Eagleton 2012 Einführung in Die Literaturtheorie
Eagleton 2012 Einführung in Die Literaturtheorie
Eagleton 2012 Einführung in Die Literaturtheorie
METZLER
Sammlung Metzler
Band 246
Terry Eagleton
Einführung
in die Literaturtheorie
5., durchgesehene Auflage
The right of Terry Eagleton to be identified as the Author of this Work has been
asserted in accordance with the UK Copyright, Designs, and Patents Act 1988.
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written permission of the original copyright holder, Blackwell Publishing Limited.
Der Autor
Terry Eagleton ist Professor für Englische Literatur an der Universität
Lancaster.
ISBN 978-3-476-15246-6
ISBN 978-3-476-01434-4 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-476-01434-4
Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Ver-
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mung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigun-
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© 2012 Springer-Verlag GmbH Deutschland
Ursprünglich erschienen bei J. B. Metzler’sche Verlagsbuchhandlung
und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH in Stuttgart 2012
www.metzlerverlag.de
[email protected]
Inhalt
dagegen, dass die Literaturtheorie ›zwischen den Leser und das Werk‹
trete. Die einfache Antwort darauf ist, dass wir ohne irgendeine Art
von Theorie, wie unreflektiert und unbewusst sie auch immer sein
mag, gar nicht erst wüssten, was überhaupt ein ›literarisches Werk‹ ist
oder wie wir es lesen sollen. Eine feindselige Einstellung der Theorie
gegenüber bedeutet normalerweise eine Ablehnung der Theorien an-
derer und ein Übersehen der eigenen. Ein Anliegen dieses Buches be-
steht darin, diese Verdrängung aufzuheben und uns ein Wiederer-
kennen zu ermöglichen.
T.E.
Im Einverständnis mit dem Autor und dem englischen Verlag ist die
vorliegende deutsche Ausgabe um das Kapitel »The Rise of English«
gekürzt, das den Aufstieg und die Entwicklung der Literaturwissenschaft
in Großbritannien und in den USA behandelt. Die dort enthaltene
grundsätzliche Auseinandersetzung mit dem New Criticism wurde je-
doch beibehalten und an den Beginn des Kapitels über »Strukturalismus
und Semiotik« gestellt. Die Anmerkungen der englischen Ausgabe
wurden prinzipiell in den Text eingearbeitet. Das Literaturverzeichnis
enthält alle vom Autor benutzten Titel (mit den entsprechenden deut-
schen Ausgaben) sowie weiterführende Literatur für die deutschen
Leser und Leserinnen.
Vorwort zur zweiten Auflage
Dieses Buch ist ein Versuch, die moderne Literaturtheorie einer mög-
lichst großen Leserschaft verständlich und attraktiv zu machen. Mit
Befriedigung kann ich berichten, dass es seit seiner ersten Veröffent-
lichung 1983 von Jurist/innen wie Literaturwissenschaftler/innen, von
Anthropolog/innen ebenso wie von Kulturtheoretiker/innen studiert
worden ist. In einer Hinsicht ist das vielleicht gar nicht so überra-
schend: Wie das Buch selbst zu zeigen versucht, gibt es in der Tat gar
keine ›Literaturtheorie‹ im Sinne eines Korpus von Theorien, das nur
der Literatur entspringt oder das allein auf Literatur anzuwenden wä-
re. Keiner der hier in Umrissen vorgestellten Ansätze, von der
Phänomenologie und der Semiotik bis hin zum Strukturalismus und
der Psychoanalyse, ist nur mit ›literarischen‹ Texten befasst. Ganz im
Gegenteil sind alle aus anderen geisteswissenschaftlichen Gebieten
hervorgegangen und ihre Implikationen weisen über die Literatur hin-
aus. Ich denke, dass dies einer der Gründe für die Popularität des
Buchs ist, und auch ein Grund, warum sich eine Neuauflage lohnt.
Aber ich bin auch von der Anzahl nicht-akademischer Leser beein-
druckt, die es angesprochen hat. Anders als den meisten solcher Bücher
ist es ihm gelungen, eine Leserschaft jenseits der akademischen Insti-
tutionen zu erreichen, was besonders angesichts des sogenannten elitä-
ren Anspruchs von Literaturtheorie interessant ist. Wenn es eine
schwierige, ja sogar esoterische Sprache ist, dann scheint es eine zu
sein, die auch Menschen interessiert, die nie eine Universität von in-
nen gesehen haben; und wenn das so ist, dann sollte das diejenigen, die
sie innerhalb der Universität als esoterisch abtun, nochmals zum
Nachdenken bewegen. Es ermutigt jedenfalls, dass es in einem post-
modernen Zeitalter, in dem von Bedeutung wie von allem anderen
sofortige Konsumierbarkeit erwartet wird, Menschen gibt, die es für
lohnend halten, sich eine neue Art, über Literatur zu sprechen, zu er-
arbeiten.
Manche Arten von Literaturtheorie sind tatsächlich in übertriebe-
ner Weise obskurantistisch und nur Eingeweihten zugänglich, und
dieses Buch versucht, den angerichteten Schaden zu beheben und ei-
nen breiten Zugang zu ermöglichen. Aber auch noch in einem ganz
anderen Sinne ist Literaturtheorie das genaue Gegenteil von elitär. Das
am Literaturstudium wirklich Elitäre liegt in der Vorstellung, dass nur
Menschen mit einer ganz bestimmten kulturellen Bildung literarische
X Vorwort zur zweiten Auflage
Dieses Buch ist nun ein Vierteljahrhundert alt; aber wenn es sogar
noch etwas älter zu sein scheint, so vielleicht deshalb, weil seit seinem
ersten Erscheinen so viel passiert ist. Zum Beispiel hat Literaturtheorie
längst nicht mehr die dominierende Position, die sie vor 25 Jahren
einzunehmen schien. Als dieses Buch geschrieben wurde, war Theorie
etwas Neuartiges, Fremdes, Subversives, Rätselhaftes und Aufregendes,
wie der neueste Film von Jean-Luc Godard. Einige Studierende emp-
finden das zurecht auch heute noch so; aber genauso wie die Schock-
wirkung modernistischer Kunst schließlich weitgehend assimiliert
wurde, so dass einem James Joyces Ulysses – wie Fredric Jameson ein-
mal anmerkte – schließlich als recht konventionelle Art von Erzählung
vorkam, ist Theorie nicht länger die fremdartige Angelegenheit, die sie
einmal war. Und wirklich wurden wir, wie ich im Nachwort zu diesem
Buch schreibe, in letzter Zeit Zeugen des Erstarkens einer Art Anti-
Theorie – wenngleich einer, die selbst wiederum von theoretischem
Interesse ist. Darin unterscheidet sie sich von den üblichen banausen-
haften Einwänden gegen Theorie, die meistens eher Gefühle der Ab-
neigung als Argumente widerspiegeln.
Ist Theorie also ›institutionalisiert‹ worden? Ich glaube, diese Frage
kann man nicht angemessen beantworten, wenn man den Begriff ›in-
stitutionalisiert‹ als »in eine Institution eingewiesen« (mit üblen Asso-
ziationen von Injektionsspritzen und Zwangsjacken) und damit ab-
wertend versteht. Dass Theorie heutzutage in den akademischen Insti-
tutionen weit verbreitet ist, ist lobens- und nicht als eine Art armseli-
ger Kapitulation verdammenswert. In dieser Hinsicht haben sich die
Dinge zum Besseren gewendet, seit ich in den frühen 1970er Jahren in
Oxford selbst jede Woche marxistische Theorie in informellen Veran-
staltungen gelehrt habe, die nicht einmal im Vorlesungsverzeichnis der
Universität angekündigt und von meinen Kollegen weitgehend abge-
lehnt wurden, die weniger als orthodoxe Seminare denn als eine Art
Zufluchtsort für ideologisch misshandelte Studierende fungierten.
Heute können die meisten im Literaturstudium mit ein oder zwei
Theoriekursen im Angebot rechnen, was natürlich höchst begrüßens-
wert ist.
Vielleicht ist das jedoch in einem anderen Sinn wirklich eine Art
Kapitulation oder zumindest ein irritierender Kompromiss, da nie die
Absicht bestand, Theorie einfach als noch ein weiteres Produkt neben
XII Vorwort zur fünften Auflage
was überhaupt eine ›Figur‹ ist und ob nicht der Text selbst auch eine
Ebene des Unbewussten haben kann.
Das, was man etwas gewagt als ›reine‹ oder ›hohe‹ Theorie bezeichnen
könnte, ist in den letzten Jahrzehnten etwas aus der Mode gekommen.
Man spricht heute weniger von Semiotik, Hermeneutik, Poststruktura-
lismus und Phänomenologie, als es noch in den 1970er und 1980er
Jahren der Fall war. Selbst die psychoanalytische Theorie ist etwas weni-
ger prominent als früher, trotz ihres intellektuellen Reizes und ihrer Ver-
führungskraft. Stattdessen haben Postmodernismus und Postkolonialis-
mus die Feldherrenhügel des Fachs erobert, Seite an Seite mit einem
geschwächten, aber noch überlebenden Feminismus. Das ist eine inter-
essante Entwicklung, die unter anderem eine Verlagerung vom Elfen-
beinturm reiner Theorie zu den Ebenen und Talsohlen der Alltagskultur
ankündigt. Dasselbe könnte man über den New Historicism sagen, der
in den 1980er und 1990er Jahren seine Blütezeit hatte. Doch Feminis-
mus, Postmodernismus und Postkolonialismus sind mehr als nur rein
literarische Phänomene. In einem gewissen Sinn gilt dies auch für die
›reine‹ Theorie, die eigentlich nur zu einem geringen Teil aus dem litera-
rischen Bereich stammt. Phänomenologie, Hermeneutik und Poststruk-
turalismus sind philosophische Strömungen; Psychoanalyse ist eine Be-
handlungsmethode; Semiotik ist die Wissenschaft von Zeichen im All-
gemeinen, nicht nur der literarischen. Der New Historicism hat ver-
sucht, die Unterscheidung zwischen literarischen und nicht-literarischen
Werken aufzulösen, wie seinerzeit der Strukturalismus. Trotzdem ist es
ein weiterer Kategorienfehler, im selben Atemzug etwa von Poststruktu-
ralismus und Postmodernismus oder von Semiotik und Postkolonialis-
mus zu sprechen. Die ersten beiden Bestandteile dieser Begriffspaare
sind Theoriegebilde, während die zweiten kulturelle und politische Ge-
gebenheiten sind. Anzunehmen, dass sie mehr oder weniger das Gleiche
sind, wäre dasselbe wie die Gleichsetzung von Heideggers Philosophie
mit der globalen Klimaerwärmung. Auch das gehört zu der Art von Feh-
lern, zu denen uns der Wissenschaftsbetrieb manchmal verführt.
In einem gewissen Sinne ist diese Rückkehr zum kulturellen und
politischen Alltag natürlich zu begrüßen. Doch wie das so ist: Sie hat
ihren Preis. Die reine Theorie mag ihre Probleme haben, aber gerade
ihre Distanz zum Alltag erlaubt es ihr, von Zeit zu Zeit als mächtige
Kritikerin dieses Alltags aufzutreten. In der Tat gibt es in vielem, was
diese Gedankenwelt ausmacht, eine versteckte utopische Dimension.
Der Poststrukturalismus träumt von einer Zeit, in der starre Hierarchi-
en und repressive Gegensätze aufgebrochen werden, um das Spiel von
Differenz und Diversität freizusetzen. Was für Stolperfallen auch im-
mer die Interpretation beinhaltet, die Hermeneutik beschwört weiter-
XIV Vorwort zur fünften Auflage
2007 T.E.
1. Einleitung: Was ist Literatur?
und das glaubten vielleicht auch die Verfasser der Genesis, aber heute
werden sie von einigen als Tatsache, von anderen als Fiktion gelesen;
auch John Henry Newman dachte sicherlich, dass seine theologischen
Meditationen wahr seien, aber heute sind sie für viele Leser/innen ›Li-
teratur‹. Darüber hinaus schließt ›Literatur‹ zwar viele ›faktischen‹
Schriften mit ein, sondert aber auch viel Fiktives aus. Der Comic Strip
Superman und Silvia-Romane sind fiktionale Werke, werden aber im
Allgemeinen nicht als Literatur betrachtet, und bestimmt nicht zu ›der
Literatur‹ gezählt. Wenn Literatur ›kreatives‹ oder ›imaginatives‹
Schreiben bedeutet, heißt das dann, dass Geschichte, Philosophie und
Naturwissenschaften unkreativ und unimaginativ sind?
Vielleicht braucht man überhaupt einen ganz anderen Ansatz. Viel-
leicht ist Literatur nicht darüber definierbar, ob sie fiktional oder ›ima-
ginativ‹ ist, sondern weil sie eine spezifische Art der Sprachverwen-
dung darstellt. Mit dieser Theorie wird Literatur zu einer Art des
Schreibens, die mit den Worten des russischen Kritikers Roman Ja-
kobson »eine organisierte Gewalt, begangen an der einfachen Sprache«
darstellt. Literatur verändert und intensiviert die Alltagssprache,
weicht systematisch von ihr ab. Wenn Sie sich mir an der Bushaltestel-
le nähern und murmeln: »Du noch unberührte Braut der Stille«, wird
mir sofort bewusst, dass ich mich in der Gegenwart des Literarischen
befinde. Das weiß ich, weil die Dichte, der Rhythmus und der Klang
der Worte ihre erkennbare Bedeutung bei weitem überwiegen – oder,
wie die Linguisten es technischer ausdrücken könnten, es besteht hier
ein Ungleichgewicht zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem.
Die Sprache lenkt die Aufmerksamkeit auf sich selbst und prunkt auf
eine Weise mit ihrer materiellen Substanz, wie es Äußerungen wie
»Wissen Sie nicht, dass die Busfahrer streiken?«, nicht tun.
Tatsächlich war dies die Definition des ›Literarischen‹, die in der
Folge von den russischen Formalisten entwickelt wurde, unter ihnen
Viktor Šklovskij, Roman Jakobson, Osip Brik, Jurij Tynjanov, Boris
Ejchenbaum und Boris Tomaševkij. Die Formalisten traten in Russ-
land in den Jahren vor der Oktoberrevolution des Jahres 1917 hervor
und erlebten ihre Blütezeit in den 1920er Jahren, ehe sie vom Stalinis-
mus völlig zum Schweigen gebracht wurden. Als eine Gruppe militan-
ter, polemischer Kritiker verwarfen sie die quasi-mystischen Doktri-
nen des Symbolismus, von denen die Literaturkritik vor ihnen beein-
flusst war, und lenkten mit praktischem, wissenschaftlichem Geist die
Aufmerksamkeit auf die materielle Seite des literarischen Textes. Lite-
raturwissenschaft und Kritik sollten die Kunst vom Geheimnisvollen,
Mysteriösen trennen und sich damit befassen, wie der literarische Text
wirklich funktioniert: Literatur sei keine Pseudo-Religion, Psychologie
Einleitung: Was ist Literatur? 3
ter uns sagt, dass seine Liebe wie eine rote Rose ist, schließen wir aus
der Tatsache, dass er diese Aussage in einem bestimmten Metrum
macht, dass nun nicht die Frage von uns erwartet wird, ob er wirklich
eine Geliebte hatte, die für ihn aus irgendeinem bizarren Grund wirk-
lich einer Rose ähnlich zu sehen schien. Er sagt uns etwas über Frauen
und Liebe im Allgemeinen. ›Literatur‹, könnten wir also sagen, ist
›nicht-pragmatischer‹ Diskurs: Ungleich Biologielehrbüchern und
Zetteln für den Zeitungsboten erfüllt sie keinen unmittelbaren prakti-
schen Zweck, sondern soll als etwas aufgefasst werden, was auf den
allgemeinen Zustand der Welt verweist. Manchmal, aber nicht immer,
benutzt sie eine besondere Sprache, so als wolle sie diesen Sachverhalt
besonders deutlich machen – um zu signalisieren, dass es nicht wirk-
lich um eine bestimmte, reale Frau geht, sondern mehr um die Art des
Sprechens über eine Frau. Diese Konzentration auf die Art des Spre-
chens und nicht so sehr auf die Realität, über die gesprochen wird,
wird manchmal als Hinweis darauf gesehen, dass wir mit ›Literatur‹
eine Art selbst-referentielle Sprache meinen, eine Sprache, die über sich
selbst spricht.
Auch diese Art der Definition von Literatur wirft indessen einige
Probleme auf. Zum einen wäre Orwell wahrscheinlich recht über-
rascht gewesen zu hören, dass seine Essays so gelesen werden sollten,
als seien die von ihm behandelten Themen weniger wichtig als die Art,
wie er sie darstellt. Bei vielem, was man als Literatur klassifiziert, wer-
den der Wahrheitsgehalt und die praktische Relevanz dessen, was ge-
sagt wird, sehr wohl als wichtig für die Gesamtwirkung angesehen.
Aber selbst wenn der ›unpragmatische‹ Umgang mit dem Diskurs ei-
nen Teil dessen ausmacht, was man als ›Literatur‹ bezeichnet, so folgt
aus dieser ›Definition‹, dass Literatur nicht wirklich ›objektiv‹ definiert
werden kann. Die Definition von Literatur hängt dann von der Ent-
scheidung des Einzelnen ab, wie er etwas liest, und nicht von der Na-
tur des Geschriebenen. Es gibt bestimmte Arten zu schreiben – Ge-
dichte, Dramen, Romane –, die recht offensichtlich als nicht-pragma-
tisch im angeführten Sinne konzipiert sind, aber das garantiert noch
nicht, dass sie auch tatsächlich so gelesen werden. Ich könnte ohne
Weiteres Gibbons Darstellung des Römischen Weltreichs lesen, nicht
weil ich irrtümlich annehme, dass sie zuverlässige Informationen über
das alte Rom bietet, sondern weil ich Gibbons Prosastil genieße oder
unabhängig von ihrer historischen Quelle gern in Bildern menschli-
cher Korruption schwelge. Aber ich könnte das Gedicht von Robert
Burns lesen, weil mir als japanischem Gartenbaukünstler unklar ist, ob
die rote Rose im England des 18. Jahrhunderts gedieh. Man wird ein-
wenden, dass es damit nicht als ›Literatur‹ gelesen wird; aber lese ich
Einleitung: Was ist Literatur? 9
Orwells Essays als Literatur nur, wenn ich seine Aussagen über den Spa-
nischen Bürgerkrieg zu einer kosmischen Äußerung über das mensch-
liche Leben verallgemeinere? Zwar werden viele Werke, die man in den
akademischen Institutionen als Literatur studiert, ›konstruiert‹, um als
Literatur gelesen zu werden, aber für einige von ihnen trifft das eben
nicht zu. Ein Text kann als Geschichte oder Philosophie auf die Welt
kommen, um später als Literatur eingestuft zu werden; oder er kann
seine Existenz als Literatur beginnen, um in späteren Zeiten wegen
seiner archäologischen Bedeutung geschätzt zu werden. Einige Texte
werden literarisch geboren, andere erreichen Literarizität, und wie-
der anderen wird diese aufgedrängt. In dieser Hinsicht kann Erzie-
hung viel mehr gelten als Abstammung durch Geburt. Nicht woher
man kommt, ist hier entscheidend, sondern wie einen die Leute be-
handeln. Wenn sie beschließen, dass man Literatur ist, dann scheint
man das auch zu sein, unabhängig davon, was man selbst zu sein
glaubte.
In diesem Sinne kann Literatur weniger als eine inhärente Eigen-
schaft oder eine Reihe von Eigenschaften aufgefasst werden, die sich in
bestimmten Texten von Beowulf bis Virginia Woolf entfalten, als viel-
mehr als eine Reihe von Einstellungen der Menschen gegenüber Tex-
ten. Es wäre nicht leicht, aus all dem, was zu verschiedenen Zeiten
›Literatur‹ genannt wird, ein konstantes Muster inhärenter Merkmale
zu isolieren. Tatsächlich wäre dies so unmöglich wie der Versuch, das
allen anvisierten Objekten gemeinsame, einmalige Unterscheidungs-
merkmal zu identifizieren. So etwas wie ein ›Wesen‹ der Literatur gibt
es schlichtweg nicht. Jedes beliebige Stück Text kann ›nicht-pragma-
tisch‹ gelesen werden, wenn es das ist, was Literatur ausmacht, genauso
wie jeder Text ›poetisch‹ gelesen werden kann. Wenn ich über dem
Fahrplan brüte, nicht um irgendeine Zugverbindung ausfindig zu ma-
chen, sondern um mich zu allgemeinen Überlegungen über die Ge-
schwindigkeit und Komplexität des modernen Lebens anzuregen,
könnte man sagen, dass ich ihn als Literatur lese. Nach John M. Ellis
funktioniert der Terminus ›Literatur‹ etwa so wie das Wort ›Unkraut‹:
Unkraut ist keine besondere Pflanzenart, sondern jede beliebige Pflan-
ze, die der Gärtner aus irgendeinem Grund hier nicht haben will. Viel-
leicht bedeutet ›Literatur‹ so etwas wie das Gegenteil davon: jede belie-
bige Art von Text, den jemand aus irgendeinem Grund besonders
schätzt. ›Literatur‹ und ›Unkraut‹ sind, wie die Philosophen sagen
würden, eher funktionale als ontologische Begriffe: Sie sagen etwas dar-
über aus, was wir tun, aber nichts über das Wesen der Dinge. Sie ma-
chen eine Aussage über die Rolle eines Textes oder einer Distel im so-
zialen Kontext, ihre Beziehungen zu und Unterschiede von ihrer Um-
10 Einleitung: Was ist Literatur?
gebung, ihr Verhalten darin, die Zwecke, denen sie dienen können,
und die menschlichen Praxisfelder, die sie umgeben. ›Literatur‹ ist in
diesem Sinne eine rein formale, leere Art der Definition. Selbst wenn
wir daran festhalten, dass sie eine nicht-pragmatische Behandlung von
Sprache darstellt, sind wir immer noch nicht bei einem ›Wesen‹ der
Literatur angelangt, weil dies auch für andere sprachliche Äußerungen
wie z.B. Witze gilt. In jedem Fall sind wir weit davon entfernt, ›prak-
tische‹ und ›nicht-praktische‹ Beziehungen zwischen uns und der
Sprache fein säuberlich unterscheiden zu können. Einen Roman zum
Vergnügen zu lesen, unterscheidet sich offensichtlich vom Lesen eines
Verkehrschildes zur Information, aber wie steht es mit dem Lesen eines
Biologielehrbuchs, um sich weiterzubilden? Ist das eine ›pragmatische‹
Behandlung von Sprache oder nicht? In vielen Gesellschaften erfüllt
die Literatur höchst praktische Funktionen, beispielsweise religiöse;
scharf zwischen ›praktisch‹ und ›nichtpraktisch‹ zu unterscheiden, ist
vielleicht nur in einer Gesellschaft wie unserer möglich, in der die Li-
teratur aufgehört hat, überhaupt noch eine praktische Funktion zu
haben. Vielleicht legen wir so als allgemeine Definition eine Bedeu-
tung von ›literarisch‹ vor, die in Wirklichkeit historisch bestimmt ist.
Wir haben also immer noch nicht das Geheimnis gelüftet, warum
Lamb, Macaulay und Mill Literatur sind, aber Bentham, Marx und
Darwin im Großen und Ganzen gesehen nicht. Eine einfache Antwort
hierauf wäre vielleicht, dass die ersten drei Beispiele für ›gutes Schrei-
ben‹ darstellen, die anderen drei aber nicht. Diese Antwort hat den
Nachteil, zum großen Teil nicht zu stimmen, zumindest meiner An-
sicht nach, aber sie bietet den Vorteil, darauf hinzuweisen, dass im
Allgemeinen das mit dem Begriff Literatur belegt wird, was man für
gut hält. Ein offensichtlicher Einwand hingegen lautet, dass es so etwas
wie schlechte Literatur nicht geben könnte, wenn dies die ganze Wahr-
heit wäre. Ich kann zwar Lamb und Macaulay für überschätzt halten,
das heißt aber noch lange nicht, dass ich sie nicht mehr als Literatur
ansehe. Man mag Raymond Chandler für ›auf seine Art‹ gut halten,
aber nicht gerade für Literatur. Wenn Macaulay andererseits wirklich
ein schlechter Schriftsteller wäre – wenn er überhaupt keinerlei Sprach-
gefühl hätte und sich anscheinend für nichts anderes als weiße Mäuse
interessieren würde –, dann würden die Leute seine Werke wohl über-
haupt nicht Literatur nennen, auch nicht schlechte Literatur. Wertur-
teile haben allem Anschein nach eine Menge damit zu tun, was als
Literatur eingeschätzt wird und was nicht – nicht unbedingt in dem
Sinn, dass ein Text ›gut‹ sein muss, um literarisch zu sein, aber er muss
von der Art sein, die für gut gehalten wird: Er kann ein minderwertiges
Beispiel für eine allgemein anerkannte Schreibweise sein. Niemand
Einleitung: Was ist Literatur? 11
würde sich die Mühe machen zu sagen, dass ein Busfahrschein ein
Beispiel minderwertiger Literatur darstelle, aber jemand könnte dies
sehr wohl von Ernest Dowsons Lyrik sagen. Der Begriff ›gutes Schrei-
ben‹ oder belles lettres ist in diesem Sinne doppeldeutig: Er bezeichnet
eine Art zu schreiben, die im Allgemeinen hohes Ansehen genießt,
während sie einen nicht notwendigerweise zu der Auffassung ver-
pflichtet, dass ein einzelnes Exemplar der Gattung ›gut‹ ist.
Mit dieser Einschränkung macht der Ansatz, in Literatur einfach
eine angesehene Schreibweise zu sehen, einiges klar. Aber er führt zu
einer ziemlich vernichtenden Schlussfolgerung. Er bedeutet, dass wir
ein für alle Mal die Illusion fallen lassen können, dass die Kategorie
›Literatur‹ ›objektiv‹ im Sinne von ewig und unveränderbar ist. Alles
kann Literatur sein, und alles, was als unwandelbar und unbestreitbar
als Literatur angesehen wird – Shakespeare, zum Beispiel – kann eines
Tages keine Literatur mehr sein. Jeder Glaube, dass das Studium der
Literatur das Studium einer stabilen, wohldefinierten Entität sei, so
wie die Entomologie das Studium der Insekten ist, kann als Schimäre
abgetan werden. Manche Fiktion ist Literatur, andere nicht; teilweise
ist die Literatur fiktional, teilweise nicht; manche Literatur nimmt
sprachlich auf sich selbst Bezug, während andererseits manch höchst-
verschlungene Rhetorik keine Literatur ist. Literatur im Sinne einer
Liste von Werken mit gesichertem und unveränderlichem Wert, die
sich durch gemeinsame inhärente Merkmale auszeichnen, gibt es
nicht. Wann immer ich von jetzt an die Wörter ›literarisch‹ und ›Lite-
ratur‹ im vorliegenden Buch verwenden werde, habe ich sie gleichzei-
tig stets mit unsichtbarer Tinte durchgestrichen, um anzuzeigen, dass
diese Termini nicht wirklich ausreichen, wir im Augenblick aber keine
besseren zur Verfügung haben.
Der Grund, weshalb aus der Definition von Literatur als hochange-
sehener Schreibweise folgt, dass sie keine stabile Größe darstellt, liegt in
der berüchtigten Veränderlichkeit von Werturteilen. »Die Zeiten ändern
sich, die Werte nicht« verkündet die Werbung einer englischen Zeitung,
so als ob wir immer noch das Töten kranker Säuglinge oder das öffentli-
che Zurschaustellen geistig Kranker für richtig hielten. Genauso wie die
Menschen ein Werk in einem Jahrhundert als philosophisch und im
nächsten als literarisch behandeln mögen oder umgekehrt, so können sie
auch ihre Meinung darüber ändern, was sie als wertvolle Texte betrach-
ten. Sie können sogar ihre Auffassung über die Gründe ändern, weshalb
sie etwas für wertvoll oder wertlos halten. Wie bereits angedeutet, heißt
das nicht unbedingt, dass einem nun als minderwertig betrachteten
Werk die Bezeichnung ›Literatur‹ verweigert wird: Man nennt es viel-
leicht immer noch Literatur und drückt damit vage aus, dass das Werk
12 Einleitung: Was ist Literatur?
zum Typus angesehener Texte gehört. Aber es bedeutet, dass der soge-
nannte ›literarische Kanon‹, die nicht in Frage gestellte ›große Tradition‹
der ›Nationalliteratur‹, als Konstrukt erkannt werden muss, das von be-
stimmten Leuten aus bestimmten Gründen in einer bestimmten Zeit
gebildet wurde. Ein literarisches Werk oder eine Tradition, die unabhän-
gig davon, was irgendjemand darüber gesagt hat oder sagen wird, an sich
wertvoll ist, gibt es nicht. ›Wert‹ ist ein transitiver Begriff: Er bezeichnet
immer das, was von bestimmten Leuten in spezifischen Situationen
nach gewissen Kriterien und im Lichte bestimmter Absichten hoch be-
wertet wird. Wenn man eine ausreichend tiefgreifende Umwandlung
unserer Geschichte voraussetzt, ist es also durchaus möglich, dass wir in
der Zukunft eine Gesellschaft hervorbringen könnten, die mit Shake-
speare überhaupt nichts anzufangen wüsste. Seine Werke würden ein-
fach schrecklich fremd erscheinen, voller Gedanken und Gefühlsweisen,
die solch eine Gesellschaft beschränkt und irrelevant fände. Shakespeare
wäre in einer solchen Lage nicht wertvoller als die meisten modernen
Graffiti. Und obwohl viele Leute solche gesellschaftlichen Bedingungen
als tragisch verarmt empfinden würden, scheint es mir dogmatisch,
nicht die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, ob sie nicht vielleicht aus
einer allgemeinen menschlichen Bereicherung entstehen könnten. Karl
Marx beunruhigte die Frage, weshalb die griechische Kunst einen ›ewi-
gen Reiz‹ behalten konnte, obwohl die sozialen Bedingungen, die sie
hervorgebracht haben, längst vergangen waren; aber wie können wir
wissen, was ›auf ewig‹ seinen Reiz behalten wird, wenn die Geschichte
noch nicht beendet ist? Wir können uns vorstellen, dass wir dank einer
findigen archäologischen Forschung eine Menge mehr darüber erfahren,
was die antike griechische Tragödie für ihre zeitgenössischen Zuschauer
wirklich bedeutete, ihre Interessen als unseren eigenen zutiefst fremd
erkennen, und dann die Dramen im Lichte unserer vertieften Kenntnis-
se wieder lesen. Ein Ergebnis könnte sein, dass wir keine Freude mehr an
ihnen hätten. Wir kämen vielleicht zu der Erkenntnis, dass wir sie zuvor
nur genießen konnten, weil wir sie unwissentlich im Lichte unserer eige-
nen Voraussetzungen gelesen haben; wenn dies nicht mehr so ohne wei-
teres möglich ist, könnte es sein, dass uns das Drama überhaupt nichts
Bedeutungsvolles mehr sagt.
Die Tatsache, dass wir literarische Werke immer bis zu einem ge-
wissen Grad im Lichte unserer eigenen Interessen interpretieren – tat-
sächlich sind wir in einem Sinn von ›in unserem eigenen Interesse‹ gar
nicht in der Lage, etwas anderes zu tun – könnte einer der Gründe
sein, weshalb bestimmte literarische Werke ihren Wert über Jahrhun-
derte hinweg behalten haben. Natürlich ist es auch möglich, dass wir
noch viele Vorlieben des Werkes teilen: Ebenso kann es aber der Fall
Einleitung: Was ist Literatur? 13
sein, dass sich die Wertschätzung gar nicht auf ›dasselbe‹ Werk bezieht,
auch wenn wir das glauben mögen. ›Unser‹ Homer ist weder identisch
mit dem Homer des Mittelalters, noch ist ›unser‹ Shakespeare der sei-
ner Zeitgenossen; verschiedene historische Epochen haben für ihre ei-
genen Zwecke jeweils einen anderen Homer und Shakespeare konstru-
iert und fanden in deren Texten Elemente von unterschiedlichem
Wert, obgleich dies nicht unbedingt dieselben waren. Mit anderen
Worten werden alle literarischen Werke, sei es auch unbewusst, von
den Gesellschaften, die sie lesen, ›neu geschrieben‹: Tatsächlich gibt es
keine Lektüre eines Werkes, die nicht auch ein ›Neu-Schreiben‹ wäre.
Kein Werk, auch keine Bewertung eines Werks, kann einfach einer
anderen Gruppe von Menschen übergeben werden, ohne nicht in die-
sem Prozess vielleicht fast bis zur Unkenntlichkeit verändert zu wer-
den. Das ist auch ein Grund, warum das, was als Literatur zählt, eine
bemerkenswert instabile Angelegenheit ist.
Ich meine nicht, dass sie deshalb instabil ist, weil Werturteile ›subjek-
tiv‹ sind. In einer solchen Sichtweise wird die Welt in harte Tatsachen
›draußen‹ wie etwa den Hauptbahnhof und willkürliche Werturteile
›drinnen‹ unterteilt, d.h. ob man Bananen mag oder das Gefühl hat, dass
der Ton eines Gedichtes von Yeats von defensiver Anmaßung zu grim-
mig geschmeidiger Ergebenheit wechselt. Fakten sind öffentlich und
unanfechtbar, Werte sind privat und willkürlich. Zwischen der Wieder-
gabe einer Tatsache wie ›Diese Kathedrale wurde 1612 gebaut‹ und der
Verwendung eines Werturteils wie ›Diese Kathedrale ist ein prachtvolles
Beispiel barocker Architektur‹ besteht ein offensichtlicher Unterschied.
Aber nehmen wir an, ich mache die erste Bemerkung, während ich einer
Besucherin aus Übersee England zeige, und bemerke, dass diese Aussage
sie völlig verwirrt. Warum, könnte sie fragen, erzählen Sie mir dauernd
die Daten der Entstehung all dieser Bauwerke? Weshalb diese Besessen-
heit von der Frage der Herkunft? In der Gesellschaft, in der ich lebe,
könnte sie fortfahren, führen wir über solche Ereignisse nicht Buch: Wir
klassifizieren unsere Gebäude stattdessen danach, ob sie nach Nordwes-
ten oder Südosten weisen. Dies könnte ein Teil des unbewussten Wert-
systems offen legen, auf dem unsere deskriptiven Aussagen beruhen.
Solche Werturteile sind nicht unbedingt von der gleichen Art wie der
Satz ›Diese Kathedrale ist ein prachtvolles Beispiel barocker Architek-
tur‹, aber sie sind nichtsdestotrotz Werturteile, und keine meiner fakti-
schen Aussagen kann ihnen entkommen. Faktische Aussagen sind trotz
allem Aussagen, die einige fragliche Urteile voraussetzen: Zum Beispiel
dass diese Aussagen es wert sind, gemacht zu werden, dass ich eine Per-
son bin, die zu dieser Aussage berechtigt ist und vielleicht auch für ihren
Wahrheitsgehalt garantieren kann, dass Sie ein Mensch sind, der es wert
14 Einleitung: Was ist Literatur?
das eine oder andere mögen wir uns streiten, aber das können wir nur,
weil wir tiefverankerte Sicht- und Bewertungsweisen teilen, die mit
unserem sozialen Leben eng verbunden sind und nicht verändert wer-
den können, ohne dieses Leben zu verändern. Niemand wird mich
hart bestrafen, wenn ich ein bestimmtes Gedicht von Donne nicht
mag, aber wenn ich behaupte, dass Donne überhaupt keine Literatur
sei, dann riskiere ich unter bestimmten Umständen den Verlust mei-
nes Arbeitsplatzes. Es steht mir frei, die Labour-Party oder die Konser-
vativen zu wählen, aber wenn ich aus der Überzeugung heraus zu han-
deln versuche, dass diese Wahl selbst bloß ein tieferliegendes Vorurteil
verschleiert – dass die Bedeutung von Demokratie darauf beschränkt
ist, alle paar Jahre ein Kreuzchen auf dem Wahlschein zu machen –
dann könnte ich unter bestimmten ungewöhnlichen Umständen im
Gefängnis landen.
Die größtenteils verborgene Wertstruktur, die unseren Tatsachen-
aussagen zugrunde liegt und sie bestimmt, ist Teil der ›Ideologie‹. Mit
›Ideologie‹ meine ich grob gesagt die Art und Weise, wie das, was wir
sagen und glauben, mit der Machtstruktur und den Machtbeziehun-
gen der Gesellschaft, in der wir leben, zusammenhängt. Aus einer so
weiten Definition von Ideologie folgt, dass nicht alle unserer grundle-
genden Urteile und Kategorien praktischerweise als ideologisch be-
zeichnet werden können. Es ist tief in uns verwurzelt, uns selbst in ei-
ner Bewegung vorwärts in Richtung auf die Zukunft zu sehen (zumin-
dest eine Gesellschaft sieht sich selbst als zu ihr zurückkehrend); aber
obwohl diese Sichtweise vielleicht in einer signifikanten Beziehung zu
der Machtstruktur unserer Gesellschaft steht, braucht das nicht immer
und überall so zu sein. Ich meine mit ›Ideologie‹ nicht einfach die tief
verwurzelten, häufig unbewussten Überzeugungen, die Menschen ha-
ben; ich meine vielmehr jene Art zu fühlen, zu bewerten, wahrzuneh-
men und zu glauben, die zur Sicherung und Erhaltung der sozialen
Macht in irgendeiner Beziehung steht. Dass solche Überzeugungen
auf keinen Fall bloße private Eigenarten sind, soll durch ein Beispiel
aus dem Bereich der Literatur illustriert werden.
In seiner berühmten Studie Practical Criticism (1929) versuchte der
Literaturkritiker I.A. Richards aus Cambridge zu demonstrieren, wie
launisch und subjektiv literarische Werturteile sein können, indem er
den jüngeren Semestern eine Reihe von Gedichten gab, ihnen allerdings
Titel und Verfasser vorenthielt, und sie bat, diese zu beurteilen. Die da-
raus resultierenden Bewertungen waren, wie allseits bekannt, höchst
unterschiedlich: Traditionell hochgeehrte Dichter bekamen schlechte
Noten, unbekannte Autoren wurden gefeiert. Der meines Erachtens bei
weitem interessanteste Aspekt dieses Projekts, der offensichtlich für
16 Einleitung: Was ist Literatur?
Richards selbst nicht erkennbar war, ist jedoch gerade, was für ein enger
Konsens von unbewussten Wertsetzungen diesen speziellen Meinungs-
unterschieden zugrunde liegt. Wenn man die Darstellungen der literari-
schen Werke von Richards’ jüngeren Semestern liest, ist man von den
Wahrnehmungs- und Interpretationsgewohnheiten beeindruckt, die sie
alle spontan teilen – was sie für Literatur halten, welche Erwartungen sie
an ein Gedicht herantragen und welche Befriedigung sie aus der Be-
schäftigung damit zu gewinnen hoffen. Nichts davon ist wirklich über-
raschend: Denn alle Teilnehmer an diesem Experiment waren wahr-
scheinlich junge Engländer der 1920er Jahre, Weiße, Angehörige der
Ober- oder oberen Mittelschicht, Absolventen von Privatschulen, und
wie sie auf ein Gedicht reagierten, hing von einer Menge mehr Faktoren
als nur den rein ›literarischen‹ ab. Ihre kritischen Reaktionen waren tief
in ihren allgemeineren Vorurteilen und Überzeugungen verwurzelt. Das
ist kein Vorwurf: Es gibt keine kritische Reaktion, die nicht derartig ver-
wurzelt ist, und daher gibt es auch so etwas wie eine ›rein‹ literarisch
kritische Bewertung oder Interpretation nicht. Wenn hier jemandem ein
Vorwurf gemacht werden kann, dann I.A. Richards selbst, der als junger,
weißer, aus der oberen Mittelschicht stammender, männlicher Cam-
bridge-Dozent nicht in der Lage war, einen Hintergrund von Interessen,
die er zum großen Teil teilte, zu objektivieren, und somit nicht erkennen
konnte, dass örtliche, ›subjektive‹ Bewertungsunterschiede innerhalb ei-
ner bestimmten, sozial strukturierten Wahrnehmungsweise und Welt-
sicht fungieren.
Wenn es nicht ausreicht, Literatur als eine ›objektive‹, beschreibende
Kategorie zu begreifen, so bleibt andererseits auch die Aussage unbefrie-
digend, dass Literatur eben das ist, was die Leute launischerweise als
›Literatur‹ zu bezeichnen beschließen. Denn an den verschiedenen Arten
von Werturteilen ist überhaupt nichts Launisches: Sie haben ihre Wur-
zeln in tieferliegenden Überzeugungsstrukturen, die offensichtlich eben-
so unerschütterlich sind wie das Empire State Building. Wir haben bis-
lang also nicht nur entdeckt, dass Literatur nicht in dem Sinn existiert,
wie das Insekten tun, und dass die Werturteile, die sie konstituieren,
historisch veränderlich sind, sondern auch, dass diese Werturteile selbst
eine enge Verbindung zu den gesellschaftlichen Ideologien haben. Sie
verweisen uns letzten Endes nicht auf einen privaten Geschmack, son-
dern auf die Grundannahmen, mit denen bestimmte soziale Gruppen
Macht über andere ausüben und erhalten.
2. Phänomenologie, Hermeneutik,
Rezeptionstheorie
der Dinge nicht sicher sein können, argumentiert Husserl, können wir
der Art und Weise gewiss sein, wie sie in unserem Bewusstsein unmit-
telbar in Erscheinung treten, gleichgültig, ob die jeweiligen Erfahrun-
gen eine Illusion sind oder nicht. Die Objekte können nicht als Dinge
an sich betrachtet werden, sondern als Dinge, die vom Bewusstsein
gesetzt oder ›intendiert‹ sind. Bewusstsein ist immer Bewusstsein von
etwas: Indem ich denke, bin ich mir dessen bewusst, dass meine Ge-
danken sich ›auf ein Objekt richten‹. Das Denken selbst und der Ge-
genstand, auf den es sich richtet, sind innerlich miteinander verbun-
den, voneinander abhängig. Mein Bewusstsein ist nicht nur ein passi-
ves Registrieren der Welt, sondern konstituiert oder ›intendiert‹ sie
aktiv. Um Gewissheit zu erlangen, müssen wir also als erstes alles, was
jenseits unserer unmittelbaren Erfahrung liegt, ignorieren oder ›ein-
klammern‹; wir müssen die Außenwelt auf unseren Bewusstseinsinhalt
reduzieren. Diese sogenannte ›phänomenologische Reduktion‹ ist
Husserls erster wichtiger Schritt. Alles dem Bewusstsein nicht ›Imma-
nente‹ muss strikt ausgeschlossen werden; alle Realitäten müssen auf
der Basis ihrer Erscheinungsform in unserem Bewusstsein als reine
›Phänomene‹ behandelt werden, und dies sind die einzigen absoluten
Tatsachen, von denen wir ausgehen können. Der Name, den Husserl
dieser philosophischen Methode gab, ›Phänomenologie‹, erklärt sich
aus dieser Setzung. Phänomenologie ist die Wissenschaft der reinen
Phänomene.
Dies reicht indessen zur Lösung unserer Probleme noch nicht aus.
Denn vielleicht ist alles, was wir bei der Inspektion unserer Denkinhal-
te finden, nicht mehr als ein zufälliger Fluss von Phänomenen, ein
chaotischer Bewusstseinsstrom, und daraus können wir kaum irgend-
eine Gewissheit ableiten. Die ›reinen‹ Phänomene, mit denen Husserl
sich beschäftigt, sind jedoch mehr als nur zufällige, individuelle Ein-
zelerscheinungen. Sie sind ein System universeller Wesensallgemein-
heiten, denn die Phänomenologie variiert jedes Objekt in der Vorstel-
lung solange, bis sie entdeckt, was an ihm unveränderlich ist. Was sich
der phänomenologischen Erkenntnis erschließt, ist nicht nur beispiels-
weise die Erfahrung der Eifersucht oder der Farbe Rot, sondern der
universelle Typus oder das Wesen dieser Dinge, also Eifersucht oder
Rot an sich. Ein Phänomen ganz und rein zu erfassen, heißt das zu
begreifen, was sein unveränderliches Wesen ausmacht. Das griechische
Wort für Typus lautet eidos; Husserl spricht dementsprechend von sei-
ner Methode als einer, die neben ihrer phänomenologischen Redukti-
on eine ›eidetische‹ Abstraktion bewirkt.
All dies mag unerträglich abstrakt und unwirklich klingen, was es ja
auch ist. Aber das Ziel der Phänomenologie war tatsächlich das genaue
Phänomenologie, Hermeneutik, Rezeptionstheorie 19
che verfügen, in der wir sie machen. Damit liegt es darüber hinaus nahe,
dass unsere Erfahrungen als Individuen zutiefst sozial sind. So etwas wie
eine private Sprache kann es gar nicht geben, und der Gedanke an eine
Sprache impliziert immer auch zugleich die Vorstellung eines gesamten
Sozialgefüges. Im Gegensatz hierzu will die Phänomenologie bestimmte
›reine‹ innere Erfahrungen von der sozialen Verseuchung durch die Spra-
che freihalten – oder in der Sprache alternativ dazu nicht mehr sehen als
ein bequemes System zur ›Fixierung‹ von Bedeutungen, die sich unab-
hängig von diesem herausgebildet haben. In einer entlarvenden Bemer-
kung beschreibt Husserl selbst Sprache als etwas, was sich »in reiner
Anmessung an die geschaute Fülle der Klarheit [anschmiegt]« (Die Idee
der Phänomenologie). Aber wie kann man etwas überhaupt klar sehen,
ohne die konzeptuellen Vorgaben der Sprache zur Verfügung zu haben?
Husserl ist sich des Problems bewusst, das die Sprache für seine Theorie
bedeutet. Er versucht das Dilemma zu lösen, indem er sich eine Sprache
vorstellt, die nur dem reinen Ausdruck des Bewusstseins dient – die von
jeglicher Last befreit ist, auf Bedeutungen zu verweisen, die zum Zeit-
punkt des Sprechens außerhalb unseres Denkens liegen. Dieser Versuch
ist von vorneherein zum Scheitern verurteilt: Die einzige vorstellbare
›Sprache‹ dieser Art bestünde aus völlig isolierten, inneren Äußerungen,
die überhaupt nichts bedeuten würden (vgl. Derrida: Die Stimme und
das Phänomen).
Diese Idee von einer bedeutungslosen, einsamen, von der Außen-
welt unbefleckten Äußerung ist ein besonders passendes Bild für die
Phänomenologie überhaupt. Trotz ihres Anspruchs, die ›lebendige
Welt‹ des menschlichen Handelns und der menschlichen Erfahrung
aus den dürren Klauen der traditionellen Philosophie gerettet zu ha-
ben, beginnt und endet die Phänomenologie als ein Kopf ohne Welt.
Sie verspricht eine feste Basis für menschliche Erfahrung, kann sie aber
nur um den hohen Preis der Opferung der menschlichen Geschichte
selbst herstellen. Denn menschliche Bedeutungen sind mit Sicherheit
historisch: Es handelt sich dabei nicht um das intuitive Erfassen des
universellen Wesens einer Zwiebel, sondern um veränderliche, prakti-
sche Transaktionen zwischen sozialen Individuen. Die phänomenolo-
gische Einstellung zur Welt bleibt trotz ihres Hauptaugenmerks auf
die real erfahrbare Wirklichkeit, mehr als Lebenswelt denn als erstarrtes
Gegebenes, kontemplativ und ahistorisch. Die Phänomenologie ver-
suchte den Albtraum der modernen Geschichte zu lösen, indem sie
sich in eine spekulative Sphäre zurückzog, wo eine Gewissheit lauerte;
so wurde sie in ihrem einsamen, entfremdeten Grübeln zum Symptom
eben der Krise, die zu überwinden sie angetreten war.
Die Erkenntnis, dass Bedeutung historisch ist, brachte Husserls be-
24 Phänomenologie, Hermeneutik, Rezeptionstheorie
kehren, bevor sich der Dualismus zwischen Subjekt und Objekt aufge-
tan hatte, um das Sein als etwas beide Umfassendes zu betrachten.
Insbesondere in seinem Spätwerk ist das Ergebnis dieser suggestiven
Einsicht ein erstaunliches Zukreuzekriechen vor dem Rätsel des Seins.
Die Rationalität der Aufklärung mit ihrer rücksichtslos herrischen, in-
strumentalisierenden Haltung gegenüber der Natur muss zugunsten
eines demütigen Lauschens auf Sterne, Himmel und Wälder verwor-
fen werden, ein Lauschen, das mit den bissigen Worten eines engli-
schen Kritikers alle Merkmale eines ›verdummten Bauern‹ trägt. Der
Mensch muss dem Sein Platz machen, indem er sich ihm völlig über-
lässt: Er muss sich der Erde zuwenden, der unerschöpflichen Mutter,
die die primäre Quelle aller Bedeutung ist. Die Erhabenheit des Bäu-
erlichen, die Abwertung der Vernunft zugunsten des spontanen ›Vor-
Verstehens‹, das Zelebrieren der weisen Passivität – all dies, verbunden
mit Heideggers Glauben an ein authentisches Dasein als »Vorlaufen
zum Tode«, das dem Leben der gesichtslosen Masse überlegen war,
brachte ihn dazu, Hitler 1933 ausdrücklich zu unterstützen. Die Un-
terstützung war nur kurzlebig; aber sie war trotzdem in einzelnen Ele-
menten seiner Philosophie implizit enthalten.
Das Wertvolle an dieser Philosophie ist unter anderem ihr Beharren
darauf, dass theoretische Erkenntnis immer aus dem Zusammenhang
praktischer sozialer Interessen heraus entsteht. Heideggers Modell ei-
nes erkennbaren Objektes ist signifikanterweise ein Werkzeug: Wir
erkennen die Welt nicht kontemplativ, sondern als ein System mitein-
ander verbundener Dinge, die, wie ein Hammer, ›zuhanden‹, Teil eines
praktischen Vorhabens sind. Wissen steht in enger Verbindung zum
Tun. Aber die Kehrseite dieser bäuerlichen Praxisnähe ist der kontem-
plative Mystizismus: Wenn der Hammer zerbricht, wenn wir ihn nicht
mehr als etwas Selbstverständliches ansehen, dann verliert er seine Ver-
trautheit und offenbart uns sein authentisches Sein. Ein zerbrochener
Hammer ist mehr Hammer als ein unversehrter. Heidegger teilt mit
den Formalisten die Auffassung, dass die Kunst eine solche Verfrem-
dung ist: Wenn van Gogh uns ein Paar Bauernschuhe zeigt, verfremdet
er sie, enthebt er sie ihrer Zufälligkeit, lässt ihr zutiefst authentisches
›Schuhsein‹ zum Vorschein kommen. Für den späten Heidegger konn-
te sich eine solche phänomenologische Wahrheit tatsächlich nur in der
Kunst manifestieren, ebenso wie für F. R. Leavis die Literatur für eine
Lebensweise steht, die die moderne Gesellschaft vermutlich verloren
hat. Kunst wie Sprache können nicht als Ausdruck eines individuellen
Subjektes gesehen werden; das Subjekt ist nur der Ort oder das Medi-
um, durch das die Weltwahrheit selbst spricht, und es ist diese Wahr-
heit, der man beim Lesen eines Gedichtes aufmerksam lauschen muss.
Phänomenologie, Hermeneutik, Rezeptionstheorie 27
te; nur weil Hirsch die Bedeutung von der Sprache getrennt hält, kann
er solchen Hirngespinsten trauen. Die Intention eines Autors ist selbst
ein komplexer ›Text‹, der genau wie jeder andere Text diskutiert, para-
phrasiert und unterschiedlich interpretiert werden kann.
Hirschs Unterscheidung zwischen ›Bedeutung‹ und ›Signifikanz‹
hat offensichtlich in einer Hinsicht Gültigkeit. Es ist unwahrschein-
lich, dass Shakespeare dachte, er schriebe über den Atomkrieg. Wenn
Gertrude Hamlet als ›fett‹ bezeichnet, meint sie vermutlich nicht, dass
er übergewichtig sei, wie dies heutige Leser vielleicht annehmen wer-
den. Aber der Absolutheitsgrad von Hirschs Unterscheidung ist mit
Sicherheit unhaltbar. Eine so genaue Unterscheidung zwischen dem,
›was ein Text bedeutet‹, und dem, ›was ein Text für mich bedeutet‹, ist
einfach nicht möglich. Meine Auffassung davon, was Macbeth unter
den kulturellen Bedingungen seiner Zeit bedeutet haben könnte, ist
immer noch meine Auffassung, unausweichlich von meiner eigenen
Sprache und meinen kulturellen Rahmenbedingungen beeinflusst. Ich
kann mich niemals am eigenen Zopf aus all dem herausziehen und auf
irgendeine absolut objektive Weise erkennen, was Shakespeare wirk-
lich dachte. Jeder derartige Begriff von absoluter Objektivität ist eine
Illusion. Hirsch selbst versucht nicht, eine solche absolute Gewissheit
zu erlangen, hauptsächlich deshalb, weil er weiß, dass er sie nicht errei-
chen kann: Er muss sich stattdessen mit der Rekonstruktion der ›wahr-
scheinlichen‹ Autorintention zufrieden geben. Aber er lässt unbeach-
tet, dass eine solche Rekonstruktion nur innerhalb seines eigenen his-
torisch geprägten Bedeutungsrahmens und seiner eigenen Wahrneh-
mungsweisen erfolgen kann. In der Tat ist ein solcher ›Historizismus‹
das eigentliche Ziel seiner Polemik. Wie Husserl bietet er somit eine
Form von Wissen an, das zeitlos und über jede Voreingenommenheit
erhaben ist. Dass sein eigenes Werk von Unvoreingenommenheit weit
entfernt ist, – dass er sich selbst als Beschützer der unveränderlichen
Bedeutung literarischer Werke vor gewissen zeitgenössischen Ideologi-
en versteht – ist nur ein Grund mehr, solchen Ansprüchen mit Miss-
trauen zu begegnen.
Das Angriffsziel, das Hirsch fest vor Augen hat, ist die Hermeneu-
tik von Heidegger, Gadamer und anderen. Für ihn öffnet das Insistie-
ren dieser Denker auf der Historizität von Bedeutung dem völligen
Relativismus Tür und Tor. Bei dieser Argumentation kann ein literari-
sches Werk am Montag das eine und am Freitag etwas anderes bedeu-
ten. Es wäre interessant, darüber zu spekulieren, weshalb Hirsch diese
Möglichkeit so beängstigend findet; aber um den relativistischen
Quatsch zu beenden, kehrt er zu Husserl zurück und behauptet, dass
Bedeutung unveränderlich sei, da sie immer den intentionalen Akt ei-
Phänomenologie, Hermeneutik, Rezeptionstheorie 33
gen, die der Tradition entstammen und uns mit ihr verbinden. Die
Autorität der Tradition selbst, in Verbindung mit unserer eigenen be-
harrlichen Selbstreflexion, wird entscheiden, welche unserer vorgefass-
ten Annahmen wahr und welche falsch sind – wie auch der geschicht-
liche Abstand zwischen uns und einem Werk der Vergangenheit, weit
davon entfernt, ein Hindernis für wahres Verstehen zu bilden, dieser
Erkenntnis eigentlich hilft, indem er das Werk all dessen entkleidet,
was an ihm nur von vergänglicher Bedeutung war.
Man sollte Gadamer fragen, wessen und was für eine ›Tradition‹ er
eigentlich meint. Denn seine Theorie steht und fällt mit der ungeheue-
ren Annahme, dass es wirklich nur einen einzigen zentralen Traditions-
fluss gibt; dass alle ›wertvollen‹ Werke an ihm teilhaben; dass die Ge-
schichte ein ungebrochenes Kontinuum bildet, frei von entscheidenden
Brüchen, Konflikten und Widersprüchen; und dass die Vorurteile, die
›wir‹ (wer?) von der ›Tradition‹ geerbt haben, gehegt und gepflegt wer-
den müssen. Es wird mit anderen Worten angenommen, dass die Ge-
schichte ein Ort ist, an dem ›wir‹ uns immer und überall zu Hause
fühlen können; dass die Werke der Vergangenheit unser gegenwärtiges
Selbstverständnis eher vertiefen als, sagen wir, dezimieren; dass das
Fremde immer heimlich das Vertraute ist. Kurz gesagt handelt es sich
um eine ungeheuer selbstzufriedene Geschichtsauffassung, die Projekti-
on einer Sichtweise, für die ›Kunst‹ hauptsächlich die klassischen Mo-
numente der deutschen traditionellen Hochkultur bedeutet, auf die
Welt als Ganzes. Die Geschichte und Tradition werden so gut wie nicht
als repressive oder auch als befreiende Kräfte wahrgenommen, als kon-
flikt- und herrschaftsbesetzte Bereiche. Geschichte ist für Gadamer
nicht ein Ort des Kampfes, der Diskontinuität und der Ausgrenzung,
sondern eine ›fortgesetzte Folge‹, ein immerwährender Strom, beinahe
könnte man auch sagen, ein Club der Gleichgesinnten. Historische
Unterschiede werden tolerant zugestanden, aber nur weil sie wirkungs-
voll von einem Verständnis aufgelöst werden, das die zeitliche Distanz,
die den Interpreten vom Text trennt, überbrückt und so die Fremdheit
der Bedeutung, die dem Text anhaftet, überkommt. Es besteht keine
Notwendigkeit, die Überwindung der zeitlichen Distanz dadurch an-
zustreben, dass man sich einfühlend in die Vergangenheit versetzt, wie
dies unter anderem Wilhelm Dilthey geglaubt hatte, da die Distanz
bereits durch Brauchtum, Vorurteile und Tradition überbrückt wird.
Die Tradition hat eine Autorität, der wir uns beugen müssen: Es gibt
wenig Möglichkeiten, diese Autorität kritisch in Frage zu stellen, und
keinerlei Überlegungen dazu, dass ihr Einfluss etwas anders als gütig
sein könnte. Die Tradition findet ihre Rechtfertigung außerhalb von
Vernunftargumenten (vgl. Lentricchia 1980, S. 153).
36 Phänomenologie, Hermeneutik, Rezeptionstheorie
Nach Gadamer ist die Geschichte ein Gespräch, in dem wir uns be-
finden. Die Hermeneutik betrachtet Geschichte als einen lebendigen
Dialog zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, und versucht
die Hindernisse für diese endlose gegenseitige Verständigung geduldig
aus dem Wege zu räumen. Aber sie kann den Gedanken an ein Misslin-
gen nicht tolerieren, das nicht bloß vorübergehend wäre, nicht nur
durch eine sensiblere Textinterpretation beseitigt werden könnte, son-
dern irgendwie systematisch ist: das sozusagen den Kommunikations-
strukturen ganzer Gesellschaften immanent ist. Sie kommt mit anderen
Worten nicht mit dem Problem der Ideologie zurecht – mit dem Fak-
tum, dass der nie endende ›Dialog‹ der menschlichen Geschichte oft
genug ein an die Machtlosen gerichteter Monolog der Mächtigen ist,
oder dass, wenn es sich tatsächlich um einen Dialog handelt, die Partner
– Männer und Frauen zum Beispiel – kaum gleichberechtigt sind. Sie
weigert sich, anzuerkennen, dass Diskurs immer in Macht verstrickt ist,
die möglicherweise keineswegs gütig ist; und der Diskurs, in dem sie
diese Tatsache auf bemerkenswerteste Weise verkennt, ist ihr eigener.
Wie wir gesehen haben, tendiert die Hermeneutik dazu, sich auf
die Werke der Vergangenheit zu konzentrieren: Ihre theoretischen Fra-
gestellungen rühren hauptsächlich aus dieser Perspektive. Von ihren
biblischen Anfängen her gesehen ist das kaum überraschend, aber
nichtsdestotrotz signifikant: Es unterstellt, dass die Hauptaufgabe der
Literaturkritik in der Erklärung der Klassiker liegt. Sich Gadamer im
Ringen mit dem Werk von Norman Mailer vorzustellen, wäre schwie-
rig. Mit dieser traditionalistischen Ausrichtung geht weiterhin die An-
nahme einher, dass die literarischen Werke eine ›organische‹ Einheit
bilden. Die hermeneutische Methode versucht in einem Vorgang, der
allgemein als ›hermeneutischer Zirkel‹ bekannt ist, jedes Element eines
Textes in ein vollständiges Ganzes einzugliedern: Individuelle Elemen-
te können in Bezug auf den Gesamtzusammenhang verstanden wer-
den, und der Gesamtzusammenhang wird aus den individuellen Ele-
menten verständlich. Die Hermeneutik zieht im Allgemeinen die
Möglichkeit nicht in Betracht, dass literarische Werke diffus, unvoll-
ständig und immanent widersprüchlich sein können, obwohl es viele
Gründe für diese Annahme gibt (vgl. Macherey 1974). Festzuhalten
bleibt, dass E. D. Hirsch, bei aller Antipathie gegen romantisch orga-
nizistische Vorstellungen, dieses Vorurteil vom literarischen Text als
einem integralen Ganzen teilt. Das ist nur logisch: Die Einheit des
Werkes ruht in der alldurchdringenden Intention des Autors. In Wirk-
lichkeit gibt es keinen Grund, weshalb der Autor nicht mehrere einan-
der widersprechende Absichten haben sollte, aber diese Möglichkeit
wird von Hirsch nicht weiter bedacht.
Phänomenologie, Hermeneutik, Rezeptionstheorie 37
sich auszuziehen, und wir spekulieren vielleicht, dass sie ein verheira-
tetes Paar sind, wissend, dass es sich verheiratete Paare, zumindest in
unserem Vorort von Birmingham, nicht zur allgemeinen Gewohnheit
machen, sich vor Dritten auszuziehen, was immer sie vielleicht unab-
hängig voneinander tun mögen.
Wir haben wahrscheinlich schon beim Lesen der Sätze eine ganze
Reihe von Schlussfolgerungen getroffen. Wir können beispielsweise
davon ausgehen, dass das ›Paar‹, auf das verwiesen wird, ein Mann und
eine Frau sind, obwohl es bisher noch nichts gibt, was uns sagt, ob es
sich nicht um zwei Frauen oder zwei Tigerbabies handelt. Wir nehmen
an, dass, wer immer die Frage stellt, nicht Gedanken lesen kann, da
sonst keine Notwendigkeit zum Fragen bestünde. Wir können vermu-
ten, dass dem Fragenden die Einschätzung des Angesprochenen wich-
tig ist, obwohl es bisher noch nicht genügend Kontext gibt, um beur-
teilen zu können, ob die Frage nicht höhnisch oder aggressiv ist. Wir
sehen den Ausdruck ›die Hanemas‹ vermutlich als grammatische Ap-
position zu ›Piet und Angela‹, was andeutet, dass dies ihr Nachname
ist, und dies ist wiederum ein wichtiges Beweisstück dafür, dass sie
verheiratet sind. Aber wir können die Möglichkeit nicht ausschließen,
dass es zusätzlich zu Piet und Angela eine Gruppe von Leuten mit dem
Namen Hanema gibt, vielleicht einen ganzen Stamm davon, und dass
sie sich alle zusammen in irgendeiner riesigen Halle ausziehen. Die
Tatsache, dass Piet und Angela den gleichen Nachnamen haben mö-
gen, bestätigt nicht, dass sie Mann und Frau sind: Sie könnten beson-
ders freizügige oder inzestuöse Geschwister, Vater und Tochter oder
Mutter und Sohn sein. Wir haben jedoch angenommen, dass sie sich
voreinander ausziehen, wo uns doch bisher nichts darüber berichtet
wurde, ob die Frage nicht von einem Schlafzimmer zum anderen oder
zwischen Strandhütten gerufen wurde. Vielleicht sind Piet und Angela
kleine Kinder, obgleich die relative Kompliziertheit der Frage dieses
unwahrscheinlich macht. Die meisten Leser haben wahrscheinlich bis
hierher angenommen, dass Piet und Angela ein Ehepaar sind, das sich
nach einem Ereignis, vielleicht einer Party, auf der ein neues Ehepaar
anwesend war, zusammen im Schlafzimmer auszieht, aber nichts da-
von wird eigentlich gesagt.
Die Tatsache, dass dies die beiden ersten Sätze des Romans sind,
bedeutet natürlich, dass viele dieser Fragen im Laufe des Weiterlesens
für uns geklärt werden. Aber der Prozess des Hypothesenbildens und
Schlussfolgerns, zu dem uns unsere Unkenntnis treibt, ist einfach ein
etwas eindringlicheres und dramatischeres Beispiel für das, was wir
beim Lesen immer tun. Beim Weiterlesen treffen wir noch auf viel
mehr Probleme, die nur gelöst werden können, indem wir weitere An-
Phänomenologie, Hermeneutik, Rezeptionstheorie 39
nahmen machen. Wir erhalten zwar die Informationen, die uns in den
ersten Sätzen vorenthalten wurden, aber wir müssen noch immer frag-
würdige Interpretationen auf ihnen aufbauen. Die Lektüre des An-
fangs von Updikes Roman verwickelt uns in eine überraschende Men-
ge komplexer, zum größten Teil unbewusster Arbeit: Obwohl wir es
kaum bemerken, sind wir die ganze Zeit damit beschäftigt, Hypothe-
sen über die Bedeutung des Textes aufzustellen. Der/die Leser/in
schafft implizit Verbindungen, füllt die Lücken, zieht Schlussfolgerun-
gen und überprüft Annahmen; dies bedeutet zugleich, sich auf eine
stillschweigende Kenntnis der Welt im Allgemeinen und der literari-
schen Konventionen im Besonderen zu beziehen. Der Text selbst ist
wirklich nicht mehr als eine Reihe von ›Anhaltspunkten‹, Einladun-
gen, ein Stück Sprache in Bedeutung umzubauen. In der Terminologie
der Rezeptionstheorie ›konkretisiert‹ der Leser das literarische Werk,
das selbst nicht mehr ist als eine Kette von auf einer Seite angeordne-
ten schwarzen Punkten. Ohne die fortwährende aktive Partizipation
auf der Leserseite gäbe es überhaupt kein literarisches Werk. Wie fest
es auch immer zu sein scheint, für die Rezeptionstheorie besteht jedes
Werk in Wirklichkeit aus ›Leerstellen‹, genauso wie Tische in der mo-
dernen Physik aus Leerstellen bestehen – zum Beispiel der Leerstelle
zwischen dem ersten und dem zweiten Satz von Paare, wo der/die Le-
ser/in die fehlende Verbindung selbst herstellen muss. Das Werk ist
voller ›Unbestimmtheitsstellen‹, Elemente, die in ihrer Wirkung von
der Interpretation des/r Lesers/in abhängen, und die auf verschiedene,
vielleicht einander widersprechende Arten gedeutet werden können.
Das Paradoxe daran ist, dass das Werk umso unbestimmter wird, je
mehr Informationen es enthält. Shakespeares ›secret black and mid-
night hags‹ (›geheime, schwarze Nachtunholde‹) grenzt einerseits ein,
um was für Hexen es sich handelt, macht sie bestimmter. Da aber alle
drei Adjektive sehr suggestiv sind und sie bei verschiedenen Lesern
verschiedene Reaktionen hervorrufen, wird der Text durch den Ver-
such, immer genauer zu werden, nur noch unbestimmter.
Der Vorgang des Lesens ist für die Rezeptionstheorie immer dyna-
misch, eine komplexe Bewegung, die sich in der Zeit entfaltet. Das li-
terarische Werk selbst existiert nur als das, was der polnische Theoreti-
ker Roman Ingarden ›eine Schicht schematisierter Ansichten‹ nennt
oder allgemeinen Hinweisen, die der Leser konkretisieren muss. Da-
mit er das tun kann, wird der Leser oder die Leserin ein gewisses Vor-
verständnis, einen verschwommenen Hintergrund von Annahmen
und Erwartungen an den Text herantragen, innerhalb derer die ver-
schiedenen Elemente des Werkes beurteilt werden. Im Verlauf des
Lesevorgangs werden diese Erwartungen selbst durch das soeben Er-
40 Phänomenologie, Hermeneutik, Rezeptionstheorie
aber dies ist genau der Lesertypus, der am wenigsten betroffen werden
muss. Solch ein Leser ist von Anfang an ›verändert‹ und allein aus
diesem Grund ist er bereit, eine weitere Veränderung zu riskieren. Um
Literatur ›effektiv‹ zu lesen, muss man bestimmte kritische Fähigkeiten
anwenden, Fähigkeiten, die immer problematisch zu definieren sind;
aber es sind genau diese Fähigkeiten, die ›Literatur‹ nicht in Frage stel-
len kann, weil sie in ihrer Existenz selbst von ihnen abhängt. Was man
als ›literarisches‹ Werk definiert, hängt immer eng mit dem zusammen,
was man als ›angemessenes‹ kritisches Verfahren ansieht: Ein ›literari-
sches‹ Werk ist mehr oder weniger das, was mit solchen Untersu-
chungsmethoden nutzbringend erhellt werden kann. Aber in diesem
Fall ist der hermeneutische Zirkel eher ein Teufelskreis: Was man aus
einem Werk herausbekommt, hängt weitgehend davon ab, was man
überhaupt hineintut, und da bleibt für irgendwelche tiefverankerten
›Herausforderungen‹ des Lesers wenig Raum. Iser scheint diesen Teu-
felskreis umgehen zu wollen, indem er die Fähigkeit der Literatur be-
tont, die Codes des Lesers zu durchbrechen und umzuwandeln; damit
wird aber bereits, wie ich dargelegt habe, stillschweigend ein bestimm-
ter Lesertyp angenommen, der durch das Lesen erst hervorgebracht
werden sollte. Die Geschlossenheit des Kreislaufs zwischen Leser/in
und Werk spiegelt die Geschlossenheit der akademischen Institution
›Literatur‹ wider, an die sich nur bestimmte Arten von Texten und
Leser zu wenden brauchen.
Hinter der scheinbaren Offenheit eines großen Teils der Rezepti-
onstheorie verbirgt sich heimlich das Dogma vom einheitlichen Selbst
und vom geschlossenen Text. Roman Ingarden geht in seinem Buch
Das literarische Kunstwerk (1931) dogmatisch davon aus, dass literari-
sche Werke organische Einheiten bilden, und das Ausfüllen ihrer ›Un-
bestimmtheitsstellen‹ durch den Leser/die Leserin hat den Sinn, diese
Harmonie zu vollenden. Der Leser muss die verschiedenen Segmente
und Schichten des Werkes auf ›richtige‹ Weise miteinander verbinden,
ziemlich in der Art jener Bilderbücher, die man den Anweisungen des
Herstellers entsprechend ausmalt. Für Ingarden kommt der Text mit
Unbestimmtheitsstellen fertig ausgestattet daher, und der Leser muss
ihn nun ›korrekt‹ konkretisieren. Das schränkt die Aktivität des Lesers
beträchtlich ein, reduziert ihn manchmal zu wenig mehr als einem li-
terarischen Handlanger, der herumwerkelt und die gelegentlichen Un-
bestimmtheitsstellen ausfüllt. Iser ist da ein viel liberalerer Arbeitgeber,
der dem Leser ein größeres Maß an Mitarbeit am Text zugesteht: Es
steht den verschiedenen Lesern frei, das Werk auf unterschiedliche
Weisen zu aktualisieren, und es gibt keine einzelne korrekte Interpre-
tation, die das semantische Potenzial des Textes erschöpfen könnte.
44 Phänomenologie, Hermeneutik, Rezeptionstheorie
für die ursprünglichen Leser von Homer, Dante und Spenser gelten?
Ist dies nicht vielmehr die typische Sichtweise eines modernen europä-
ischen Liberalen, für den ›Denksysteme‹ notwendigerweise eher nega-
tiv als positiv besetzt sind, und der deshalb eher nach der Art von
Kunst Ausschau hält, die diese zu unterminieren scheint? Hat nicht ein
Großteil der ›wertvollen‹ Literatur gerade die akzeptierten Codes ihrer
Zeit eher bestätigt als gestört? Die Macht der Kunst primär im Nega-
tiven festzumachen – der Übertretung und Verfremdung – beinhaltet
bei Iser wie bei den Formalisten eine entschiedene Haltung gegenüber
den sozialen und kulturellen Systemen der eigenen Epoche: Eine Hal-
tung, die sich im modernen Liberalismus dazu steigert, alle Denksys-
teme als solche für verdächtig zu halten. Dass er das tun kann, ist ein
beredtes Zeugnis für die Vergesslichkeit des Liberalismus in Bezug auf
ein ganz bestimmtes Denksystem: das, welches seine eigene Position
untermauert.
Um die Grenzen von Isers liberalem Humanismus zu erfassen, kön-
nen wir ihn kurz einem anderen Rezeptionstheoretiker, dem französi-
schen Kritiker Roland Barthes, gegenüberstellen. Barthes’ Ansatz in
Die Lust am Text (1973; dt. 1974) ist von dem Isers so verschieden, wie
man es sich überhaupt nur vorstellen kann – der Unterschied, stereo-
typ gesprochen, zwischen einem französischen Hedonisten und einem
deutschen Rationalisten. Während Iser sich auf realistische Werke
konzentriert, bietet Barthes eine völlig andere Beschreibung des Lese-
akts, indem er modernistische Texte aufgreift, die jede feste Bedeutung
in ein freies Spiel der Wörter auflösen, die repressive Denksysteme
durch ein endloses Gleiten und Treiben von Sprache zu zerstören ver-
suchen. Solche Texte verlangen weniger eine ›Hermeneutik‹ als eine
›Erotik‹: Da es unmöglich wird, sie auf eine bestimmte Bedeutung
festzulegen, schwelgt der Leser einfach im quälend-verlockenden Trei-
ben der Zeichen, im provozierenden Aufblitzen der Bedeutungen, die
nur an die Oberfläche kommen, um gleich wieder hinabzutauchen. In
diesem überschwänglichen Tanz der Sprache gefangen, sich an der Ma-
terialität der Wörter selbst ergötzend, kennt der Leser weniger die ab-
sichtsvolle Lust, die darin liegt, ein kohärentes System aufzubauen und
die einzelnen Textelemente geschickt zusammenzubinden, um ein ein-
heitliches Selbst aufzubauen, als vielmehr den masochistischen Reiz
des Gefühls, dass dieses Selbst zusammenbricht, durch das verschlun-
gene Gewebe des Textes selbst zerstreut wird. Lesen gehört weniger ins
Labor als ins Boudoir. Weit davon entfernt, den Leser/die Leserin in
einer letztendlichen Erneuerung des Selbst, das der Akt des Lesens in
Frage gestellt hatte, sich selbst zurückzugeben, sprengt der modernisti-
sche Text seine oder ihre festgefügte kulturelle Identität in einer jouis-
46 Phänomenologie, Hermeneutik, Rezeptionstheorie
sance (Wollust), die für Barthes sowohl die Glückseligkeit des Lesers
als auch den sexuellen Orgasmus bedeutet.
Wie wahrscheinlich bereits von allen vermutet, hat auch Barthes’
Theorie durchaus ihre Probleme. Dieser selbstgenießerische avantgar-
distische Hedonismus hat in einer Welt, in der andere nicht nur an
Büchern, sondern auch an Nahrung Mangel leiden, etwas Beunruhi-
gendes an sich. Wenn uns Iser ein streng ›normatives‹ Modell anbietet,
das das unbegrenzte Potenzial der Sprache zügelt, so präsentiert uns
Barthes eine private, asoziale, im Grunde anarchische Erfahrung, die
vielleicht nichts anderes als die Kehrseite von Isers Ansatz darstellt.
Beide Kritiker verraten ein liberales Unbehagen an systematischem
Denken: Auf unterschiedliche Weise ignorieren beide die Verankerung
des Lesers im historischen Prozess. Denn natürlich treffen Leser nicht
im Vakuum auf Texte: Alle Leser befinden sich in einer bestimmten
sozialen und historischen Lage, und wie sie literarische Werke inter-
pretieren, wird von dieser Tatsache stark beeinflusst. Iser ist sich der
sozialen Dimension des Lesens bewusst, zieht es aber vor, sich vorwie-
gend auf die ›ästhetischen‹ Aspekte zu konzentrieren; ein mehr histo-
risch ausgerichteter Vertreter der Konstanzer Schule ist Hans Robert
Jauß, der in Gadamer’scher Manier versucht, dem literarischen Werk
einen Platz innerhalb seines ›historischen‹ Horizonts zuzuweisen, im
Kontext der kulturellen Bedeutungen, innerhalb derer es entstand,
und dann die wechselnden Beziehungen zwischen diesem Horizont
und den sich ändernden ›Horizonten‹ seiner historischen Leser unter-
sucht. Das Ziel seiner Arbeit ist, eine neue Art von Literaturgeschichte
zu schreiben – eine, die nicht Autoren, Einflüsse und literarische
Trends in den Mittelpunkt stellt, sondern Literatur, wie sie durch die
verschiedenen Momente der historischen ›Rezeption‹ definiert und in-
terpretiert wird. Dabei bleiben die literarischen Werke keineswegs
konstant, während sich die Interpretationen ändern: Texte und litera-
rische Traditionen selbst werden entsprechend den verschiedenen his-
torischen ›Horizonten‹, innerhalb derer sie rezipiert werden, aktiv ver-
ändert.
Eine detaillierte historische Studie der literarischen Rezeption ist
Jean-Paul Sartres Was ist Literatur? (1948; dt. 1950). Sartres Buch
macht klar, dass die Rezeption eines Werks nie nur einfach ein ›äußer-
liches‹ Faktum, eine nebensächliche Angelegenheit von Rezensionen
und Verkaufszahlen darstellt. Sie ist eine konstitutive Dimension des
Werks selbst. Jeder literarische Text ist im Hinblick auf seine potenziel-
le Leserschaft geschrieben und schließt das Bild derjenigen mit ein, für
die er geschrieben wurde: Jedes Werk enthält in sich verschlüsselt das,
was Iser den ›impliziten Leser‹ nennt, gibt in jeder seiner Gesten zu
Phänomenologie, Hermeneutik, Rezeptionstheorie 47
wissen kann, ob das Licht im Kühlschrank aus ist, wenn die Tür zu ist.
Roman Ingarden bedenkt diese Schwierigkeit, kann aber keine ange-
messene Lösung vorlegen; Iser gesteht dem Leser ein beachtliches Maß
an Freiheit zu, aber so frei, den Text einfach nach Lust und Laune zu
interpretieren, sind wir nicht. Denn eine Interpretation muss diesen
und nicht irgendeinen anderen Text betreffen, sie muss in gewissem
Sinn vom Text selbst logisch erzwungen werden. Anders ausgedrückt
bestimmt der Text in gewissem Maße die Reaktion der Leser auf ihn;
andernfalls würde die Kritik in totale Anarchie verfallen. Bleak House
von Charles Dickens wäre nichts weiter als Millionen verschiedener, oft
widersprüchlicher Lesarten des Romans, und der ›Text an sich‹ würde
als eine Art rätselhaftes X herausfallen. Was wäre, wenn das literarische
Werk nicht eine feste Struktur darstellen würde, die gewisse Unbe-
stimmtheitsstellen enthielte, sondern wenn alles im Text unbestimmt,
abhängig von der Art und Weise wäre, wie der Leser oder die Leserin
ihn zu konstruieren gewillt ist? Mit welchem Recht könnten wir dann
noch von der Interpretation des ›selben‹ Werkes sprechen?
Nicht alle Rezeptionstheoretiker geraten hierdurch in Verlegenheit.
Der amerikanische Kritiker Stanley Fish hat keine Probleme, zu akzep-
tieren, dass es im Zweifelsfall kein ›objektives‹ literarisches Werk gibt,
das da auf dem Seminartisch liegt. Bleak House besteht einfach aus ei-
ner Sammlung aller Bearbeitungen des Romans, die es schon gibt oder
die es noch geben wird. Der wirkliche Autor ist der Leser: Unbefriedigt
von der bloßen Iser’schen Teilhaberschaft am literarischen Unterneh-
men, haben die Leser die Bosse nun gestürzt und sich selbst an die
Macht gebracht. Lesen dreht sich für Fish nicht um die Entdeckung
der Textbedeutung, sondern um einen Prozess der Erfahrung dessen,
was der Text mit einem macht. Fish hat einen pragmatischen Sprach-
begriff: Eine Inversion, zum Beispiel, erzeugt vielleicht ein Gefühl von
Überraschung oder Desorientierung in uns, und Kritik ist nicht mehr,
als der Bericht und ›die Analyse der sich an zeitlich aufeinanderfolgen-
den Wörtern auf der Seite entwickelnden Reaktionen des Lesers‹. Was
der Text mit uns ›macht‹, hängt eigentlich mehr davon ab, was wir mit
ihm machen, von unserer Interpretation; der Gegenstand der kriti-
schen Aufmerksamkeit ist die Struktur der Leseerfahrung, nicht ir-
gendeine ›objektive‹ Struktur, die im Werk selbst gefunden werden
kann. Alles im Text – seine Grammatik, seine Bedeutung, seine forma-
len Einheiten – ist ein Ergebnis der Interpretation, auf keinen Fall ›als
Faktum‹ gegeben; und das führt zu der hinterhältigen Frage, was Fish
eigentlich zu interpretieren glaubt, wenn er liest. Seine erfrischend of-
fene Antwort darauf ist, dass er es nicht weiß, dass er aber auch nicht
glaubt, dass irgendjemand anderes es weiß.
Phänomenologie, Hermeneutik, Rezeptionstheorie 49
In Wirklichkeit schützt sich Fish mit viel Umsicht vor der herme-
neutischen Anarchie, in die seine Theorie zu führen scheint. Um zu
vermeiden, dass sich der Text in tausende miteinander konkurrierende
Lesarten auflöst, appelliert er an bestimmte ›Interpretationsstrategien‹,
die die Leser gemeinsam haben und die ihre individuellen Reaktionen
bestimmen. Nicht jede beliebige Leserreaktion reicht aus: Die Leser,
um die es geht, sind ›informierte‹ oder ›erfahrene‹ Leser, die in den
akademischen Institutionen herangezogen wurden und deren Reaktio-
nen sich dadurch höchstwahrscheinlich keineswegs als zu weit vonein-
ander abweichend erweisen werden, um jegliche vernünftige Debatte
zu verhindern. Er beharrt jedoch darauf, dass nichts, überhaupt nichts
›im‹ Werk selber ist – dass die ganze Vorstellung davon, dass Bedeu-
tung irgendwie der Sprache des Textes ›immanent‹ sei und nur darauf
wartet, durch die Interpretation des Lesers herausgeholt zu werden,
eine objektivistische Illusion ist. Für ihn ist Iser dieser Illusion zum
Opfer gefallen.
Die Auseinandersetzung zwischen Fish und Iser ist bis zu einem
gewissen Grad ein Streit um Wörter. Fish hat durchaus recht mit seiner
Behauptung, dass nichts, weder in der Literatur noch in der Welt als
Ganzes, ›vorgegeben‹ oder ›festgelegt‹ ist, wenn damit ›uninterpretiert‹
gemeint ist. Es gibt keine ›nackten‹ Tatsachen, unabhängig von
menschlichen Bedeutungen; es gibt keine Tatsachen, von denen wir
nicht wissen. Aber dies ist nicht die notwendige oder auch nur übliche
Bedeutung von ›vorgegeben‹: Nur wenige Wissenschaftstheoretiker
würden heute bestreiten, dass das Datenmaterial im Laboratorium das
Ergebnis von Interpretationen ist, nur eben nicht im selben Sinne, wie
die Darwin’sche Evolutionstheorie eine Interpretation ist. Es gibt ei-
nen Unterschied zwischen wissenschaftlichen Hypothesen und wis-
senschaftlichem Datenmaterial, obwohl beide unbezweifelbar ›Inter-
pretationen‹ darstellen, und der unüberbrückbare Abgrund, den sich
ein Großteil der traditionellen Wissenschaftstheorie zwischen beiden
vorgestellt hat, ist sicherlich eine Illusion (vgl. Hesse 1980). Man kann
sagen, dass die Wahrnehmung von zehn schwarzen Zeichen als das
Wort ›Nachtigall‹ eine Interpretation ist, oder dass die Wahrnehmung
von etwas als schwarz, zehnfach oder als Wort eine Interpretation dar-
stellt, und man hätte recht damit; aber unter den meisten Umständen
hätte man Unrecht, wenn man die Zeichen als ›Nachtgespenst‹ lesen
würde. Eine Interpretation, der alle mehr oder weniger zustimmen
würden, ist eine Möglichkeit, eine Tatsache zu definieren. Es ist weni-
ger leicht zu zeigen, dass Interpretationen von Keats’ ›Ode an eine
Nachtigall‹ falsch sind. Interpretationen in diesem letzteren, weiteren
Sinn stoßen normalerweise auf etwas, was die Wissenschaftstheorie
50 Phänomenologie, Hermeneutik, Rezeptionstheorie
beliebt. Wenn ich das Wort ›Nachtigall‹ nicht lesen kann, ohne mir
vorzustellen, welche Wonne es wäre, sich aus der Großstadt in die
trostspendende Natur zurückzuziehen, dann hat das Wort für mich
oder über mich eine bestimmte Macht, die nicht weggezaubert wird,
wenn ich in einem Gedicht darauf stoße. Dies ist mitgemeint, wenn
man sagt, dass literarische Werke uns zu bestimmten Interpretationen
zwingen oder dass ihre Bedeutungen ihnen in einem gewissen Grad
›immanent‹ sind. Die Sprache ist ein Feld sozialer Kräfte, die uns bis in
unser Innerstes formen, und es ist eine akademische Verblendung, das
Werk als Spielfeld der unendlichen Möglichkeiten zu verstehen, das
ihr entkommt.
Nichtsdestotrotz ist das Interpretieren eines Gedichtes in einer
wichtigen Hinsicht freier als die Deutung eines Hinweisschildes in der
U-Bahn. Denn im letzteren Fall ist die Sprache Teil einer praktischen
Situation, die bestimmte Lesarten des Texts ausschließen und andere
legitimieren kann. Wie wir gesehen haben, ist dies keineswegs ein ab-
soluter Zwang, aber ein bedeutender. Im Fall der literarischen Werke
gibt es manchmal auch eine praktische Situation, die bestimmte Lesar-
ten ausschließt und andere fördert, eine, die als ›Lehren‹ bekannt ist.
Es sind die akademischen Institutionen mit ihrem Vorrat an gesell-
schaftlich legitimierten Lesarten, die als Zwang fungieren. Solche li-
zenzierten Lesarten sind selbstverständlich niemals ›natürlich‹ und
auch nicht nur einfach ›akademisch‹: Sie beziehen sich auf dominie-
rende Bewertungs- und Interpretationsweisen in einer Gesellschaft als
Ganzes. Diese sind auch dann wirksam, wenn ich im Zug einen Un-
terhaltungsroman lese, und nicht nur bei der Lektüre eines Gedichts
im Seminar an der Universität. Aber das Lesen eines Romans bleibt
vom Lesen eines Verkehrsschilds verschieden, weil der Leser oder die
Leserin nicht schon über einen fertigen Kontext verfügt, der die Spra-
che verständlich macht. Ein Roman, der mit dem Satz einsetzt: »Lok
rannte, so schnell er konnte«, fordert den Leser implizit auf: »Ich lade
dich ein, dir einen Kontext vorzustellen, in dem dieser Satz Sinn er-
gibt« (vgl. van Dijk 1972). Der Roman wird diesen Kontext allmäh-
lich erstellen, oder, wenn man das vorzieht, der Leser wird ihn für den
Roman konstruieren. Selbst hier ist das keine Sache vollkommener
interpretatorischer Freiheit: Wenn ich die deutsche Sprache benutze,
bestimmen die sozialen Verwendungsweisen von Wörtern wie ›rannte‹
meine Suche nach geeigneten Bedeutungskontexten. Aber ich werde
nicht so eingeengt, wie ich es bei dem Schild »Kein Ausgang« bin; und
dies ist ein Grund, weshalb es häufig grundlegende Meinungsverschie-
denheiten über die Bedeutung der Sprache gibt, die als ›literarisch‹
behandelt wird.
52 Phänomenologie, Hermeneutik, Rezeptionstheorie
leeres Blatt, auf das der Text seine eigenen Einschreibungen überträgt.
Die meisten von uns erkennen an, dass kein Leseakt unschuldig oder
voraussetzungslos ist. Aber nur wenige gehen der vollen Implikation
dieser Leserschuld nach. Ein Thema dieses Buches war bisher, dass es
so etwas wie eine rein ›literarische‹ Reaktion nicht gibt: Alle Reaktio-
nen, nicht zuletzt die auf die literarische Form, auf die Aspekte des
Werks, die manchmal eifersüchtig für das ›Ästhetische‹ reserviert wer-
den, werden von der sozialen und historischen Art von Individuen, die
wir sind, völlig überdeckt. In der bisherigen Darstellung verschiedener
Literaturtheorien habe ich zu zeigen versucht, dass es hier immer um
sehr viel mehr geht als nur um Ansichten über Literatur – was all diese
Theorien belebt und erhält, sind mehr oder weniger festgelegte Lesar-
ten der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Diese Interpretationen sind es,
die im echten Sinne schuldig sind, von Matthew Arnolds gönnerhaf-
ten Versuchen, die Arbeiterklasse zu befrieden, bis zum Nazismus eines
Heideggers. Mit der literarischen Institution zu brechen, heißt nicht
nur, eine neue Beckett-Interpretation anzubieten; es bedeutet mit ge-
nau der Art, wie die Literatur, die Literaturwissenschaft und die sie
tragenden sozialen Werte definiert werden, Schluss zu machen.
Das 20. Jahrhundert hatte in seiner literaturtheoretischen Rüstung
noch einen weiteren riesigen Nagel, mit dem das literarische Werk ein
für alle Mal festzumachen war. Dieser Nagel nannte sich Strukturalis-
mus, und er soll nun untersucht werden.
3. New Criticism, Strukturalismus
und Semiotik
Der amerikanische New Criticism stand von den späten 1930er Jahren
bis in die 50er Jahre in Blüte. Nach allgemeiner Ansicht umfasst der
New Criticism sowohl die Werke von T. S. Eliot, I. A. Richards und
vielleicht auch Q. D. und F. R. Leavis und William Empson als auch
die einer Anzahl führender amerikanischer Literaturkritiker, unter ih-
nen John Crowe Ransom, W. K. Wimsatt, Cleanth Brooks, Allen Tate,
Monroe Beardsley und R. P. Blackmur. Auffallenderweise hatte die
amerikanische Bewegung ihre Wurzeln im wirtschaftlich rückständi-
gen Süden – in der Region, in der Herkunft und Erziehung traditio-
nell eine besondere Rolle spielten, dort wo auch der junge T. S. Eliot
einen ersten Blick auf die ›organische‹ Gesellschaft erhascht hatte. In
der Ära des amerikanischen New Criticism durchlief der Süden eine
wirklich rasante Industrialisierung und wurde von den kapitalistischen
Monopolfirmen aus dem Norden überschwemmt; aber ›traditionelle‹
Intellektuelle des Südens wie z. B. John Crowe Ransom, der dem New
Criticism seinen Namen gab, konnten in ihm noch immer eine ݊sthe-
tische‹ Alternative zum sterilen wissenschaftlichen Rationalismus des
Nordens sehen. Wie T. S. Eliot durch die industrielle Invasion geistig
heimatlos geworden, fand Ransom in den 1920er Jahren zunächst in
der literarischen Bewegung der sogenannten ›Flüchtlinge‹ und in den
1930er Jahren in der rechten Politik der ›Agrarierbewegung‹ Zuflucht.
Die Ideologie des New Criticism begann sich herauszukristallisieren:
Es war der wissenschaftliche Rationalismus, der das ›ästhetische Leben‹
des alten Südens verwüstete und dem menschlichen Erleben seine
sinnliche Besonderheit raubte, und nur in der Literatur lag eine mög-
liche Lösung. Anders als die wissenschaftliche Bearbeitung respektierte
die poetische die sinnliche Ganzheit ihres Objektes: Sie war keine
Sache der rationalen Erkenntnis, sondern eine Gefühls-Angelegenheit,
die uns in eine im Grunde religiöse Verbindung mit dem ›Weltkörper‹
brachte. Durch die Kunst konnten wir eine uns entfremdete Welt in
all ihrer reichen Vielfalt wiederfinden. Als eine von ihrem Wesen her
kontemplative Daseinsform würde uns die Literatur nicht auf den
Gedanken bringen, die Welt zu verändern, sondern uns lehren, sie als
das zu ehren, was sie ist, und uns ihr mit unvoreingenommener Demut
zu nähern.
Mit anderen Worten war der New Criticism die Ideologie einer
New Criticism, Strukturalismus und Semiotik 55
sie die gesamte Literatur auf eine verdeckte Form von Autobiografie:
Wir lesen literarische Werke nicht als literarische Werke, sondern ein-
fach nur als Möglichkeit, jemanden sozusagen aus zweiter Hand ken-
nenzulernen. Weiterhin folgt aus einer solchen Ansicht, dass in litera-
rischen Werken tatsächlich der Geist eines Autors zum ›Ausdruck‹
kommt, was kein besonders hilfreicher Ansatz für die Diskussion von
Rotkäppchen oder bestimmter hochstilisierter höfischer Liebeslyrik zu
sein scheint. Und selbst wenn ich bei der Lektüre von Hamlet Zugang
zu Shakespeares Geist finde, was nützt dies, wenn der Text von Hamlet
das einzige ist, was mir von seinem Geist zugänglich ist? Warum kann
ich stattdessen nicht einfach sagen, ich lese Hamlet, da es außer dem
Stück selbst keine weiteren Belege für sein Denken gibt? Unterschied
sich das, was er im Sinne hatte, von dem, was er schrieb, und woher
sollen wir das wissen? Wusste er selbst, was er sagen wollte? Sind
Schriftsteller immer Herr über ihre Bedeutungen?
Der New Criticism brach kühn mit der Theorie der großen Geister
und insistierte darauf, dass die Absichten eines Autors/einer Autorin,
selbst wenn sie rekonstruiert werden könnten, für die Interpretation
seines oder ihres Texts irrelevant wären. Auch dürften die emotionalen
Reaktionen einzelner Leser/innen nicht mit der Bedeutung eines Ge-
dichts verwechselt werden: Das Gedicht bedeutete, was es bedeutete,
ungeachtet der Wirkungsabsichten des Autors oder der subjektiven
Gefühle, die der Leser daraus bezog (Wimsatt/Beardsley: »The Inten-
tional Fallacy« und »The Affective Fallacy«, in: The Verbal Icon, 1954).
Die Bedeutung war öffentlich und objektiv, der Sprache des literari-
schen Textes immanent und war keine Sache irgendeines mutmaßli-
chen geisterhaften Impulses im Kopf eines längst verstorbenen Autors
oder der willkürlichen, persönlichen Bedeutung, die ein Leser den
Worten zuschreiben mochte. Es sollte festgehalten werden, dass die
Haltung des New Criticism zu diesen Fragen eng mit seinem Bestre-
ben verbunden war, das Gedicht in ein autarkes Objekt, so solide und
fasslich wie eine Urne oder eine Ikone, zu verwandeln. Das Gedicht
wurde mehr zu einer räumlichen Gestalt als zu einem Vorgang in der
Zeit. Die Rettung des Textes von Autor und Leser ging Hand in Hand
mit seiner Loslösung aus dem sozialen oder historischen Kontext. Na-
türlich musste man wissen, was die Wörter des Gedichts für seine ur-
sprünglichen Leser bedeutet hätten, aber diese ziemlich technische Art
historischen Wissens war die einzig zulässige. Literatur war eine Lö-
sung für soziale Probleme und nicht ein Teil davon; das Gedicht muss-
te von den Trümmern der Geschichte befreit und in eine erhabene
Sphäre darüber erhoben werden.
Tatsächlich hat der New Criticism das Gedicht in einen Fetisch
New Criticism, Strukturalismus und Semiotik 57
duzieren. Der Rebell hatte sich in das Bild seines Herrn integriert und
wurde im Laufe der 1940er Jahre und 50er Jahre recht schnell vom
akademischen Establishment vereinnahmt. Es dauerte nicht lange,
und der New Criticism schien die natürlichste Sache der literaturkriti-
schen Welt; es war wirklich schwierig, sich vorzustellen, dass es jemals
etwas anderes gegeben haben könnte. Der lange Marsch von Nashville,
Tennessee, der Heimat der ›Flüchtlinge‹, zu den Prestige-Universitäten
der Ostküste war geschafft.
Es gab mindestens zwei gute Gründe, weshalb der New Criticism
in den akademischen Institutionen gut absorbiert wurde. Erstens stell-
te er eine bequeme pädagogische Methode dar, um mit der wachsen-
den Zahl von Studenten fertig zu werden. Ein kurzes Gedicht auszu-
teilen, um den Studenten die Augen zu öffnen, war weniger mühsam,
als ein Seminar zu den großen Romanen der Weltliteratur anzubieten.
Zweitens erwies sich die Auffassung des New Criticism von einem Ge-
dicht als einem empfindlichen Gleichgewicht zwischen einander wi-
dersprechenden Haltungen, als einer unparteiischen Versöhnung von
gegensätzlichen Kräften, für die skeptischen Intellektuellen als äußerst
attraktiv, die in den aufeinander prallenden Dogmen des Kalten Krie-
ges die Orientierung verloren hatten. Lyrik nach der Methode des
New Criticism zu lesen bedeutet, nicht Stellung nehmen zu müssen:
Die Lyrik lehrte absolute Unvoreingenommenheit, eine heitere, spe-
kulative, makellos unparteiische Zurückweisung von allem Speziellen
im Besonderen. Sie führte weniger zur Auflehnung gegen den McCar-
thyismus oder zum Eintreten für die Bürgerrechte als vielmehr dazu,
solche Spannungen als rein parteilich und ohne Zweifel durch ihr ent-
sprechendes Gegenteil irgendwo anders auf der Welt harmonisch aus-
gewogen zu erleben. Mit anderen Worten wurde er so zum Rezept für
politische Trägheit und damit für die Unterwerfung unter den politi-
schen Status quo. Natürlich gab es Grenzen für diesen gütigen Plura-
lismus: Mit den Worten von Cleanth Brooks war das Gedicht eine
»Vereinigung von Haltungen in einer Hierarchie, deren Ordnung von
einer übergeordneten Haltung bestimmt wurde« (The Well Wrought
Urn, S. 189). Pluralismus war vollkommen in Ordnung, solange er die
hierarchische Ordnung nicht störte; die verschiedenen Zufälligkeiten
in der Gedichtstruktur konnten genossen werden, solange sicherge-
stellt war, dass seine übergeordnete Struktur intakt blieb. Gegensätze
konnten toleriert werden, solange sie zu guter Letzt harmonisch ver-
eint werden konnten. Die Grenzen des New Criticism waren im We-
sentlichen die der liberalen Demokratie: Nach John Crowe Ransom
war das Gedicht »sozusagen wie ein demokratischer Staat, der den
Zweck eines Staates erfüllt, ohne die Persönlichkeit seiner Bürger zu
New Criticism, Strukturalismus und Semiotik 59
nehmen, indem sie diese Gesetze formulierte. Diese bestanden aus den
verschiedenen Formen, Archetypen, Mythen und Gattungen, welche
die Struktur aller literarischen Werke bildeten. Die gesamte Literatur
wurzelte in den vier ›Erzählkategorien‹: der komischen, der romanti-
schen, der tragischen und der ironischen, die man in ihrer jeweiligen
Entsprechung zu den vier mythoi von Frühling, Sommer, Herbst und
Winter sehen konnte. Auf diese Weise wurde es möglich, eine Theorie
der literarischen Form zu entwerfen, wobei der Held im Mythos durch
seine Art, in der Romanze durch seinen Rang über anderen steht, in
den gehobenen Formen Tragödie und Epos andere, nicht aber seine
Umgebung vom Rang her überragt, in den »niederen« Formen Komö-
die und Realismus uns allen gleichgestellt ist und in Satire und Ironie
schließlich unter uns steht. Tragödie und Komödie können in hohe,
niedere und ironische untergliedert werden; die Tragödie handelt von
der menschlichen Isolation, die Komödie von der menschlichen Inte-
gration. Drei wiederkehrende Muster der Symbolik werden deutlich:
das apokalyptische, das dämonische und das der Analogie. Das ganze
System kann dann als zyklische Theorie der Literaturgeschichte in Be-
wegung gesetzt werden: Die Literatur bewegt sich vom Mythos zur
Ironie, um dann zum Mythos zurückzukehren, und 1957 befanden
wie uns offensichtlich irgendwo in einer ironischen Phase mit deutli-
chen Anzeichen einer unmittelbar bevorstehenden Rückkehr zur my-
thischen.
Um sein literarisches System, das hier vielleicht etwas grob wieder-
gegeben wurde, zu etablieren, musste Frye zuallererst die Werturteile
beiseite räumen, die ja ohnehin nur subjektives Geschwafel sind.
Wenn wir Literatur analysieren, sprechen wir von Literatur; wenn wir
Literatur bewerten, sprechen wir von uns selbst. Ferner musste das
System sämtliche Geschichte außer der eigentlichen Literaturgeschich-
te verbannen: Literarische Werke entstehen aus anderen literarischen
Werken und nicht aus irgendwelchem anderen Material außerhalb des
literarischen Systems. Der Vorteil von Fryes Theorie besteht somit da-
rin, dass die Literatur ganz im Sinne des New Criticism von Geschich-
te unbefleckt bleibt, da sie als geschlossenes ökologisches Recycling
von Texten gesehen wird; aber anders als der New Criticism findet sie
in der Literatur eine Ersatz-Geschichte, weltumfassend und kollekti-
ven Strukturen unterworfen wie die Geschichte selbst. Die Formen
und Mythen der Literatur sind geschichtsüberschreitend und lassen
damit die Geschichte in immer Gleiches oder in eine Serie sich wieder-
holender Variationen derselben Themen zusammenfallen. Damit das
System überleben kann, muss es rigoros geschlossen bleiben: Nichts
darf von außen eindringen, da sonst seine Kategorien in Unordnung
64 New Criticism, Strukturalismus und Semiotik
fach, vermengt das Ganze aber mit der romantischsten aller Sehnsüch-
te. In einer Hinsicht ist er verächtlich »anti-humanistisch«, indem er
das individuelle menschliche Subjekt an den Rand drängt und das
kollektive literarische System in den Mittelpunkt stellt; andererseits
aber handelt es sich um das Werk eines engagierten Christen und Hu-
manisten (Frye ist Geistlicher), für den die Dynamik, die Literatur
und Gesellschaft in Bewegung hält – das menschliche Begehren –,
letztlich nur im Reich Gottes seine Erfüllung finden wird.
Wie einige andere Literaturkritiker, von denen bereits die Rede war,
bietet Frye die Literatur als eine Art Ersatzreligion an. Die Literatur
wird zu einem wichtigen Linderungsmittel für das Versagen der religi-
ösen Ideologie und versorgt uns mit den verschiedensten Mythen, die
wir im gesellschaftlichen Leben brauchen. In The Critical Path (1971)
stellt Frye die konservativen »Mythen der Beteiligung« den liberalen
»Mythen der Freiheit« gegenüber und fordert die Herstellung eines
Gleichgewichts zwischen den beiden: Die autoritären Tendenzen des
Konservativismus müssen durch die Mythen der Freiheit ausgeglichen
werden, während ein konservativer Ordnungssinn die Tendenz des Li-
beralismus zu sozialer Verantwortungslosigkeit mildern muss. Worauf
das mächtige mythologische System von Homer bis zum Reich Gottes
schließlich hinausläuft, ist, kurz gesagt, eine Position irgendwo zwi-
schen liberalem Republikaner und konservativem Demokraten. Der
einzige Irrtum, so teilte Frye uns mit, ist der des Revolutionärs, der die
Mythen der Freiheit naiv als historisch erreichbare Ziele fehlinterpre-
tiert. Der Revolutionär ist einfach nur ein schlechter Kritiker, der den
Mythos für die Wirklichkeit hält, so wie etwa ein Kind eine Schauspie-
lerin für eine echte Märchenprinzessin halten mag. Es ist bemerkens-
wert, dass die Literatur, wie sehr sie auch von allen niederen Sorgen des
Alltags entfernt ist, uns am Ende doch mehr oder weniger sagen kann,
wie wir wählen sollen. Frye steht in der liberalen humanistischen Tra-
dition Matthew Arnolds (1822 – 1888) und wünscht sich, wie er sagt,
»eine klassenlose, freie und gebildete Gesellschaft«. Was er, wie vor ihm
Arnold, mit »klassenlos« meint, läuft auf eine Gesellschaft hinaus, die
seinen eigenen Mittelklasse-Werten umfassend zustimmt.
Fryes Werk könnte als »strukturalistisch« im weitesten Sinne be-
zeichnet werden, und bezeichnenderweise entstand es zur gleichen
Zeit, zu der sich in Europa der »klassische« Strukturalismus ausbreite-
te. Wie schon der Name andeutet, befasst sich der Strukturalismus mit
Strukturen, genauer mit der Untersuchung der allgemeinen Gesetze,
denen sie folgen. Wie Frye neigt er dazu, individuelle Phänomene auf
bloße Beispielfälle für diese Gesetze zu reduzieren. Aber der eigentliche
Strukturalismus enthält eine für ihn kennzeichnende Doktrin, die bei
66 New Criticism, Strukturalismus und Semiotik
Frye nicht zu finden ist: die Überzeugung, dass die individuellen Ein-
heiten eines Systems ihre Bedeutung nur kraft ihrer Relationen zuein-
ander gewinnen. Dies ist keine Folge der einfachen Überzeugung, dass
man die Dinge »strukturell« betrachten muss. Man kann ein Gedicht
als »Struktur« untersuchen und dabei trotzdem jedes seiner Elemente
als etwas behandeln, was auch für sich genommen mehr oder minder
bedeutungsvoll ist. Vielleicht enthält das Gedicht eine bildliche Dar-
stellung der Sonne und des Mondes, und man hätte Interesse daran,
herauszufinden, wie diese beiden Bilder zusammenwirken, um eine
Struktur zu erzeugen. Den Mitgliedsausweis des Strukturalismus be-
kommt man indessen erst, wenn man behauptet, dass die Bedeutung
des einzelnen Bildes vollkommen von seiner Relation zum jeweils an-
deren abhängig ist. Die Bilder haben keine »eigentliche« Bedeutung,
sondern eine »relationale«. Man braucht den Rahmen des Gedichtes
nicht zu verlassen und auf sein Wissen über Sonnen und Monde zu-
rückzugreifen; die Bilder erklären und definieren sich gegenseitig.
Ich will versuchen, dies an einem einfachen Beispiel zu verdeutli-
chen. Nehmen wir an, wir hätten eine Geschichte zu analysieren, in
der ein Junge nach einem Streit mit dem Vater sein Zuhause verlässt,
sich in der Mittagshitze auf den Weg in den Wald macht und in eine
tiefe Grube fällt. Der Vater sucht nach seinem Sohn, sieht auch in der
Grube nach, kann ihn aber wegen der Dunkelheit nicht sehen. In die-
sem Augenblick ist die Sonne an einem Punkt genau über den beiden
angelangt, scheint mit ihren Strahlen bis auf den Grund der Grube
und macht es dem Vater so möglich, sein Kind zu retten. Nach einer
glücklichen Versöhnung kehren die beiden zusammen nach Hause zu-
rück.
Dies ist vielleicht keine besonders fesselnde Erzählung, aber sie hat
den Vorteil, einfach zu sein. Es ist klar, dass sie auf alle möglichen Ar-
ten interpretiert werden könnte. Ein psychoanalytischer Literaturkriti-
ker könnte deutliche Hinweise auf den Ödipus-Komplex darin finden
und aufzeigen, dass der Sturz in die Grube eine Strafe ist, die sich das
Kind wegen des Bruchs mit dem Vater unbewusst wünscht, vielleicht
eine Art symbolischer Kastration, oder aber eine symbolische Rück-
kehr in den Mutterschoß. Ein humanistischer Kritiker könnte sie als
eine eindringliche Dramatisierung der Schwierigkeiten lesen, die im-
plizit in allen menschlichen Beziehungen enthalten sind. Wieder ein
anderer Kritiker könnte sie für ein erweitertes, ziemlich sinnloses
Wortspiel mit den Wörtern ›Sohn‹/›Sonne‹ halten. Ein Strukturalist
würde indessen die Geschichte in einem Diagramm schematisieren.
Die erste bedeutungstragende Sequenz, ›Junge streitet mit Vater‹,
könnte in ›unten rebelliert gegen oben‹ übersetzt werden. Der Weg des
New Criticism, Strukturalismus und Semiotik 67
Jungen durch den Wald stellt eine Bewegung auf der horizontalen
Achse dar und könnte als ›Mitte‹ etikettiert werden. Der Sturz in die
Grube, die sich ja unter der Oberfläche befindet, bedeutet wiederum
›unten‹, und der Stand der Sonne im Zenit ›oben‹. Indem sie in der
Grube scheint, hat sich die Sonne in einem gewissen Sinne nach ›un-
ten‹ hinabbegeben und damit die erste Sequenz der Erzählung umge-
kehrt, in der sich ›unten‹ gegen ›oben‹ erhoben hat. Die Versöhnung
zwischen Vater und Sohn stellt das Gleichgewicht zwischen ›unten‹
und ›oben‹ wieder her, und der gemeinsame Weg nach Hause, der
abermals ›Mitte‹ bedeutet, kennzeichnet dieses Erreichen eines akzep-
tablen Mittelzustandes. Mit stolzgeschwellter Brust ordnet der Struk-
turalist seine Lineale neu und greift nach der nächsten Geschichte.
Das Bemerkenswerte an dieser Art von Analyse ist, dass sie wie der
Formalismus den eigentlichen Inhalt der Geschichte ausklammert und
sich völlig auf die Form konzentriert. Man könnte Vater und Sohn,
Sonne und Grube durch völlig andere Elemente ersetzen – Mutter und
Tochter, Vogel und Maulwurf – und hätte immer noch dieselbe Ge-
schichte vor sich. Solange die Struktur der Beziehungen zwischen den
Einheiten erhalten bleibt, spielt es keine Rolle, welche einzelnen Ele-
mente man einsetzt. Dies trifft für die psychoanalytische oder die hu-
manistische Lesart des Textes nicht zu, die davon abhängen, dass alle
diese Elemente eine intrinsische Bedeutung haben, für deren Verständ-
nis wir bei unserem Wissen um die Welt außerhalb des Textes Zuflucht
nehmen müssen. Natürlich ist die Sonne in einem bestimmten Sinne
in jedem Fall oben und die Grube unten, und in dieser Hinsicht spielt
der jeweils gewählte ›Inhalt‹ durchaus eine Rolle; aber wenn wir eine
Erzählstruktur nehmen, die einen ›Vermittler‹ zwischen zwei Einhei-
ten erfordert, so kann diese Funktion von allem möglichen, vom Heu-
schreck bis zum Wasserfall, erfüllt werden.
Die Beziehungen zwischen den verschiedenen Einheiten können
die des Parallelismus, der Opposition, der Inversion, der Äquivalenz
etc. sein; solange die Struktur der inneren Beziehungen erhalten bleibt,
sind die einzelnen Einheiten austauschbar. Noch drei weitere Anmer-
kungen können zu dieser Methode gemacht werden. Zum einen spielt
es für den Strukturalismus keine Rolle, dass diese Geschichte wohl
kaum ein Beispiel für große Literatur darstellt. Die Methode bleibt
dem kulturellen Wert ihres Objektes gegenüber völlig gleichgültig:
Von Krieg und Frieden bis zum Krieg der Sterne ist ihr alles recht; sie ist
analytisch und nicht wertend. Zum zweiten stellt der Strukturalismus
einen kalkulierten Angriff auf den sogenannten gesunden Menschen-
verstand dar. Er weist die ›offensichtliche‹ Bedeutung einer Geschichte
zurück und versucht stattdessen, gewisse ›Tiefenstrukturen‹ herauszu-
68 New Criticism, Strukturalismus und Semiotik
mit der aktuellen Rede – er nennt sie parole – befassen wollte. Sein
Interesse war nicht, zu untersuchen, was die Menschen tatsächlich sa-
gen; er beschäftigte sich mit der objektiven Struktur der Zeichen, die
ihre Rede überhaupt erst möglich machte und die er langue nannte.
Auch befasste sich Saussure nicht mit den realen Objekten, über die
die Menschen sprechen: Um die Sprache erfolgreich untersuchen zu
können, müssen die Referenten der Zeichen, also die Sachen, auf die
sie sich jeweils beziehen, ausgeklammert werden.
Strukturalismus im weiteren Sinne stellt einen Versuch dar, diese
linguistische Theorie auf Objekte und Tätigkeiten außerhalb der ei-
gentlichen Sprache zu übertragen. Man kann einen Mythos, einen
Ringkampf, das Verwandtschaftssystem eines Stammes, eine Speise-
karte oder auch ein Ölgemälde als ein System von Zeichen auffassen,
und eine strukturalistische Analyse wird versuchen, die zugrundelie-
gende Serie von Gesetzmäßigkeiten herauszuarbeiten, nach denen sich
diese Zeichen zu Bedeutungen zusammenfügen. Sie wird das, was
durch die Zeichen eigentlich ›ausgesagt‹ wird, weitgehend außer Acht
lassen, und sich stattdessen auf die innere Beziehung der Zeichen zuei-
nander konzentrieren. Strukturalismus ist, wie Fredric Jameson es aus-
gedrückt hat, ein Versuch, »alles unter linguistischen Gesichtspunkten
noch einmal neu zu durchdenken« (The Prison-House of Language,
S. vii). Er ist ein Symptom für die Tatsache, dass die Sprache mit ihren
Problemen, Geheimnissen und Implikationen sowohl zum Paradigma
als auch zur Obsession des intellektuellen Lebens im 20. Jahrhundert
geworden ist.
Saussures linguistische Sichtweise beeinflusste den russischen For-
malismus, obgleich der Formalismus selber nicht wirklich ein Struktu-
ralismus ist. Zwar sieht er literarische Texte ›strukturell‹ und stellt die
Berücksichtigung des Referenten zugunsten der Untersuchung des
Zeichens selbst zurück, aber er hat kein besonderes Interesse an der
Bedeutung als Ergebnis von Verschiedenheiten und in den meisten
seiner Werke auch nicht an den ›Tiefen‹-Gesetzen und -Strukturen,
die literarischen Texten zugrunde liegen. Dennoch war es einer der
russischen Formalisten – der Linguist Roman Jakobson –, der die
wichtigsten Verbindungen zwischen dem Formalismus und dem zeit-
genössischen Strukturalismus herstellte. Jakobson stand an der Spitze
des Moskauer Linguistischen Kreises, einer 1915 gegründeten Gruppe
von Formalisten. 1920 siedelte er nach Prag über, wo er zu einem der
Haupttheoretiker des tschechischen Strukturalismus wurde. Der Pra-
ger Linguistische Kreis wurde 1926 gegründet und bestand bis zum
Ausbruch des Zweiten Weltkrieges. Später emigrierte Jakobson aber-
mals, diesmal in die Vereinigten Staaten, wo er während des Zweiten
70 New Criticism, Strukturalismus und Semiotik
gen und Oppositionen beinhaltet, und von denen jedes ständig alle
anderen modifiziert. Tatsächlich kann ein Gedicht nie gelesen, son-
dern nur wieder-gelesen werden, da einige seiner Strukturen nur im
Rückblick wahrgenommen werden können. Die Lyrik aktiviert die
gesamte Kraft des Bezeichnenden, zwingt das Wort unter dem hohen
Druck der umgebenden Wörter zu äußerster Anstrengung und zu-
gleich dazu, sein gesamtes Potenzial zu entfalten. Was auch immer es
ist, was wir im Text wahrnehmen, wir nehmen es nur durch Kontrast
und Verschiedenheit wahr: Ein Element, das keine Verschiedenheits-
beziehungen zu einem anderen besäße, bliebe unsichtbar. Sogar die
Abwesenheit bestimmter Merkmale kann eine Bedeutung herstellen:
Wenn die Codes, die das Werk schafft, bei uns die Erwartung eines
Rhythmus oder eines Happy-Ends hervorrufen, das dann nicht ein-
tritt, so kann dieses ›Minusverfahren‹, wie Lotman es nennt, eine
ebenso wirksame Bedeutungseinheit sein wie jede andere. Tatsächlich
weckt und enttäuscht das literarische Werk in einem komplexen
Wechselspiel von Regel und Zufall, Normen und Abweichungen,
Schablonen und Verfremdungen immer wieder unsere Erwartungen.
Trotz dieses einzigartigen verbalen Reichtums ist Lotman nicht der
Ansicht, dass Poesie oder Literatur anhand ihrer inhärenten sprachli-
chen Eigenschaften interpretiert werden könnten. Die Bedeutung eines
Textes ist nicht einfach eine textimmanente Angelegenheit, sondern sie
ist zugleich Bestandteil der Beziehung des Textes zu umfassenderen Be-
deutungssystemen, zu anderen Texten, Codes oder Normen in der Li-
teratur wie in der Gesellschaft als Gesamtheit. Auch steht seine Bedeu-
tung im Verhältnis zum ›Erwartungshorizont‹ des Lesers: Lotman hat
die Lehren der Rezeptionstheorie sehr wohl beherzigt. Die Leser/innen
sind es, die mittels bestimmter ›Rezeptionscodes‹, die ihnen zur Verfü-
gung stehen, ein Element im Werk als ›Verfahren‹ identifizieren; das
Verfahren ist nicht einfach ein interner Wesenszug, sondern einer, der
durch einen speziellen Code und auf einem gegebenen Texthintergrund
wahrgenommen wird. Was für den einen ein poetisches Verfahren ist,
mag für den anderen alltäglicher Sprachgebrauch sein.
Aus all dem wird deutlich, dass die Literaturwissenschaft seit jenen
Tagen, da wenig mehr von uns verlangt wurde, als vor der Schönheit
der Bildersprache zu erbeben, einen weiten Weg zurückgelegt hat. Tat-
sächlich repräsentiert die Semiotik eine Literaturkritik, die durch die
strukturelle Linguistik umgeformt und in ein genaueres und weniger
impressionistisches Unterfangen verwandelt wurde, das, wie Lotmans
Werk bezeugt, für den Reichtum von Form und Sprache eher mehr
denn weniger empfänglich ist als die meisten traditionellen Formen
der Literaturwissenschaft. Aber wenn der Strukturalismus die Analyse
76 New Criticism, Strukturalismus und Semiotik
der Lyrik verändert hat, so hat er auch die Analyse der erzählenden
Gattung revolutioniert. Tatsächlich hat er eine ganz neue literaturwis-
senschaftliche Disziplin – die Narratologie – geschaffen, deren ein-
flussreichste Vertreter der Litauer A. J. Greimas, der Bulgare Tzvetan
Todorov und die französischen Literaturwissenschaftler Gérard Genet-
te, Claude Bremond und Roland Barthes sind. Die moderne struktu-
ralistische Analyse der Erzählung nahm mit den mythologischen Pio-
nierarbeiten des französischen strukturalistischen Anthropologen
Claude Lévi-Strauss ihren Anfang, der scheinbar verschiedene Mythen
als Variationen einer Anzahl grundlegender Themen ansah. Unter der
Oberfläche der immensen Heterogenität der Mythen gibt es für ihn
bestimmte universelle Strukturen, auf die jeder einzelne Mythos zu-
rückgeführt werden kann. Mythen sind eine Art Sprache; sie können
in einzelne Einheiten (›Mytheme‹) aufgelöst werden, die ähnlich den
grundlegenden lautlichen Einheiten der Sprache (›Phoneme‹) nur
dann eine Bedeutung annehmen, wenn sie in bestimmter Weise mitei-
nander kombiniert werden. Die Regeln, nach denen solche Kombina-
tionen erfolgen, können dann als eine Art Grammatik angesehen wer-
den, als ein Beziehungssystem unter der Oberfläche der Erzählung, das
die eigentliche ›Bedeutung‹ des Mythos hervorbringt. Diese Relatio-
nen sind für Lévi-Strauss dem menschlichen Denken selbst inhärent,
so dass die Untersuchung eines konkreten Mythos weniger einem
Blick auf seinen erzählerischen Gehalt als vielmehr auf die universellen
Operationen gleichkommt, durch die er strukturiert wird. Um diese
mentalen Operationen, also etwa die Erstellung binärer Oppositionen,
geht es im Grunde im Mythos: Die Mythen bilden Denkmuster, Wege
zur Klassifikation und Organisation der Wirklichkeit; dies, und nicht
so sehr die Nacherzählung einer bestimmten Geschichte, ist ihr Zweck.
Nach Lévi-Strauss kann dasselbe von totemischen und Verwandt-
schafts-Beziehungen gesagt werden, die nicht so sehr soziale und reli-
giöse Institutionen als vielmehr kommunikative Netze darstellen,
Codes, welche die Übermittlung von ›Botschaften‹ ermöglichen. Der
Geist, der all dies denkt, ist nicht der des individuellen Subjekts: My-
then denken sich selbst, durch die Menschen, und nicht umgekehrt.
Sie haben ihren Ursprung nicht in einem bestimmten einzelnen Be-
wusstsein, und sie haben auch kein bestimmtes Ziel. Eines der Ergeb-
nisse des Strukturalismus ist damit die ›Dezentrierung‹ des individuel-
len Subjekts, das nicht länger als Quelle und Endpunkt der Bedeutung
angesehen werden kann. Die Existenz der Mythen ist quasi-objektiv
und kollektiv, sie entfalten ihre ›konkrete Logik‹ unter äußerster Miss-
achtung der Launen des individuellen Denkens und reduzieren das
individuelle Bewusstsein zu einer bloßen Funktion ihrer selbst.
New Criticism, Strukturalismus und Semiotik 77
das ›Ich‹, das die Geschichte erzählt, in einer Hinsicht mit dem ›Ich‹
identisch, das ich beschreibe, während es in anderer Hinsicht von ihm
verschieden ist. Wir werden noch sehen, welche interessanten Implika-
tionen dieses Paradoxon über die eigentliche Literatur hinaus hat.
Welches sind die Errungenschaften des Strukturalismus? Zunächst
stellt er eine unbarmherzige Entmystifizierung der Literatur dar. Nach
Greimas und Genette ist es schwieriger, die Degen in Zeile drei klirren
zu hören oder nach der Lektüre von T. S. Eliots The Hollow Man das
Gefühl zu haben, dass man jetzt genau wisse, wie man sich als Vogel-
scheuche fühlt. Das vage subjektive Geplauder wurde durch eine Lite-
raturkritik zu größerer Strenge und Klarheit geführt, die erkannte, dass
das literarische Werk wie jedes andere sprachliche Produkt ein Kon-
strukt ist, dessen Mechanismen wie die Gegenstände jeder anderen
Wissenschaftsrichtung analysiert und klassifiziert werden können. Das
romantische Vorurteil, dass ein Gedicht gleich einer Person ein leben-
diges Wesen beherberge, eine Seele, die man schon aus Gründen der
Höflichkeit nicht zu behelligen habe, wurde unsanft als ein Stück ver-
steckter Theologie, als eine abergläubische Furcht vor vernunftbe-
stimmten Untersuchungen entlarvt, die aus der Literatur einen Fetisch
machte und nur die Autorität einer ›von Natur aus‹ feinfühligen Elite
von Kritikern festschrieb. Darüber hinaus stellte die strukturalistische
Methode implizit den Anspruch der Literatur in Frage, eine einzigarti-
ge Diskursform zu sein: Da Tiefenstrukturen sowohl bei Simmel als
auch bei Hölderlin ausgegraben werden konnten, und zwar zweifellos
dieselben, war es nicht mehr so einfach, der Literatur einen schon on-
tologisch privilegierten Status zuzuschreiben. Mit dem Aufkommen
des Strukturalismus schien die Welt der großen Ästheten und huma-
nistischen Literaturgelehrten im Europa des 20. Jahrhunderts – die
Welt eines Croce, Curtius, Auerbach, Spitzer und Wellek – zu einer
Welt zu werden, deren Zeit abgelaufen war. Diese Männer mit ihrer
herausragenden Gelehrsamkeit, ihrer schöpferischen Einsicht und ih-
ren Anspielungen kosmopolitischen Umfangs wurden aus historischer
Sicht plötzlich zu Koryphäen eines hohen europäischen Humanismus,
der dem Aufruhr und der Feuersbrunst in der Mitte des 20. Jahrhun-
derts vorausging. Es schien klar, dass eine so reiche Kultur nicht neu
erdacht werden konnte – dass es nur die Wahl gab, entweder davon zu
lernen und weiter fortzuschreiten oder aber sich voller Nostalgie an
ihre Überreste in unserer Zeit zu klammern und dabei die ›moderne
Welt‹ anzuprangern, in der das Taschenbuch den Untergang der hohen
Kultur bedeutet und in der es keine Hausangestellten mehr gibt, die
den Eingang gegen Eindringlinge abschirmen, während man sich zum
Lesen zurückzieht.
80 New Criticism, Strukturalismus und Semiotik
duums, seinem klinischen Zugriff auf die Mysterien der Literatur und
seiner klaren Unvereinbarkeit mit dem sogenannten gesunden Men-
schenverstand beim literarischen Establishment auf heftigste Ableh-
nung. Die Tatsache, dass der Strukturalismus gegen den gesunden
Menschenverstand verstößt, spricht eigentlich von Anfang an zu sei-
nen Gunsten. Der gesunde Menschenverstand geht davon aus, dass
Dinge im Allgemeinen nur eine Bedeutung haben und dass diese Be-
deutung gewöhnlich offensichtlich ist, direkt von den Objekten ables-
bar, denen wir begegnen. Die Welt ist im Großen und Ganzen so, wie
wir sie wahrnehmen, und unsere Art der Wahrnehmung ist eine natür-
liche, selbstverständliche. Wir wissen, dass die Sonne sich um die Erde
bewegt, weil wir sie schließlich dabei beobachten können. Zu verschie-
denen Zeiten war es ein Gebot des gesunden Menschenverstandes,
Hexen zu verbrennen, Pferdediebe zu hängen und Juden aus Angst vor
Ansteckung mit tödlichen Krankheiten aus dem Weg zu gehen; aber
diese Feststellung selbst gehört nicht zum gesunden Menschenver-
stand, da dieser sich für historisch unveränderlich hält. Denker, die
einwandten, dass die scheinbar offensichtliche Bedeutung nicht not-
wendigerweise die wahre sein muss, zogen sich gewöhnlich den Zorn
ihrer Mitmenschen zu: Auf Kopernikus folgte Marx, der behauptete,
dass sich der wahre Sinn sozialer Prozesse ›hinter dem Rücken‹ des
handelnden Individuums vollziehe, und nach Marx behauptete Freud,
dass die wahren Bedeutungen unserer Worte und Handlungen dem
Bewusstsein nicht zugänglich seien. Der Strukturalismus ist ein mo-
derner Erbe dieser Überzeugung, dass die Wirklichkeit und unsere
Wahrnehmung von ihr nicht direkt miteinander zusammenhängen;
solchermaßen bedroht er die ideologische Sicherheit derer, die sich ei-
ne Kontrolle über die Welt wünschen, eine Welt, die ihre eindeutige
Bedeutung offen zeigt und sie ihnen im makellosen Spiegel ihrer Spra-
che überlässt. Er untergräbt den Empirizismus der literarischen Hu-
manisten – den Glauben, dass das am meisten ›Reale‹ das Erfahrene ist
und dass die Heimat dieser reichen, tiefgründigen, umfassenden Er-
fahrung die Literatur selbst ist. Wie schon Freud enthüllt er die scho-
ckierende Wahrheit, dass sogar noch unsere intimsten Erfahrungen
das Ergebnis einer Struktur sind.
Ich habe gesagt, dass der Strukturalismus den Keim einer sozialen
und historischen Theorie der Bedeutung in sich trug; aber dieser Keim
blieb, alles in allem, unfruchtbar. Zwar konnten die Zeichensysteme,
die das Leben des Individuums bestimmten, als kulturelle Variablen
angesehen werden; die Tiefengesetze, die das Funktionieren dieser Sys-
teme steuerten, hingegen nicht. Für die ›härtesten‹ Formen des Struk-
turalismus waren sie nämlich universell; sie waren in ein kollektives
82 New Criticism, Strukturalismus und Semiotik
Denken eingebettet, das weit über die Grenzen der einzelnen Kultur
hinausging und von dem Lévi-Strauss vermutete, dass es seine Wurzeln
in der Struktur des menschlichen Gehirns selbst habe. Mit einem
Wort, der Strukturalismus war haarsträubend ahistorisch: Die Gesetze
des Denkens, die herauszuarbeiten er in Anspruch nahm – Parallelis-
men, Oppositionen, Inversionen und alles Übrige – bewegten sich auf
einer Ebene der Allgemeingültigkeit, die von den konkreten Verschie-
denheiten der Geschichte der Menschheit völlig abgehoben war. Von
dieser olympischen Höhe aus betrachtet, sah alles Denken ziemlich
gleich aus. Nachdem er die Regelsysteme an der Basis eines literari-
schen Textes charakterisiert hatte, blieb dem Strukturalisten nur noch,
sich zurückzulehnen und zu überlegen, was er wohl als nächstes tun
könnte. Die Frage nach der Beziehung des Werkes zu der in ihm be-
schriebenen Wirklichkeit, zu seinen Entstehungsbedingungen oder zu
den realen Lesern, die sich damit beschäftigten, stellte sich nicht, da
solche Realitäten bei der Begründung des Strukturalismus ja gerade
ausgeklammert worden waren. Um das Wesen der Sprache zu enthül-
len, musste Saussure, wie wir gesehen haben, ja zuallererst unterdrü-
cken oder vergessen, wovon in ihr die Rede war: Der Referent oder das
reale, vom Zeichen denotierte Objekt wurde einstweilen seiner Stel-
lung enthoben, um so die Struktur des Zeichens selbst besser untersu-
chen zu können. Es ist bemerkenswert, wie sehr dieses Vorgehen dem-
jenigen Husserls gleicht, der das reale Objekt ausklammert, um so ei-
nen besseren Zugriff auf die Art, wie es vom menschlichen Geist erfah-
ren wird, zu erlangen. Strukturalismus und Phänomenologie, so sehr
sie sich auch in zentralen Punkten unterscheiden, wurzeln beide in
dem ironischen Akt, die reale Welt auszuschließen, um so unser Be-
wusstsein von ihr umso deutlicher erhellen zum können. Für jeden,
der davon überzeugt ist, dass Bewusstsein in einem wichtigen Sinne
praktisch ist, untrennbar mit unserer Art des Handelns und damit der
Realität verbunden, führt eine solche Vorgehensweise notwendiger-
weise zur Selbstzerstörung, etwa so, als töte man einen Menschen, um
den Blutkreislauf besser untersuchen zu können.
Aber es ging nicht nur darum, etwas so allgemeines wie ›die Welt‹
auszugrenzen: Es ging um die Frage, wie man in einer bestimmten Art
von Welt, in der Gewissheit schwer zu erreichen schien, einen Anhalts-
punkt für Gewissheit finden konnte. Die Vorlesungen, aus denen Fer-
dinand de Saussures Grundfragen der Allgemeinen Sprachwissenschaft
bestehen, wurden zwischen 1907 und 1911 im Herzen Europas gehal-
ten, am Rande eines historischen Zusammenbruchs, den Saussure
selbst nicht mehr erleben sollte. Dies waren exakt dieselben Jahre, in
denen Edmund Husserl in einem europäischen Geisteszentrum un-
New Criticism, Strukturalismus und Semiotik 83
Recht fragen: ›Was soll das denn heißen?‹ Nicht, dass Sie die Bedeu-
tung meiner Worte nicht verstehen würde; Sie verstehen die Bedeutung
meiner Worte nicht. Es würde Ihnen nichts nützen, Ihnen ein Wörter-
buch in die Hand zu drücken. Die Frage ›Was soll das denn heißen?‹,
ist in dieser Situation in der Tat die Frage nach den Intentionen des
menschlichen Subjekts, und solange ich diese nicht verstehe, ist die
Bitte, die Tür zu schließen, in einem ganz wichtigen Sinne ohne Be-
deutung.
Die Frage nach meinen Intentionen ist indessen nicht notwendi-
gerweise dem Versuch gleichzusetzen, in mein Denken einzudringen
und die mentalen Prozesse, die dort ablaufen, zu beobachten. Man
muss Intentionen nicht notwendigerweise so wie E. D. Hirsch sehen,
als in ihrem Wesen private ›mentale Akte‹. In einer solchen Situation
zu fragen: ›Was soll das denn heißen?‹, bedeutet im Grunde, nach den
Ergebnissen zu fragen, die meine Sprache hervorzurufen versucht: Es
ist eine Art, die Situation selbst zu verstehen, und nicht ein Versuch,
sich in geisterhafte Impulse unter meiner Schädeldecke einzuschalten.
Das Verstehen meiner Intentionen ist das Begreifen meines Sprechens
und Verhaltens in Relation zu einem signifikanten Kontext. Wenn wir
die ›Intentionen‹ eines Stücks Sprache verstehen, dann interpretieren
wir es als in einem bestimmten Sinne gerichtet, auf das Erzielen be-
stimmter Effekte hin zugeschnitten; und nichts von alledem kann au-
ßerhalb der praktischen Bedingungen, unter denen die Sprache funk-
tioniert, begriffen werden. Es bedeutet, Sprache mehr als eine Praxis
denn als Objekt zu sehen; und es gibt natürlich keine Praxis ohne
menschliches Subjekt.
Diese Art, Sprache zu sehen, ist dem Strukturalismus, zumindest in
seinen klassischen Ausprägungen, im Großen und Ganzen ziemlich
fremd. Saussure war, wie schon erwähnt, nicht daran interessiert, was
die Menschen tatsächlich sagten, sondern an der Struktur, die ihnen
erlaubte, es zu sagen: Er untersuchte eher die langue als die parole und
betrachtete erstere als eine objektive soziale Tatsache und letztere als
die zufällige, der Theorie unzugängliche Äußerung des Individuums.
Aber hinter dieser Sprachsicht verbirgt sich bereits eine fragwürdige
Konzeption der Beziehungen zwischen Individuum und Gesellschaft.
Sie betrachtet das System als determiniert und das Individuum als frei;
sie begreift den Druck und die Festlegung durch die Gesellschaft nicht
so sehr als Kräfte, die in unserem Sprechen jeweils wirksam werden,
sondern als eine monolithische Struktur, die irgendwie gegen uns auf-
ragt. Sie setzt voraus, dass die parole, die individuelle Äußerung, wirk-
lich individuell ist und nicht so sehr eine unausweichlich soziale und
›dialogische‹ Angelegenheit, die uns mit anderen Sprecher/innen und
88 New Criticism, Strukturalismus und Semiotik
das Recht hat, die entsprechende Aussage zu machen, ich muss es ernst
meinen, die Umstände müssen angemessen sein, das Verfahren muss
korrekt durchgeführt werden usw. Ich kann keinen Dachs taufen, und
vermutlich habe ich alles dadurch, dass ich kein Geistlicher bin, sowie-
so nur noch schlimmer gemacht. (Ich wähle hier das Bild der Taufe,
weil Austins Diskussion der angemessenen Umstände, des korrekten
Vorgehens und allem, was dazugehört, eine merkwürdige und nicht
unbedeutende Ähnlichkeit mit theologischen Debatten über die Gül-
tigkeit von Sakramenten hat.) Die Bedeutung, die all dies für die Lite-
ratur hat, wird deutlich, wenn wir uns klar machen, dass literarische
Werke selbst als Sprechakte oder als eine Imitation von Sprechakten
gesehen werden können. Literatur kann den Anschein erwecken, als
beschreibe sie die Welt, und manchmal tut sie das auch wirklich, aber
ihre eigentliche Funktion ist performativ: Sie gebraucht Sprache inner-
halb bestimmter Konventionen, um beim Leser bestimmte Wirkun-
gen zu erzielen. Sie bewirkt etwas im Sprechen: Sie selbst ist Sprache
als eine Art materielle Praxis, Diskurs als soziale Handlung. Beim Be-
trachten ›konstatierender‹ Propositionen, Behauptungen mit Wahr-
heits- oder Unwahrheitsgehalt, neigen wir dazu, ihre Realität und
Wirksamkeit als eigenständige Handlung zu vernachlässigen: Die Lite-
ratur gibt uns dieses Gefühl der sprachlichen Performanz auf höchst
anschauliche Weise zurück, denn ob das, was sie für existent erklärt, in
Wirklichkeit existiert oder nicht, ist unwichtig.
Sowohl innerhalb der Sprechakttheorie selbst als auch bei ihrer Ver-
wendung als Modell für Literatur ergeben sich gewisse Probleme. Es ist
nicht sicher, ob eine solche Theorie es letztendlich vermeiden kann,
das alte ›intendierende Subjekt‹ der Phänomenologie nicht durch die
Hintertür wieder einzuführen, um einen Bezugspunkt zu haben, und
ihre Beschäftigung mit Sprache erscheint auf ungesunde Weise juris-
tisch, als die Frage danach, wer unter welchen Bedingungen was zu
wem sagen darf. (vgl. Derrida: »Limited Inc.«, 1977). Gegenstand von
Austins Untersuchung ist, wie er selbst sagt, ›der totale Sprechakt in
der totalen Sprechsituation‹; aber Bachtin zeigt, dass in solchen Akten
und Situationen doch einiges mehr enthalten ist, als die Sprechaktthe-
orie vermuten lässt. Auch ist es gefährlich, ›lebendige Sprechsituatio-
nen‹ als Modelle für Literatur zu benutzen. Denn literarische Texte
sind selbstverständlich keine Sprechakte im wörtlichen Sinne: Flaubert
spricht nicht wirklich mit mir. Wenn überhaupt, dann sind sie
›Pseudo‹-Sprechakte oder ›virtuelle‹ Sprechakte – Imitationen von
Sprechakten – und wurden als solche von Austin selbst als ›leer‹ oder
›unvollständig‹ mehr oder weniger abgetan. Richard Ohmann benutzt
dieses Charakteristikum literarischer Texte – dass sie Sprechakte imi-
New Criticism, Strukturalismus und Semiotik 93
tieren oder darstellen, die nie wirklich stattgefunden haben – als Mög-
lichkeit, ›Literatur‹ als solche zu definieren, obgleich dies keineswegs
alles das abdeckt, was gewöhnlich unter Literatur verstanden wird.
Den literarischen Diskurs unter dem Aspekt des menschlichen Sub-
jekts zu sehen, bedeutet nicht in erster Linie, ihn unter dem Aspekt
realer menschlicher Subjekte zu sehen: dem des realen historischen
Autors, eines konkreten historischen Lesers usw. Kenntnisse hierüber
mögen wichtig sein; aber ein literarisches Werk ist nicht wirklich ein
›lebendiger‹ Dialog oder Monolog. Es ist ein Stück Sprache, das von
jeglicher festgelegten ›lebendigen‹ Beziehung losgelöst und damit den
›Wiedereinschreibungen‹ und den Neuinterpretationen vieler ver-
schiedener Leser unterworfen ist. Das Werk selbst kann seine eigene
künftige Interpretationsgeschichte nicht ›vorhersehen‹, kann diese
Lesarten nicht kontrollieren und limitieren, wie wir das in face-to-
face-Kommunikation tun können oder zumindest zu tun versuchen.
Seine ›Anonymität‹ ist Teil seiner Struktur selbst und nicht nur ein
zufälliges Unglück, das ihm widerfährt; und in diesem Sinne ist ›Au-
tor‹ sein – ›Urheber‹ der eigenen Bedeutungen, mit ›Autorität‹ über sie
– ein Mythos.
Dennoch kann man ein literarisches Werk als etwas betrachten, was
das hervorbringt, was man ›Subjektpositionen‹ genannt hat. Homer
hat nicht vorhergesehen, dass ich persönlich seine Epen lesen würde,
aber seine Sprache bietet dem Leser auf Grund der Art, wie sie struk-
turiert ist, unausweichlich gewisse ›Positionen‹ an, bestimmte bevor-
zugte Stellungen, von denen aus interpretiert werden kann. Ein Ge-
dicht verstehen bedeutet, seine Sprache als von einem bestimmten
Spektrum von Positionen aus auf den Hörer hin ›orientiert‹ zu erfas-
sen: Beim Lesen entwickeln wir ein Gespür dafür, was für eine Art von
Wirkungen diese Sprache zu erzielen sucht (›Intention‹), welche rheto-
rischen Mittel sie für angemessen hält, welche Annahmen den ver-
schiedenen poetischen Strategien zugrunde liegen, die sie einsetzt, und
welche Einstellung zur Wirklichkeit diese implizieren. Nichts davon
muss mit den Intentionen, Einstellungen und Annahmen des realen
historischen Autors zur Zeit des Schreibens identisch sein; das wird
offensichtlich, wenn man versucht, William Blakes Songs of Innocence
and Experience als einen ›Ausdruck‹ der Person William Blakes selbst
zu lesen. Wir wissen möglicherweise nichts über einen Autor, oder ein
Werk hat vielleicht mehrere Autoren (wer war der ›Autor‹ des Buches
Jesaja, oder der von Casablanca?); oder man muss, um in einer be-
stimmten Gesellschaft überhaupt als Autor anerkannt zu werden, viel-
leicht von einer ganz bestimmten Position aus schreiben. Dryden hätte
nicht in ›freien Versen‹ schreiben und gleichzeitig ein Dichter sein
94 New Criticism, Strukturalismus und Semiotik
gefähr die übliche zeitliche Verzögerung, mit der Ideen den Kanal
überqueren. Man könnte sagen, dass diese Kritiker eher wie eine intel-
lektuelle Einwanderungsbehörde funktionieren: Ihre Aufgabe besteht
darin, in Dover zu stehen, wenn die frisch gefischten Gedanken aus
Paris ausgeladen werden, sie auf die Teile zu untersuchen, die mit den
traditionellen Techniken der Kritik mehr oder minder vereinbar schei-
nen, diese Güter großzügig durchzuwinken und die explosiveren Teile
der Ladung (Marxismus, Feminismus, Freudianismus), die mit ihnen
angekommen sind, aus dem Land herauszuhalten. Alles, was nicht so
aussieht, als würde es in den Mittelschicht-Vororten auf Missfallen sto-
ßen, bekommt eine Arbeitserlaubnis; weniger elegant beschuhte Ge-
danken werden mit dem nächsten Schiff abgeschoben. Einiges an die-
ser Kritik war tatsächlich scharf, subtil und nützlich: Sie verkörperte in
England einen bedeutenden Fortschritt gegenüber dem, was es zuvor
gegeben hatte, und zeigt im besten Falle einen Sinn für intellektuelle
Abenteuer, wie er seit den Tagen von F. R. Leavis’ Scrutiny nicht gerade
oft hervorgetreten ist. Ihre individuellen Textlesarten sind oft bemer-
kenswert bestechend und stringent, und der französische Strukturalis-
mus ist in wertvoller Weise mit einem eher englischen ›Sprachgefühl‹
verbunden worden. Nur muss die extreme Selektivität ihres Zugriffs
auf den Strukturalismus hervorgehoben werden, eine Selektivität, die
keineswegs immer eingestanden wird.
Der Sinn dieses klugen Imports von strukturalistischem Gedanken-
gut liegt darin, der Literaturkritik ihren Arbeitsplatz zu erhalten. Es ist
seit einiger Zeit deutlich, dass sie ein bisschen an Ideenmangel leidet,
keine ›langfristigen Perspektiven‹ aufweist und sowohl gegenüber neu-
en Theorien als auch gegenüber den Implikationen ihrer eigenen pein-
lich blind ist. Genauso wie die EG Großbritannien in ökonomischen
Angelegenheiten aushelfen kann, kann dies der Strukturalismus in in-
tellektuellen tun. Der Strukturalismus hat als eine Art Hilfsprogramm
für intellektuell unterentwickelte Länder funktioniert, indem er sie
mit der Schwerindustrieanlage versorgte, die der versagenden einhei-
mischen Industrie vielleicht wieder auf die Beine helfen könnte. Er
verspricht, das ganze literarische akademische Unternehmen auf feste-
re Füße zu stellen und ihm die Überwindung der sogenannten ›Krise
der Geisteswissenschaften‹ zu ermöglichen. Er hält eine neue Antwort
auf die Frage bereit: »Was ist das eigentlich, was wir studieren/lehren?«
Die alte Antwort – Literatur – ist, wie wir gesehen haben, nicht völlig
zufriedenstellend: grob gesprochen, enthält sie zu viel Subjektivität.
Aber wenn das, war wir studieren und lehren, nicht so sehr ›literarische
Werke‹ sind als vielmehr das ›literarische System‹ – das gesamte System
von Codes, Gattungen und Konventionen, mittels derer wir literari-
98 New Criticism, Strukturalismus und Semiotik
tenz, und mit welchen und wessen Kriterien kann Kompetenz gemes-
sen werden? Man könnte sich vorstellen, dass jemandem eine blen-
dend überzeugende Interpretation eines Gedichtes vorliegt, der über
keinerlei ›literarische Kompetenz‹ der Art, wie sie konventionellerwei-
se definiert wird, verfügt – jemand, der eine solche Lesart nicht hervor-
bringt, indem er den allgemein anerkannten hermeneutischen Proze-
duren folgt, sondern sie schlicht ignoriert. Eine Lesart ist nicht not-
wendig deshalb ›inkompetent‹, weil sie eine konventionelle literatur-
wissenschaftliche Vorgehensweise missachtet: Viele Lesarten sind in
einem anderen Sinne inkompetent, gerade weil sie solchen Konven-
tionen zu genau folgen. Noch weniger leicht ist es, ›Kompetenz‹ einzu-
stufen, wenn wir die Art und Weise in Betracht ziehen, in der Litera-
turinterpretationen Werte, Weltanschauungen und Annahmen ein-
schließen, die nicht auf den literarischen Bereich beschränkt sind. Es
nützt nichts, wenn der Literaturwissenschaftler behauptet, dass er
Weltanschauungen gegenüber, nicht aber gegenüber technischen Vor-
gehensweisen tolerant ist: Dafür sind die beiden zu eng miteinander
verknüpft.
Einige strukturalistischen Argumente scheinen von der Annahme
auszugehen, dass der Literaturwissenschaftler die für die Entschlüsse-
lung eines Textes ›geeigneten‹ Codes identifiziert und dann anwendet,
so dass sich die Codes des Textes und die Codes des Lesers/der Leserin
einander graduell annähern und zu einem einheitlichen Wissen ver-
schmelzen. Aber dies ist ganz sicher eine allzu einfache Konzeption
dessen, was Lesen wirklich impliziert. Indem wir einen Code auf den
Text anwenden, können wir z. B. feststellen, dass er während des Lese-
vorgangs revidiert und transformiert wird, indem wir mit diesem
Code weiterlesen, entdecken wir, dass er nunmehr einen ›anderen‹
Text hervorbringt, der seinerseits den Code, mittels dessen wir ihn le-
sen, modifiziert, etc. Dieser dialektische Prozess ist im Prinzip unend-
lich; und wenn das so ist, dann untergräbt dies jegliche Annahme,
unsere Aufgabe sei beendet, sobald wir den richtigen Code für den
Text gefunden haben. Literarische Texte sind sowohl ›Code-schaffend‹
und ›Code-überschreitend‹ als auch ›Code-bestätigend‹: Sie können
uns neue Arten des Lesens zeigen und nicht nur die bestätigen, mit
denen wir bereits ausgestattet waren, als wir zu lesen begannen. Der
›ideale‹ oder ›kompetente‹ Leser ist eine statische Konzeption: Sie neigt
dazu, zu unterschlagen, dass alle Urteile über ›Kompetenz‹ kulturell
und ideologisch relativ sind, und dass alles Lesen die Mobilisierung
von außer-literarischen Annahmen impliziert, für deren Messung die
›Kompetenz‹ ein auf geradezu absurde Weise ungeeignetes Modell dar-
stellt.
100 New Criticism, Strukturalismus und Semiotik
Indessen ist die Idee der Kompetenz sogar auf der technischen Ebe-
ne begrenzt. Ein kompetenter Leser ist der, der bestimmte Regeln auf
den Text anwenden kann; aber welches sind die Regeln, nach denen
man Regeln anwendet? Die Regel scheint uns wie ein ausgestreckter
Zeigefinger den Weg zu weisen; aber der Finger ›zeigt‹ nur im Rahmen
einer bestimmten Interpretation, die ich vornehme und die mich dazu
bringt, eher auf das so bezeichnete Objekt als auf den restlichen Arm
zu sehen. Zeigen ist keine ›selbstverständliche‹ Tätigkeit, und ebenso
wenig ist den Regeln ihr jeweiliger Anwendungsbereich ins Gesicht
geschrieben: Sie wären gar keine ›Regeln‹, wenn sie die Art und Weise
ihrer Anwendung unerbittlich festlegten. Das Befolgen von Regeln
schließt kreatives Interpretieren mit ein, und es ist oft gar nicht leicht
zu sagen, ob ich eine Regel in derselben Weise wie ein anderer anwen-
de oder ob wir überhaupt dieselbe Regel anwenden. Die Art, in der
man eine Regel anwendet, ist nicht einfach eine technische Angelegen-
heit: Sie ist in umfassendere Interpretationen der Wirklichkeit einge-
bunden, in Verpflichtungen und Vorlieben, die nicht ihrerseits wieder
auf die Übereinstimmung mit einer Regel reduziert werden können.
Die Regel mag beispielsweise sein, Parallelismen im Gedicht aufzuspü-
ren, aber was zählt als Parallelismus? Wenn Sie mit dem, was für mich
als Parallelismus zählt, nicht einverstanden sind, haben Sie mit keiner
Regel gebrochen: Ich kann den Streit nur damit beenden, dass ich die
Autorität der literaturwissenschaftlichen Institution anrufe und sage:
›Dies ist es, was wir als Parallelismus bezeichnen.‹ Und wenn Sie mich
fragen, warum ich gerade diese Regel überhaupt anwende, kann ich
mich abermals nur auf die Autorität der literarischen Institution beru-
fen und sagen: ›So machen wir das eben.‹ Worauf Sie immer erwidern
können: ›Dann machen Sie doch mal etwas anderes.‹ Eine Berufung
auf die Regeln, die Kompetenz definieren, wird es mir so wenig ermög-
lichen, dem etwas entgegenzusetzen, wie ein Rückgriff auf den Text
selbst: Es gibt Tausende von Dingen, die man mit einem Text machen
kann. Sie sind deshalb noch lange kein ›Anarchist‹: Ein Anarchist im
allgemeinen Sinne des Wortes ist nicht jemand, der Regeln bricht,
sondern jemand, der es zu seiner Aufgabe macht, Regeln zu brechen,
der es sich zur Regel macht, Regeln zu brechen. Sie aber zweifeln nur
das an, was die literarische Institution tut, und obgleich ich dies von
den verschiedensten Grundlagen aus abwehren kann, kann ich dies
sicherlich nicht, indem ich mich auf die ›Kompetenz‹ berufe, die ja
gerade in Frage gestellt wird. Mag der Strukturalismus auch die beste-
hende Praxis untersuchen und sich auf sie berufen: Was kann er jenen
antworten, die sagen: ›Machen Sie eben etwas anderes‹?
4. Poststrukturalismus
Saussure vertritt, wie der Leser/die Leserin sich erinnern wird, die
Ansicht, dass sprachliche Bedeutungen einfach von Unterschieden ab-
hängen. ›Tier‹ bedeutet ›Tier‹, weil es eben nicht ›Bier‹ oder ›Tief‹
heißt. Aber wieweit können diese Unterscheidungen vorangetrieben
werden? ›Tier‹ bedeutet auch deshalb, was es bedeutet, weil es nicht
›wir‹ oder ›mir‹ heißt; und ›mir‹ hat seine Bedeutung, weil es nicht
›Mief‹ oder ›mies‹ lautet. Wo soll man aufhören? Es hat den Anschein,
als könne dieser Prozess der Unterscheidung innerhalb einer Sprache
in einem unendlichen Kreis weiter verfolgt werden: Wenn dies aber
der Fall ist, was wird dann aus Saussures Gedanken, dass die Sprache
ein geschlossenes, festes System bildet? Wenn jedes Zeichen seine
Bedeutung hat, weil es keines von all den anderen Zeichen ist, dann
entsteht der Eindruck, dass jedes Zeichen aus einem potenziell unend-
lichen Gewebe von Unterschieden entstanden ist. Ein Zeichen zu de-
finieren, könnte daher als eine sehr viel tückischere Aufgabe erschei-
nen, als man gedacht hätte. Saussures langue legt eine begrenzte
Bedeutungsstruktur nahe; aber wo in der Sprache kann man denn nun
die Grenze ziehen?
Eine andere Auffassungsmöglichkeit für Saussures Gedanken von
der differentiellen Natur des Zeichens besteht darin, die Bedeutung
immer als ein Resultat einer Teilung oder ›Gliederung‹ von Zeichen zu
betrachten. Der Signifikant ›Rose‹ vermittelt uns die Vorstellung oder
das Signifikat ›Rose‹, weil er sich von dem Signifikanten ›Hose‹ unter-
scheidet. Das Signifikat ist also sozusagen das Ergebnis der Differenz
zwischen zwei Signifikanten. Aber es ist darüber hinaus auch das Er-
gebnis der Differenz zwischen vielen anderen Signifikanten: ›lose‹, ›Po-
se‹, ›rosa‹, etc. Dies stellt Saussures Sichtweise des Zeichens als einer
klaren symmetrischen Einheit zwischen einem bestimmten Signifikan-
ten und einem bestimmten Signifikat in Frage. Denn das Signifikat
›Rose‹ ist in Wirklichkeit das Ergebnis eines komplexen Zusammen-
wirkens von Signifikanten ohne erkennbares Ende. Bedeutung ist das
Nebenprodukt eines potenziell endlosen Spiels von Signifikanten und
nicht so sehr eine Vorstellung, die fest an einen bestimmten Signifi-
kanten geklebt worden ist. Der Signifikant gibt uns nicht direkt ein
Signifikat preis, wie etwa ein Spiegel ein Bild wiedergibt: Es gibt keine
harmonischen Eins-zu-eins-Entsprechungen zwischen der Ebene der
102 Poststrukturalismus
während dies geschieht, kann ich in jedem Zeichen, und sei es auch
nur unbewusst, Spuren der anderen Wörter entdecken, die es ausge-
schlossen hat, um es selbst sein zu können. ›Tier‹ ist, was es ist, nur
indem es ›Bier‹ und ›vier‹ ausschließt, aber diese anderen möglichen
Zeichen sind, da sie ja für seine Identität mit konstitutiv sind, immer
noch irgendwo in ihm enthalten.
Man könnte sagen, dass Bedeutung niemals mit sich selbst iden-
tisch ist. Sie ist das Ergebnis eines Prozesses der Teilung oder Gliede-
rung von Zeichen, die nur deshalb sie selbst sind, weil sie nicht irgend-
ein anderes Zeichen sind. Sie ist stets auch etwas Aufgeschobenes,
Zurückgehaltenes, etwas, was erst noch kommt. In einem weiteren
Sinne ist Bedeutung niemals mit sich selbst identisch, weil Zeichen
immer wiederholbar oder reproduzierbar sein müssen. Wir würden
eine Markierung, die nur einmal auftrat, nicht ein ›Zeichen‹ nennen.
Die Tatsache, dass ein Zeichen reproduziert werden kann, ist deshalb
ein Teil seiner Identität; aber dadurch wird die Identität des Zeichens
zugleich auch aufgesplittert, da es immer wieder in einem neuen Kon-
text reproduziert werden kann, der seine Bedeutung verändert. Auch
ist es schwer, zu erkennen, was ein Zeichen ›ursprünglich‹ bedeutet,
welches sein ›ursprünglicher‹ Kontext war: Wir begegnen ihm einfach
in vielen verschiedenen Situationen, und obgleich es über diese Situa-
tionen hinaus eine gewisse Konsistenz haben muss, um überhaupt ein
erkennbares Zeichen zu sein, so ist es doch, weil sein Kontext immer
verschieden ist, niemals absolut dasselbe Zeichen, niemals völlig iden-
tisch mit sich selbst. ›Katze‹ kann z. B. ein haariges vierbeiniges Ge-
schöpf bezeichnen, einen verschlagenen Menschen, ein Geldbehältnis
etc. Aber selbst wenn einfach das haarige, vierbeinige Tier gemeint ist,
bleibt diese Bedeutung von Kontext zu Kontext niemals gleich: Das
Signifikat wird durch die veränderlichen Signifikantenketten, in die es
verstrickt ist, verändert.
Aus alledem folgt, dass die Sprache eine sehr viel weniger stabile
Angelegenheit ist, als die klassischen Strukturalisten gedacht hatten.
Anstatt eine wohldefinierte, klar abgegrenzte Struktur mit symme-
trisch zugeordneten Signifikanten und Signifikaten darzustellen, be-
ginnt sie nun mehr und mehr wie ein grenzenloses, sich ausdehnendes
Netz auszusehen, in dem ein ständiger Austausch und ein Zirkulieren
von Elementen herrscht, in dem keines der Elemente vollständig defi-
nierbar ist und in dem alles von allem eingeholt und durchdrungen
wird. Wenn dem so ist, dann versetzt dies bestimmten traditionellen
Bedeutungstheorien einen ernsten Schlag. Für diese Theorien bestand
die Funktion von Zeichen darin, innere Erfahrungen oder Objekte der
außersprachlichen Wirklichkeit widerzuspiegeln, die eigenen Gedan-
104 Poststrukturalismus
Kritik eine Form von ›Metasprache‹ – Sprache über eine andere Spra-
che –, die sich bis zu einem gewissen Punkt über ihr Objekt erhebt,
von dem aus er auf es herabschauen und es objektiv untersuchen
kann. Aber wie Barthes in Die Sprache der Mode erkennt, kann es gar
keine ultimative Metasprache geben: Immer kann ein weiterer Kriti-
ker kommen und die erste Kritik zum Objekt seiner Untersuchungen
machen, und so weiter in einem unendlichen Regress. In seinen Essais
critiques spricht Barthes von Textkritik als etwas, was einen Text ›so
vollständig wie möglich mit seiner eigenen Sprache abdeckt‹, in Kritik
und Wahrheit (1966; dt. 1967) wird der textkritische Diskurs als eine
›zweite Sprache‹ angesehen, die ›über der primären Sprache des Wer-
kes schwebt‹. Derselbe Essay beginnt damit, literarische Sprache selbst
mit etwas zu charakterisieren, was nunmehr als poststrukturalistische
Terminologie zu erkennen ist: Es ist eine ›bodenlose‹ Sprache, etwas
wie ›reine Ambiguität‹, die von einer ›leeren Bedeutung‹ getragen
wird. Wenn dies so ist, dann steht in Zweifel, dass die Methoden des
klassischen Strukturalismus dem überhaupt gerecht werden können.
Der Umschwung erfolgt mit Barthes’ erstaunlicher Studie über Bal-
zacs Erzählung Sarrasine, S/Z (1970; dt. 1976). Das literarische Werk
wird nunmehr nicht länger als feststehendes Objekt oder als begrenzte
Struktur behandelt, und die Sprache der Kritik lehnt jeglichen An-
spruch auf wissenschaftliche Objektivität ab. Die für die Kritik inter-
essantesten Texte sind nicht diejenigen, die man lesen kann, sondern
die, die ›schreibbar‹ (scriptible) sind – Texte, die den Kritiker/die Kriti-
kerin dazu ermutigen, sie zu zerlegen, sie in andere Diskurse zu verla-
gern, sein oder ihr semi-arbiträres Spiel der Bedeutungen gegen den
Strich des Textes zu treiben. Leser oder Kritiker wechseln aus der Rolle
des Konsumenten in die des Produzenten. Nicht, dass beim Interpre-
tieren wirklich ›alles möglich‹ wäre, denn Barthes legt Wert auf die
Feststellung, dass man das Werk nicht dazu bringen kann, beliebige
Bedeutungen anzunehmen; aber die Literatur ist nunmehr weniger ein
Objekt, dem sich die Kritik anpassen muss, als vielmehr ein freies Feld,
in dem sie sich vergnügen kann. Der ›schreibbare‹ Text, gewöhnlich
ein Text der Moderne, hat keine fest umgrenzte Bedeutung, keine fest-
gelegten Signifikate, sondern ist vielfältig und diffus, ein unerschöpfli-
ches Gespinst oder eine Galaxie von Signifikanten, ein ungesäumtes
Gewebe von Codes und Codefragmenten, durch die sich der Kritiker
seinen eigenen Irrpfad schlagen kann. Es gibt keinen Anfang und kein
Ende, keine Sequenzen, die nicht umgekehrt werden könnten, keine
Hierarchie der Text›ebenen‹, die angeben, was mehr und was weniger
bedeutsam ist. Alle literarischen Texte sind aus anderen literarischen
Texten gewoben, nicht im konventionellen Sinne als Spuren des ›Ein-
Poststrukturalismus 113
ten ist mehr oder weniger willkürlich; die fünf Codes sind einfach fünf,
die aus einer unendlichen Anzahl von möglichen ausgewählt wurden;
sie werden in keinerlei Hierarchie gestellt, sondern pluralistisch ange-
wendet, manchmal gleich zu dritt auf ein und dieselbe Einheit; und sie
verzichten darauf, das Werk zu irgendeiner Art von zusammenhängen-
dem Sinn, von ›Totalität‹, zu ›summieren‹. Stattdessen zeigen sie seine
Streuung und Gebrochenheit. Der Text, argumentiert Barthes, ist nicht
so sehr eine ›Struktur‹ als vielmehr ein offener Prozess der ›Strukturie-
rung‹, und dieses Strukturieren erfolgt durch die Kritik. Balzacs Novel-
le scheint ein realistisches Werk zu sein und damit der Art von semioti-
scher Gewalt, die Barthes ihm antut, auf den ersten Blick keineswegs
besonders zugänglich: Sein kritischer Ansatz ist keine ›Wiedererschaf-
fung‹ des Werks, sondern eine drastische Neuschreibung und Neuorga-
nisation über alle konventionelle Wiedererkennbarkeit hinaus. Indes-
sen wird hierdurch eine Dimension des Werkes enthüllt, die bisher
unbemerkt geblieben war. Sarrasine wird als ›Grenztext‹ des literari-
schen Realismus entlarvt, ein Werk, von dessen Grundannahmen ge-
zeigt werden kann, dass sie sich in heimlichen Schwierigkeiten befin-
den: Die Erzählung kreist um einen frustrierten Erzählvorgang, sexuel-
le Kastration, die mysteriösen Quellen des kapitalistischen Reichtums
und eine grundlegende Verwirrung der festen sexuellen Rollen. In ei-
nem coup de grâce kann Barthes behaupten, dass die ›Inhalte‹ der Novel-
le selbst zu seinen eigenen Analysemethoden in Beziehung stehen: Die
Geschichte betrifft eine Krise der literarischen Darstellung, der sexuel-
len Beziehungen und des ökonomischen Tauschs. In jedem einzelnen
dieser Bereiche beginnt die bürgerliche Ideologie des ›repräsentativen‹
Zeichens in Frage gestellt zu werden; und in diesem Sinne kann, mit
einer gewissen interpretativen Gewalt und bravour, Balzacs Erzählung
als über ihren eigenen historischen Augenblick im frühen 19. Jahrhun-
dert hinaus und bis zu Barthes’ eigener Periode der Moderne weisend
gesehen werden.
Tatsächlich ist es die literarische Bewegung der Moderne, die den
Strukturalismus und den Poststrukturalismus in erster Linie hervor-
brachte. Einige der späteren Werke Barthes’ und Derridas sind selbst
literarische Texte der Moderne, experimentell, rätselhaft und reichlich
ambig. Für den Poststrukturalismus gibt es keine klare Trennung zwi-
schen ›Kritik‹ und ›Kreation‹: Beides gehört zum Schreiben an sich.
Der Strukturalismus setzte ein, als die Sprache zu einer Obsession der
Intellektuellen wurde; und dies wiederum passierte, weil die Sprache
im Westeuropa des späten 19. und des 20. Jahrhunderts als in den
Wehen einer tiefen Krise liegend empfunden wurde. Wie sollte man
noch schreiben, wenn der Diskurs in der industriellen Gesellschaft
Poststrukturalismus 115
bei den Symbolisten der Fall ist, oder nach strikter Neutralität strebt,
einem ›Nullpunkt des Schreibens‹, der unschuldig zu scheinen hofft,
in Wirklichkeit aber, wie Hemingway beispielhaft zeigt, genauso ein
literarischer Stil ist wie jeder andere auch. Es besteht kein Zweifel dar-
an, dass die ›Schuld‹, von der Barthes spricht, die Schuld der Instituti-
on Literatur selbst ist – eine Institution, die, wie er bemerkt, die Tren-
nung der Sprachen und die Trennung der Klassen bezeugt. ›Literari-
sches‹ Schreiben steht in der modernen Gesellschaft unausweichlich in
heimlichem Einvernehmen mit solchen Trennungen.
Der Strukturalismus kann am ehesten sowohl als Symptom als
auch als Reaktion auf die gesellschaftliche und sprachliche Krise gese-
hen werden, die skizziert wurde. Er flieht von der Geschichte zur Spra-
che – ein Akt der Ironie, da in Barthes’ Sichtweise kaum eine Bewe-
gung historisch signifikanter sein könnte. Aber indem er sich die Ge-
schichte und den Referenten vom Leibe hält, versucht er auch, ein
Gefühl für die ›Unnatürlichkeit‹ der Zeichen wiederherzustellen, nach
denen die Menschen leben, und damit zugleich ein radikales Bewusst-
sein für ihre historische Veränderlichkeit zu schaffen. Auf diese Weise
reiht er sich möglicherweise gerade in die Geschichte wieder ein, mit
deren Preisgabe er seinen Anfang genommen hat. Ob er dies tut oder
nicht, hängt indessen davon ab, ob der Referent provisorisch oder ein
für alle Mal außer Kraft gesetzt wird. Mit dem Aufkommen des Post-
strukturalismus schien nicht diese Ablehnung der Geschichte das Re-
aktionäre am Strukturalismus, sondern nichts weniger als der Struk-
turgedanke selbst. Für Barthes ist in seiner Schrift Die Lust am Text
(1973; dt. 1974) sämtliche Theorie, Ideologie, festgelegte Bedeutung,
soziales Engagement im tiefsten Innern terroristisch geworden, und
›Schreiben‹ ist die Antwort auf all dies. Schreiben, oder Lesen-als-
Schreiben, ist die letzte noch nicht kolonialisierte Enklave, in der der
Intellektuelle spielen kann, indem er die Pracht der Signifikanten in
ungestümer Missachtung all dessen auskostet, was möglicherweise ge-
rade im Elysée-Palast oder in den Renault-Werken passiert. Im Akt des
Schreibens konnte die Tyrannei der strukturellen Bedeutung für einen
Augenblick aufgebrochen und durch ein freies Spiel der Sprache ver-
rückt werden; und das schreibende/lesende Subjekt wurde aus der
Zwangsjacke einer einzelnen Identität in ein ekstatisch diffuses Ich
entlassen. Der Text, verkündet Barthes, »ist [...] jene ungehemmte Per-
son, die dem Politischen Vater ihren Hintern zeigt«.
Die Anspielung auf den Politischen Vater ist nicht zufällig. Die Lust
am Text wurde fünf Jahre nach der gesellschaftlichen Eruption veröf-
fentlicht, die Frankreichs politische Väter bis zu den Grundfesten er-
schüttert hat. 1968 war die Studentenbewegung über Europa hinweg-
Poststrukturalismus 117
hen. Das Werk Derridas und anderer hat die klassischen Begriffe von
Wahrheit, Realität, Bedeutung und Erkenntnis aufs heftigste in Zwei-
fel gezogen, da sie alle als auf einer naiven sprachlichen Repräsentati-
onstheorie fußend entlarvt werden konnten. Wenn die Bedeutung, das
Signifikat, ein flüchtiges Ergebnis der Wörter oder Signifikanten war,
stets changierend und instabil, teils präsent, teils abwesend, wie konn-
te es dann überhaupt irgendeine festgelegte Bedeutung oder Wahrheit
geben? Wenn die Realität durch unseren Diskurs weniger reflektiert als
vielmehr hergestellt wurde, wie konnten wir dann jemals die Realität
selbst erfahren und nicht bloß unseren eigenen Diskurs? War alles Re-
den einfach nur Reden über unser Reden? Ergab es einen Sinn, zu
behaupten, dass eine bestimmte Interpretation der Realität, der Ge-
schichte oder eines literarischen Textes ›besser‹ sei als eine andere? Die
Hermeneutik hatte sich einem sympathetischen Verstehen der Bedeu-
tung der Vergangenheit verschrieben; aber gab es überhaupt irgendei-
ne Vergangenheit, die man erkennen konnte und die nicht nur eine
bloße Funktion des gegenwärtigen Diskurses war?
Ob es dies nun war, was die Gründungsväter des Poststrukturalis-
mus wirklich gemeint hatten, oder auch nicht, jedenfalls wurde diese
Art von Skeptizismus schnell zu einer Moderichtung in linken akade-
mischen Kreisen. Wer Wörter wie ›Wahrheit‹, ›Gewissheit‹ und ›Reali-
tät‹ gebrauchte, wurde in bestimmten Kreisen sofort als der Metaphy-
sik verhaftet denunziert. Wer Einwände gegen das Dogma erhob, dass
wir niemals überhaupt irgendetwas erkennen könnten, tat dies nur,
weil er sich nostalgisch an Vorstellungen von einer absoluten Wahrheit
und an eine größenwahnsinnige Überzeugung klammerte, dass man
gemeinsam mit einigen klügeren Naturwissenschaftlern die Realität
genauso sehen könne, ›wie sie ist‹. Die Tatsache, dass man heutzutage
extrem wenigen Anhängern solcher Doktrinen begegnet, zumindest
nicht unter Wissenschaftstheoretikern, schien die Skeptiker nicht ab-
zuschrecken. Das Wissenschaftsmodell, das von den Poststrukturalis-
ten häufig verspottet wird, ist gewöhnlich ein positivistisches – irgend-
eine Version des rationalistischen Anspruchs des 19. Jahrhunderts auf
ein transzendentales, wertfreies Wissen über ›die Fakten‹. Dieses Mo-
dell ist in Wirklichkeit ein Papiertiger. Es erschöpft den Begriff ›Wis-
senschaft‹ bei weitem nicht, und mit dieser Karikatur wissenschaftli-
cher Selbstreflexionen ist nichts gewonnen. Mit der Äußerung, dass es
keine absoluten Grundlagen für solche Wörter wie Wahrheit, Gewiss-
heit, Realität etc. gibt, ist noch nicht gesagt, dass diese Wörter keine
Bedeutung haben oder ineffektiv sind. Wer glaubte denn überhaupt,
dass solche absoluten Grundlagen existierten, und wie würden sie aus-
sehen, wenn es sie gäbe?
120 Poststrukturalismus
Ein Vorteil des Dogmas, dass wir Gefangene unseres eigenen Dis-
kurses sind, nicht dazu fähig, bestimmte Wahrheitsansprüche vernünf-
tig vor(an)zubringen, weil solche Ansprüche nur zu unserer Sprache in
Beziehung stehen, besteht darin, dass es einem ermöglicht, in voller
Montur durch die Überzeugungen aller anderen hindurchzugaloppie-
ren, ohne dass es einem die Unbequemlichkeit aufbürdet, selbst eine
Überzeugung anzunehmen. Es stellt im Ergebnis eine unverwundbare
Position dar, und die Tatsache, dass es zugleich völlig leer ist, ist eben
der Preis, den man hierfür zu zahlen hat. Die Ansicht, dass der signifi-
kanteste Aspekt jeglicher sprachlichen Äußerung darin besteht, dass
sie nicht weiß, worüber sie spricht, schmeckt nach einer müden Resi-
gnation angesichts der Unmöglichkeit von Wahrheit, die zu der histo-
rischen Desillusion der nach-1968er durchaus in Beziehung steht.
Aber es befreit einen auch auf einen Schlag davon, in wichtigen Ange-
legenheiten Position beziehen zu müssen, denn was man zu solchen
Dingen sagt, ist nie mehr als ein flüchtiges Ergebnis des Signifikanten
und kann daher in keiner Weise als ›wahr‹ oder ›ernst‹ genommen wer-
den. Ein weiterer Vorteil dieser Haltung besteht darin, dass sie auf
schadenfrohe Weise gegenüber den Meinungen aller anderer radikal
ist, dazu fähig, auch noch die ernsthaftesten Erklärungen als liederli-
ches Spiel der Zeichen zu demaskieren, während sie in jeder anderen
Hinsicht zutiefst konservativ ist. Da sie einen dazu verpflichtet, nichts
zu bestätigen, ist sie so gefährlich wie Platzpatronen.
Im anglo-amerikanischen Bereich tendiert der Dekonstruktivismus
im Großen und Ganzen dazu, diesen Weg einzuschlagen. In der soge-
nannten Yale-Schule der Dekonstruktion – Paul de Man, J. Hillis Mil-
ler, Geoffrey Hartman und in gewisser Hinsicht auch Harold Bloom
– dient besonders de Mans Literaturkritik ergeben dem Ziel, zu bewei-
sen, dass die literarische Sprache ständig ihre eigene Bedeutung unter-
miniert. Tatsächlich hat de Man in dieser Operation nichts Geringeres
als eine neue Definition des ›Wesens‹ der Literatur entdeckt. Jegliche
Sprache ist, wie de Man richtig bemerkt, unausweichlich metapho-
risch, arbeitet mit Tropen und Bildern; es ist ein Fehler, zu glauben,
dass irgendeine Sprache buchstäblich ›wörtlich‹ ist. Philosophie, Jura,
Politologie bedienen sich ebenso wie Gedichte der Metapher und sind
somit genauso fiktional. Da Metaphern ihrem Wesen nach keine ›reale
Basis‹ haben, sondern die bloße Ersetzung eines Zeichensatzes durch
einen anderen darstellen, hat die Sprache die Tendenz, ihre Willkür-
lichkeit und Fiktivität gerade an den Stellen preiszugeben, wo sie sich
am überzeugendsten gibt. Der Bereich, in dem diese Ambiguität am
deutlichsten zu Tage tritt, ist die ›Literatur‹ – in der die Leserin sich
zwischen einer ›wörtlichen‹ und einer übertragenen Bedeutung in der
Poststrukturalismus 121
Netze der Unentscheidbarkeit an, die sich bis zum Horizont erstre-
cken. Die Literatur gibt sich nicht, wie für den New Criticism, damit
zufrieden, eine klösterlich abgeschiedene Alternative zur materiellen
Geschichte zu bieten: Sie erstreckt sich nun weiter und kolonialisiert
diese Geschichte, schreibt sie in ihrer eigenen Vorstellung neu und
sieht Hungersnöte, Revolutionen, Fußballspiele und Karamellpud-
ding nur als jeweils neue unentscheidbare ›Texte‹. Da kluge Menschen
in Situationen, deren Bedeutung nicht einigermaßen klar ist, nicht
zum Handeln neigen, bleibt diese Sichtweise nicht ohne Folgen für die
Art des sozialen und politischen Lebens. Da aber die Literatur das pri-
vilegierte Paradigma all dieser Unbestimmbarkeit darstellt, kann der
Rückzug des New Criticism in den literarischen Text im gleichen Mo-
ment wiederholt werden, in dem die Literaturwissenschaft ihre rä-
chende Hand gegen die Welt erhebt und sie mit einem Schlag bedeu-
tungsleer macht. Während für die früheren Literaturtheorien die Er-
fahrung das war, was man nicht greifen konnte, was ständig zerrann
und höchst vieldeutig war, ist es nun die Sprache. Die Terminologie
hat sich verändert; vieles an der Sichtweise der Welt ist bemerkenswert
unverändert geblieben.
Aber es handelt sich nicht, wie bei Bachtin, um Sprache als ›Dis-
kurs‹; Jacques Derridas Werk verhält sich gegenüber derartigen Anlie-
gen auffallend gleichgültig. Hauptsächlich dadurch entsteht die dok-
trinäre Besessenheit mit der ›Unentscheidbarkeit‹. Nun mag die Be-
deutung durchaus letztendlich unentscheidbar sein, wenn man die
Sprache kontemplativ als eine Kette von Signifikanten auf einer Seite
betrachtet; sie wird indessen ›entscheidbar‹, und Wörter wie ›Wahr-
heit‹, ›Realität‹, ›Erkenntnis‹ und ›Gewissheit‹ erhalten einiges von ih-
rer Kraft zurück, sobald wir die Sprache als etwas ansehen, was wir tun,
als etwas, was unauflöslich mit unseren praktischen Lebensformen ver-
bunden ist. Natürlich wird die Sprache dadurch noch nicht fest und
leuchtend: Im Gegenteil, sie wird sogar noch trügerischer und konflikt-
trächtiger als der ›dekonstruktivste‹ literarische Text. Es ist nur einfach
so, dass wir dann in der Lage sind, zu erkennen und zwar mehr prak-
tisch als akademisch, was als Entscheiden, Bestimmen, Überreden, als
Gewissheit, Aufrichtigkeit, Widerlegung und all das Übrige zählt –
und außerdem zu erkennen, was über die Sprache hinaus in solche
Definitionen involviert ist. Der anglo-amerikanische Dekonstruktivis-
mus lässt diese reale Sphäre des Kampfes weitgehend außer Acht und
fährt fort, seine geschlossenen kritischen Texte einzukochen. Diese
Texte sind genau deshalb in sich geschlossen, weil sie leer sind: Man
kann wenig mehr mit ihnen anfangen, als die Rückhaltlosigkeit zu be-
wundern, mit der sämtliche positiven Teilchen der Textbedeutung in
Poststrukturalismus 123
nichts aufgelöst worden sind. Eine solche Auflösung ist ein Imperativ
im akademischen Spiel der Dekonstruktion: Sobald man bei seiner kri-
tischen Betrachtung der kritischen Textbetrachtung von jemand ande-
rem auch nur die winzigsten Spuren einer ›positiven‹ Bedeutung in ir-
gendeiner Ritze übersehen hat, kann man sicher sein, dass der nächste
kommt und einen seinerseits dekonstruiert. Eine solche Dekonstrukti-
on ist ein Machtspiel, ein Spiegelbild des orthodoxen akademischen
Wettbewerbs. Nur dass jetzt, in einer religiösen Verdrehung der alten
Ideologie, der Sieg durch kenosis oder Selbstentleerung erlangt werden
kann: Es gewinnt derjenige, der es geschafft hat, sämtliche Karten los-
zuwerden und mit leeren Händen dazusitzen.
Wenn der anglo-amerikanische Dekonstruktivismus als Signal für
die letzte Stufe eines liberalen Skeptizismus erscheinen mag, der für die
moderne Entwicklung beider Gesellschaften typisch ist, so ist die Ge-
schichte in Europa etwas komplexer. Als die 1960er Jahre den 70ern
Platz machten, als die karnevalesken Erinnerungen an 1968 verblass-
ten und der Weltkapitalismus in eine ökonomische Krise stolperte,
wandten sich einige der französischen Poststrukturalisten, die ur-
sprünglich mit der avantgardistischen Literaturzeitschrift Tel Quel ver-
bunden waren, von einem militanten Maoismus zu einem krassen
Antikommunismus. Der Poststrukturalismus im Frankreich der
1970er Jahre war guten Gewissens im Stande, die iranischen Mullahs
zu loben, die USA als die einzige verbliebene Oase der Freiheit und des
Pluralismus in einer reglementierten Welt zu feiern und verschiedene
Sorten von unheimlichen Mystizismen als die Lösung für alle mensch-
lichen Übel zu empfehlen. Wenn Saussure vorhergesehen hätte, was er
da auslöste, hätte er sich möglicherweise auf Untersuchungen über den
Genetiv im Sanskrit beschränkt.
Aber wie alle Erzählungen, so hat auch die Geschichte vom Post-
strukturalismus eine zweite Seite. Wenn der amerikanische Dekon-
struktivismus glaubte, dass sein textuelles Unterfangen getreu im Sin-
ne Derridas sei, so gehörte Derrida selbst zu denen, die das anders
beurteilten. Bestimmte amerikanische Anwendungsformen der De-
konstruktion führen, wie Derrida bemerkt, zur Festigung einer ›insti-
tutionellen Abschottung‹, die den herrschenden politischen und öko-
nomischen Interessen der amerikanischen Gesellschaft dient (vgl. La-
coue-Labarthe/Nancy 1981, S. 526–529). Derrida hat entschieden
mehr vor, als neue Formen des Lesens zu entwickeln: Die Dekonstruk-
tion ist für ihn eine letztendlich politische Praxis, ein Versuch, die Lo-
gik zu enthüllen, mit der ein bestimmtes Denksystem und hinter die-
sem ein ganzes System von politischen Strukturen und gesellschaft-
lichen Institutionen ihre Macht aufrechterhalten. Er versucht keines-
124 Poststrukturalismus
wahrscheinlich, dass wir krank werden. Diese Art von Krankheit ist als
Neurose bekannt; und da, wie gesagt, alle Menschen bis zu einem ge-
wissen Grad der Verdrängung unterliegen, kann man mit den Worten
eines Freudkommentators vom Menschen als dem »neurotischen Tier«
sprechen. Es ist wichtig, im Auge zu behalten, dass solche Neurosen
ebenso mit dem zusammenhängen, was an uns als Gattung kreativ ist,
wie mit den Ursachen unseres Unglücks. Eine Möglichkeit, mit uner-
füllbaren Bedürfnissen umzugehen, besteht darin, sie zu ›sublimieren‹,
womit Freud meint, dass man sie auf gesellschaftlich höher bewertete
Ziele ausrichtet. So können wir möglicherweise im Bau von Brücken
oder Kathedralen einen unbewussten Ausweg aus unserer sexuellen
Frustration finden. Für Freud entsteht dank solcher Sublimierungen
die Zivilisation selbst: Indem unsere Instinkte auf diese höheren Ziele
umgelenkt und für sie nutzbar gemacht werden, wird die eigentliche
Kulturgeschichte geschaffen.
Wenn Marx die Konsequenzen dessen, dass wir zur Arbeit gezwun-
gen sind, unter dem Aspekt der gesellschaftlichen Beziehungen, der
sozialen Klassen und der Arten von Politik, die daraus hervorging, be-
trachtet hat, so sieht Freud die Folgen für die psychische Existenz. Das
Paradox oder der Widerspruch, auf dem sein Werk basiert, ist, dass wir
nur durch massive Verdrängung der Bestandteile, aus denen wir ei-
gentlich hervorgegangen sind, zu dem wurden, was wir sind. Wir sind
uns dessen natürlich nicht bewusst, genauso wenig wie sich für Marx
die Menschen im Allgemeinen der gesellschaftlichen Vorgänge be-
wusst sind, die ihr Leben bestimmen. Tatsächlich könnten wir uns
schon per Definition dieser Tatsache nicht bewusst sein, da der Ort, an
den wir unsere unerfüllbaren Wünsche verbannen, als das Unbewusste
bekannt ist. Indessen erhebt sich hier unmittelbar eine Frage, und zwar
die, warum gerade der Mensch das neurotische Tier sein sollte und
nicht die Schnecke oder die Schildkröte. Es ist möglich, dass hier nur
eine romantische Idealisierung dieser Geschöpfe vorliegt und dass sie
insgeheim um einiges neurotischer sind, als wir glauben; aber sie schei-
nen dem Außenstehenden recht gut angepasst, auch wenn ein oder
zwei Fälle von hysterischer Lähmung verbucht sein mögen.
Ein Charakteristikum, das den Menschen von anderen Tieren un-
terscheidet, ist, dass wir aus evolutionären Gründen fast völlig hilflos
geboren werden und unser Überleben vollständig von der Fürsorge der
reiferen Mitglieder der Spezies, gewöhnlich unserer Eltern, abhängt.
Wir sind ›Frühgeburten‹. Ohne eine solche sofortige, unaufhörliche
Fürsorge würden wir sehr schnell sterben. Diese ungewöhnlich lang
anhaltende Abhängigkeit von unseren Eltern ist zunächst vor allem
eine rein materielle Angelegenheit, eine Frage der Fütterung und des
Die Psychoanalyse 129
höheren Autoritäten, denen das Kind später begegnen wird; und in-
dem es dieses spezielle Gebot ›introjiziert‹ (zu seinem eigenen macht),
fängt das Kind an, das herauszubilden, was Freud das ›Über-Ich‹
nennt, die schmerzliche, strafende innere Stimme des Gewissens.
Damit könnte nun alles für die Bestätigung der Geschlechterrollen,
den Befriedigungsaufschub, das Akzeptieren der Autorität und die Re-
produktion von Familie und Gesellschaft geregelt scheinen. Aber wir
haben das unbändige, unbotmäßige Unbewusste außer Acht gelassen.
Das Kind hat nun ein Ego oder eine individuelle Identität entwickelt,
einen spezifischen Platz in den sexuellen, familiären und gesellschaftli-
chen Netzen; aber es kann dies nur erreichen, indem es sozusagen sein
schuldiges Begehren abspaltet und ins Unbewusste verdrängt. Das
menschliche Subjekt, das aus dem ödipalen Prozess hervorgeht, ist ein
gespaltenes Subjekt, das zwischen dem Bewussten und dem Unbewuss-
ten unsicher hin- und hergerissen wird; und das Unbewusste kann je-
derzeit wiederkehren, um es zu quälen. In der Umgangssprache wird
häufiger das Wort ›Unterbewusstsein‹ als ›Unbewusstes‹ benutzt; aber
das heißt, die radikale Andersartigkeit des Unbewussten unterschätzen,
es in Gedanken an einen Platz stellen, der noch in Reichweite unter
der Oberfläche liegt. Der Begriff unterschätzt die extreme Fremdheit
des Unbewussten, das ein Ort und ein Nicht-Ort zugleich ist, das der
Realität gegenüber völlig gleichgültig bleibt, das weder Logik noch
Negation noch Kausalität noch Kontradiktion kennt, da es völlig dem
instinktiven Spiel der Triebe und der Suche nach Befriedigung unter-
worfen ist.
Der ›Königsweg‹ zum Unbewussten ist der Traum. Unsere Träume
ermöglichen uns ein paar privilegierte Einblicke in seine Arbeitsweise.
Träume sind für Freud im Wesentlichen symbolische Erfüllungen un-
bewusster Wünsche; und sie werden in symbolische Formen gekleidet,
denn wenn dieses Material direkt ausgedrückt würde, könnte es er-
schreckend und verstörend genug sein, um uns aufwachen zu lassen.
Damit wir zu unserem Schlaf kommen, verkleidet und verzerrt das
Unbewusste barmherzig die wahren Bedeutungen und schwächt sie
ab, so dass unsere Träume zu symbolischen Texten werden, die dechif-
friert werden müssen. Das wachsame Ich ist auch in unseren Träumen
noch tätig, zensiert hier ein Bild oder bringt dort eine Botschaft durch-
einander; und das Unbewusste selbst trägt durch seine speziellen
Funktionsweisen noch zu dieser Verwirrung bei. Mit der Ökonomie
der Nachlässigkeit ›verdichtet‹ es eine ganze Reihe von Bildern zu ei-
nem einzigen; oder es ›verschiebt‹ die Bedeutung eines Objektes auf
ein anderes, das irgendwie mit ihm verbunden ist, so dass ich in mei-
nem Traum meiner Aggression gegenüber einer Krabbe freien Lauf
134 Die Psychoanalyse
lasse, die eigentlich gegen eine Person dieses Namens gerichtet ist. Die-
se ständige Verdichtung und Verschiebung der Bedeutung entspricht
dem, was Roman Jakobson als die beiden Primäroperationen der
menschlichen Sprache erkannt hat: der Metapher (der Verdichtung
von Bedeutungen) und der Metonymie (der Verschiebung). Dies war
es, was den französischen Psychoanalytiker Jacques Lacan zu der Aus-
sage brachte, das Unbewusste sei wie eine Sprache strukturiert. Traum-
texte sind auch deshalb kryptisch, weil das Unbewusste eher arm an
Darstellungstechniken für das ist, was es zu sagen hat, da es weitge-
hend auf visuelle Bilder beschränkt ist und daher häufig eine verbale
Bedeutung kunstvoll in eine visuelle übertragen muss: Es kann sich
etwa des Bildes eines Tennisschlägers bedienen, um auf eine bedrohli-
che Person zu verweisen. Jedenfalls zeigen Träume deutlich genug, dass
das Unbewusste über die bewundernswerten Rückgriffsmöglichkeiten
eines faulen, schlecht ausgestatteten Kochs verfügt, der die unter-
schiedlichsten Ingredienzien zu einem zusammengewürfelten Eintopf
rührt, indem er ein Gewürz, das er gerade nicht da hat, durch ein an-
deres ersetzt, indem er verwendet, was immer am Morgen gerade auf
dem Markt war, wie ein Traum sich opportunistisch der ›Tageserleb-
nisse‹ bedient, indem er die Ereignisse des Tages oder die Gefühle wäh-
rend des Schlafes mit Kindheitserfahrungen vermengt.
Träume stellen den hauptsächlichen, jedoch nicht unseren einzigen
Zugang zum Unbewussten dar. Darüber hinaus gibt es auch das, was
Freud ›Fehlleistungen‹ nennt, unwillkürliche Versprecher, Gedächt-
nisversagen, Irrtümer, Lesefehler oder verlegte Gegenstände, die auf
unbewusste Wünsche und Absichten zurückgeführt werden können.
Die Gegenwart des Unbewussten verrät sich auch in Witzen, die für
Freud weitgehend libidinösen, angstbesetzten oder aggressiven Inhalts
sind. Besonders zerstörerisch wirkt sich das Unbewusste indessen in
psychischen Störungen der einen oder anderen Art aus. Wir haben
vielleicht unbewusste Wünsche, die sich nicht verleugnen lassen, die
aber auch keinen praktischen Ausweg zu nehmen wagen; in diesem
Fall bahnt sich der Wunsch seinen Weg durch das Unbewusste, das
Ich wehrt ihn ab und blockiert ihn, und das Ergebnis ist das, was wir
eine Neurose nennen. Der Patient fängt an, Symptome zu entwickeln,
die kompromissartig zugleich einen Schutz gegen den unbewussten
Wunsch bilden und ihn verdeckt zum Ausdruck bringen. Derartige
Neurosen können zwanghaft sein (man muss jede Straßenlaterne an-
fassen, der man begegnet), hysterisch (man entwickelt ohne jeden or-
ganischen Grund eine Lähmung im Arm) oder phobisch (man fürch-
tet sich grundlos vor offenen Räumen oder vor bestimmten Tieren).
Hinter diesen Neurosen erkennt die Psychoanalyse ungelöste Konflik-
Die Psychoanalyse 135
dem Sinne, dass er geglaubt hätte, wenn wir nur erst uns selbst und die
Welt verstünden, könnten wir sofort zum angemessenen Handeln
übergehen. Der springende Punkt bei der Freud’schen Behandlungs-
theorie ist das, was als ›Übertragung‹ bekannt ist, eine Vorstellung, die
manchmal mit dem verwechselt wird, was Freud ›Projektion‹ nennt,
die Zuschreibung von Gefühlen und Wünschen, die in Wirklichkeit
unsere eigenen sind, auf andere. Im Laufe der Behandlung wird der
Analysand (oder Patient) möglicherweise unbewusst beginnen, die
psychischen Konflikte, unter denen er leidet, auf den Analytiker zu
übertragen. Wenn er beispielsweise Schwierigkeiten mit seinem Vater
gehabt hat, kann er unbewusst den Analytiker in dessen Rolle verset-
zen. Dies stellt ein Problem für den Analytiker dar, denn eine solche
›Wiederholung‹ oder rituelle Neuinszenierung des ursprünglichen
Konfliktes ist eine der unbewussten Methoden des Patienten, die wirk-
liche Konfrontation damit zu vermeiden. Wir wiederholen mitunter
zwanghaft, woran wir uns nicht genau erinnern können, und wir kön-
nen uns deshalb nicht daran erinnern, weil es etwas Unangenehmes
ist. Aber die Übertragung ermöglicht dem Analytiker/der Analytikerin
auch eine ganz besonders privilegierte Einsicht in das Seelenleben des
Patienten, und zwar in einer kontrollierten Situation, in der er/sie ein-
greifen kann. (Einer der vielen Gründe, warum sich Psychoanalytiker
in ihrer Ausbildung selbst einer Analyse unterziehen müssen, besteht
darin, dass sie sich selbst ihrer unbewussten Prozesse einigermaßen be-
wusst werden sollen, damit sie der Gefahr der ›Gegenübertragung‹ ih-
rer eigenen Probleme auf die des Patienten möglichst weitgehend wi-
derstehen können.) Dank dieses Dramas der Übertragung und der
Einsichten und Interventionen, die es dem Analytiker ermöglicht,
können die Probleme des Patienten schrittweise in den Begriffen der
Analysesituation selbst neu definiert werden. In diesem Sinne sind die
Probleme, die im Sprechzimmer zur Sprache kommen, paradoxerweise
nie genau dieselben, denen sich der Patient im wirklichen Leben ge-
genübersieht; sie stehen vielleicht in einer ähnlich ›fiktionalen‹ Bezie-
hung zu den Alltagsproblemen des Patienten wie der literarische Text
zu den alltäglichen Geschehnissen, die er verarbeitet. Niemand kommt
genau von den Problemen geheilt aus dem Sprechzimmer, mit denen
er es betreten hat. Wahrscheinlich wird die Patientin sich dem Zugang
der Analytikerin zu ihrem Unbewussten mittels einer Reihe von ver-
trauten Techniken widersetzen, aber wenn alles gut geht, macht der
Übertragungsprozess es möglich, die Probleme ins Bewusstsein ›hinü-
berzuarbeiten‹, und indem sie die Übertragungsbeziehung im rechten
Moment auflöst, hofft die Psychoanalytikerin, sie davon zu befreien.
Eine andere Möglichkeit, diesen Vorgang zu beschreiben, bestünde
Die Psychoanalyse 137
darin, zu sagen, dass die Patientin in die Lage versetzt wird, Teile ihres
Lebens wieder anzunehmen, die sie verdrängt hat: Sie ist nunmehr
imstande, ihre eigene Geschichte neu und vollständiger zu erzählen, so
dass die Störungen, unter denen sie leidet, interpretiert und mit Sinn
gefüllt werden. Die Therapie hat dann Erfolg gehabt.
Die Funktionsweise der Psychoanalyse kann vielleicht am besten
mit einem von Freuds eigenen Aussprüchen zusammengefasst werden:
»Wo ›Es‹ war, dort soll ›Ich‹ werden«. Wo Menschen sich im lähmen-
den Griff von Kräften befanden, die sie nicht verstehen konnten, soll
nun Vernunft und Selbstbeherrschung regieren. Ein solcher Ausspruch
lässt Freud weit rationalistischer erscheinen, als er tatsächlich war. Ob-
gleich er einmal bemerkte, dass nichts letztendlich der Vernunft und
der Erfahrung widerstehen könne, war er von einer Unterschätzung
der Listen und Widerspenstigkeiten der Psyche so weit entfernt, wie
das nur möglich ist. Seine Einschätzung der menschlichen Fähigkeiten
ist insgesamt konservativ und pessimistisch: Wir werden vom Wunsch
nach Befriedigung und einer Abneigung gegen jegliche Frustration do-
miniert. In seinem Spätwerk sieht er die Menschheit in den Klauen
eines entsetzlichen Todestriebes dahinsiechen, eines primären Maso-
chismus, den das Ich auf sich selbst loslässt. Das letzte Ziel des Lebens
ist der Tod, die Rückkehr zu jenem segensreichen unbeseelten Zu-
stand, in dem das Ich nicht verletzt werden kann. Der Eros oder die
sexuelle Energie ist die Kraft, die die Geschichte vorantreibt, aber er ist
in einem tragischen Widerspruch mit Thanatos, dem Todestrieb, be-
fangen. Wir schreiten voran, nur um beständig wieder zurückgewor-
fen zu werden, und ringen um unsere Rückkehr in den vorbewussten
Zustand. Das Ich ist eine bemitleidenswerte, unsichere Größe, von der
Außenwelt gebeutelt, von den grausamen Vorwürfen des Über-Ich ge-
geißelt, von den gierigen, unersättlichen Forderungen des Es gequält.
Freuds Mitleid mit dem Ich ist ein Mitleid mit der Menschheit, die
unter den schier unerträglichen Forderungen leidet, die ihr von einer
auf Wunschverdrängung und Befriedigungsaufschub basierenden Zi-
vilisation auferlegt werden. Für alle utopischen Vorschläge zur Ände-
rung dieser Bedingungen hatte er nur Verachtung übrig; aber obgleich
viele seiner gesellschaftlichen Ansichten konventionell und autoritär
waren, so betrachtete er doch Ansätze zur Abschaffung oder zumindest
Reform des Privateigentums und des Nationalstaates mit einem gewis-
sen Wohlwollen. Dies rührte daher, dass er der festen Überzeugung
war, dass die moderne Gesellschaft in ihrer Repressivität tyrannisch
geworden war. Wenn eine Gesellschaft sich nicht über den Punkt hin-
aus entwickelt hat, an dem die Befriedigung einer Gruppe ihrer Mit-
glieder von der Unterdrückung einer anderen abhängig ist, so argu-
138 Die Psychoanalyse
wie sogenannte sexuelle Perversitäten einen Teil dessen bilden, was als
normale Sexualität gilt, und dass Heterosexualität keineswegs eine na-
türliche oder selbstverständliche Tatsache ist. Die Freud’sche Psycho-
analyse arbeitet zwar gewöhnlich wirklich mit einem Konzept von se-
xueller ›Norm‹, aber es ist in keiner Hinsicht ein naturgegebenes.
Andere verbreitete Kritikpunkte an Freud sind nicht leicht zu un-
termauern. Einer ist bloß die Ungeduld des gesunden Menschenver-
standes: Wie kann sich ein kleines Mädchen ein Kind von ihrem Vater
wünschen? Ob dies wahr ist oder nicht, können wir indessen nicht mit
dem ›gesunden Menschenverstand‹ entscheiden. Man sollte sich die
gänzliche Bizarrerie der Erscheinungsformen des Unbewussten in den
Träumen in Erinnerung rufen, seine Distanz von der Welt des Ichs bei
Tageslicht, bevor man Freud aus solch intuitiven Gründen eilfertig ab-
tut. Eine weitere verbreitete Kritik lautet, dass Freud ›alles auf Sex re-
duziert‹ – dass er, mit dem Terminus technicus, ein ›Pan-Sexualist‹ ist.
Dies ist mit Sicherheit unhaltbar: Freud war ein radikal dualistischer
Denker, zweifellos sogar in exzessivem Ausmaß, und stellte den Sexu-
altrieben stets solche asexuellen Kräfte wie die ›Ich-Instinkte‹ der
Selbsterhaltung gegenüber. Das Körnchen Wahrheit im Vorwurf des
Pan-Sexualismus besteht darin, dass Freud die Sexualität im menschli-
chen Leben für zentral genug hielt, um ihr einen Anteil an all unseren
übrigen Aktivitäten zuzuschreiben; aber dies ist kein sexueller Reduk-
tionismus.
Eine Kritik, die man manchmal immer noch bei der politischen
Linken hört, lautet, dass Freuds Denken individualistisch ist – dass er
›private‹ psychologische Ursachen und Erklärungen an die Stelle ge-
sellschaftlicher und historischer setzt. Dieser Vorwurf spiegelt ein
grundsätzliches Missverständnis der Freud’schen Theorie wider. Tat-
sächlich liegt ein reales Problem in der Beziehung der gesellschaftlichen
und historischen Faktoren zum Unbewussten; aber einer der Kern-
punkte von Freuds Werk ist, dass es die Möglichkeit bietet, die Ent-
wicklung des menschlichen Individuums in gesellschaftlichen und
historischen Begriffen zu denken. Was Freud hervorbringt, ist tatsäch-
lich nicht weniger als eine materialistische Theorie dessen, wie ein
menschliches Subjekt gemacht wird. Wir werden durch körperliche
Interrelationen zu dem, was wir sind – durch die komplexen Transak-
tionen, die sich während unserer Kindheit zwischen unserem eigenen
Körper und den uns umgebenden abspielen. Dies ist kein biologischer
Reduktionismus: Freud glaubt natürlich nicht, dass wir nur aus einem
Körper bestehen oder dass unser Denken einen bloßen Reflex des Kör-
pers darstellt. Und es ist auch kein ungesellschaftliches Lebensmodell,
denn die uns umgebenden Körper und unsere Beziehung zu ihnen
140 Die Psychoanalyse
es von der Außenwelt weiß, als von sich selbst abhängig erlebt. Diese
Identitätsvermengung ist nach der Freud’schen Theoretikerin Melanie
Klein nicht ganz so segensreich, wie es klingen mag: In einem sehr
frühen Alter beherbergt das Kind mörderische aggressive Instinkte ge-
genüber dem Körper der Mutter, unterhält Fantasien, wie es ihn in
Stücke reißt, und leidet unter paranoiden Vorstellungen davon, wie
dieser Körper es seinerseits zerstört.
Wenn wir uns ein kleines Kind vorstellen, das sich im Spiegel be-
trachtet – Lacans sogenanntes ›Spiegel-Stadium‹ – können wir sehen,
wie sich die erste kindliche Entwicklung eines Ich, eines integrierten
Bildes des Selbst, aus dieser ›imaginären‹ Seinsphase heraus abzuspie-
len beginnt. Das Kind, physisch noch immer unkoordiniert, findet im
Spiegel die Wiedergabe eines erfreulich einheitlichen Bildes von sich
selbst; und obgleich seine Beziehung zu diesem Bild immer noch ›ima-
ginär‹ ist – das Spiegelbild ist es selbst und ist es zugleich nicht, die
Grenzen zwischen Subjekt und Objekt sind noch verwischt –, hat es
nun mit dem Prozess begonnen, einen Mittelpunkt des Selbst zu er-
richten. Dieses Selbst ist, wie die Spiegelsituation nahelegt, im We-
sentlichen narzisstisch: Wir kommen dadurch zu einem Gefühl für ein
›Ich‹, dass uns dieses ›Ich‹ von einem Objekt oder einer Person der
Außenwelt widergespiegelt wird. Dieses Objekt ist zugleich irgendwie
ein Teil unserer selbst – wir identifizieren uns mit ihm – und ist doch
nicht wir selbst, sondern etwas Fremdes. Das Bild, das das kleine Kind
im Spiegel sieht, ist in diesem Sinne ein ›verfremdetes‹: Das Kind
›misserkennt‹ sich darin, findet im Bild eine angenehme Einheit, die es
im eigenen Körper nicht wirklich erfährt. Das Imaginäre ist für Lacan
genau dieses Reich der Bilder, mit denen wir uns identifizieren, um
gerade dadurch zu Fehlwahrnehmungen und Fehlerkenntnissen von
uns selbst geführt zu werden. Wenn das Kind aufwächst, wird es fort-
fahren, solche imaginären Identifikationen mit Objekten vorzuneh-
men, und auf diese Weise wird sein Ich konstituiert. Für Lacan ist das
Ich genau dieser narzisstische Prozess, mit dem wir das fiktive Gefühl
eines einheitlichen Selbst aufpolstern, indem wir etwas in der Außen-
welt finden, womit wir uns identifizieren können.
Bei der Betrachtung der präödipalen oder imaginären Phase haben
wir ein Seinsregister vor uns, in dem es wirklich nicht mehr als zwei
Begriffe gibt: das Kind selbst und den Körper des anderen, der zu die-
sem Zeitpunkt gewöhnlich die Mutter ist und für das Kind die externe
Realität verkörpert. Aber wie sich bei der Darstellung des Ödipus-
Komplexes gezeigt hat, ist diese ›diadische‹ Struktur dazu verurteilt,
einer ›triadischen‹ Platz zu machen: Und dies geschieht, wenn der Va-
ter auf dieser harmonischen Szene auftritt und sie unterbricht. Der
142 Die Psychoanalyse
Vater symbolisiert das, was Lacan das Gesetz nennt und was zunächst
aus dem gesellschaftlichen Inzest-Tabu besteht: Das Kind wird in sei-
ner libidinösen Beziehung zur Mutter gestört und muss in der Person
des Vaters erkennen lernen, dass ein weiteres familiäres und gesell-
schaftliches Gefüge existiert, von dem es selbst nur ein Teil ist. Nicht
nur ist das Kind bloß ein Teil dieses Gefüges, sondern auch die Rolle,
die es zu spielen hat, ist bereits vorherbestimmt, von den Praktiken der
Gesellschaft, in die es hineingeboren worden ist, festgeschrieben. Das
Erscheinen des Vaters trennt das Kind vom Körper der Mutter und
treibt sein Begehren damit, wie wir gesehen haben, in den Untergrund
des Unbewussten. In diesem Sinne ereignet sich das erste Auftreten des
Gesetzes und der Beginn des unbewussten Begehrens im selben Au-
genblick: Erst wenn das Kind das Tabu oder Verbot erkennt, das der
Vater symbolisiert, verdrängt es sein schuldhaftes Begehren, und dieses
Begehren ist gerade das, was das Unbewusste genannt wird.
Damit sich das Drama des Ödipus-Komplexes überhaupt ereignen
kann, muss sich das Kind zumindest vage des Unterschiedes zwischen
den Geschlechtern bewusst geworden sein. Dieser Unterschied wird
durch den Auftritt des Vaters bezeichnet; und eines der Schlüsselwör-
ter in Lacans Werk, der Phallus, bezeichnet diese Bedeutung der sexu-
ellen Verschiedenheit. Nur indem es die Notwendigkeit des Ge-
schlechtsunterschiedes und distinkter Geschlechterrollen akzeptiert,
wird das Kind, das sich solcher Probleme zuvor nicht bewusst war,
richtig ›sozialisiert‹. Lacans Besonderheit ist es, diesen Prozess, den wir
schon in Freuds Darstellung des Ödipus-Komplexes kennengelernt
haben, unter dem Aspekt der Sprache neu zu beschreiben. Wir können
uns das kleine Kind, das sich im Spiegel betrachtet, als eine Art ›Signi-
fikanten‹ vorstellen – etwas, was in der Lage ist, Bedeutung zu verlei-
hen – und das Bild, das es im Spiegel sieht, als eine Art ›Signifikat‹. Das
Bild, das das Kind sieht, ist in gewisser Weise seine eigene ›Bedeutung‹.
Signifikant und Signifikat sind hier so harmonisch vereinigt wie im
Saussure’schen Zeichen. Alternativ könnten wir die Spiegelsituation
als eine Art Metapher ansehen: Eine Größe (das Kind) entdeckt ihre
Ähnlichkeit mit einer anderen (dem Spiegelbild). Dies ist für Lacan
ein passendes Bild für das Imaginäre als solches: In diesem Zustand
spiegeln sich Objekte in einem geschlossenen Zirkel ununterbrochen
gegenseitig wider, und noch sind keinerlei reale Unterschiede oder
Differenzen erkennbar. Es ist eine Welt der Fülle, ohne irgendeinen
Mangel oder Ausschluss: Vor dem Spiegel findet der ›Signifikant‹ (das
Kind) eine ›Fülle‹, eine vollständige und unbefleckte Identität im
Signifikat seines Spiegelbildes. Zwischen Signifikat und Signifikant,
zwischen Subjekt und Welt klafft noch kein Abgrund. Das Kind ist
Die Psychoanalyse 143
verdrängung macht uns zu dem, was wir sind. Das Kind muss sich nun
mit der Tatsache abfinden, dass es niemals über einen direkten Zugang
zur Realität verfügen kann, besonders nicht zum nunmehr verbotenen
Körper der Mutter. Aus diesem ›vollen‹, imaginären Besitz ist es in die
›leere‹ Welt der Sprache vertrieben worden. Sprache ist ›leer‹, weil sie
einfach ein endloser Prozess von Differenz und Absenz ist: Anstatt et-
was zur Gänze besitzen zu können, bewegt sich das Kind nun einfach
von Signifikant zu Signifikant an einer sprachlichen Kette entlang, die
potenziell unendlich ist. Ein Signifikant impliziert den nächsten, und
der wieder den nächsten, und so weiter ad infinitum: Die ›metaphori-
sche‹ Spiegelwelt ist der ›metonymischen‹ Welt der Sprache gewichen.
Entlang dieser metonymischen Signifikantenkette entstehen Bedeu-
tungen oder Signifikate; aber keine Sache und keine Person kann je-
mals in dieser Kette vollständig ›präsent‹ sein, denn wie wir bei Derri-
da gesehen haben, führt sie zur Unterteilung und Unterscheidung aller
Identitäten.
Diese potenziell unendliche Bewegung von einem Signifikanten
zum nächsten ist es, die Lacan mit Begehren meint. Alles Begehren
entspringt einem Mangel, den es kontinuierlich zu stillen sucht. Die
menschliche Sprache funktioniert auf Grund eines solchen Mangels:
der Abwesenheit der realen Objekte, die sie bezeichnet, und der Tatsa-
che, dass Worte nur kraft der Abwesenheit und des Ausschlusses ande-
re Bedeutung haben. Mit dem Eintritt in die Sprache wird man somit
zu einer Beute des Begehrens: Die Sprache, bemerkt Lacan, ist das,
›was das Sein in Begehren aushöhlt.‹ Die Sprache zerteilt – artikuliert
– die Ganzheit des Imaginären: Niemals wieder werden wir in einem
einzigen Objekt, in einer letzten Bedeutung, die alle anderen mit Sinn
füllt, zur Ruhe kommen können. Der Eintritt in die Sprache bedeutet
die Trennung von dem, was Lacan das ›Reale‹ nennt, jenes unzugäng-
liche Reich, das sich stets jenseits der Reichweite der Bedeutung befin-
det, immer außerhalb der symbolischen Ordnung. Insbesondere sind
wir vom Körper der Mutter getrennt: Nach der ödipalen Krise können
wir dieses kostbare Objekt niemals wieder erlangen, auch wenn wir
ihm unser ganzes Leben lang nachjagen. Wir müssen uns stattdessen
mit Ersatzobjekten zufrieden geben, dem, was Lacan das ›Objekt klein
a‹ nennt, mit dem wir die Lücke mitten im Zentrum unseres Seins
vergeblich zu stopfen versuchen. Wir bewegen uns von Substitut zu
Substitut, von Metapher zu Metapher, ohne jemals die reine (wenn
auch fiktive) Identität und Einheit mit uns selbst wiedergewinnen zu
können, die wir im Imaginären kannten. Es gibt keine ›transzendenta-
le‹ Bedeutung oder ein Objekt, das diese endlose Sehnsucht stillen
könnte – oder wenn es eine solche transzendentale Realität gibt, so ist
Die Psychoanalyse 145
samkeit darauf lenkt, wie sie eigentlich konstruiert ist. Die Sprache
eines juristischen Dokumentes oder eines wissenschaftlichen Lehrbu-
ches kann uns beeindrucken oder sogar einschüchtern, weil wir nicht
sehen, wie die Sprache überhaupt dorthin gekommen ist. Der Text
ermöglicht dem Leser keinen Ausblick auf die Art der Auswahl der
darin enthaltenen Fakten, darauf, was ausgeschlossen wurde, warum
die Fakten in gerade dieser Weise geordnet wurden, welche Annahmen
diesem Prozess zugrunde lagen, welche Arbeitsformen in die Erstel-
lung des Textes eingegangen sind, und wie dies alles auch anders hätte
geschehen können. Ein Teil der Macht solcher Texte liegt in der Unter-
drückung dessen, was man ihre Produktionsweisen nennen könnte,
der Vorgänge, durch die sie zu dem wurden, was sie sind; in diesem
Sinne haben sie eine merkwürdige Ähnlichkeit mit dem Leben des
menschlichen Ich, das durch die Verdrängung seines eigenen Entste-
hungsprozesses gedeiht. Viele modernistische literarische Werke ma-
chen im Gegensatz hierzu den ›Äußerungsakt‹, den Prozess ihrer eige-
nen Herstellung, zu einem Teil ihres eigentlichen ›Inhalts‹. Sie versu-
chen nicht, sich wie Barthes’ ›natürliches Zeichen‹ als unhinterfragbar
auszugeben, sondern legen, wie die Formalisten sagen würden, ›das
Verfahren‹ ihrer eigenen Erstellung ›bloß‹. Sie tun dies, um nicht ver-
sehentlich für die absolute Wahrheit gehalten zu werden – um den
Leser/die Leserin zu ermutigen, kritisch über die voreingenommenen,
speziellen Arten nachzudenken, in der sie Realität konstruieren, und
derart zu erkennen, wie sich alles auch anders abgespielt haben könnte.
Das beste Beispiel für diese Art Literatur ist vielleicht das Drama Ber-
tolt Brechts; aber es gibt in der modernen Kunst zahlreiche weitere
Beispiele, nicht zuletzt auch im Film. Man denke nur einerseits an ei-
nen typischen Hollywood-Film, der die Kamera einfach als eine Art
›Fenster‹ oder zweites Auge benutzt, durch das der Zuschauer/die Zu-
schauerin die Wirklichkeit betrachtet – der die Kamera ruhig hält und
ihr nur erlaubt, einfach ›aufzuzeichnen‹, was sich ereignet. Wenn wir
einen solchen Film sehen, neigen wir dazu, zu vergessen, dass das ›Ge-
schehen‹ nicht wirklich ›geschieht‹, sondern ein hochkompliziertes
Konstrukt ist, das die Handlungen und Einstellungen sehr vieler Men-
schen miteinbezieht. Man denke dann andererseits an eine Filmse-
quenz, in der die Kamera ruhelos, nervös von Objekt zu Objekt
springt, wenn sie zunächst eines in ihren Blickwinkel nimmt, nur um
es dann für ein anderes aufzugeben, wenn sie diese Objekte zwanghaft
von verschiedenen Blickwinkeln aus sondiert, bevor sie, gleicherma-
ßen untröstlich, weiterflattert, um etwas anderes zu erfassen. Dies wäre
nicht unbedingt ein besonders avantgardistisches Vorgehen; aber auch
dies wirft schon ein Licht darauf, wie im Gegensatz zum ersten Film
148 Die Psychoanalyse
die Aktivität der Kamera, die Art des Aufbaus einer Episode, in den
›Vordergrund‹ gestellt wird, so dass wir als Zuschauer unseren Blick
nicht einfach durch diese aufdringlichen Operationen hindurch auf
die Objekte selbst richten können. Der ›Inhalt‹ der Sequenz kann als
das Produkt einer speziellen Reihe technischer Vorgehensweisen begrif-
fen werden, nicht als eine ›natürliche‹ oder gegebene Wirklichkeit, die
nur von der Kamera wiedergegeben wird. Das ›Signifikat‹ – die Bedeu-
tung der Sequenz – ist ein Produkt des ›Signifikanten‹ – der filmischen
Techniken – und nicht so sehr etwas, was ihr vorausgegangen ist. (Ei-
nige bemerkenswerte Analysen dieser Art enthält die Filmzeitschrift
Screen, die von der Society for Education in Film and Television in
London herausgegeben wird; vgl. auch Christian Metz: The Imaginary
Signifier. Psychoanalysis and Cinema, London 1982).
Um die Implikationen des Lacan’schen Denkens für das menschli-
che Subjekt weiter verfolgen zu können, müssen wir einen kurzen Um-
weg über einen berühmten Essay machen, den der französische mar-
xistische Philosoph Louis Althusser unter dem Einfluss Lacans ge-
schrieben hat. In »Ideologie und ideologische Staatsapparate«, enthal-
ten in seinem gleichnamigen Buch (1971; dt. 1977), versucht Althus-
ser mit impliziter Hilfe der Lacan’schen psychoanalytischen Theorie
die Funktionsweise der Ideologie in der Gesellschaft zu illustrieren.
Wie kommt es, fragt der Essay, dass menschliche Subjekte sich so oft
den dominanten Ideologien ihrer jeweiligen Gesellschaft unterwerfen
– Ideologien, die Althusser als lebensnotwendig für die Erhaltung der
Macht der herrschenden Klasse ansieht? Durch welche Mechanismen
kommt dies zustande? Althusser wird manchmal insofern als ›struktu-
ralistischer‹ Marxist angesehen, als die menschlichen Individuen für
ihn Produkte vieler verschiedener gesellschaftlicher Determinanten
sind und somit über keine Einheitlichkeit im Wesen verfügen. In den
Grenzen der Wissenschaft von der menschlichen Gesellschaft können
solche Individuen einfach als die Funktionen oder Ergebnisse dieser
oder jener Gesellschaftsstruktur untersucht werden – als Inhaber be-
stimmter Stellen in einem Produktionsmodus, als Angehörige einer
bestimmten Gesellschaftsschicht etc. Aber damit ist natürlich noch
nicht unsere gesamte Selbstwahrnehmung abgedeckt. Wir neigen da-
zu, uns eher als freie, einheitliche, autonome, uns selbst erzeugende
Individuen zu sehen, und wenn wir das nicht täten, wären wir außer-
stande, unsere Rollen im gesellschaftlichen Leben zu spielen. Für Alt-
husser ist das, was uns diese Eigenerfahrung erlaubt, die Ideologie.
Wie ist das zu verstehen?
Was die Gesellschaft betrifft, so bin ich als Individuum völlig ent-
behrlich. Zweifellos muss irgendjemand die Funktionen wahrnehmen,
Die Psychoanalyse 149
wie das Spiegelbild dies nahelegt; und ich bin nicht wirklich das kohä-
rente, autonome, sich selbst erzeugende Subjekt, als das ich mich in
der ideologischen Sphäre kenne, sondern die ›dezentrierte‹ Funktion
zahlreicher gesellschaftlicher Determinanten. Von dem Bild, das ich
bekomme, gebührend verzaubert, unterwerfe ich mich ihm; und
durch diese ›subjection‹ werde ich zum Subjekt.
Nun würden die meisten Kommentatoren darin übereinstimmen,
dass Althussers anregender Essay ernstliche Mängel aufweist. Er
scheint zum Beispiel anzunehmen, dass Ideologie wenig mehr als eine
unterdrückende Kraft ist, die uns unterwirft, ohne für die Wirklich-
keit der ideologischen Kämpfe genügend Raum zu lassen; und er bein-
haltet auch einige schwerwiegende Fehlinterpretationen von Lacan.
Nichtsdestotrotz ist er ein Versuch, die Relevanz der Lacan’schen The-
orie für Bereiche außerhalb des Sprechzimmers aufzuzeigen; er sieht
ganz richtig, dass ein solches Werk tiefgehende Implikationen für eine
ganze Reihe von Gebieten über die eigentliche Psychoanalyse hinaus
hat. Und tatsächlich erlaubt Lacan uns, indem er den Freudianismus
unter dem Aspekt der Sprache, einer ausgesprochen sozialen Aktivität,
neu interpretiert, die Beziehungen zwischen dem Unbewussten und
der menschlichen Gesellschaft zu erforschen. Eine Möglichkeit, sein
Werk zu beschreiben, bestünde darin, zu sagen, dass er uns zu der Er-
kenntnis führt, dass das Unbewusste nicht eine brodelnde, in Aufruhr
befindliche private Region ›in uns‹ ist, sondern ein Ergebnis unserer
Beziehungen zueinander. Das Unbewusste ist sozusagen mehr ›außer
uns‹ als ›in uns‹ – oder vielmehr, es existiert ›zwischen‹ uns, wie dies
unsere Beziehungen zueinander tun. Es ist nicht so sehr deshalb nicht
zu fassen, weil es tief in unseren Seelen vergraben liegt, sondern weil es
eine Art riesiges, verschlungenes Netz ist, das uns umgibt und uns
durchflutet und das deshalb nie an einem Punkt festgemacht werden
kann. Das beste Bild für ein solches Netz, das zugleich jenseits von uns
liegt und doch auch der Stoff ist, aus dem wir bestehen, ist die Sprache
selbst; und tatsächlich ist das Unbewusste für Lacan ein Ergebnis der
Sprache, ein Prozess des Begehrens, der durch die Differenz in Bewe-
gung gesetzt wurde. Wenn wir die symbolische Ordnung betreten,
treten wir in die Sprache selbst ein; und doch ist diese Sprache für
Lacan wie auch für die Strukturalisten niemals etwas, was gänzlich
unserer individuellen Kontrolle unterliegt. Sprache ist, wie wir gesehen
haben, im Gegenteil das, was uns innerlich spaltet, und nicht so sehr
ein Instrument, das wir zuversichtlich manipulieren können. Die
Sprache geht uns immer voraus, ist immer schon ›an ihrem Platz‹ und
wartet darauf, uns unseren Platz in ihr zuzuweisen. Sie ist da und war-
tet auf uns, ungefähr so, wie dies unsere Eltern tun; und wir können
Die Psychoanalyse 151
hung mit einer Frau nicht in der Lage ist und schließlich eine Mög-
lichkeit der Befreiung aus diesem Zustand findet, indem er seine Mut-
ter in einem mehrdeutigen Akt der Liebe, der Rache und der Selbstbe-
freiung tötet. Mrs. Morel ist ihrerseits auf Pauls Beziehung zu Miriam
eifersüchtig und benimmt sich wie eine rivalisierende Geliebte. Paul
wendet sich schließlich um seiner Mutter willen von Miriam ab; aber
indem er Miriam ablehnt, lehnt er zugleich unbewusst seine Mutter in
ihr ab, in dem, was er als Miriams erstickenden geistigen Besitzan-
spruch erlebt.
Pauls psychologische Entwicklung spielt sich indessen nicht in ei-
nem gesellschaftlichen Vakuum ab. Sein Vater, Walter Morel, ist Berg-
arbeiter, während seine Mutter einer etwas höheren Gesellschafts-
schicht angehört. Mrs. Morel ist sehr daran interessiert, dass Paul sei-
nem Vater nicht in die Grube folgt, und wünscht sich, dass er stattdes-
sen eine Tätigkeit im Büro aufnimmt. Sie selbst bleibt als Hausfrau
zuhause; der familiäre Aufbau der Morels ist ein Teil dessen, was als
›geschlechtliche Arbeitsteilung‹ bekannt ist, die in der kapitalistischen
Gesellschaft die Gestalt annimmt, dass der männliche Elternteil als
Arbeitskraft im Produktionsprozess benutzt wird, während es dem
weiblichen Teil überlassen bleibt, für den materiellen und emotionalen
›Unterhalt‹ von ihm und den künftigen Arbeitskräften (den Kindern)
zu sorgen. Mr. Morels Entfremdung vom intensiven häuslichen Ge-
fühlsleben entspringt zum Teil dieser gesellschaftlichen Arbeitsteilung
– einer Teilung, die ihn von seinen Kindern entfremdet und sie emoti-
onal der Mutter näher bringt. Wenn die Arbeit des Vaters, wie im
Falle Walter Morels, besonders hart und drückend ist, verliert seine
Rolle innerhalb der Familie mit großer Wahrscheinlichkeit weiter an
Gewicht: Morels Möglichkeiten der menschlichen Kontaktaufnahme
mit seinen Kindern sind auf seine praktischen Fähigkeiten im Bereich
des Hauses reduziert. Sein Mangel an Bildung macht es ihm darüber
hinaus schwer, seine Gefühle auszudrücken, und auch hierdurch ver-
tieft sich die Distanz zwischen ihm und seiner Familie. Die körperliche
Erschöpfung und harte Disziplin, die mit seiner Arbeit einhergeht,
bringt ihn dazu, zu Hause eine Reizbarkeit und Gewalttätigkeit zu
entwickeln, die seine Kinder nur noch weiter in die Arme der Mutter
treibt. Um seine untergeordnete Stellung bei der Arbeit zu kompensie-
ren, kämpft der Vater zu Hause um die Behauptung einer traditionel-
len männlichen Autorität und entfremdet seine Kinder so noch mehr
von sich.
Im Falle der Morels werden diese gesellschaftlichen Faktoren durch
den Schichtenunterschied zwischen ihnen noch weiter verkompliziert.
Morel verfügt über das, was der Roman für eine typisch proletarische
Die Psychoanalyse 153
te, der Blick darauf, was gesagt wird, und nicht so sehr darauf, wie es
gesagt wird, mehr auf das ›Thema‹ als auf die ›Form‹. Aber wir können
diese Überlegungen auf die ›Form‹ selbst übertragen – darauf, wie der
Roman seine Geschichte erzählt und strukturiert, wie er die Figuren
schildert, welchen Erzähl-Standpunkt er einnimmt. Es scheint zum
Beispiel offensichtlich, dass sich der Text selbst weitestgehend, wenn
auch keineswegs vollständig, mit Pauls eigener Sichtweise identifiziert
und ihr beipflichtet: Da die Geschichte im Wesentlichen aus seiner
Sicht gesehen wird, haben wir außer ihm keine weiteren Belegquellen.
Während Paul in den Vordergrund der Geschichte tritt, zieht sich sein
Vater in den Hintergrund zurück. Der Roman ist in seiner Behand-
lung von Mrs. Morel im Allgemeinen auch stärker ›nach innen gerich-
tet‹ als gegenüber ihrem Mann: Man könnte durchaus behaupten, dass
er auf eine Art und Weise gestaltet ist, die sie beleuchtet und ihn im
Dunkeln lässt, ein formales Vorgehen, das die Haltungen der Protago-
nisten selbst verstärkt. Die Struktur der Erzählung selbst verbindet
sich mit anderen Worten bis zu einem gewissen Grad mit Pauls Unbe-
wusstem: Es wird uns beispielsweise nicht klar, ob Miriam, wie der
Text sie uns vorstellt, sehr aus der Sichtweise Pauls, die Reizbarkeit und
Ungeduld, die sie in ihm hervorruft, wirklich verdient hat, und viele
Leser könnten das unangenehme Gefühl bekommen, dass der Roman
in gewissem Sinne ›ungerecht‹ mit ihr umgeht. (Die wirkliche Miriam,
Jessie Chambers, war aufs heftigste dieser Ansicht, aber das spielt für
unser augenblickliches Vorhaben keine Rolle.) Aber wie können wir
die Berechtigung dieses Ungerechtigkeitsgefühls erklären, wenn doch
Pauls Sichtweise ständig als unsere vermeintlich verlässliche Informati-
onsquelle im ›Vordergrund‹ steht?
Andererseits gibt es Aspekte des Romans, die dieser ›auf einen
Blickwinkel ausgerichteten‹ Darstellung zuwiderlaufen. H. M. Daleski
drückt diese Wahrnehmung so aus: »Das Gewicht der feindseligen
Kommentare, die Lawrence gegen Morel richtet, wird durch die unbe-
wusste Zuneigung ausgeglichen, mit der er dramatisch dargestellt
wird, während die offene Zelebrierung von Mr Morel durch die cha-
rakterliche Härte ihrer Handlungen in Frage gestellt wird« (1968, S.
43). Mit den Worten, die wir für Lacan gebraucht haben, sagt der
Roman nicht genau, was er meint, oder meint nicht, was er sagt. Dies
kann wiederum seinerseits psychoanalytisch erklärt werden: Die ödi-
pale Beziehung des Knaben zu seinem Vater ist ambig, denn der Vater
wird sowohl geliebt als auch unbewusst als Rivale gehasst, und das
Kind versucht, den Vater vor seinen eigenen unbewussten Aggressio-
nen gegen ihn zu schützen. Ein weiterer Grund für diese Ambiguität
besteht indessen darin, dass der Roman auf einer bestimmten Ebene
Die Psychoanalyse 155
sehr wohl sieht, dass, wenngleich Paul die enge, gewalttätige Welt der
Bergarbeiter für seinen gewagten Aufbruch ins Mittelschichtbewusst-
sein verwerfen muss, dieses Bewusstsein keineswegs nur positiv gese-
hen werden kann. Wie wir am Charakter der Mrs. Morel sehen kön-
nen, gibt es neben dem Positiven auch viel Herrisches und Lebensver-
neinendes darin. Der Text teilt uns mit, dass Walter Morel derjenige
ist, der »den Gott in sich verleugnet hat«, aber es ist schwer nachzufüh-
len, wie dieser gewichtige auktoriale Einschub, so ernst und aufdring-
lich er auch ist, wirklich aufrechterhalten werden kann. Denn derselbe
Roman, der uns das sagt, zeigt uns auch das Gegenteil. Er zeigt uns, in
welcher Weise Morel tatsächlich noch lebendig ist; er kann uns nicht
davon abhalten, zu bemerken, dass Morels Herabsetzung viel mit sei-
ner eigenen Erzählstruktur zu tun hat, indem er sich von ihm ab- und
seinem Sohn zuwendet; und er zeigt uns auch, mit oder ohne Absicht,
dass selbst wenn Morel ›den Gott in sich verleugnet‹ hat, die Schuld
letztendlich nicht ihm, sondern dem räuberischen Kapitalismus gege-
ben werden muss, der keine bessere Verwendung für ihn findet als die
eines Zahnrädchens im Produktionsgetriebe. Paul selbst kann es sich
in seiner festen Absicht, sich der Welt seines Vaters zu entziehen, nicht
leisten, diesen Tatsachen ins Auge zu sehen, und explizit kann dies
auch der Roman nicht: Indem er Sons and Lovers schrieb, schrieb Law-
rence nicht einfach nur über die Arbeiterklasse, sondern er schrieb sich
seinen Weg aus ihr heraus. Aber in so vielsagenden Ereignissen wie der
schließlichen Wiedervereinigung von Baxter Dawes (in mancher Hin-
sicht eine Parallelfigur zu Morel) mit seiner ihm entfremdeten Frau
Clara gleicht der Roman ›unbewusst‹ die Aufwertung Pauls (den dieses
Ereignis in einem sehr viel negativeren Licht zeigt) auf Kosten seines
Vaters wieder aus. Lawrences endgültige Wiedergutmachung für Mo-
rel sollte Mellors sein, der ›feminine‹, doch starke Protagonist in Lady
Chatterley’s Lover. Paul darf im Roman nie die volle, bittere Kritik an
seiner besitzergreifenden Mutter aussprechen, die einige der ›objekti-
ven‹ Gegebenheiten zu fordern scheinen; und doch erlaubt uns die Art,
in der die Beziehung zwischen Mutter und Sohn tatsächlich inszeniert
wird, zu erkennen, warum dies so ist.
Wenn wir diese Aspekte des Romans beim Lesen von Sons and Lo-
vers im Auge behalten, erstellen wir etwas, was man einen ›Subtext‹ für
das Werk nennen könnte – einen Text innerhalb des eigentlichen Tex-
tes, der an einigen ›symptomatischen‹ Punkten der Ambiguität, des
Ausweichens oder der allzu großen Emphase sichtbar wird und den
wir als Leser ›schreiben‹ können, auch wenn der Roman selbst es nicht
tut. Alle literarischen Werke enthalten einen oder mehrere solcher
Subtexte, und man kann sie in gewissem Sinne als das ›Unbewusste‹
156 Die Psychoanalyse
des Werkes selbst bezeichnen. Die Einsichten des Werkes sind, wie bei
jeder Form des Schreibens, tief mit seinen Blindheiten verbunden:
Was es nicht sagt, und wie es nicht gesagt wird, kann so wichtig sein
wie das, was ausgesprochen wird; was an ihm fehlend, marginal oder
ambivalent erscheint, kann einen wichtigen Schlüssel zu seiner Bedeu-
tung liefern. Wir weisen das, ›was im Roman steht‹, nicht einfach zu-
rück oder verkehren es ins Gegenteil, indem wir zum Beispiel behaup-
ten, dass Morel der eigentliche Held und seine Frau der Bösewicht sei.
Pauls Sichtweise ist nicht einfach ungültig: Seine Mutter stellt in der
Tat eine unvergleichlich reichere Quelle der Zuneigung dar als sein
Vater. Wir richten unseren Blick vielmehr darauf, was solche Feststel-
lungen unweigerlich zum Schweigen bringen oder unterdrücken müs-
sen, und untersuchen, inwiefern der Roman nicht völlig mit sich selbst
identisch ist. Psychoanalytische Literaturkritik kann mit anderen Wor-
ten mehr, als Phallus-Symbolen nachzujagen: Sie kann uns etwas dar-
über mitteilen, wie literarische Texte eigentlich geformt sind, und sie
kann etwas von der Bedeutung dieser Form enthüllen.
Die psychoanalytische Literaturkritik kann in Abhängigkeit da-
von, was sie zum Gegenstand ihrer Aufmerksamkeit macht, grob in
vier Arten unterteilt werden. Sie kann sich dem Autor des Werkes
zuwenden oder seinem Inhalt; seinem formalen Aufbau oder dem/der
Leser/in. Die Mehrheit der psychoanalytischen Kritik gehört den ers-
ten beiden Arten an, die in Wirklichkeit die begrenztesten und pro-
blematischsten sind. Den Autor zu psychoanalysieren, ist eine spekula-
tive Angelegenheit und mündet genau in derselben Art von Proble-
men, die im Zusammenhang mit der Bedeutung der ›Intention‹ des
Autors für ein literarisches Werk erörtert wurden. Die Psychoanalyse
des ›Inhalts‹ – Auslassungen über die unbewussten Motive der Figuren
oder die psychoanalytische Bedeutung der Gegenstände oder Ereignis-
se im Text – ist von begrenztem Wert, aber, wenn sie nach Art der
üblichen notorischen Fahndung nach dem Phallussymbol abläuft, all-
zu häufig reduktiv. Freuds eigene sporadische Abenteuerreisen in den
Bereich von Kunst und Literatur gehörten hauptsächlich diesen bei-
den Arten an. Er schrieb eine faszinierende Monografie über Leonardo
da Vinci, einen Aufsatz über Michelangelos Skulptur ›Moses‹ und ei-
nige literarische Analysen, besonders über die Novelle Gradiva des dä-
nischen Autors Johannes Vilhelm Jensen. Diese Aufsätze bieten entwe-
der eine psychoanalytische Darstellung des Autors selbst, wie er sich in
seinem Werk zeigt, oder sie untersuchen Symptome des Unbewussten
in der Kunst auf dieselbe Weise, wie man dies in der Realität tun wür-
de. In beiden Fällen wird die ›materielle Natur‹ des Kunstwerkes selbst,
sein spezifischer formaler Aufbau, gewöhnlich übersehen.
Die Psychoanalyse 157
sung der festen Bedeutung ab- und einer Vision der Dichtung als Aus-
druck des menschlichen Willens und Bestätigung zuwenden. Der eifri-
ge, kämpferische, apokalyptische Ton vieler seiner eigenen Schriften mit
seiner merkwürdigen Art, esoterische Termini auszuhecken, zeugt von
der Anstrengung und Verzweiflung dieser Unternehmung. Blooms Kri-
tik zeigt das Dilemma des modernen Liberalen oder romantischen Hu-
manisten aufs deutlichste – die Tatsache, dass nach Marx, Freud und
dem Poststrukturalismus einerseits keine Rückkehr zu einem heiteren,
optimistischen menschlichen Glauben mehr möglich ist, dass aber ande-
rerseits jeglicher Humanismus, der wie derjenige Blooms den quälenden
Druck solcher Lehrmeinungen angenommen hat, dazu verurteilt ist,
von ihnen tödlich kompromittiert und vergiftet zu werden. Blooms epi-
sche Schlachten der poetischen Giganten enthalten noch den psychi-
schen Glanz eines vor-freudschen Zeitalters, haben aber dessen Un-
schuld verloren: Sie sind Familienszenen, Szenen der Schuld, des Neides,
der Angst und der Aggression. Keine humanistische Literaturtheorie, die
diese Realität übersieht, könnte sich überhaupt als einigermaßen ›mo-
dern‹ ausgeben; aber jede Theorie, die sie aufnimmt, ist dazu verurteilt,
dadurch eine solche Ernüchterung und Verbitterung zu erfahren, dass
sie an einen Punkt gerät, wo ihre eigene Bejahungsfähigkeit geradezu
manisch starrsinnig wird. Bloom folgt dem rosigen Pfad des amerikani-
schen Dekonstruktivismus weit genug, um nur noch mit einer
Nietzsche’schen Anrufung des ›Willens zur Macht‹ und des ›Willens zur
Wahrheit‹ der individuellen Vorstellungskraft zum heroisch Humanen
zurückklettern zu können, einer Anrufung, die eine willkürliche Geste
bleiben muss. In dieser ausschließlich patriarchalischen Welt der Väter
und Söhne konzentriert sich alles mit immer schrillerer Rhetorik auf
Macht, Kampf, Stärke und Willen; die Literaturkritik selbst ist für
Bloom ebenso sehr eine Dichtungsform, wie Gedichte implizit die lite-
rarische Kritik anderer Gedichte darstellen, und ob eine kritische Lesart
›Erfolg‹ hat, ist letztendlich keine Frage ihres Wahrheitswertes, sondern
der rhetorischen Kraft des Kritikers selbst. Dies ist Humanismus am
Rande des Abgrunds, auf nichts als seinem eigenen ausdrücklichen
Glauben begründet, gestrandet zwischen einem diskreditierten Rationa-
lismus einerseits und einem unerträglichen Skeptizismus andererseits.
Als Freud seinem Enkel einmal beim Spielen im Kinderwagen zu-
sah, beobachtete er ihn dabei, wie er ein Spielzeug aus dem Kinderwa-
gen warf und dabei fort! rief, um es dann mit dem Ruf da! an einer
Schnur wieder hineinzuziehen. Dies, das berühmte Fort-da-Spiel, in-
terpretierte Freud in Jenseits des Lustprinzips (1920) als die symbolische
Bewältigung der Abwesenheit der Mutter durch das Kind; aber es
kann auch als das erste Aufflackern des Geschichtenerzählens gesehen
Die Psychoanalyse 163
werden. Fort-da ist vielleicht die kürzeste Geschichte, die wir uns aus-
denken können: Ein Objekt wird verloren und dann wiedergefunden.
Aber auch die komplizierteste Erzählung kann als Variation dieses Mo-
dells gelesen werden: Das Grundmuster der klassischen Erzählung be-
steht darin, dass eine ursprüngliche Anordnung zerstört wird, um
dann letztendlich wiederhergestellt zu werden. So gesehen ist das Ge-
schichtenerzählen eine Quelle des Trostes: Der Verlust eines Objekts
macht uns Angst, da er bestimmte tieferliegende unbewusste Verlust-
erfahrungen symbolisiert (der Geburt, der Fäkalien, der Mutter), und
es ist stets angenehm, etwas dann wieder sicher an seinem angestamm-
ten Platz zu finden. In der Theorie Lacans ist es ein ursprüngliches
verlorenes Objekt – der Körper der Mutter –, das die Geschichte unse-
res Lebens vorantreibt, das uns dazu treibt, in der endlosen metonymi-
schen Bewegung des Begehrens nach einem Ersatz für dieses verlorene
Paradies zu suchen. Für Freud hält der Wunsch, an einen Ort zurück-
zukehren, wo uns niemand etwas antun kann, in die anorganische
Existenzform, die allem bewussten Leben vorangeht, unser Vorwärts-
streben aufrecht: Unsere ruhelosen Bindungen (Eros) sind ein Sklave
des Todestriebes (Thanatos). Damit eine Geschichte sich überhaupt
entwickeln kann, muss irgendetwas verloren oder abwesend sein:
Wenn alles an seinem Ort bliebe, gäbe es nichts zu erzählen. Dieser
Verlust ist quälend, aber zugleich auch aufregend: Das Begehren wird
von dem stimuliert, was wir nicht ganz besitzen können, und dies ist
eine Quelle der erzählerischen Befriedigung. Wenn wir es indessen nie-
mals besitzen könnten, könnte unsere Erregung unerträglich werden
und sich in Unlust verwandeln; daher müssen wir uns sicher sein, dass
das Objekt am Ende zu uns zurückkehren wird, dass Tom Jones nach
Paradise Hall zurückfinden und Hercule Poirot den Mörder aufspüren
wird. Unsere Spannung wird auf das angenehmste gelöst; unsere Kräf-
te sind von den spannenden Momenten und den Wiederholungen der
Erzählung nur in Vorbereitung auf ihre lustvolle Verausgabung kunst-
voll ›gebunden‹ worden (vgl. P. Brooks 1982). Wir konnten das Ver-
schwinden des Objektes ertragen, weil unsere beunruhigende Span-
nung die ganze Zeit von dem heimlichen Wissen durchdrungen war,
dass es am Ende zurückkehren würde. Fort hat nur im Verhältnis zu da
eine Bedeutung.
Aber natürlich auch umgekehrt. Sobald wir unseren Platz in der
symbolischen Ordnung eingenommen haben, können wir kein Ob-
jekt betrachten oder besitzen, ohne es unbewusst im Lichte seiner
möglichen Absenz zu sehen und zu wissen, dass seine Präsenz in gewis-
sem Sinne willkürlich und provisorisch ist. Wenn die Mutter weggeht,
so ist das nur eine Vorbereitung zu ihrer Rückkehr, aber wenn sie wie-
164 Die Psychoanalyse
der bei uns ist, können wir die Tatsache, dass sie jederzeit wieder ver-
schwinden und vielleicht nie wiederkehren kann, nicht vergessen. Die
klassische Erzählung realistischer Art stellt insgesamt gesehen eine
›konservative‹ Form dar, die unsere Angst unter dem tröstlichen Zei-
chen von Präsenz zur Absenz dahingleiten lässt; viele moderne Texte
wie etwa die von Brecht oder Beckett erinnern uns daran, dass das, was
wir sehen, sich immer auch anders abgespielt oder vielleicht auch
überhaupt nicht ereignet haben könnte. Wenn der Prototyp der Ab-
senz für die Psychoanalyse die Kastration ist – die Angst des kleinen
Jungen, dass er sein Sexualorgan verlieren könnte, die unterstellte Ent-
täuschung des kleinen Mädchens darüber, dass sie ihres ›verloren‹ hat
–, dann haben solche Texte, wie der Poststrukturalismus sagen würde,
die Realität der Kastration, die Unausweichlichkeit von Verlust, Ab-
senz und Differenz im menschlichen Leben akzeptiert. Indem wir sie
lesen, werden auch wir dazu gebracht, uns dieser Realität zu stellen –
uns vom Imaginären, wo Verlust und Differenz undenkbar sind und
wo es so schien, als sei die Welt für uns geschaffen und wir für die
Welt, loszureißen. Im Imaginären gibt es keinen Tod, da die fortwäh-
rende Existenz der Welt ebenso sehr von meinem Leben abhängt wie
mein Leben von ihr; erst wenn wir in die symbolische Ordnung eintre-
ten, werden wir mit der Wahrheit unserer Sterblichkeit konfrontiert,
da die Existenz der Welt nicht wirklich von uns abhängt. Solange wir
in einem imaginären Seinsbereich verharren, verkennen wir unsere ei-
gene Identität, da wir sie als fest und abgeschlossen betrachten, und
halten die Wirklichkeit fälschlich für etwas Unveränderliches. Wir ver-
harren in Althussers Terminologie im Zugriff der Ideologie, indem wir
die gesellschaftliche Realität als ›natürlich‹ affirmieren, statt kritisch zu
fragen, wie sie und wir selbst zustande gekommen sind und also mög-
licherweise verändert werden könnten.
Bei der Besprechung Roland Barthes’ haben wir gesehen, wie sehr
die Literatur schon in ihrer bloßen Form dahingehend wirkt, solche
kritischen Fragen zu verhindern. Barthes’ ›natürliches‹ Zeichen ent-
spricht Lacans ›Imaginärem‹: In beiden Fällen wird eine entfremdete
persönliche Identität durch eine ›vorgegebene‹, unabänderliche Welt
bestätigt. Das heißt nicht, dass so geschriebene Literatur notwendiger-
weise in dem, was darin steht, konservativ ist; aber die Radikalität ihrer
Aussagen kann durch die Form, in der sie gemacht werden, untergra-
ben werden. Raymond Williams hat auf den interessanten Wider-
spruch zwischen der sozialen Radikalität, die das naturalistische Dra-
ma (so z. B. Shaw) mehrheitlich zeigt, und seinen formalen Methoden
hingewiesen. Der Diskurs des Stückes kann Veränderung, Kritik, Re-
bellion fordern; aber die dramatische Form – die genaue Auflistung
Die Psychoanalyse 165
können uns seinen Körper als kreuz und quer von einer Flut von
›Energieschüben‹ oder Trieben durchflutet vorstellen, die zu diesem
Zeitpunkt noch relativ ungeordnet sind. Dieses rhythmische Muster
kann als eine Art Sprache angesehen werden, obgleich es noch nichts
bedeutet. Damit die Sprache als solche stattfinden kann, muss dieser
heterogene Fluss aufgesplittert, in feste Begriffe zergliedert werden, so
dass dieser ›semiotische‹ Prozess mit dem Eintritt in die symbolische
Ordnung verdrängt wird. Die Verdrängung ist indessen nicht vollstän-
dig: Denn das Semiotische kann immer noch als eine Art Pulsieren in
der Sprache selbst, in Ton, Rhythmus, den körperlichen und materiel-
len Eigenschaften der Sprache, aber auch in Widersprüchen, Sinnlo-
sigkeiten, Unterbrechungen, Schweigen und Abwesenheit entdeckt
werden. Das Semiotische ist das ›Andere‹ der Sprache, das trotzdem
innig mit ihr verbunden ist. Da es aus der prä-ödipalen Phase stammt,
ist es mit dem Körperkontakt des Kindes zum Körper der Mutter ver-
knüpft, während das Symbolische, wie wir gesehen haben, mit dem
Gesetz des Vaters zusammenhängt. Das Semiotische ist somit eng mit
der Weiblichkeit verbunden: Aber da es aus der prä-ödipalen Phase
herrührt, die noch keinen Unterschied zwischen den Geschlechtern
kennt, stellt es keineswegs eine exklusiv weibliche Sprache dar.
Kristeva sieht diese ›Sprache‹ des Semiotischen als ein Mittel an, die
symbolische Ordnung zu untergraben. In den Schriften einiger franzö-
sischer Symbolisten und anderer Avant-garde-Autoren werden die fes-
ten Bedeutungen der ›gewöhnlichen‹ Sprache durch diesen Fluss der
Signifikation ständig gestört und unterbrochen, der das sprachliche
Zeichen in seine äußersten Grenzen zurückdrängt, seine rhythmi-
schen, materiellen und Klang-Eigenschaften bewertet und ein Spiel
der unbewussten Triebe im Text aufbaut, das die üblichen gesellschaft-
lichen Bedeutungen zu zersplittern droht. Das Semiotische ist fließend
und vielfältig, eine Art lustvolles, kreatives Überschreiten der gesell-
schaftsüblichen Bedeutungen, und es findet in der Zerstörung oder
Negierung solcher Zeichen ein sadistisches Vergnügen. Es steht allen
festgelegten, transzendentalen Bedeutungen konträr gegenüber; und
da die Ideologien der modernen männerbeherrschten Klassengesell-
schaft in ihrer Macht von solchen festen Zeichen (Gott, Vater, Staat,
Ordnung, Eigentum) abhängig sind, wird diese Literatur im Bereich
der Sprache zu einer Art Entsprechung zur Revolution in der politi-
schen Sphäre. Der Leser/die Leserin solcher Texte wird durch diese
sprachliche Kraft gleichermaßen gespalten oder ›dezentriert‹, in einen
Widerspruch gestürzt, unfähig, irgendeine einfache ›Subjektposition‹
in Bezug auf diese polymorphen Werke einzunehmen. Das Semioti-
sche bringt jede scharfe Trennung zwischen dem Maskulinen und dem
Die Psychoanalyse 167
tet. In der Theorie Lacans würde jeder, der überhaupt nicht in die
symbolische Ordnung eintreten kann, seine Erfahrung nicht durch
Sprache ausdrücken kann, psychotisch werden. Man könnte das Semi-
otische als eine Art innere Grenze der symbolischen Ordnung ansehen;
und in diesem Sinne könnte auch das ›Weibliche‹ als an einer solchen
Grenze stehend gesehen werden. Denn das Weibliche steht, wie jedes
Geschlecht, innerhalb der symbolischen Ordnung, und wird doch zu-
gleich an ihren Rand gedrängt, als der männlichen Macht unterlegen
beurteilt. Die Frau steht zugleich ›innerhalb‹ und ›außerhalb‹ der
Männergesellschaft, ist zugleich ein romantisch idealisierter Teil davon
und eine zum Opfer gemachte Ausgestoßene. Manchmal ist sie das,
was zwischen dem Mann und dem Chaos steht, und manchmal die
Verkörperung des Chaos selbst. Aus diesem Grund stört sie die geord-
neten Kategorien einer solchen Herrschaft, indem sie die wohldefi-
nierten Grenzen verwischt. Frauen werden als innerhalb der Männer-
gesellschaft stehend dargestellt, durch Zeichen, Vorstellung und Be-
deutung festgelegt, doch da sie zugleich auch die ›negative Seite‹ dieser
Gesellschaftsordnung darstellen, gibt es in ihnen immer auch einen
Rest, etwas Überschüssiges, Undarstellbares, das sich dort einzupassen
weigert.
In dieser Sicht stellt das Weibliche – eine Seins- und Diskursweise,
die nicht notwendig mit dem Frau-Sein identisch ist – eine Kraft in-
nerhalb der Gesellschaft dar, die ihr Widerstand leistet. Und dies hat
in Gestalt der Frauenbewegung offensichtliche politische Folgen. Die
politische Entsprechung zu Kristevas eigenen Theorien – die einer se-
miotischen Kraft, die alle festen Bedeutungen und Institutionen zer-
stört – scheint eine Art Anarchismus zu sein. Wenn ein derartiger end-
loser Umsturz aller festen Strukturen im Bereich der Politik eine inad-
äquate Reaktion darstellt, so gilt dies auch für die Annahme, dass ein
literarischer Text, der die Bedeutung untergräbt, ipso facto ›revolutio-
när‹ ist. Ein Text kann dies durchaus auch im Namen irgendeines rech-
ten Irrationalismus oder auch ohne jedes besondere Anliegen tun.
Kristevas Argumentation ist gefährlich formalistisch und leicht kari-
kierbar: Wird die Lektüre Mallarmés den bürgerlichen Staat zugrunde
richten? Sie behauptet dies natürlich nicht; aber sie schenkt dem poli-
tischen Inhalt eines Textes, den historischen Bedingungen, unter de-
nen seine Umkehrung des Signifikanten stattfindet, zu wenig Beach-
tung, und auch den historischen Bedingungen, unter denen all dies
interpretiert und verwendet wird. Auch ist die Demontage des einheit-
lichen Subjekts keineswegs schon in sich selbst ein revolutionärer Akt.
Kristeva bemerkt zurecht, dass der bürgerliche Individualismus auf der
Grundlage eines solchen Fetischs gedeiht, aber ihr Werk neigt dazu, an
Die Psychoanalyse 169
der Stelle stehen zu bleiben, wo das Subjekt zerbrochen und den Wi-
dersprüchen preisgegeben ist. Für Brecht ist im Gegensatz hierzu die
Demontage unserer vorgegebenen Identitäten durch die Kunst un-
trennbar mit der praktischen Hervorbringung einer neuen Art
menschlichen Subjekts überhaupt verknüpft, ein Subjekt, das nicht
nur innere Zerbrochenheit, sondern auch soziale Solidarität kennen
müsste, nicht nur die Freuden der libidinösen Sprache, sondern auch
die Erfüllung durch den Kampf gegen politische Ungerechtigkeit er-
fahren müsste. Der implizite Anarchismus oder Libertinismus der an-
regenden Theorien Kristevas ist nicht die einzige Art von Politik, die
aus ihrer Erkenntnis folgt, dass Frauen und bestimmte ›revolutionäre‹
literarische Werke die existierende Gesellschaft radikal in Frage stellen,
gerade weil sie die Grenze markieren, über die sie sich nicht hinaus-
wagt.
Es gibt eine einfache und offenkundige Verbindung zwischen Psy-
choanalyse und Literatur, die eine kurze Betrachtung zum Abschluss
wert ist. Die Freud’sche Theorie betrachtet, ob zu Recht oder zu Un-
recht, die grundlegenden Motive allen menschlichen Verhaltens als
Schmerzvermeidung und Lustgewinn: Sie stellt eine Form dessen dar,
was in der Philosophie als Hedonismus bekannt ist. Der Grund, war-
um die große Mehrheit aller Leute Gedichte, Romane und Stücke le-
sen, liegt darin, dass sie sie vergnüglich finden. Diese Tatsache ist so
offensichtlich, dass sie an Universitäten kaum jemals erwähnt wird.
Zugegebenermaßen ist es an den meisten Universitäten schwierig, ei-
nige Jahre mit dem Studium der Literatur zu verbringen und sie am
Ende immer noch mit Vergnügen zu lesen: Viele universitäre Litera-
turkurse scheinen daraufhin angelegt zu sein, dies zu verhindern, und
diejenigen, die daraus hervorgehen und sich immer noch an literari-
schen Werken freuen können, werden vielleicht entweder als heroisch
oder als pervers angesehen. Wie wir schon früher gesehen haben, stell-
te die Tatsache, dass die Lektüre von Literatur im Allgemeinen eine
angenehme Beschäftigung ist, für diejenigen ein ernstes Problem dar,
die sie zuerst als akademisches ›Fach‹ errichtet haben: Es war notwen-
dig, die ganze Angelegenheit um einiges einschüchternder und entmu-
tigender zu gestalten, wenn das Fach ›Englisch‹/das Fach ›Deutsch‹ als
ernstzunehmende Verwandte der Klassiker standhalten sollte. In der
Zwischenzeit fuhren die Leute in der Welt außerhalb der Universität
fort, Liebesromane, Thriller und historische Romane zu verschlingen,
ohne auch nur im entferntesten auf den Gedanken zu kommen, dass
die akademischen Hallen von solchen Ängsten verfolgt wurden.
Dass das Wort ›Vergnügen‹ einen Beigeschmack von Trivialität hat,
ist ein Symptom dieser merkwürdigen Situation; es ist ganz sicherlich
170 Die Psychoanalyse
ein weniger ernsthaftes Wort als ›ernsthaft‹. Einfach zu sagen, dass wir
an einem Gedicht intensives Vergnügen haben, scheint irgendwie eine
weniger akzeptable kritische Äußerung zu sein als zu behaupten, dass
wir es für moralisch tiefschürfend hielten. Es ist schwer, nicht das Ge-
fühl zu haben, dass die Komödie eine oberflächlichere Angelegenheit
ist als die Tragödie. Zwischen den Eierköpfen aus Cambridge, die auf
entmutigende Art von ›moralischem Ernst‹ sprechen, und den hoch-
mütigen Oxford-Kavalieren, die George Eliot ›amüsant‹ finden,
scheint wenig Raum für eine adäquatere Theorie des Vergnügens. Aber
die Psychoanalyse ist unter anderem genau dies: Ihre waffenstrotzende
intellektuelle Rüstkammer ist auf die Untersuchung solcher funda-
mentaler Dinge wie der Frage angelegt, was Menschen befriedigend
finden und was nicht, wie sie von ihrem Elend befreit und glücklicher
gemacht werden können. Wenn der Freudianismus eine Wissenschaft
ist, die sich mit der unpersönlichen Analyse psychischer Kräfte be-
schäftigt, so ist er zugleich eine Wissenschaft, die sich der Emanzipati-
on der Menschen von dem, was ihre Erfüllung und ihr Wohlbefinden
behindert, verpflichtet fühlt. Die Theorie steht im Dienste einer verän-
dernden Praxis und hat in dieser Hinsicht Parallelen zu radikalen poli-
tischen Überzeugungen. Sie erkennt an, dass Lust und Unlust äußerst
komplexe Bereiche sind, ganz anders als die Art von traditioneller Li-
teraturkritik, für die Aussagen über persönliche Vorlieben oder Abnei-
gungen bloße ›Geschmacksäußerungen‹ sind, die man nicht weiter
analysieren kann. Für einen solchen Kritiker ist die Äußerung, dass
man an einem Gedicht Vergnügen gefunden hat, der Endpunkt der
Diskussion; für eine andere Art von Kritiker könnte dies genau der
Punkt sein, an dem die Diskussion anfängt.
Damit soll nicht nahegelegt werden, dass die Psychoanalyse alleine
den Schlüssel zu den Problemen des literarischen Wertes und Vergnü-
gens liefern kann. Uns gefallen oder missfallen bestimmte Werke der
Sprache nicht nur aufgrund des unbewussten Spiels der Triebe, das sie
in uns in Gang setzen, sondern wegen bestimmter Einstellungen und
Vorlieben, die wir teilen. Zwischen diesen beiden Bereichen besteht
eine komplizierte Wechselbeziehung, die in der detaillierten Untersu-
chung eines bestimmten literarischen Textes aufgezeigt werden muss
(vgl. Eagleton: »Poetry, Pleasure and Politics«, 1983). Das Problem des
literarischen Wertes und der Lust am Text scheint irgendwo an der
Kreuzung zwischen Psychoanalyse, Linguistik und Ideologie zu liegen,
und hier ist bisher noch wenig geleistet worden. Wir wissen indessen
schon genug, um zu vermuten, dass eine Aussage darüber, warum je-
mand an bestimmten Wort-Arrangements Freude hat, sehr viel eher
möglich ist, als die konventionelle Literaturtheorie glaubt.
Die Psychoanalyse 171
kleinen Kreis von Beziehungen schließlich zum Prüfstein für alles an-
dere wird. Je weiter wir uns von der reichen Innerlichkeit des persönli-
chen Lebens entfernen, für die Literatur das erhabenste Beispiel ist,
umso eintöniger, mechanischer und unpersönlicher wird die Existenz.
Es ist dies eine Sichtweise, die im literarischen Bereich dem entspricht,
was im gesellschaftlichen possessiver Individualismus genannt wird, so
sehr es auch die erstere Haltung vor der letzteren schaudern mag: Sie
spiegelt die Werte eines politischen Systems wider, das die Gesell-
schaftlichkeit des menschlichen Lebens den einzelnen individuellen
Unternehmungen unterordnet.
Am Anfang dieses Buchs stand die Behauptung, dass es die Litera-
tur gar nicht gibt. Wie kann es in diesem Fall dann die Literaturtheorie
geben? Es gibt zwei bekannte Möglichkeiten, wie eine Theorie sich
selbst mit einem klaren Ziel und einer ebensolchen Identität versorgen
kann. Sie kann sich entweder über ihre spezifischen Untersuchungs-
methoden definieren; oder sie kann sich über den spezifischen Gegen-
stand definieren, der untersucht wird. Jeder Versuch, die Literaturthe-
orie über eine festgelegte Methode zu definieren, ist von vorneherein
zum Scheitern verurteilt. Literaturtheorie soll über die Natur der Lite-
ratur und der Literaturkritik nachdenken. Aber man bedenke nur, wie
viele Methoden an der Literaturkritik beteiligt sind. Man kann die
asthmatische Kindheit der Dichterin besprechen oder ihren speziellen
Gebrauch der Syntax untersuchen; man kann das Rascheln der Seide
im Zischen der s-Laute entdecken, die Phänomenologie des Lesens
erforschen, das literarische Werk zur jeweiligen Phase des Klassen-
kampfes in Beziehung setzen oder auch herausfinden, wie viele Exem-
plare davon verkauft worden sind. Diese Methoden haben aber auch
gar nichts gemeinsam, was von Bedeutung wäre. Tatsächlich haben sie
mit anderen ›Fächern‹ – Linguistik, Geschichte, Soziologie etc. – mehr
gemeinsam als untereinander. Methodisch gesprochen, ist die Litera-
turkritik ein Nicht-Gegenstand. Und wenn die Literaturtheorie eine
Art ›Metakritik‹ darstellt, eine kritische Betrachtung der Kritik, dann
folgt, dass sie ebenfalls ein Nicht-Gegenstand ist.
Vielleicht muss die Einheit des Literaturstudiums also anderswo
gesucht werden. Vielleicht deuten Literaturkritik und Literaturtheorie
einfach auf jede Art von Sprechen (natürlich nur auf einer bestimmten
Ebene der ›Kompetenz‹) über einen Gegenstand namens Literatur.
Vielleicht ist es der Gegenstand und nicht die Methode, die den Dis-
kurs von anderen abhebt und eingrenzt. Solange dieser Gegenstand
relativ festgelegt bleibt, können wir uns gleichmütig von biografischen
zu mythologischen zu semiotischen Methoden bewegen und immer
noch wissen, woran wir sind. Aber wie ich in der Einführung dargelegt
176 Schluss: Politische Kritik
habe, verfügt die Literatur nicht über eine derartige Stabilität. Die Ein-
heitlichkeit der Gegenstände ist so illusorisch wie die der Methode.
›Literatur‹ ist, wie Roland Barthes bemerkt hat, ›das, was gelehrt wird‹.
Vielleicht sollte uns dieser Mangel an methodischer Einheitlichkeit
in Literaturuntersuchungen nicht über Gebühr beunruhigen. Schließ-
lich wäre es auch vorschnell, Geografie oder Philosophie zu definieren,
fein säuberlich zwischen Soziologie und Anthropologie zu unterschei-
den oder eine flotte Definition von ›Geschichte‹ vorzulegen. Vielleicht
sollten wir die Pluralität der kritischen Methoden positiv sehen, eine
tolerante, ökumenische Haltung einnehmen und uns über unsere Un-
abhängigkeit von der Tyrannei einer einzelnen Vorgehensweise freuen.
Bevor wir allerdings zu euphorisch werden, sollten wir beachten, dass
auch hier gewisse Probleme liegen. Zum einen sind nicht alle diese
Methoden miteinander kompatibel. Wie großzügig liberal-gesinnt wir
uns auch zu sein bemühen, der Versuch, den Strukturalismus, die Phä-
nomenologie und die Psychoanalyse miteinander zu verbinden, führt
mit größerer Wahrscheinlichkeit zu einem Nervenzusammenbruch als
zu einer glänzenden literaturwissenschaftlichen Karriere. Diejenigen
Kritiker, die ihren Pluralismus zur Schau stellen, können dies gewöhn-
lich deshalb tun, weil die verschiedenen Methoden, die sie im Kopf
haben, letztendlich gar nicht so sehr verschieden sind. Andererseits
sind einige dieser ›Methoden‹ kaum überhaupt als Methoden anzuse-
hen. Vielen Literaturkritikern gefällt der ganze Methoden-Gedanke
nicht, und sie ziehen es vor, auf der Basis von Schimmern und Ahnun-
gen, Intuitionen und plötzlichen Einfällen zu arbeiten. Vielleicht ist es
ganz gut, dass diese Vorgehensweise noch nicht in die Medizin oder in
die Raumfahrttechnik eingedrungen ist; dennoch sollte man diese be-
scheidene Ablehnung von Methoden nicht allzu ernst nehmen, denn
was da schimmert und einem ahnt, hängt von einer verborgenen
Struktur von Annahmen ab, die oft genauso eigensinnig sind wie die
irgendeines Strukturalisten. Es ist bemerkenswert, dass eine solche ›in-
tuitive‹ Kritik, die sich nicht auf ›Methoden‹, sondern auf ›intelligentes
Einfühlungsvermögen‹ verlässt, beispielsweise das Vorhandensein
ideologischer Wertvorstellungen in der Literatur nicht gerade oft intu-
itiv wahrzunehmen scheint. Und doch gibt es nach ihrer eigenen Ein-
schätzung keinen Grund, warum sie das nicht tun sollte. Einige tradi-
tionellen Kritiker scheinen zu glauben, dass andere Leute sich irgend-
welchen Theorien anschließen, während sie selbst es vorziehen, ›red-
lich‹ Literatur zu lesen. Mit anderen Worten, keinerlei theoretische
oder ideologische Vorlieben vermitteln zwischen ihnen und dem Text:
Die Welt der späteren George Eliot als ›reife Resignation‹ zu beschrei-
ben, ist nicht ideologisch, wohingegen die Behauptung, dass sie Aus-
Schluss: Politische Kritik 177
flucht und Kompromiss enthüllt, dies ist. Daher ist es schwierig, mit
solchen Kritikern eine Debatte über das ideologische Vorverständnis
zu führen, da die Macht, die die Ideologie über sie hat, nirgends deut-
licher wird als in ihrer ehrlichen Überzeugung, dass ihre Lesart ›un-
schuldig‹ ist. Es war F. R. Leavis, der in seinem Angriff gegen Milton
›doktrinär‹ war und nicht C. S. Lewis mit seiner Verteidigung Miltons;
es sind die feministischen Kritikerinnen, die auf einer Vermengung
von Literatur und Politik bestehen, indem sie fiktionale Geschlechter-
bilder untersuchen, und es ist nicht etwa so, dass die konventionellen
Kritiker politisch wären, wenn sie behaupten, dass Richardsons Claris-
sa für ihre Vergewaltigung im Wesentlichen selbst verantwortlich sei.
Dennoch erweist sich die Tatsache, dass einige kritische Methoden
weniger methodisch sind als andere, als eine gewisse Schwierigkeit für
die Pluralisten, die glauben, dass in allem ein Körnchen Wahrheit
steckt. (Dieser theoretische Pluralismus hat auch seine politische Ent-
sprechung: Das Bestreben, den Standpunkt eines jeden zu verstehen,
zeigt oft an, dass man sich selbst neutral oben in der Mitte befindet,
und der Versuch, einander widersprechende Sichtweisen in einem
Konsens aufzulösen, impliziert eine Zurückweisung der Tatsache, dass
manche Konflikte nur auf einer Seite gelöst werden können.) Die Li-
teraturkritik ähnelt einem Laboratorium, in dem einige der Beschäf-
tigten in weißen Kitteln an Kontrollpulten sitzen, während andere
Stäbe in die Luft werfen oder Münzen drehen. Vornehme Amateure
rempeln mit hartgesottenen Professionellen zusammen, und nach
rund einem Jahrhundert haben sie immer noch nicht entschieden, in
welches Lager das Fach ›Englisch‹ eigentlich gehört. Dieses Dilemma
ist das Ergebnis der besonderen Geschichte des Faches, und es kann
nicht wirklich gelöst werden, da das, was auf dem Spiel steht, sehr viel
mehr ist als eine Meinungsverschiedenheit über Methoden oder ihren
Mangel. Der wahre Grund dafür, dass die Pluralisten Wunschdenker
sind, liegt darin, dass der strittige Punkt im Streit zwischen den ver-
schiedenen Literaturtheorien oder ›Nicht-Theorien‹ miteinander im
Wettstreit stehende ideologische Strategien sind, die zum Schicksal des
Faches in der modernen Gesellschaft in Beziehung stehen. Das Pro-
blem mit der Literaturtheorie ist, dass sie die vorherrschenden Ideolo-
gien des späten Industriekapitalismus weder besiegen noch sich ihnen
anschließen kann. Der liberale Humanismus mit seiner Abneigung
gegen die Technokratie und seinem Hegen der geistigen Ganzheitlich-
keit in einer feindlichen Welt sucht sich solchen Ideologien zu wider-
setzen oder sie zumindest zu modifizieren; bestimmte Arten des For-
malismus und des Strukturalismus versuchen, die technokratische
Rationalität einer solchen Gesellschaft zu übernehmen und sich damit
178 Schluss: Politische Kritik
in sie einzugliedern. Northrop Frye und die anderen Vertreter des New
Criticism dachten, dass sie eine Synthese der beiden Richtungen zu-
stande gebracht hätten; aber wie viele Literaturstudierende lesen sie
heute noch? Der liberale Humanismus ist zu dem ohnmächtigen Be-
wusstsein der bürgerlichen Gesellschaft zusammengeschrumpft, sanft,
empfindsam und wirkungslos; der Strukturalismus ist bereits mehr
oder weniger im Literaturmuseum verschwunden.
Die Ohnmacht des liberalen Humanismus ist ein Symptom seiner
im Grunde widersprüchlichen Beziehung zum modernen Kapitalis-
mus. Denn obgleich er einen Teil der ›offiziellen‹ Ideologie einer sol-
chen Gesellschaft darstellt und die ›Geisteswissenschaften‹ zu ihrer
Reproduktion da sind, hat die Gesellschaftsordnung, innerhalb derer
er existiert, in gewissem Sinne überhaupt sehr wenig Zeit für ihn. Wen
kümmern im Auswärtigen Amt oder im Sitzungssaal von Standard Oil
die Einzigartigkeit des Individuums, die unvergänglichen Wahrheiten
der menschlichen Natur oder die sinnlichen Strukturen gelebter Er-
fahrung? Wenn der Kapitalismus ehrerbietig vor den Künsten den Hut
zieht, ist das offenkundige Heuchelei, außer, wenn er sie sich als ver-
nünftige Investition an die Wand hängen kann. Dennoch geben die
Kapitalisten weiterhin Gelder an höhere geisteswissenschaftliche Bil-
dungseinrichtungen, und obgleich solche Fachbereiche bei den perio-
disch auftretenden Krisen des Kapitalismus gewöhnlich die ersten
sind, die dem Rotstift anheimfallen, kann man daran zweifeln, ob es
wirklich nur Heuchelei ist, die Angst davor, genauso philisterhaft zu
erscheinen, wie dies der Wahrheit entspricht, die diese widerwillige
Unterstützung erzwingt. In Wahrheit ist der liberale Humanismus
weitgehend wirkungslos und zugleich die beste Ideologie, die die ge-
genwärtige bürgerliche Gesellschaft aufbieten kann. Die ›Einzigartig-
keit des Individuums‹ wird tatsächlich dann wichtig, wenn es um die
Verteidigung der Unternehmerrechte geht, Profit zu machen, während
Männern und Frauen ihre Arbeit genommen wird; das Individuum
muss um jeden Preis das ›Recht auf freie Wahl‹ haben, solange damit
das Recht gemeint ist, dem eigenen Kind eine teure Privaterziehung zu
erkaufen, während anderen Kindern ihre Schulspeisung genommen
wird, und nicht das Recht der Frauen, zunächst einmal selbst zu ent-
scheiden, ob sie Kinder haben wollen oder nicht. Die ›unvergängli-
chen Wahrheiten der menschlichen Natur‹ umfassen solche Wahrhei-
ten wie Freiheit und Demokratie, deren Wesen in unserer spezifischen
Lebensweise verkörpert wird. Die ›sinnlichen Strukturen gelebter Er-
fahrung‹ kann man grob als ›aus dem Bauch heraus reagieren‹ überset-
zen – ein Urteilen nach Gewohnheit, Vorurteil und ›gesundem Men-
schenverstand‹, und nicht nach einer Reihe bestimmter unbequemer
Schluss: Politische Kritik 179
Grund dessen, dass sie dem Diskurs ›unzugänglich‹ sind: Er ist eine
Sache der willkürlichen Autorität der literarischen Institution.
Ein weiterer Grund dafür, dass die Literaturkritik ihre Selbstbe-
schränkung auf bestimmte Gegenstände nicht durch die Berufung auf
deren ›Wert‹ rechtfertigen kann, besteht darin, dass die Kritik ein Teil
der literarischen Institution ist, die den Wert dieser Werke überhaupt
erst festlegt. Nicht nur Partys müssen durch eine bestimmte Bearbei-
tungsweise erst zu lohnenden literarischen Gegenständen gemacht wer-
den, sondern auch Shakespeare. Shakespeare war nicht große Litera-
tur, die bequem zur Hand war und dann von der literarischen Institu-
tion glücklich entdeckt wurde: Er ist große Literatur, weil ihn die In-
stitution als solche konstituiert. Was nicht heißen soll, dass er nicht
›wirklich‹ große Literatur ist – das ist einfach eine Ansichtssache –, da
es so etwas wie Literatur, die unabhängig von der Art ihrer Behand-
lung innerhalb bestimmter Formen des gesellschaftlichen und institu-
tionellen Lebens ›wirklich‹ groß oder ›wirklich‹ irgendetwas ist, ein-
fach nicht gibt. Es gibt eine unbestimmte Zahl von Betrachtungsmög-
lichkeiten für Shakespeare, aber nicht alle zählen als literaturkritisch.
Vielleicht sprachen Shakespeare selbst, seine Freunde und seine Schau-
spieler nicht in einer Art über seine Stücke, die wir als literaturkritisch
ansehen könnten. Vielleicht würden einige der interessantesten Aussa-
gen, die über das Drama Shakespeares gemacht werden könnten, auch
nicht zur Literaturkritik gezählt werden. Die Literaturkritik wählt,
bearbeitet, verbessert Texte und schreibt sie neu, alles in Übereinstim-
mung mit bestimmten institutionalisierten Normen des ›Literarischen‹
– Normen, die jederzeit diskutiert werden können und die immer his-
torisch veränderlich sind. Denn obgleich ich gesagt habe, dass der kri-
tische Diskurs kein festes Signifikat hat, so gibt es doch eine ganze
Menge Arten, über Literatur zu sprechen, die er ausschließt, und eine
ganze Menge diskursiver Bewegungen und Strategien, die er als wert-
los, unerlaubt, unkritisch, unsinnig abtut. Seiner scheinbaren Großzü-
gigkeit auf der Ebene des Signifikates entspricht nur seine sektiereri-
sche Intoleranz auf der Ebene des Signifikanten. Sozusagen regionale
Dialekte des Diskurses werden anerkannt und manchmal toleriert,
aber es darf nicht so klingen, als spräche man überhaupt eine ganz
andere Sprache. Dies zu tun, heißt, haarscharf zu erkennen, dass der
kritische Diskurs eine Macht darstellt. Sich im Inneren dieses Diskur-
ses zu befinden, heißt, für diese Macht blind zu sein, denn was ist na-
türlicher und undespotischer, als die eigene Sprache zu sprechen?
Die Macht des kritischen Diskurses bewegt sich auf mehreren Ebe-
nen: die Macht der ›Überwachungs‹-Sprache – der Festlegung, dass
bestimmte Äußerungen ausgeschlossen werden müssen, weil sie nicht
182 Schluss: Politische Kritik
dem entsprechen, was akzeptabel gesagt werden kann; die Macht, das
Schreiben selbst zu überwachen, es als ›literarisch‹ oder ›unliterarisch‹,
als dauerhaft Großes und populäre Eintagsfliegen zu klassifizieren. Es
ist die Macht der Autorität gegenüber anderen – der Machtverhältnis-
se zwischen denen, die den Diskurs definieren und aufrechterhalten,
und denen, die selektiv zu ihm zugelassen werden: die Macht, denen
Zeugnisse auszustellen oder zu verweigern, deren Fähigkeit, den Dis-
kurs zu sprechen, als besser oder schlechter beurteilt worden ist. Und
schließlich ist es eine Frage der Machtverhältnisse zwischen der litera-
risch-akademischen Institution, wo all dies vor sich geht, und den
herrschenden Machtinteressen der Gesellschaft im Großen, deren
ideologischen Bedürfnissen gedient wird und deren Personal durch
den Erhalt und die kontrollierte Ausweitung des in Frage stehenden
Diskurses reproduziert wird.
Ich habe behauptet, dass die theoretisch unendliche Ausweitung
des kritischen Diskurses, die Tatsache, dass er nur willkürlich auf ›Li-
teratur‹ beschränkt ist, für die Wächter des Kanons ein peinliches Pro-
blem darstellt oder darstellen sollte. Die Gegenstände der Kritik sind
wie die der Freud’schen Triebe in gewissem Sinne zufällig und aus-
tauschbar. Ironischerweise wurde sich die Kritik dieser Tatsache erst
bewusst, als sie sich hilfesuchend ehrgeizigeren oder rigoroseren kriti-
schen Methoden zuwandte, da sie spürte, dass ihr eigener liberaler Hu-
manismus an Antriebskraft verlor. Sie dachte, dass sie durch das Hin-
zufügen einer wohlbemessenen Prise historischer Analyse hier und die
Einnahme einer ungefährlichen Dosis Strukturalismus dort diese an-
sonsten fremdartigen Ansätze dazu benutzen könnte, ihr eigenes
schwindendes geistiges Kapital zu ergänzen. Der Schuh könnte sich
indessen als der falsche erweisen. Denn man kann sich nicht mit einer
historischen Analyse der Literatur beschäftigen, ohne zu erkennen,
dass die Literatur selbst eine historische Erfindung jüngeren Datums
ist; man kann nicht strukturalistisches Handwerkszeug auf Miltons
Paradise Lost anwenden, ohne zu erkennen, dass dieselben Mittel auch
auf die Bild-Zeitung angewandt werden können. Die Kritik kann sich
somit nur auf die Gefahr hin ausstatten, ihren Bestimmungsgegen-
stand zu verlieren; sie hat die wenig beneidenswerte Wahl zwischen
Pest und Cholera. Wenn die Literaturtheorie ihre eigenen Implikatio-
nen zu weit treibt, dann redet sie sich um die Existenz.
Das wäre meiner Ansicht nach das Beste, was ihr passieren könnte.
Der letzte logische Zug in einem Prozess, der mit der Erkenntnis be-
gann, dass Literatur eine Illusion ist, wäre die Einsicht, dass die Litera-
turtheorie ebenfalls eine Illusion darstellt. Natürlich handelt es sich
nicht in dem Sinne um eine Illusion, dass ich die verschiedenen Leute,
Schluss: Politische Kritik 183
dass sie diese Frage nicht beantworten können. Der Strukturalist un-
tersucht die Zeichensysteme wirklich einfach deshalb, weil sie eben
zufällig da sind, oder wird, wenn dies nicht standzuhalten scheint, zu
einer Rationalisierung gezwungen – das Studium unserer Arten der
Sinnerstellung wird unsere kritische Selbstwahrnehmung vertiefen –,
die sich von der Standardaussage des liberalen Humanisten nicht we-
sentlich unterscheidet. Im Falle des liberalen Humanisten liegt die
Stärke im Gegensatz hierzu darin, dass er sagen kann, warum die Be-
schäftigung mit Literatur der Mühe wert ist. Seine Antwort würde, wie
wir gesehen haben, ungefähr lauten, dass es einen zu einem besseren
Menschen macht. Dies ist zugleich auch die Schwäche des liberalen
Humanismus.
Die Antwort des liberalen Humanisten ist indessen nicht deshalb
schwach, weil sie glaubt, dass Literatur eine umformende Wirkung
haben kann. Sie ist deshalb schwach, weil sie ihre verändernde Kraft
gewöhnlich grob überschätzt, sie isoliert von jeglichem gesellschaftli-
chen Kontext betrachtet und das, was sie mit einem ›besseren Men-
schen‹ meint, nur mit höchst begrenzten und abstrakten Begriffen
ausdrücken kann. Diese Begriffe lassen gewöhnlich die Tatsache außer
Acht, dass ein Mensch in der westlichen Gesellschaft der 1980er Jahre
zu sein, eine Verwicklung in und in gewissem Sinne auch eine Verant-
wortung für die Art politischer Bedingungen bedeutet, die ich zu Be-
ginn dieses Schlusskapitels skizziert habe. Der liberale Humanismus ist
eine moralische Vorstadt-Ideologie, in der Praxis auf weitgehend per-
sönliche Angelegenheiten beschränkt. Er geht mit Ehebruch unnach-
sichtiger um als mit der Rüstung, und sein wertvolles Interesse an Frei-
heit, Demokratie und individuellen Rechten ist einfach nicht konkret
genug. Seine Sicht der Demokratie ist zum Beispiel eine abstrakte
Vorstellung von Wahlurnen und nicht so sehr eine bestimmte, leben-
dige und praktische Demokratie, die auch das Vorgehen des Auswärti-
gen Amtes oder von Standard Oil irgendwie betreffen könnte. Seine
Sicht der individuellen Freiheit ist gleichermaßen abstrakt: Die Frei-
heit jedes beliebigen einzelnen Individuums ist gelähmt und parasitär,
solange sie von der nutzlosen Schufterei und der aktiven Unterdrü-
ckung anderer abhängig ist. Die Literatur mag gegen diese Bedingun-
gen protestieren oder auch nicht, aber sie ist nur auf ihrer Grundlage
überhaupt möglich. Wie Walter Benjamin das ausdrückt: »Es ist nie-
mals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei
zu sein.« (Benjamin: Angelus Novus, S. 311). Die Sozialisten sind die-
jenigen, die die vollen, konkreten, praktischen Folgerungen aus den
abstrakten Vorstellungen von Freiheit und Demokratie ziehen wollen,
unter die der liberale Humanismus seinen Namen setzt, indem sie ihn
Schluss: Politische Kritik 187
Sinn, den die Kritik den untersuchten Werken entnimmt. Ich werde
daher nicht für eine ›politische Kritik‹ eintreten, die literarische Texte
im Licht bestimmter Werte liest, die zu politischen Überzeugungen
und Handlungen in Beziehung stehen; jede Art von Kritik tut das. Die
Vorstellung, dass es ›unpolitische‹ Formen der Kritik gibt, ist einfach
ein Mythos, der bestimmte politische Formen des Gebrauchs von Li-
teratur umso wirkungsvoller fördert. Der Unterschied zwischen einer
›politischen‹ und einer ›unpolitischen‹ Kritik ist einfach der Unter-
schied zwischen der Premierministerin und der Monarchin: Letztere
fördert bestimmte politische Ziele, indem sie vorgibt, es nicht zu tun,
während erstere nicht lange fackelt. Es ist immer besser, in solchen
Sachen ehrlich zu sein. Der Unterschied zwischen einem konventio-
nellen Kritiker, der von dem ›Chaos der Erfahrung‹ bei Joseph Conrad
oder Virginia Woolf spricht, und der Feministin, die die Geschlechter-
darstellungen dieser Autoren untersucht, ist nicht ein Unterschied
zwischen unpolitischer und politischer Kritik. Es ist ein Unterschied
zwischen verschiedenen Arten von Politik – zwischen denen, die der
Doktrin anhängen, dass die Geschichte, die Gesellschaft und die
menschliche Wirklichkeit insgesamt fragmentarisch, zufällig und un-
gerichtet ziellos sind, und denen, die andere Interessen haben, die ein-
fach alternative Sichtweisen der Welt implizieren. Es gibt keine Mög-
lichkeit, zu entscheiden, welcher Politik unter dem Aspekt der Litera-
turkritik der Vorzug zu geben wäre. Man muss schlicht und einfach
über Politik diskutieren. Es ist keine Frage dessen, ob ›Literatur‹ zu
›Geschichte‹ in Beziehung gesetzt werden sollte oder nicht: Es ist eine
Frage verschiedener Lesarten der Geschichte selbst.
Die Feministin untersucht die Darstellung der Geschlechter nicht
einfach deshalb, weil sie glaubt, dass dies ihren politischen Zielen die-
nen wird. Sie ist auch der Überzeugung, dass Geschlecht und Sexuali-
tät zentrale Themen in der Literatur wie in anderen Diskursarten sind
und dass jede kritische Darstellung, die sie unterdrückt, an einem
ernstlichen Mangel leidet. Gleichermaßen sieht der oder die sozialisti-
sche Kritiker/in die Literatur nicht unter dem Aspekt von Ideologie
und Klassenkampf, weil dies zufällig ihr oder sein politisches Interesse
ist, das willkürlich auf literarische Werke projiziert wird. Er oder sie
würden behaupten, dass solche Fragen der Stoff sind, aus dem die Ge-
schichte besteht, und dass sie insofern, als Literatur ein historisches
Phänomen darstellt, auch der Stoff sind, aus dem die Literatur besteht.
Es wäre seltsam, wenn die/der feministische oder sozialistische Kriti-
ker/in der Meinung wären, dass analytische Fragen nach den Ge-
schlechtern oder Klassen nur eine Angelegenheit von akademischem
Interesse seien – nur ein Problem im Zusammenhang mit der Erlan-
Schluss: Politische Kritik 189
rüber, was man untersuchen will, sehr stark von der praktischen Situ-
ation ab. Es mag am besten scheinen, Proust und King Lear zu betrach-
ten, oder aber das Kinderprogramm im Fernsehen oder populäre Lie-
besromane und Avantgarde-Filme. Ein radikaler Kritiker ist in dieser
Frage recht liberal: Er lehnt den Dogmatismus ab, der darauf bestehen
würde, dass Proust stets eher eine Untersuchung verdient als die Fern-
sehwerbung. Radikale Kritiker sind auch in der Frage von Theorie und
Methode offen: In dieser Hinsicht neigen sie zum Pluralismus. Jede
Theorie oder Methode, die einen Beitrag zum strategischen Ziel der
menschlichen Emanzipation, der Schaffung ›besserer Menschen‹
durch eine sozialistische Veränderung der Gesellschaft leistet, ist ak-
zeptabel. Strukturalismus, Semiotik, Psychoanalyse, Dekonstruktivis-
mus, Rezeptionstheorie etc.: All diese Ansätze und auch andere verfü-
gen jeweils über wertvolle Einsichten, die einer Verwendung zugeführt
werden können. Indessen werden sich wahrscheinlich nicht alle Litera-
turtheorien als mit dem in Frage stehenden Ziel vereinbar erweisen:
Wie mir scheint, gibt es unter denen, die in diesem Buch untersucht
werden, einige, die dies höchstwahrscheinlich nicht sind. Was man
theoretisch auswählt oder verwirft, hängt somit davon ab, was man
praktisch zu tun versucht. Dies war bei der Literaturkritik schon im-
mer so: Sie sträubt sich nur häufig dagegen, diese Tatsache anzuerken-
nen. Bei jeder akademischen Untersuchung wählen wir die Gegen-
stände und Vorgehensweisen aus, die wir für die wichtigsten halten,
und unsere Einschätzung ihrer Wichtigkeit wird von Interessenzusam-
menhängen gesteuert, die tief in den praktischen Formen unseres ge-
sellschaftlichen Lebens verwurzelt sind. Radikale Kritiker/innen un-
terscheiden sich in dieser Hinsicht nicht: Sie haben nur einfach eine
Reihe von Prioritäten, die die meisten Leute momentan eher ableh-
nen. Dies ist der Grund, warum sie im Allgemeinen als ›ideologisch‹
abgetan werden, denn ›Ideologie‹ ist immer eher eine Beschreibung
der Interessen anderer Menschen als der eigenen.
Keine Theorie oder Methode wird indessen nur einen strategischen
Nutzen haben. Sie können in einer Vielzahl verschiedener Strategien
für eine Vielzahl von Zielen mobilisiert werden. Aber nicht alle Me-
thoden sind für bestimmte Ziele gleichermaßen verwendbar. Man
muss erst herausfinden (und kann nicht von Anfang an davon ausge-
hen), ob eine einzelne Methode oder Theorie die richtige ist. Einer der
Gründe, warum ich dieses Buch nicht mit einem Bericht über sozialis-
tische oder feministische Literaturtheorie abgeschlossen habe, liegt
darin, dass dies den Leser zu dem ermutigen könnte, was die Philoso-
phie einen ›kategorischen Fehler‹ nennt. Es könnte zu dem irrtümli-
chen Glauben führen, dass ›politische Kritik‹ ein von den diskutierten
Schluss: Politische Kritik 191
ten, werden ihre Tätigkeit wohl kaum als den Nabel der Welt ansehen.
Die Menschen leben nicht von der Kultur allein, und ihre überwälti-
gende Mehrheit wurde durch die Geschichte hindurch der Möglich-
keit beraubt, überhaupt davon zu leben, und die wenigen, die nun
dazu in der Lage sind, können dies auf Grund der Arbeit derer, die es
nicht sind. Jede kritische oder Kultur-Theorie, die nicht von dieser
einzig wichtigen Tatsache ausgeht und sie bei ihren Tätigkeiten ständig
im Auge behält, wird meiner Meinung nach wahrscheinlich nicht viel
wert sein. »Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein
solches der Barbarei zu sein« . Aber sogar in Gesellschaften wie der
unsrigen, die, wie Marx uns erinnert, keine Zeit für Kultur haben, gibt
es Zeiten und Orte, an denen sie plötzlich wieder wichtig wird, mit
einer Bedeutung befrachtet, die weit über sie hinausgeht. Vier solcher
Hauptmomente sind in unserer modernen Welt offensichtlich. Die
Kultur hat im Leben von Nationen, die um ihre Unabhängigkeit vom
Imperialismus kämpfen, eine Bedeutung, die von den Rezensionen in
den Sonntagszeitungen meilenweit entfernt ist. Imperialismus bedeu-
tet nicht nur die Ausbeutung billiger Arbeitskraft, von Rohstoffen und
leichtzugänglichen Märkten, sondern auch die Ausrottung von Spra-
chen und Bräuchen – nicht nur die erzwungene Anwesenheit fremder
Armeen, sondern auch die fremdartiger Erfahrungsweisen. Er mani-
festiert sich nicht nur in Firmenbilanzen und Luftwaffenbasen, son-
dern er kann bis zu den intimsten Wurzeln der Rede und der Bezeich-
nung verfolgt werden. In solchen Situationen, die keineswegs Tausen-
de von Kilometern von unserer eigenen Haustürschwelle entfernt sind,
ist die Kultur ein so lebenswichtiger Bestandteil der gemeinsamen
Identität, dass keine Notwendigkeit besteht, Argumente für ihre Be-
deutung für den politischen Kampf zu finden. Es wären die Argumen-
te dagegen, die auf völliges Unverständnis stoßen würden.
Das zweite Gebiet, auf dem kulturelle und politische Aktionen sich
aufs engste vereinigt haben, ist die Frauenbewegung. Es liegt in der
feministischen Politik begründet, dass Zeichen und Bilder, geschriebe-
ne und dramatisierte Erfahrungen von besonderer Bedeutung sind.
Der Diskurs in all seinen Formen betrifft Feministinnen ganz offen-
sichtlich, entweder als Orte, wo die Unterdrückung der Frauen dechif-
friert werden kann, oder als Orte, wo ihr der Kampf angesagt werden
kann. In jeder Politik, die Identitäten und Beziehungen zu zentralen
Fragen macht, indem die Aufmerksamkeit für die gelebte Erfahrung
und der Diskurs des Körpers erneuert wird, muss sich die Kultur ihren
Weg zur politischen Bedeutung nicht über Argumente bahnen. Tat-
sächlich besteht eines der Verdienste der Frauenbewegung darin, sol-
che Wendungen wie ›gelebte Erfahrung‹ und ›Diskurs des Körpers‹
Schluss: Politische Kritik 195
Paris nach Yale oder Cornell bekam ihm so wenig, wie manchem fran-
zösischen Wein eine Ortsveränderung, und die wagemutige, ikono-
klastische Denkweise erwies sich als leicht in ein formalistisches Para-
digma assimilierbar. Im Großen und Ganzen gedieh der Poststruktura-
lismus dort am besten, wo er sich mit einem größeren Projekt verband:
dem Feminismus, dem Postkolonialismus, der Psychoanalyse. In den
späten 80er Jahren begannen die Anhänger der Dekonstruktion lang-
sam wie eine vom Aussterben bedrohte Spezies auszusehen, nicht zu-
letzt nach der hochdramatischen de Man-Affäre 1987, als enthüllt
wurde, dass der Großmeister der US-amerikanischen Dekonstruktion
aus Yale während des Zweiten Weltkriegs prodeutsche und antisemiti-
sche Artikel für einige kollaborierende belgische Zeitschriften ge-
schrieben hatte (vgl. Hamacher 1989; s. Bibliografie 7.10).
Die heftigen Emotionen, die dieser Skandal erzeugte, verknüpften
sich unvermeidlich mit dem Schicksal der Dekonstruktion selbst. Es
fällt schwer, sich des Gefühls zu erwehren, dass einige der damaligen
wackeren Apologeten von de Man, einschließlich Derrida selbst, des-
halb so aufgebracht reagierten, weil nicht nur das Ansehen eines ver-
ehrten Kollegen, sondern der dahinschwindende Erfolg der gesamten
dekonstruktiven Theorie auf dem Spiel stand. Als sei sie von einer un-
sichtbaren Hand der Geschichte inszeniert worden, traf die de Man-
Affäre seltsamerweise mit dem Niedergang dieser intellektuellen Erfol-
ge zusammen, und zumindest ein Teil des mit dem Krawall verbunde-
nen unguten Gefühls entsprang einer theoretischen Strömung, die
nun spürte, dass sie zunehmend mit dem Rücken zur Wand stand. Ob
zu Recht oder zu Unrecht, die Dekonstruktion war unter anderem der
Sünde eines unhistorischen Formalismus angeklagt; und in den gan-
zen 1980er Jahren gab es nicht zuletzt in den Vereinigten Staaten eine
wachsende Strömung, die nun die Literaturtheorie zurück in die Rich-
tung einer Art Historismus trieb. Unter den veränderten politischen
Umständen konnte dies jedoch nicht mehr der offensichtlich diskredi-
tierte Historismus von Marx oder Hegel sein mit seinem angenomme-
nen Glauben an große, vereinheitlichte Erzählungen, seinen teleologi-
schen Hoffnungen, seiner Hierarchie historischer Ursachen, seinem
realistischen Glauben daran, dass sich die Wahrheit historischer Ereig-
nisse bestimmen lässt, mit seinen gesicherten Unterscheidungen darü-
ber, was in der Geschichte selbst zentral und was peripher war. Was in
den 80er Jahren mit dem sogenannten New Historicism in Erschei-
nung trat, war ein Stil von historischer Kritik, der sich genau um die
Ablehnung all dieser Glaubenssätze drehte (zum New Historicism s.
Bibliografie 7.5). Es war eine dem postmodernen Zeitalter angemesse-
ne Historiografie, in der eben die Vorstellungen von historischer
206 Nachwort
traditionell mit Kultur im engeren Sinne befasst sind. Genau wie die
Vorherrschaft der Massenmedien ein Überdenken der klassischen
Grenzen innerhalb der Kulturwissenschaften nötig machte, stellt
›Multikulturalität‹, die demselben historischen Zeitraum angehört, die
Art und Weise in Frage, wie der Westen sich seine Identität vorstellt
und in einem Kanon von Kunstwerken ausdrückt. drückt. Beide Strö-
mungen – Kulturwissenschaften und Postkolonialismus – gehen einen
entscheidenden Schritt über die Fragen der theoretischen Methode
hinaus, die in einer früheren Phase der Literaturtheorie im Zentrum
stand. Was nun auf dem Spiel steht, ist die Problematisierung der ›Kul-
tur‹ als solcher, was sich durch die Bewegung weg vom isolierten
Kunstwerk und hin zu den Bereichen Sprache, Lebensart, gesellschaft-
licher Wert, Gruppenidentität unausweichlich mit Fragen der globalen
politischen Macht überschneidet.
Das Ergebnis ist das Aufbrechen eines eng konzipierten westlichen
Kulturkanons und die Wiederentdeckung der bedrängten Kulturen
›marginaler‹ Gruppen und Völker. Dies bedeutete auch, dass einige
Themen der ›hohen‹ Theorie in die zeitgenössische globale Gesellschaft
eingebracht werden mussten. Fragen der ›Metaerzählung‹ betreffen
nicht länger nur das literarische Werk, sondern auch Begriffe, mit de-
nen der Westen der Nach-Aufklärungs-Ära sein eigenes imperiales
Vorhaben traditionell ausgedrückt hat. Dezentrierung und Dekon-
struktion von Kategorien und Identitäten gewinnen in einem Kontext
von Rassismus, ethnischen Konflikten, neokolonialer Herrschaft neue
Dringlichkeit. Das ›Andere‹ ist nicht mehr länger nur ein theoretisches
Konzept, sondern es sind Gruppen und Völker, die aus der Geschichte
verdrängt und der Sklaverei, Beleidigung, Mystifizierung, dem Geno-
zid unterworfen wurden. Psychoanalytische Kategorien der ›Abspal-
tung‹ und der Projektion, der Verdrängung und der Verleugnung ha-
ben sich aus den Freud’schen Lehrbüchern heraus verlagert und sind
zu Analysemethoden für die psycho-politischen Beziehungen zwischen
Kolonialisierern und Kolonialisierten geworden. Debatten zwischen
der ›Moderne‹ und der ›Postmoderne‹ haben besondere Kraft in rand-
ständigen Kulturen, die zunehmend in den Einflussbereich des post-
modernen Westens gezogen werden, ohne selbst eine solche Moderne,
im Guten oder im Schlechten, vollständig durchgemacht zu haben.
Und die Notlage der Frauen in solchen Gesellschaften, die nun einmal
gezwungen sind, viele der elendigsten Lasten zu tragen, hat zu einer
besonders fruchtbaren Allianz zwischen Feminismus und Postkolonia-
lismus geführt.
Die postkolonialistische Theorie ist nicht nur das Ergebnis der
Multikulturalität und der Dekolonialisierung. Sie spiegelt auch einen
216 Nachwort
gon zwischen Lesende und Text stellt, kann gegen jede beliebige Art
von Kritik erhoben werden. Matthew Arnold und T. S. Eliot lasen sich
für den Mann und die Frau auf der Straße, die mit ihrem kritischen
Idiom nicht vertraut waren, wie obskurer Jargon. Was für die einen
Fachdiskurs ist, ist für die anderen gewöhnliche Sprache, wie alle be-
stätigen können, die Erfahrungen mit Kinderärzten oder Automecha-
nikern haben.
Eine Schlacht, die die Kulturtheorie vermutlich gewonnen hat, ist
der Streit um die These, dass es keine neutrale oder unschuldige Art
gibt, ein Kunstwerk zu interpretieren. Sogar einige recht konservative
Kritiker neigen dieser Tage weniger zu der Behauptung, dass radikale
Theoretiker einen ideologisch schiefen Blick haben, während sie selbst
das Werk so sehen, wie es wirklich ist. Auch eine Art Historismus im
weiteren Sinne hat den Sieg davongetragen: Es laufen nur noch wenige
bekennende Formalisten herum. Wenn der Autor nicht gerade tot ist,
so ist ein naiver Biografismus einfach nicht mehr in Mode. Die Zu-
fallsbestimmtheit literarischer Kanons, ihre Abhängigkeit von einem
kulturspezifischen Werterahmen, wird heute weitestgehend anerkannt,
und damit auch die Tatsache, dass einige gesellschaftliche Gruppen
ungerechterweise von ihnen ausgeschlossen sind. Auch sind wir nicht
mehr ganz so sicher, wo genau die hohe Kultur aufhört und wo die
Alltagskultur beginnt.
Trotzdem: Manche traditionelle humanistische Lehrmeinungen
sterben so leicht nicht aus, nicht zuletzt die Annahme eines universel-
len Wertes. Wenn Literatur heute eine Rolle spielt, dann ist dies
hauptsächlich deshalb so, weil sie vielen konventionellen Kritikern als
einer der wenigen verbliebenen Orte erscheint, wo in einer geteilten,
fragmentierten Welt immer noch ein Gefühl von universellem Wert
verkörpert sein könnte; und wo es in einer schäbig materiellen Welt
immer noch möglich ist, einen seltenen Blick auf die Transzendenz zu
erhaschen. Zweifellos rühren daher die sonst unerklärlich intensiven,
sogar bösartigen Leidenschaften, die solch eine rein akademische Min-
derheiten-Beschäftigung wie Literaturtheorie auslöst. Denn wenn so-
gar diese gerade eben noch überlebende Kunstenklave historisiert, ma-
terialisiert, dekonstruiert werden kann, wo kann man dann in einer
entwerteten Welt überhaupt noch einen Wert finden? Radikale wür-
den erwidern, dass die Annahme, das gesellschaftliche Leben sei ent-
wertet und nur die Kultur kostbar, in Wirklichkeit eher ein Teil des
Problems als die Lösung ist. Diese Haltung selbst spiegelt wiederum
eher einen bestimmten politischen Blickwinkel wider, als dass sie eine
neutrale Tatsachenbehauptung wäre. Zugleich muss die Großherzig-
keit des humanistischen Glaubens an gemeinsame Werte offen aner-
220 Nachwort
kannt werden. Es ist nur einfach so, dass die Humanistinnen ein Pro-
jekt, das noch durchgeführt werden muss – das einer Welt der politi-
schen und ökonomischen Gerechtigkeit – mit den ›universellen‹ Wer-
ten einer Welt verwechseln, die noch nicht in dieser Weise rekonstru-
iert ist. Insofern ist das humanistische Vertrauen auf die Möglichkeit
solcher universeller Werte nicht falsch; aber es kann eben noch nie-
mand sagen, wie sie genau aussehen würden, da die materiellen Bedin-
gungen noch nicht eingetreten sind, die ihr Gedeihen zulassen wür-
den. Wenn sie jemals eintreten sollten, könnten Theoretikerinnen und
Theoretiker erleichtert auf ihr Theoretisieren verzichten, das eben
durch ihre politische Realisierung überflüssig geworden wäre, und zur
Abwechslung etwas Interessanteres tun.
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SM 206 Apel/Kopetzki: Literarische Übersetzung
SM 217 Schutte: Einführung in die Literaturinterpretation
SM 235 Paech: Literatur und Film
SM 246 Eagleton: Einführung in die Literaturtheorie
SM 259 Schönau/Pfeiffer: Einführung in die psychoanalytische
Literaturwissenschaft
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SM 283 Ottmers: Rhetorik
SM 284 Burdorf: Einführung in die Gedichtanalyse
SM 285 Lindhoff: Feministische Literaturtheorie
SM 317 Paefgen: Einführung in die Literaturdidaktik
SM 320 Gfrereis (Hrsg.): Grundbegriffe der Literaturwissenschaft
SM 324 Bossinade: Poststrukturalistische Literaturtheorie
SM 337 Lorenz: Journalismus
SM 338 Albrecht: Literaturkritik
SM 344 Nünning/Nünning (Hrsg.): Erzähltextanalyse
und Gender Studies
SM 347 Nünning (Hrsg.): Grundbegriffe der Literaturtheorie
SM 351 Nünning (Hrsg.): Grundbegriffe der Kulturtheorie
Deutsche Literaturgeschichte
SM 75 Hoefert: Das Drama des Naturalismus
SM 157 Aust: Literatur des Realismus
SM 170 Hoffmeister: Deutsche und europäische Romantik
SM 227 Meid: Barocklyrik
SM 290 Lorenz: Wiener Moderne
SM 329 Anz: Literatur des Expressionismus
SM 331 Schärf: Der Roman im 20. Jahrhundert
Gattungen
SM 16 Lüthi: Märchen
SM 116 Guthke: Das deutsche bürgerliche Trauerspiel
SM 155 Mayer/Tismar: Kunstmärchen
SM 191 Nusser: Der Kriminalroman
SM 192 Weißert: Ballade
SM 216 Marx: Die deutsche Kurzgeschichte
SM 232 Barton: Das Dokumentartheater
SM 256 Aust: Novelle
SM 262 Nusser: Trivialliteratur
SM 278 Aust: Der historische Roman
SM 323 Wagner-Egelhaaf: Autobiographie
SM 352 Kohl: Metapher
Mediävistik
SM 36 Bumke: Wolfram von Eschenbach
SM 72 Düwel: Einführung in die Runenkunde
SM 244 Schweikle: Minnesang
SM 293 Tervooren: Sangspruchdichtung
SM 316 Scholz: Walther von der Vogelweide
Sprachwissenschaft
SM 72 Düwel: Einführung in die Runenkunde
SM 252 Glück/Sauer: Gegenwartsdeutsch
SM 280 Rösler: Deutsch als Fremdsprache
SM 313 Fritz: Historische Semantik
SM 321 Klann-Delius: Spracherwerb
SM 342 Dietrich: Psycholinguistik
SM 349 Klann-Delius: Sprache und Geschlecht
Philosophie
SM 266 Horster: Jürgen Habermas
SM 281 Kögler: Michel Foucault
SM 311 Sandkühler (Hrsg): F.W.J. Schelling
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SM 341 Nitschke: Politische Philosophie
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