich: »Da haben wir wohl ein Problem.« Er führte sein Experiment ein drittes Mal durch. Doch auch diesmal bewegte sich nichts, rein gar nichts. Das Kichern wurde lauter, und als Professor Raue ein viertes Mal seinen Kamm am Tuch rieb, fiel Mariechens Haltung plötzlich zusammen.

    »Wenn ihr mit dem Lachen aufgehört habt, komme ich wieder.« Sie drehte sich auf dem Absatz um und verließ den Raum. Die Tür klackte ins Schloss.

    »Fräulein Bing!«, rief Professor Raue. Die Mädchen kicherten. Ich jedoch erstarrte und schaute gebannt auf die Tür.

    »Ruhe!«, rief unser Lehrer jetzt energisch. Er klopfte dreimal mit seinem Stock auf das Pult, rieb den Kamm ein letztes Mal und hielt ihn an Elsas Kopf. Sie saß in der ersten Reihe, und ihr feines rötliches Haar löste sich ohnehin ständig aus ihren Zöpfen. Und tatsächlich: Elsas lange Locken bewegten sich wie von Zauberhand und schlugen gegen den Kamm.

    Ich weiß nicht, wer damit angefangen hatte, doch nach und nach klatschten alle, und das Lachen erlosch. Kaum war auch das Klatschen verstummt, bewegte sich die Tür. Mariechen betrat den Raum und setzte sich wieder neben mich. Professor Raue tat so, als wäre nichts geschehen.

    Ich zog das winzige Kästchen mit dem roten Füller aus meinem Ranzen und legte es Mariechen hin. Sie öffnete es und lächelte.

    Von diesem Tag an war der Professor unser Lieblingslehrer. Wir bewunderten ihn beinahe mehr als Fräulein Baumann.

    Der Salon

    »Wir werden als Bing-Quartett auftreten, Menny, Hugo, Richard und ich.« Mariechen hüpfte aufgeregt im Kreis, ihre Stimme überschlug sich.

    »Waren deine Brüder nicht dagegen?«

    Sie hörte auf zu hüpfen und antwortete trotzig:

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