Narrative Exegese

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Narrative Exegese ist eine neuere Methode der biblischen Exegese, die besonders im englischsprachigen Raum verbreitet ist und seit etwa zwanzig Jahren zunehmend auch in der deutschen Bibelwissenschaft aufgenommen wird. Die narrative Exegese gründet sich auf die Beobachtung, dass viele Abschnitte der Bibel Erzähltexte sind: zum Beispiel die vier Evangelien, die Apostelgeschichte des Lukas oder die Erzählungen über die Erzeltern, Mose, Samuel oder die Könige Israels. Daher wendet die Bibelexegese Modelle und Methoden aus der literaturwissenschaftlichen Erzähltheorie auf die Bibel an.[1] Sie beruht insbesondere auf der Theorie des New Criticism und des Close Reading, betont aber auch, dass der Leser an der Entstehung des Textsinns beteiligt ist (vgl. Rezeptionsästhetik).

Die narrative Exegese ist anders als die historisch-kritische Methode nicht an der Entstehungsgeschichte der biblischen Erzähltexte interessiert, sondern an der Analyse ihrer vorliegenden Gestalt. Dazu dienen beispielsweise folgende Fragestellungen, die nach James Lynn Resseguie[2] und Schimon Bar-Efrat[3] für das Verständnis ihrer Struktur wesentlich sind:

Der Erzähler

  • 1. Aus welcher Perspektive wird der Text erzählt?
  • 2. Wie erscheint der Erzähler: als allwissend, offenkundig oder verborgen?

Rhetorik

  • 1. Gibt es Wiederholungen von Schlüsselwörtern, Sätzen, Themen, Mustern, Situationen oder Handlungen?
  • 2. Gibt es ähnliche Verben (Wortfelder), die auf ein bestimmtes Thema hindeuten?
  • 3. Was tragen Stilfiguren (Parallelismus, Antithese, Inklusion, Chiasmus, rhetorische Frage) zur Erzählung bei?
  • 4. Wie ist der Textabschnitt strukturiert? Gibt es Inklusionen, Änderungen bei den Figuren oder den Handlungen, oder andere Änderungen, die Szenen voneinander abgrenzen?
  • 5. Wie beginnt die Erzählung? Wie endet sie?
  • 6. Welche Bilder, Symbole, Gegensätze, Vergleiche oder Metaphern sind im Text zu finden? Weisen sie auf ein bestimmtes Thema hin? In welcher Weise tragen sie zur Charakterisierung der Figuren und zum Handlungsablauf bei?
  • 7. Wenn im Text ein Missverständnis geschildert wird: In welcher Weise trägt es zum Thema der Erzählung bei?
  • 8. Wird bei einer Rede oder Handlung Ironie verwendet? Wie drückt die Ironie einen bestimmten Standpunkt aus?
  • 9. Werden allgemeine oder alltägliche Standpunkte durch die rhetorischen Mittel verfremdet?

Setting

  • 1. Welches geografische oder topografische Setting ist zu beobachten? Sind die Begriffe symbolisch gemeint? Soll das Umfeld an wichtige Ereignisse in Israels Geschichte erinnern?
  • 2. Wird die Erzählung in eine bestimmte soziale, kulturelle, religiöse oder politische Situation eingezeichnet?
  • 3. Werden „Requisiten“ verwendet? In welcher Weise dienen sie dazu, den Handlungsablauf voranzubringen, die Charakterisierung der Figuren zu entwickeln oder einen Standpunkt zu beschreiben?
  • 4. Welches zeitliche Umfeld wird jeweils geschildert? Was ist dessen symbolische Bedeutung in der Erzählung? (Beispiel: Nikodemus kommt zu Jesus Christus „bei Nacht“.)

Charakterisierung der Figuren

  • 1. Was sprechen die Figuren? Was sind ihre ersten Worte? Kommt in ihrer Rede eine bestimmte Stimmung oder Haltung zum Ausdruck?
  • 2. Was sind die Handlungen der Figuren?
  • 3. Wie beeinflussen die Rahmenbedingungen unser Verständnis der Figuren?
  • 4. Was sagen andere Charaktere über die Figur? Welche Titel und beschreibenden Sätze verwenden sie?
  • 5. Welche Züge trägt die Figur? Ist der Charakter „rund“ oder „flach“ (also weniger komplex)? Entwickelt sich die Figur oder bleiben ihre Eigenschaften über die gesamte Erzählungen dieselben? Wenn sich der Charakter weiterentwickelt: Was trägt zu seiner oder ihrer Entwicklung bei? In welcher Weise ist der Charakter am Ende anders?
  • 6. Gibt die Wandlung eines Charakters einen Schlüssel, um den Handlungsverlauf oder den Hauptpunkt der Erzählung zu erschließen?
  • 7. Dient ein Charakter als Folie, um die Züge eines anderen Charakters zu erhellen oder zu kontrastieren?
  • 8. Was sagt der Erzähler über eine Figur? Welche Kommentare und Bemerkungen werden vom Erzähler gemacht? In welcher Weise gibt der Erzähler eine Innensicht dessen, was die Figur denkt, fühlt oder glaubt? Wird die Weltsicht einer Figur bekannt gemacht? Bestätigt es die allgemeine Weltsicht der Erzählung oder steht sie ihr entgegen?

Point of View

  • 1. Was ist der wertende oder ideologische Standpunkt der Erzählung?
  • 2. Gibt der Erzähler bestimmte Hinweise, welche den Standpunkt einer Figur deutlich machen?
  • 3. Welche Innensichten der Gedanken, Gefühle und Motive einer Figur werden geschildert (psychologischer Standpunkt)?
  • 4. Kommt ein Standpunkt zum Ausdruck durch das, was eine Figur sagt oder tut? Wie verhält sich dieser Standpunkt zum übergreifenden ideologischen Standpunkt der Erzählung?

Plot

  • 1. Welche Konflikte treten in der Erzählung auf? Gibt es Konflikte mit der Natur, mit der Transzendenz oder mit Menschen? Oder hat die Figur interne Konflikte zu bewältigen?
  • 2. Steht der Charakter einem Problem gegenüber? Wie löst die Figur dieses Problem?
  • 3. Wenn der Handlungsverlauf „u“-förmig ist („Komödie“): Was ist die erste Handlung oder Krise, mit der die Abwärtsbewegung beginnt? Was ist der Anlass, der den fallenden Handlungsverlauf dann wieder in eine steigende Handlung umkehrt? Gibt es eine Erkenntnisszene? Worin besteht die Auflösung der Krise? (Beispiel: Die Evangelien sind in diesem Sinn eine „Komödie“, weil Jesus aufersteht; einige Exegeten ordnen das Evangelium nach Markus eher als „Tragödie“ ein.)
  • 4. Wenn der Handlungsverlauf einem umgekehrten „u“ folgt („Tragödie“): Was ist dann die fatale Schwäche/Sünde der Figur, die zu der Abwärtsbewegung führt? Oder welche Umstände tragen zu der Katastrophe bei? Gibt es eine Erkenntnisszene? Wenn nicht: Was hätte die Figur erkennen sollen, aber hat sie nicht erkannt?
  • 5. Wenn der Handlungsverlauf auf eine bestimmte Erkenntnis zuläuft, welche wichtige Entdeckung macht die Figur? In welcher Weise ändert diese Entdeckung den Standpunkt der Figur? In welcher Weise wird die Realität anders gesehen?
  • 6. Was ist das Hauptthema der Erzählung? Präsentiert sie einen neuen Standpunkt, eine Änderung im Verhalten, oder eine Entdeckung von etwas Wichtigem, das vorher nicht gesehen wurde?

Der Leser

  • 1. Welche Erwartungen werden im (impliziten) Leser geweckt, und wie werden sie im Fortgang der Erzählung erfüllt oder zunichtegemacht?
  • 2. Welcher neue, fremdartige Standpunkt resultiert aus der Erfüllung oder dem Umsturz von Erwartungen?
  • 3. Welchen neuen Standpunkt will der Erzähler den Leser annehmen lassen? Wie soll der Leser die Realität anders sehen?

Literaturwissenschaftliche Erzähltheorie

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  • Hans-Werner Ludwig (Hrsg.): Arbeitsbuch Romananalyse. Literaturwissenschaft im Grundstudium 12. Narr, Tübingen (1982) 6. Auflage 1998 (informative, übersichtliche Darstellung)
  • Mieke Bal: Narratology. Introduction to the Theory of Narrative. Univ. of Toronto Press, Toronto (1985) 2. erweiterte Auflage 1997, Repr. 2002. (niederländ. Orig.: De theorie van vertellen en verhalen)
  • Shlomith Rimmon-Kenan: Narrative Fiction. Contemporary Poetics. New Accents. Routledge, London/New York 1983, Repr. (1996) 2003
  • Eberhard Lämmert: Bauformen des Erzählens. Metzler, Stuttgart (1955) 1993.(Zeitgerüst von Erzählungen)
  • Manfred Pfister: Das Drama. Theorie und Analyse. UTB 580. Fink, München (1971) 11. Auflage 2001
  • Matías Martínez, Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. Beck, München (1999) 4. Auflage 2003
  • Franz Karl Stanzel: Theorie des Erzählens. UTB 904. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen (1979) 6. Auflage 1995
  • Jochen Vogt: Aspekte erzählender Prosa. Eine Einführung in Erzähltechnik und Romantheorie. WV studium 145. Westdt. Verl., Opladen 8. Auflage 1998 (9. Auflage Juni 2006)
  • Seymour Chatman: Coming to Terms. The Rhetoric of Narrative in Fiction and Film. Cornell UP, Ithaca NY (1990) 1993
  • Seymour Chatman: Story and Discourse. Narrative Structure in Fiction and Film. Cornell UP, Ithaca NY (1978) 1993
  • Wayne C. Booth: Die Rhetorik der Erzählkunst. UTB 384.385. Heidelberg 1974
  • Boris Uspenski: Poetik der Komposition. Struktur des künstlerischen Textes und Typologie der Kompositionsform. Frankfurt am Main 1975 (russisches Original: Moskau 1970)

Einführungen in die narrative Exegese

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  • Sönke Finnern, Jan Rüggemeier: Methoden der neutestamentlichen Exegese. Ein Lehr- und Arbeitsbuch. UTB 4212, Tübingen 2016 (erzählwissenschaftlich auf dem aktuellsten Stand, didaktisch ausgefeilt, umfassend, bietet integratives Gesamtmodell der Textauslegung).
  • Sönke Finnern: Narratologie und biblische Exegese. Eine integrative Methode der Erzählanalyse und ihr Ertrag am Beispiel von Matthäus 28. Tübingen 2010, 624 S., ISBN 978-3-16-150381-8 (sehr umfassende, detaillierte Darstellung auf der Basis der aktuellen kognitiven Narratologie)
  • Schimon Bar-Efrat: Wie die Bibel erzählt. Alttestamentliche Texte als literarische Kunstwerke verstehen. Gütersloh 2006, ISBN 3-579-05215-2
  • James L. Resseguie: Narrative Criticism of the New Testament. An Introduction. Baker Academic, Grand Rapids 2005 (gute neuere Einführung; mit Beispielen und Fragenkatalog der narrativen Exegese).
  • Daniel Marguerat, Yvan Bourquin: How to Read Bible Stories. An Introduction to Narrative Criticism. SCM, London 1999
  • Mark Allan Powell: What is Narrative Criticism? Guides to Biblical Scholarship, New Testament Series, Fortress Press, Minneapolis 1990 / SPCK, London 1993 (hilfreicher Überblick; nicht so ausführlich wie Resseguie).
  • Wilhelm Egger: Nachfolge als Weg zum Leben. Chancen neuerer exegetischer Methoden dargelegt an Mk 10,17-31. Österreichische Biblische Studien 1. Klosterneuburg 1979 (S. 8–48: Propp, Dundes, Bremond, Greimas, Güttgemanns, Barthes).
  • Michael Fishbane: Text and Texture: Close Readings of Selected Biblical Texts. Schocken Books, New York 1979
  • Robert Alter: The Art of Biblical Narrative. Basic Books, New York 1981
  • Meir Sternberg: The Poetics of Biblical Narrative. Ideological Literature and the Drama of Reading. Indiana Literary Biblical Series. Indiana University Press, Bloomington 1985
  • Mark Allan Powell: The Bible and Modern Literary Criticism. A Critical Assessment and Annotated Bibliography. Greenwood Press, Westport 1991 (ausführliche Bibliografie).
  • Elizabeth Struthers Malbon: Narrative Criticism. How Does the Story Mean? In: Janice Capel Anderson, Stephen D. Moore (Hrsg.): Mark and Method. New Approaches in Biblical Studies. Fortress Press, Minneapolis 1992, S. 23–49
  • Jean Zumstein: Narrative Analyse und neutestamentliche Exegese in der frankophonen Welt. In: Verkündigung und Forschung 41 (1996), S. 5–27
  • George J. Brooke, Jean-Daniel Kaestli: Narrativity in Biblical and Related Texts = La Narrativité dans la Bible et les Textes Apparentes [Symposium Manchester 1996]. BEThL 149. University Press, Leuven 2000

Beispiele narrativer Exegese

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Evangelium nach Matthäus

  • Jeannine K. Brown: The Disciples in Narrative Perspective. The Portrayal and Function of the Matthean Disciples. Society of Biblical Literature Academia Biblica 9. Brill, Leiden u. a. 2002
  • Jack Dean Kingsbury: Matthew as Story. Fortress Press, Philadelphia 2. Auflage 1988
  • Frank J. Matera: The Plot of Matthew’s Gospel. In: CBQ 49 (1987), S. 233–253
  • John Paul Heil: The Death and Resurrection of Jesus. A Narrative Reading of Matthew 26-28. Minneapolis 1991
  • Janice Capel Anderson: Matthew’s Narrative Web. Over, and Over, and Over Again. JSNT.SS 91. JSOT Press, Sheffield 1994

Evangelium nach Markus

  • Jan Rüggemeier: Poetik der markinischen Christologie. Eine kognitiv-narratologische Exegese. WUNT II 458. Mohr Siebeck, Tübingen 2017 (erzählwissenschaftlich auf dem Stand der kognitiven Narratologie)
  • Ferdinand Hahn (Hrsg.): Der Erzähler des Evangeliums. Methodische Neuansätze in der Markusforschung. SBS 118/119. Kath. Bibelwerk, Stuttgart 1985 (englische Aufsätze in deutscher Übersetzung; eines der ersten Bücher, das die narrative Exegese in Deutschland bekannt machte; gut verständliche Einführung in die Methode mit Beispielexegesen).
  • Ute E. Eisen: „Das Markusevangelium erzählt. Literary Criticism und Evangelienauslegung“ In: Stefan Alkier, Ralph Brucker (Hrsg.): Exegese und Methodendiskussion. Tübingen/Basel 1998, S. 135–153
  • David Rhoads, Joanna Dewey, Donald Michie: Mark as Story. An Introduction to the Narrative of a Gospel. Minneapolis (1982) 2. Auflage 1999. / University Press, Cambridge 2002
  • Ohajuobodo I. Oko: „Who Then Is This?“ A Narrative Study of the Role of the Question of the Identity of Jesus in the Plot of Mark’s Gospel. BBB 148. Philo, Berlin/Wien 2004

Evangelium nach Lukas

  • James Lynn Resseguie: Spiritual Landscape: Images of the Spiritual Life in the Gospel of Luke. Peabody (Hendrickson Publishers) 2003, ISBN 1-56563-827-1

Evangelium nach Johannes

  • R. Alan Culpepper: Anatomy of the Fourth Gospel. A Study in Literary Design. Fortress Press, Philadelphia 1983
  • Dirk F. Gniesmer: In den Prozeß verwickelt. Erzähltextanalytische und textpragmatische Erwägungen zur Erzählung vom Prozeß Jesu vor Pilatus (Joh 18,28 – 19,16a.b). EHS 23/688. Lang, Frankfurt am Main u. a. 2000
  • Tobias Nicklas: Ablösung und Verstrickung. „Juden“ und Jüngergestalten als Charaktere der erzählten Welt des Johannesevangeliums und ihre Wirkung auf den impliziten Leser. Regensburger Studien zur Theologie 60. Lang, Frankfurt am Main u. a. 2001
  • Auswahlliteratur zur Analyse von Erzähltexten (Archivversion)
  • A Glossary of New Testament Narrative Criticism with Illustrations
  • Ursula Ulrike Kaiser: Einführung in die neutestamentliche Exegese. Überblick – Anleitungen – Beispiele – Literatur. Stand: Januar 2014 ([2] auf theologie.uni-hamburg.de)
  • Ruben Zimmermann: Narratologische Analyse; Erzähltextanalyse. Februar 2019 ([3] auf bibelwissenschaft.de)
  • Dorothea Erbele-Küster: Narrativität. Juli 2009 ([4] auf bibelwissenschaft.de)
  • Patrick Heiser: Datenerhebung mittels narrativer Interviews Fernuniversität Hagen, 29. November 2016 [5]; Eine Pilger-Studie die als Erhebungsmethode das narrativen Interview (Stegreiferzählungen) gebraucht.
  • Patrick Heiser: Datenauswertung mit der Narrationsanalyse. Fernuniversität Hagen, 29. November 2016 [6]
  • Patrick Heiser: Datenerhebung mittels narrativer Interviews. Erzähltheorie – Methodisches Vorgehen – Forschungsbeispiel. Fernuniversität Hagen ([7] auf fernuni-hagen.de)
  • Patrick Heiser: Datenauswertung mit der Narrationsanalyse nach Fritz Schütze. Fernuniversität Hagen ([8] auf fernuni-hagen.de)
  • Gerd Häfner: Von Gott erzählen. Narrative Theologie im Neuen Testament. Vorlesung Wintersemester 2012/13, auf kaththeol.uni-muenchen.de [9]
  1. Ruben Zimmermann: Narratologische Analyse; Erzähltextanalyse. Erstellt: Febr. 2019 ([1] auf bibelwissenschaft.de)
  2. James Lynn Resseguie: Narrative Criticism of the New Testament. S. 242–244
  3. Schimon Bar-Efrat: Wie die Bibel erzählt. S. 23–56