Massaker von Distomo

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Gedenkstätte Distomo, Ausschnitt aus der Denkmal-Reliefdarstellung
Dorf und Umgebung von Distomo

Beim Massaker von Distomo (griechisch Σφαγή του Διστόμου Sfagi tou Distomou), einer Ortschaft in Mittelgriechenland, am Fuße des Parnass-Gebirges, ermordeten am 10. Juni 1944 Angehörige eines Regimentes der 4. SS-Polizei-Panzergrenadier-Division im Zuge einer „Vergeltungsaktion“ 218 Dorfbewohner der Ortschaft Distomo und brannten das Dorf nieder. Opfer waren vor allem alte Menschen, Frauen, 34 Kinder und vier Säuglinge. Die übrigen ca. 1600 Einwohner hatten Distomo vorher verlassen.

Derselbe SS-Verband hatte beim Massaker von Klissoura am 5. April 1944 zusammen mit bulgarischer Miliz 280 Männer, Frauen und Kinder ermordet, angeblich, um Partisanenanschläge auf zwei deutsche Soldaten zu rächen.[1]

Anlass zu dem Blutbad war die Erschießung von drei deutschen Soldaten durch Partisanen. Eine deutsche Einheit war bei der Rückkehr von einer erfolglosen angeblichen Verfolgung von Widerständlern in einem Nachbardorf (gemeint ist Livadia) in einen Hinterhalt geraten.

Laut offiziellem Gefechtsbericht der 2. Kompanie des SS-Polizeigrenadier-Regiments der 4. SS-Polizei-Panzergrenadier-Division vom 10. Juni 1944 wurde aus dem Ort mit Granatwerfern, Maschinengewehren und Gewehren auf deutsche Soldaten geschossen. Kompaniechef Fritz Lautenbach berichtete:

„Ich habe daraufhin Feuereröffnung und den Angriff mit allen zur Verfügung stehenden Waffen auf Distomon befohlen. Nachdem das Dorf gesäubert war, wurden insgesamt 250 bis 300 tote Bandenangehörige und Bandenverdächtige gezählt.“

Die historische Forschung kommt hingegen zu einem anderen Ergebnis; das Landgericht Bonn schrieb (Urteil vom 23. Juni 1997):

„Im Laufe des Vormittags des 10. 6. 1944 erreichten die Truppen von Lewadia aus kommend Distomo, hielten sich dort mehrere Stunden auf und verhörten den Bürgermeister und den Popen bezüglich des Aufenthalts bzw. Durchzugs von Partisanen. Am Tag zuvor waren etwa dreißig Partisanen aus Desfina eingetroffen und nach Stiri weitergezogen. Auf Grund dessen zog eine motorisierte Kolonne in Richtung Stiri aus. Die Kolonne wurde kurz vor Stiri angegriffen und zog sich unter Verlusten zurück. Nach der Rückkunft in Distomo wurden zunächst zwölf Gefangene und anschließend die gesamte im Ort verbliebene Bevölkerung ohne Rücksicht auf Alter und Geschlecht umgebracht, die Häuser wurden systematisch durchsucht und anschließend niedergebrannt. Insgesamt wurden etwa 218 Menschen ermordet.“

Bei der Aktion kam es nach Augenzeugenberichten zu sadistischen Exzessen:

„Männer wie Kinder wurden wahllos erschossen, Frauen vergewaltigt und niedergemetzelt, vielen schnitten die Soldaten die Brüste ab. Schwangere Frauen wurden aufgeschlitzt, manche Opfer mit dem Bajonett gemeuchelt. Anderen wurden die Köpfe abgetrennt oder die Augen ausgestochen.“[2][3]

„Im Kinderbett gegenüber fand Panajotis seinen kleinen, nicht einmal zwei Jahre alten Bruder Nikolaos. Ihn hatten die Soldaten nicht erschossen. Er war, offenbar mit dem Bajonett, aufgeschlitzt worden, von oben bis unten. »Als ich ihn hochheben wollte, fiel er richtig auseinander«, erzählt Sfontouris, mittlerweile 59 und Besitzer einer Tankstelle. »Wir konnten ihn nur in eine Decke gewickelt aus dem Haus bringen.«“[2]

Der schwedische Diplomat Sture Linnér, welcher zum Zeitpunkt des Massakers den Vorsitz des Roten Kreuzes im besetzten Griechenland führte, wurde an seinem Hochzeitstag über das Massaker informiert und begab sich mit seiner Frau umgehend nach Distomo. In seinem Buch „Min Odysse“ („Meine Odyssee“) verfasste er einen Augenzeugenbericht, in dem er über die Situation in Distomo drei Tage nach dem Massaker u. a. schreibt[4]

„An jedem Baum neben der Straße und in einer Distanz von vielen Hundert Meter hängten menschliche Körper, gefestigt mit Bajonetten. Manche waren noch am Leben.“

„Der Geruch war unerträglich. Im Dorf selbst brannte noch Feuer in dem Rest der verbrannten Häuser. Auf der Erde lagen zerstreut hunderte Menschen jeden Alters, von Greisen bis Säuglinge[n]. Vielen Frauen haben die Soldaten den Bauch mit den Bajonetten zerschnitten und die Brust herausgerissen. Andere lagen gewürgt, umwickelt mit ihren Gedärmen um ihren Hals.“

Während der Vergeltungsaktion befanden sich Angehörige der Geheimen Feldpolizei Gruppe 510 in Distomo und verfassten später einen ähnlichen Bericht über die Geschehnisse.[5]

Die Rechtssache Distomo

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Vor griechischen Gerichten

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Auf die Klage von Kindern der Opfer von Distomo verurteilte im Oktober 1997 das Landgericht Livadia die Bundesrepublik Deutschland in einem erstinstanzlichen Versäumnisurteil zur Zahlung von 37,5 Millionen Euro. Ein Revisionsantrag der Bundesrepublik Deutschland wurde im Mai 2000 vom Areopag, dem höchsten griechischen Gericht, zurückgewiesen. Die Zwangsvollstreckung, die in Vermögen der Bundesrepublik Deutschland betrieben wurde, welches in Griechenland gelegen war (unter anderem Pfändung des Goethe-Instituts in Athen), konnte im letzten Moment durch Rechtsbehelfe abgewendet werden. Die griechische Regierung weigerte sich, die nach griechischem Recht notwendige Einwilligung in die Zwangsvollstreckung zu erteilen. Der dagegen von den Klägern beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eingelegte Antrag wurde abgewiesen (Beschluss vom 12. Dezember 2002, 59021/00 – Kalogeropulou u. a. ./. Griechenland und Deutschland).

Vor deutschen Gerichten

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Die von den Klägern in Deutschland betriebene zivilrechtliche Klage blieb vor dem LG Bonn, OLG Köln und schließlich vor dem Bundesgerichtshof (Urteil vom 26. Juni 2003, AZ: III ZR 245/98) sowie vor dem Bundesverfassungsgericht (Nichtannahmebeschluss vom 15. Februar 2006, AZ: 2 BvR 1476/03) erfolglos.

Gegen den Kompaniechef und dessen Vertreter war unmittelbar nach dem Massaker ein strafrechtliches Kriegsgerichtsverfahren wegen Missachtung der Weisung des Oberbefehlshabers Süd-Ost eingeleitet worden, nach der nur höhere Truppenführer im Einvernehmen mit den zuständigen Feldkommandanturen Vergeltungsmaßnahmen befehlen durften. Der Kompaniechef und sein Vertreter starben allerdings wenige Monate später bei einem Attentat; die Ermittlungen wurden daraufhin eingestellt.

Vor Zivilgerichten in Italien

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Das oberste italienische Zivilgericht, der römische Kassationsgerichtshof, entschied 2008, dass die Überlebenden des Massakers von Distomo die in Griechenland erstrittenen Urteile in Italien vollstrecken können. Der Anwalt der Kläger erwirkte die Eintragung einer Hypothek auf das deutsche Kulturinstitut Villa Vigoni, der daraufhin die Zwangsversteigerung drohte.[6][7]

Vor dem Internationalen Gerichtshof

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Da der Rechtsstreit die Frage der Staatenimmunität berührt, wonach Staaten grundsätzlich der Gerichtsbarkeit anderer Staaten enthoben sind, verständigten sich die deutsche und die italienische Regierung darauf, eine Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag herbeizuführen.[8] Im Januar 2012 gab der IGH der deutschen Klage statt,[9] aufgrund des völkerrechtlichen Grundsatzes Par in parem non habet imperium (Staatenimmunität) hätte Italien die Klagen von Privatpersonen gegen die Bundesrepublik Deutschland grundsätzlich nicht zulassen dürfen.[10]

Das Verfahren führte eine völkerrechtliche Grundsatzentscheidung herbei und war daher von vielen Staaten mit Spannung verfolgt worden. Juristen wiesen darauf hin, dass ein anders lautendes Urteil große Probleme aufgeworfen hätte, denn das hätte beispielsweise bei einem Konflikt zwischen zwei Staaten die Möglichkeit eröffnet, dass die Gerichte des einen Staates den jeweilig anderen Staat zu Schadensersatz verurteilten.

Nikos Paraskevopoulos, einige Wochen zuvor zum Justizminister Griechenlands im Kabinett Tsipras I berufen, äußerte am 10. März 2015 seine Bereitschaft, einer Beschlagnahmung deutscher Vermögenswerte in Griechenland zuzustimmen, um die den Hinterbliebenen zugesprochenen Beträge einzutreiben. Paraskevopoulos erklärte, er wolle seine endgültige Entscheidung aber von der „Komplexität des Falls“ und weitreichenderen „nationalen Fragen“ abhängig machen.[11][12] Auch Tsipras hielt eine Rede zum Thema Reparationen, in der er die Massaker von Distomo, Kesariani, Kalavryta und Viannos sowie die Deutsche Zwangsanleihe in Griechenland nannte.[13]

Große Aufmerksamkeit bekam die Debatte um Entschädigungen für das Kriegsverbrechen auch durch die ZDF-Kabarett-Sendung Die Anstalt, in welcher Argyris Sfountouris, der als Junge bei dem Massaker seine Eltern verloren hatte, auftrat.[14] In den 1980er Jahren wurde auf einem Hügel oberhalb Distomos eine Gedenkstätte zur Erinnerung an das Massaker von Distomo errichtet. In den Gedenkort ist eine kleine Kapelle mit einem Beinhaus integriert, in dem die Schädel der Opfer aufbewahrt werden. Auf einer Wand aus Marmor sind die Namen und das Alter der Opfer aufgelistet. Jedes Jahr am 10. Juni findet hier eine Gedenkfeier statt.[15]

Das Geschehnis wurde von Stefan Haupt in Ein Lied für Argyris aufgegriffen.[16]

Einzelnachweise

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  1. Militärgeschichtliches Forschungsamt (Hrsg.): Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 5/2: Organisation und Mobilisierung des deutschen Machtbereiches, Stuttgart 1999, ISBN 3-421-06499-7, S. 162.
  2. a b Blutbad im Bergstädtchen. In: Der Spiegel, 1998/Nr. 1, S. 43.
  3. Hagen Fleischer im Interview auf der Website der Gerda-Henkel-Stiftung
  4. Bericht über Distomo vom Vorsitzenden des Roten Kreuzes in Griechenland (Memento vom 13. April 2016 im Internet Archive) auf der Website der Gemeinde Distomo; Auszug aus: Sture Linnér, Min Odyssé (Stockholm: Norstedt, 1982)
  5. Gernot Biehler: Auswärtige Gewalt. Auswirkungen auswärtiger Interessen im innerstaatlichen Recht. Mohr Siebeck, Tübingen 2005, S. 311, ISBN 3-16-148447-9 (= Jus Publicum).
  6. Deutschland drohen Millionen-Klagen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7. Juni 2008.
  7. Gericht: Distomo-Urteil wirksam Neue Entschädigungs-Entscheidung in Italien. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27. November 2008 (kostenpflichtig).
  8. Paul Kreiner: Symbolisch entschädigt. In: Der Tagesspiegel, 19. November 2008.
  9. IGH, Urteil vom 3. Februar 2012, Jurisdictional Immunities of the State (Germany v. Italy: Greece intervening), online (Memento vom 29. August 2019 im Internet Archive) (englisch; PDF, 481 kB, abgerufen am 3. Februar 2020).
  10. Hans-Jürgen Schlamp: Rechtsfrieden geht vor Menschenrecht. In: Spiegel Online, 3. Februar 2012.
  11. spiegel.de vom 11. März 2015: Entschädigung für Kriegsverbrechen: Griechenland will deutsches Eigentum beschlagnahmen
  12. spiegel.de Mittwoch, 11. März 2015: Athen droht mit Pfändung deutschen Eigentums: Dürfen die das?
  13. FAZ.net vom 11. März 2015: Die Rede des Alexis Tsipras
  14. Süddeutsche Zeitung: Entschädigungen für deutsche Kriegsverbrechen. „Ich bin Argyris Sfountouris, der kleine Junge, der 1944...“ 1. April 2015, abgerufen am 25. Februar 2019.
  15. Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas: Gedenkstättenportal zu Orten der Erinnerung in Europa: Gedenkstätte von Distomo. Abgerufen am 25. Februar 2019.
  16. Ein Lied für Argyris (Memento vom 27. September 2007 im Internet Archive) (PDF; 505 kB) Schweiz, 2006, 105 Min.

Koordinaten: 38° 26′ N, 22° 40′ O