ADB:Scharnhorst, Gerhard von
[589] langwieriger Rechtsstreit nahm, wurde Scharnhorst’s Vater Besitzer des genannten Freigutes; er kam dadurch in eine bessere Lage und konnte bald darauf für seinen Sohn um die Aufnahme in die unfern von Bordenau im Steinhuder Meere auf der Feste Wilhelmstein vom Grafen Wilhelm zu Schaumburg-Lippe errichtete Kriegsschule nachsuchen. Eine wissenschaftliche Prüfung, welche der Graf mit ihm anstellte, verlief günstig und am 29. April 1773 unterzeichnete der junge S. die Urkunde, durch welche er sich auf zehn Jahre für den Dienst des Grafen verpflichtete. Unmittelbar darauf erfolgte sein Eintritt in die vortrefflich eingerichtete und geleitete Schule, in welcher er bald durch Lernbegier und Fortschritte sich auszeichnete. 1775 wurde er Conducteur (Stufe zwischen Unterofficier und Officier). Ueber seine erste militärische Dienstzeit und die ihm ertheilten Zeugnisse berichtet ein Aufsatz im Militärwochenblatt, Berlin 1886, Nr. 101. Der am 10. September 1777 erfolgte Tod des Grafen machte der Schule ein Ende. S. suchte und fand Unterkommen in hannoverschen Diensten. Der Chef des 8. Dragonerregiments, General v. Estorff, hatte in seiner Stabsgarnison Nordheim eine Schule für die Officiere und Officieranwärter seines Regiments errichtet (vgl. Schlözer, Staatsanzeigen, Göttingen, März 1786, III, 32. Heft). Um S. als Lehrer bei derselben zu verwenden, nahm er ihn als Fähnrich in das Regiment auf. Sein Patent als Titularfähnrich ist vom 28. Juli 1778 datirt. So wurde S. ein Reiterofficier und keineswegs einer, der seinen Kameraden nur als Schulmeister gegenüber gestanden hätte. Dabei arbeitete er an seiner eigenen Fortbildung, unternahm seinen ersten litterarischen Versuch, indem er in Schlözer’s Staatsanzeigen einen Aufsatz „Von den Militäranstalten des verstorbenen regierenden Grafen von Schaumburg-Lippe“ schrieb (auch abgedruckt in „Denkwürdigkeiten des Grafen Wilhelm zu Schaumburg-Lippe“, Hannover 1782, verfaßt von Scharnhorst’s späterem Schwager Schmalz) und erfand ein Mikrometerfernrohr. Im Herbst 1783 ging er aus diesem engeren Wirkungskreise in einen größeren an der zu Hannover neuerrichteten Artillerieschule über, nachdem er im Juli dieses Jahres als dritter Fähnrich zur Artillerie versetzt worden war. Die Zwischenzeit benutzte er, um auf einer Reise durch Deutschland die militärischen Einrichtungen verschiedener Staaten und namentlich seiner neuen Waffe kennen zu lernen. „Einige Nachrichten von der k. österreichischen und k. preußischen Artillerie, von dem Artilleriefähndrich G. Scharnhorst auf einer Reise im Sommer 1783 gesammelt“, erstatteten Bericht über dieselbe. An der Artillerieschule, an welcher er als zweiter Lehrer angestellt war und von deren Verhältnissen ein von ihm verfaßter Aufsatz in Schlözer’s Staatsanzeigen vom Januar 1786 Kenntniß gibt, entfaltete er eine umfassende Wirksamkeit. Er war bald die Seele der Anstalt; für die Verbesserung der Einrichtungen derselben war er unablässig bemüht. Für ihre Zwecke schrieb er sein „Handbuch für Officiere in den anwendbaren Theilen der Kriegswissenschaften“, welches seit 1787 in Hannover erschien und mehrfach aufgelegt ist. Es war auf sechs Theile berechnet, von denen aber nur drei (Artillerie, Verschanzungskunst, Tactik) herausgekommen sind; einen vierten fügte J. G. v. Hoyer als „Strategie“ bei einer 1815 veranstalteten Neuauflage hinzu; S. hatte statt desselben einige der von Friedrich dem Großen herausgegebenen bezw. demselben zugeschriebenen Vorschriften veröffentlicht. Die beiden letzten Theile, welche kriegsgeschichtlichen Inhaltes sein sollten, blieben ungeschrieben. Auch sonst war er litterarisch thätig. Seit 1782 gab er eine Zeitschrift „Militärbibliothek“ (1782–1785), dann „Bibliothek für Officiere“ (1785–1788) heraus, seit 1792 „Neues militärisches Journal“, seit 1797 auch „Militärische Denkwürdigkeiten unserer Zeiten“ genannt, welche erst 1805 eingingen. 1792 erschien ferner die erste Auflage seines „Militärisches Taschenbuch für den Gebrauch im Felde“. Den Antrieb zur Schriftstellerei gab [590] ihm nicht nur der innere Drang; auch äußere Verhältnisse drücken ihm die Feder in die Hand; seit dem 2. April 1784 Titulär-, bald nachher wirklicher Lieutenant, hatte er als solcher ein Einkommen von monatlich 34 Thaler und 11 Pfennig, dazu kamen freilich eine Zulage von der Schule und einige Bezüge aus Bordenau, wo die Erbtheilung viele Schwierigkeiten und Verdrießlichkeiten bereitete, aber auch die Bedürfnisse des einfachen Mannes waren größer geworden, denn seit dem 24. April 1785 war er mit Clara Schmalz, der Tochter eines Kanzlisten zu Hannover und Schwester des bekannten Staatsrechtslehrers Theodor Schmalz verheirathet, welcher letztere 1810 der erste Rector der neuerrichteten Universität zu Berlin wurde, und der Zuwachs der Familie erforderte vermehrte Mittel.
Scharnhorst: Gerhard Johann David (v.) S., preußischer Generallieutenant, der Waffenschmied der Befreiung Preußens vom Joche der Fremdherrschaft, wurde am 12. November 1755 auf dem Freigute zu Bordenau, einem unweit der Stadt Hannover an der Leine gelegenen Calenbergischen Dorfe geboren. Seine Eltern waren einfache Landleute, der Vater hatte als hannoverscher Dragonerunterofficier gedient. Scharnhornst’s erste Jugend verfloß in ärmlichen Verhältnissen; sein Schulunterricht war sehr mangelhaft; Selbstbelehrung ergänzte schon früh die Lücken desselben. Durch den Ausgang, welchen einDer Kampf gegen die französische Republik machte Scharnhorst’s Friedensthätigkeit ein Ende. Der Kurfürst von Hannover stellte in seiner Eigenschaft als König von England sich selbst ein Auxiliarcorps und im März 1793 marschirte S. als Artilleriecapitän, ohne jedoch bereits eine Batterie zu befehligen, in englischem Solde nach den Niederlanden. Der Ausmarsch ward ihm schwer. Oft hatte er den Krieg herbeigesehnt; als derselbe vor der Thür stand, fühlte er, daß seine Natur zu weich angelegt sei für die Schrecken, welche er ihm bringen würde. Aber weder seine Verstandes- noch seine Gemüths- und Charaktereigenschaften litten darunter. Im Treffen bei Famars kam er am 23. Mai zum ersten Mal ins Gefecht; dann wohnte er der Belagerung und der Einnahme von Valenciennes bei. Aber bald nahm der Krieg einen unglücklichen Verlauf; die blutigen Kämpfe bei Hondschoote vom 5. bis. 8. September brachten den hannoverschen Truppen eine Niederlage. Daß sie nicht schlimmere Folgen hatte als einen geregelten Rückzug, war besonders Scharnhorst’s artilleristischen Maßregeln zu danken. Bald darauf erhielt er das Commando einer Batterie geschwinder (d. h. reitender) Artillerie. Jede ihm werdende Muße benutzte er zur Schriftstellerei, deren Gegenstand hauptsächlich die eigene und des Gegners Kriegführung waren. Die Kriegsergebnisse der Zeit bilden den Hauptinhalt des „Neuen militärischen Journals“.
Den Feldzug des Jahres 1794 eröffnete S. mit einer Waffenthat, deren Werth allein hingereicht hätte, seinem Namen für alle Zeiten einen ehrenvollen Platz in der Kriegsgeschichte zu sichern. Es war die Selbstbefreiung der Garnison von Menin in der Nacht zum 30. April, das Durchschlagen der Besatzung durch die erdrückende Uebermacht der die in schlechtem Vertheidigungszustande befindliche Festung einschließenden Franzosen. Das Thatsächliche der Vorgänge hat S. in einer Schrift „Die Vertheidigung der Stadt Menin und die Selbstbefreiung der Garnison unter dem Generalmajor v. Hammerstein“, Hannover 1803, Neuauflage 1856 (Abdruck aus dem Neuen militärischen Journal) geschildert. Der Oberbefehlshaber, General v. Hammerstein, räumt ihm großherzig das Hauptverdienst um das Gelingen des Unternehmens ein. „Seiner Anordnung allein verdanke ich den langen Aufenthalt während dem Bombardement und den glücklichen Ausgang des Plans mich durchzuschlagen“, berichtete dieser. Die „besondere Gnade“, welche S. „wenn je einem eine Belohnung für etwas Außerordentliches geworden, jetzt in größtem Maaße verdiene“, ward diesem am 27. Juni durch Ernennung zum Major und zweiten Aide-Generalquartiermeister zu Theil. Schon vorher aber hatte er als Generalstabsofficier Verwendung gefunden. Zunächst behielt ihn Hammerstein bei sich, welcher ihn während der Schlacht bei Tourcoing (17. und 18. Mai) an Clerfayt überlassen mußte, dann berief ihn Wallmoden zu sich, welcher den Oberbefehl der Hannoveraner übernommen hatte. Mit Widerstreben sah Hammerstein ihn scheiden; er war ihm „fast unentbehrlich“; das Zeugniß, welches er ihm auf den Weg gab, lautete, „daß er Scharnhorst’s Talente, Thätigkeit und Gegenwart des Geistes, so auch beim Kugelregen Stich halten, nicht genugsam rühmen könne“. Als dieser im [591] Hauptquartier Wallmoden’s ankam, handelte es sich nur noch um den Rückzug der verbündeten Truppen, welcher, ohne daß entscheidende Schläge gefallen wären, weiter und immer weiter fortgesetzt wurde, bis die Hannoveraner sich im Februar 1795 wieder auf heimischem Boden fanden. Militärisches Ungeschick und politische Zerfahrenheit waren Schuld am unglücklichen Verlaufe des Krieges, welchem der am 5. April 1795 zwischen Preußen und Frankreich zu Basel abgeschlossene Friede ein Ende machte. Eine der Festsetzungen desselben war die Herstellung einer Abgrenzungslinie, welche den dahinter liegenden deutschen Staaten Neutralität zugestand. Dieses Verhältniß hielt das Hauptquartier noch längere Zeit in Osnabrück und später in Diepholz fest, im November war S. wieder in Hannover. Die Erfahrungen der letzten Jahre hatten seine Ansichten geläutert und gefestigt; er fuhr fort denselben in zahlreichen, theils in seiner Zeitschrift gedruckten, theils nur handschriftlich vorhandenen Aufsätzen Ausdruck zu geben; manches der Samenkörner, welche er ausstreute, ist auf dankbaren Boden gefallen und hat in Hannover oder in Scharnhorst’s zweitem Vaterlande Preußen Frucht getragen. Letztere Macht versuchte bald, ihn in ihre Dienste zu ziehen. Im Mai 1796 wurden die Truppen-, denen der Schutz der in Basel vereinbarten Abgrenzungslinie anvertraut war, aus Besorgniß, daß die Franzosen die Neutralität nicht achten würden, verstärkt; Hannover stellte dazu 15 000 Mann unter Wallmoden, welchem S. als Generalquartiermeister zur Seite stand. Herzog Karl Wilhelm Ferdinand von Braunschweig führte von Minden aus den Oberbefehl. Dieses Verhältniß brachte S. in vielfache Beziehungen zu preußischen Officieren und Beamten, unter denen Wallmoden’s Schwiegersohn Stein war, und bereits am 18. Januar 1797 wurde ein Versuch gemacht, ihn in preußische Dienste herüberzuziehen. Einen Ruf nach Dänemark hatte er bereits früher abgelehnt; auch nach Baden zu gehen hatte er verschmäht. Es wurde ihm in Preußen eine Majorsstelle mit einem Einkommen von 3000 Thaler in Aussicht gestellt, während er in Hannover wenig mehr als 1000 Thaler hatte und schlechter bezahlt war, als alle ihm im Range Gleichstehenden. Durch ein Oberstlieutenantspatent und eine Zulage von 550 Thaler ließ er sich halten; mehr vermochte sein Gönner Wallmoden, dem Einflusse seiner Gegner und Neider gegenüber, nicht für ihn zu erlangen. Oberstlieutenant Lecoq (s. d.), der Generalquartiermeister des Herzogs von Braunschweig, verlor indessen den Gedanken, S. für Preußen zu gewinnen, nicht aus den Augen und im J. 1801 erfolgte dessen Uebertritt unter den von ihm gestellten Bedingungen: Beibehalt seiner Anciennetät, eine Pension von 1000 Thaler, wovon im Falle seines Todes die Hälfte seiner Familie verbleiben solle, bis das jüngste Kind 25 Jahre alt sein würde, und Verleihung des erblichen Adels. Letztere erfolgte am 14. December 1802. Unter dem 19. Mai 1801 erhielt er vom König-Kurfürsten in dürren Worten „die nachgesuchte Dimission“; bereits am 1. d. M. war die Cabinetsordre König Friedrich Wilhelm’s III. ergangen, durch welche er zum Oberstlieutenant „beim Feldartilleriecorps“ ernannt wurde; er war dem in Berlin garnisonirenden 3. Artillerieregiment zugetheilt worden. Am 8. empfing ihn zum ersten Male der König.
In der Hauptstadt hatte er sich eines durchweg freundlichen Empfanges nicht zu erfreuen. Sein Aeußeres hatte wenig Bestechendes, sein Auftreten nichts militärisch Strammes; man betrachtete ihn als einen Gelehrten und sah ihn über die Achsel an; doch war ihm der König von vornherein gewogen und auch Prinz Louis Ferdinand würdigte ihn seines Vertrauens. Außerhalb seines Wirkungskreises bei der Truppe hatte er Gutachten über Heereseinrichtungen abzugeben, die Aufsicht der in Berlin bestehenden höheren militärischen Bildungsanstalten zu führen und an der Akademie für junge Officiere vorzutragen. Auf [592] den letzteren Gebieten entfaltete er bald eine große und reformatorische Thätigkeit. Daneben arbeitete er an einem Handbuche der Artillerie und gab, außer seinem Militärischen Journal, mit dem ihm befreundeten Professor Stützer einen „Militärischen Kalender“ heraus. In den von ihm gehaltenen Vorlesungen entwickelte er eine Lehrthätigkeit, deren Bedeutung durch die Persönlichkeiten seiner Schüler gekennzeichnet wird; der größte darunter war Clausewitz; auch wurde er der Begründer der noch gegenwärtig bestehenden militärischen Gesellschaft. Bei der Neugestaltung des Generalstabes wurde er am 26. März 1804 zum Generalquartiermeisterlieutenant ernannt und an die Spitze der dritten Brigade gestellt, welche den westlichen Kriegsschauplatz zu bearbeiten hatte. Die Mobilmachung vom Herbst 1805 unterbrach die Friedensbeschäftigungen; S. wurde dem Herzog von Braunschweig zugetheilt und hatte an der preußischen Besitzergreifung seines Heimathlandes Hannover Theil zu nehmen; schweren Herzens stieß er das zum Kampfe gegen die Franzosen mit Freuden halbgezückte Schwert in die Scheide zurück. Die Zeit bis zum Ausbruch des Krieges verlebte er meist in Hannover, mit der Nutzbarmachung der Kräfte des Landes für die eigenen Zwecke und mit Sorge für allgemeine Verbesserung der Heereseinrichtungen beschäftigt, deren Schäden das Vorjahr gezeigt hatte. Bei Beginn des Feldzuges von 1806 ward er dem Hauptquartier des Oberbefehlshabers, des Herzog von Braunschweig, zugetheilt; am 22. September traf er in Naumburg ein, um an die Spitze des Generalstabes desselben zu treten. Es gelang ihm nicht, den schwachen und schwankenden Herzog zu entschlossenem und zielbewußtem Handeln zu bestimmen. Seine Rathschläge wurden nur theilweise befolgt, seine Pläne nur zur Hälfte ausgeführt. Am Tage der Schlacht bei Auerstädt (14. October) war er auf den linken Flügel der Schlachtlinie entsandt worden, um den Gang der Ereignisse zu verfolgen; als der hier befehligende General Graf Schmettau bald darauf tödlich verwundet war, fiel ihm die Leitung des Gefechtes zu. Die Cavallerie hatte einen Erfolg zu verzeichnen; S. wollte denselben weiter verfolgen, aber die dazu nöthige Reitermasse war nicht zur Stelle. Darüber ging die Schlacht verloren. Einer der letzten unter denen, die mit ihm gefochten hatten, zu Fuß, die Flinte in der Hand, verließ S. die Walstatt. Er hatte dort eine nicht allzuschwere Verwundung davongetragen. Auf dem Rückzuge traf er am 17. in Nordhausen mit Blücher zusammen, welchen er bestimmte, mit seiner Heeresabtheilung die Deckung des Artillerietrosses zu übernehmen. Glücklich brachten sie denselben, westlich um den Harz herum, in vorläufige Sicherheit. Am 24. überschritten sie, da ihnen die Verbindung mit Magdeburg abgeschnitten war, bei Sandau die Elbe. Am Abend dieses Tages hatte Blücher, von S. begleitet, zu Neustadt an der Dosse eine Zusammenkunft mit dem neuen Oberbefehlshaber, Fürst Hohenlohe. Blücher übernahm hier die Aufgabe, mit der Nachhut des geschlagenen Heeres den Abzug desselben an die Oder zu decken. Hohenlohe’s Capitulation bei Prenzlau (28. October) machte es ihm unmöglich, dieses Marschziel zu erreichen, Blücher mußte nach Norden ausbiegen; fechtend erreichte er mit Aufbietung aller Kräfte am 5. November Lübeck. Hier hoffte er auf die Möglichkeit, seewärts zu entkommen. Aber am 6. ging Lübeck verloren, am 7. mußte er zu Ratkau capituliren. S. ward in Lübeck gefangen genommen, aber schon am 9. ausgewechselt. Er ging zu Blücher nach Hamburg und von hier nach Ostpreußen, wo, mit Hülfe der Russen, der Kampf von neuem aufgenommen werden sollte. Er wünschte denselben im Felde mitzumachen und wurde dem General v. L’Estocq beigegeben, welcher die preußischen Truppen, die dürftigen Ueberbleibsel des mächtigen Heeres, 15 000 Mann, befehligte; „als ein Assistent desselben“ hieß es in der ihm ertheilten Weisung. Es war eine schwierige Stellung, denn L’Estocq war ein altersschwacher Mann, welcher von unfähigen [593] und anmaßenden Adjutanten beherrscht wurde. S. traute sich nicht die Kraft zu, durch kräftiges Dringen auf die Beseitigung des seiner Aufgabe nicht mehr gewachsenen Führers die Leitung in geeignetere Hände zu bringen, und so nahmen die Dinge häufig einen anderen Verlauf, als er gewünscht. Mitte Januar traf er im Feldlager ein; Bennigsen, der russische Feldherr, hatte soeben die Ruhe der französischen Winterquartiere durch einen Angriff unterbrochen, und Napoleon eilte herbei, ihm die Vortheile, welche er über die Marschälle davongetragen hatte, wieder zu entreißen. Bei Preußisch-Eylau kam es am 8. Februar zur Schlacht. Daß sie nicht verloren ging, war S. persönlich zu danken, welcher an der Spitze von 5000 Preußen herbeieilte und gerade rechtzeitig ankam, um Davout die Siegespalme, welche dieser schon in Händen zu haben vermeinte, zu entreißen. Noch in der Nacht aber trat Bennigsen den Rückzug von der standhaft behaupteten Walstatt an und die Preußen mußten ihm folgen. S. empfing den Orden pour le mérite. Seine Ansichten über Kriegführung hatten neue Klärung und Läuterung erfahren; immer deutlicher erkannte er, daß der Sieg in der Feldschlacht das Wesentliche in derselben, die Vernichtung des feindlichen Heeresorganismus das Entscheidende sei und daher das Endziel jeglichen Strebens, den Kernpunkt aller Anordnungen, bilden müsse. Im Innern des Hauptquartiers spitzten sich die Gegensätze derart zu, daß Scharnhorst endlich (Heiligenbeil, am 7. Juni) dem König über L’Estocq’s Unfähigkeit reinen Wein einschänkte; der Gang der Ereignisse verhinderte aber, daß daraus eine Einwirkung auf das Ergebniß des Feldzuges hervorgegangen wäre; die Schlacht bei Friedland (14. Juni) hatte die Entscheidung gebracht und der am 9. Juli zu Tilsit geschlossene Friede besiegelte das Waffenunglück. Der in das königliche Hauptquartier berufene S. war der Meinung, daß man den Widerstand nicht hätte aufgeben sollen; er hätte gewünscht, die Truppen nach Pommern versetzt zu sehen.
Unmittelbar darauf begann der Wiederaufbau des zerstörten Heerwesens, aber auf ganz veränderten Grundlagen, eine Arbeit, wie sie großartiger und erfolgreicher nie geleistet ist, und um so schwieriger, als die Kräfte des verstümmelten Reiches, der Druck, welchen der Sieger ausübte, die Macht der Gewohnheit und die gefährdeten Sonderinteressen der eigenen Landsleute schier unüberwindliche Hindernisse in den Weg legten. Daß Alles zu glücklichem Ende geführt wurde, war zumeist Scharnhorst’s Verdienst. Er war es in der That, der die Waffen schmiedete, durch welche der Weltbezwinger Napoleon überwunden wurde, und der die noch gegenwärtig bestehenden Grundeinrichtungen des preußischen, zum alldeutschen erweiterten Heerwesens schuf. Einen Ruf nach England zu kommen lehnte er ab und übernahm den Vorsitz der vom Könige berufenen „Militärreorganisations-Commission“. Am 17. Juli war er zum Generalmajor befördert worden. Von den Mitgliedern der Commission waren Massenbach (nicht der Capitulant von Prenzlau), Lottum und Bronikowski unbedeutende Leute, welche mehr oder weniger dem Alten anhingen; ihnen stand an Scharnhorst’s Seite zunächst nur Gneisenau gegenüber, bis ihnen der dreißigjährige Major Grolman zugesellt wurde; jene anderen drei erhielten dagegen eine Vermehrung ihres Einflusses durch den Zugang Borstell’s, welche um so bedeutender war, als er seine Gesinnungsgenossen an Geist weit überragte; doch mußte er bald S. weichen, welcher austreten zu wollen erklärte, wenn Borstell’s Vorschläge angenommen würden. An des letzteren Stelle trat Graf Götzen, der Schlesien standhaft vertheidigt und wie ein Herrscher dort gewaltet hatte, und Bronikowski ward durch Boyen ersetzt; beide gingen mit S. Hand in Hand. Ein noch gewichtigerer Bundesgenosse aber erwuchs ihm in Stein, welcher von [594] neuem die Leitung der Staatsgeschäfte übernommen hatte. Derselbe trat gleichfalls als Mitglied ein und vor allem bewirkte er, daß S. im Juni 1808 zum vortragenden Generaladjutanten ernannt wurde. So hatte dieser das Ohr des Königs. Die Ergebnisse der Berathungen und Vorschläge der Commission waren tiefeinschneidend. Sie schufen ein ganz anderes Heer. Die allgemeine Wehrpflicht gelangte freilich noch nicht zur Einführung; sie anzuordnen blieb dem Gesetz vom 3. September 1814 vorbehalten, aber die Militärpflicht wurde sehr ausgedehnt, die Zahl der Befreiungen beschränkt und die ausländische Werbung ganz abgeschafft. Nicht Stand und Geburt sollten in Zukunft Anspruch auf die Führerstellen gewähren; dieselben waren einem jeden zugänglich, der die nöthigen Fähigkeiten und die erforderliche Bildung besaß und den Besitz durch das Bestehen von Prüfungen nachwies. Die Heeresverwaltung wurde gänzlich umgestaltet und ein neues Wirthschaftssystem eingeführt, welches das persönliche Interesse der höheren Officiere an den Einnahmen und Ausgaben beseitigte; der Troß wurde beschränkt; die Armee ward anders gegliedert und eine veränderte, den Forderungen der Neuzeit entsprechende Fechtart eingeführt. Es wurde dafür gesorgt, daß neben dem stehenden Heere ein starker Rückhalt an ausgebildeten Soldaten zu Gebote stand, um jenes im Bedarfsfalle ergänzen und verstärken zu können. Der Gedanke an diesen Bedarfsfall stand überall in vorderster Reihe; denn auf den Krieg waren die Augen Scharnhorst’s und seiner Gesinnungsgenossen unablässig gerichtet und gern hätten sie alle sich schon an den Kämpfen betheiligt, welche Oesterreichs Erhebung im Frühjahr 1809 herbeiführte. Daß es nicht geschah, war der Wille des Königs. Wol mit Recht hielt dieser die Zeit noch nicht für gekommen. Als der Krieg unglücklich verlaufen war, kehrte S. mit dem Könige aus Königsberg endlich nach Berlin zurück. Am 23. December 1809 erfolgte der Einzug. Anfang des Jahres war S. mit dem Herrscherpaare in Rußland gewesen. Am 17. August 1808 hatte ihm der König die Amtshauptmannschaft Rügenwalde verliehen, welche jährlich 500 Thaler eintrug. Bei der am 25. December 1808 erfolgten Neugestaltung des Kriegsministeriums war er an die Spitze der wichtigsten unter den Abtheilungen desselben, des allgemeinen Kriegsdepartements, getreten; Kriegsminister war er nicht geworden. Im folgenden Jahre trat er von diesem Posten, wenigstens äußerlich, zurück. Wie schon früher Stein, war er dem Kaiser Napoleon hochgradig verdächtig geworden. Am 7. Juni 1810 wurde die von ihm selbst erbetene Entlassung vom Könige genehmigt; durch einen aus Potsdam vom 6. d. M. datirten Cabinetsbefehl war aber bestimmt worden, daß S., soweit es insgeheim geschehen könne, auch ferner der Leitung aller wichtigen Geschäfte seines bisherigen Dienstbereichs sich unterziehen solle. Nur Hardenberg, Boyen und Scharnhorst’s Nachfolger, Oberst v. Hake, wurden eingeweiht. Nach außen war S. nur Chef des Generalquartiermeisterstabes und des Ingenieurcorps. Es blieb ihm die Leitung des Generalstabes, die Aufsicht über die Kriegsschulen, über Waffen und Festungen und die Prüfung aller neuen Erfindungen im Waffen- und Befestigungswesen. Seinen Lieblingsschüler Clausewitz[WS 1] nahm er in die neue Stellung herüber. Das Verhältniß zu Hake war schwierig; einen guten Rückhalt im Kriegsministerium hatte er an Boyen. Er verstand sich dazu, seine ganze Stellung in einer für Napoleon bestimmten Denkschrift zu rechtfertigen; sie erfüllte ihren Zweck, indem sie bewirkte, daß er unbehelligt blieb und daß auch die französische Verfügung vom 26. September 1810, laut welcher alle Ausländer den preußischen Dienst verlassen sollten, auf ihn nicht angewendet wurde. Die Verhandlungen wegen der Wehreinrichtungen gingen fort; S. wünschte allgemeine Verpflichtung aller Unterthanen zum Heeresdienste, ohne Stellvertretung; er wollte damit eine Einrichtung verbunden haben, wie sie gegenwärtig in den Einjährig-Freiwilligen [595] besteht; er drang aber nicht durch. So kam das Jahr 1811 heran. Der Krieg zwischen Frankreich und Rußland kam in immer sicherere Aussicht; es handelte sich für Preußen darum Stellung zu nehmen. S. war für engen Anschluß an Rußland, aber ohne Erfolg. Hardenberg’s Rath wog schwerer beim Könige. Der Staatskanzler glaubte nicht an Napoleon’s feindliche Gesinnungen gegen Preußen. Erst in der Mitte des Sommers überzeugte er sich davon. Jetzt erhielt S. den Auftrag, eine Verständigung mit dem Czaren über gemeinsame Schritte herbeizuführen. Im Herbst begab er sich zu diesem Ende nach Rußland; er reiste über Dollstädt, ein kürzlich von ihm erworbenes Gut, bei Elbing gelegen. Am 24. September war er in Petersburg. Anfang November kehrte er, den Entwurf zu einem mit dem Czaren abzuschließenden Bündnißvertrage in der Tasche, nach Berlin zurück; Hardenberg war für den Vollzug desselben gewonnen, aber der König, von der französisch gesinnten Seite seiner Umgebung bestimmt, entschied sich für das Zusammengehen mit Frankreich, welches Preußen in letzterer Zeit etwas mehr Entgegenkommen gezeigt hatte. Nur eine Hoffnung blieb S. und seinen Gesinnungsgenossen. Wenn Oesterreich sich bereit erklärte, gemeinsam mit Rußland und Preußen in den Kampf einzutreten, wollte der König sich dazu verstehen, Partei gegen Frankreich zu nehmen. S. übernahm es, Sicherheit darüber zu verschaffen. Seine Hoffnung war gering und die Steigerung derselben, welche er während seines Aufenthaltes in Wien vertrauensselig auf Metternich’s leere Worte gründete, erwies sich als grundlos. Seine Sendung verfehlte vollständig ihren Zweck. Am 24. Januar 1812 kehrte er nach Berlin zurück, am 24. Februar schloß Krusemark zu Paris das Bündniß, welches Preußens Theilnahme am bevorstehenden Kriege gegen Rußland verbürgte; am 5. März vollzog der König den Vertrag. S. schwankte, ob er den preußischen Dienst aufgeben, ob er nach England oder nach Rußland gehen, ob er bleiben solle. Endlich entschied er sich für das letztere, doch verließ er am 26. März Berlin mit unbestimmtem Urlaub und nahm seinen Aufenthalt in Breslau. Es ward ihm nur die Aufsicht über die Kriegsschulen, über die Waffen und in beschränktem Umfange über die Festungen belassen; das Verhältniß zu Hake hatte der König beseitigt, ohne S. darüber eine Mittheilung zu machen. Er begann wieder schriftstellerisch thätig zu sein, schrieb an der Fortsetzung seines Handbuches für die Artillerie, trug sich mit dem Gedanken einen Leitfaden der Kriegswissenschaften für die Kriegsschulen zu verfassen, arbeitete an einer kleinen Schrift „Ueber die Wirkung des Feuergewehrs“, welche 1813 in Berlin im Druck erschien, und hielt Vorlesungen über den Gegenstand der letzteren Arbeit. Trotzdem fürchtete er dem Nichtsthun zu erliegen, als um die Wende der Jahre 1812 und 1813 das Gottesurtheil, das auf dem Rückzuge von Moskau nach Wilna zur Vollstreckung kam, Arbeit in Fülle brachte.
S. hätte gern sofort losgeschlagen: aber sehr allmählich begannen seine und seiner Gesinnungsgenossen Rathschläge Einfluß zu üben auf das aller Welt und sich selbst mißtrauende Gemüth des Königs. Als es soweit gekommen war, folgten die Anordnungen und Maßregeln, welche dem großen Werke dienen sollten, einander rasch, sie wurden alle im Geiste Scharnhorst’s und unter seiner persönlichen Theilnahme getroffen. Am 25. Januar war der König, am 26. der Staatskanzler Hardenberg in Breslau eingetroffen, am 28. erhielten der letztere, S. und Hake den Auftrag, schleunigst für die Vermehrung der Streitkräfte Sorge zu tragen, worauf die Verstärkung des Heeres, die Errichtung der freiwilligen Jägerdetachements, die Aufhebung der bestehenden Befreiungen vom Kriegsdienst, die Verordnungen über Landwehr und Landsturm folgten. In Kalisch, wohin S. am 27. Februar von Breslau aus abreiste, stellte er mit dem Czaren die [596] Grundzüge der beabsichtigten Kriegführung fest. Auch die Frage des Oberbefehls wurde hier erledigt. Hochherzig auf jede Berücksichtigung seiner Person verzichtend, obgleich er, wie er einmal schrieb, „sein Leben für das Commando eines Schlachttages gegeben hätte“, bewirkte er, daß der Oberbefehl dem Russen Kutusow, das Commando des südlichen Flügelcorps Blücher zufiel, dem er selbst als Chef des Generalstabes zur Seite trat. Am 11. März war er von neuem, auch dem Namen nach, Generalquartiermeister des preußischen Heeres geworden. Am nämlichen Tage ward er zum Generallieutenant ernannt. Am 28. folgte er dem vorangegangenen Schlesischen Heere nach Dresden und verlebte, nachdem er Anfang April in Belzig mit dem Führer des anderen in vorderster Linie zum Fechten berufenen Heerhaufens, des russischen, dem Grafen Wittgenstein[WS 2], Verabredungen getroffen hatte, den Rest des Monats in Sachsen im Blücher’schen Hauptquartiere. In dieser Zeit kam in ihm der Gedanke eines kühnsten Angriffsplanes zur Reife, aber die russischen Bedenken vereitelten die Ausführung und an Stelle desselben traten die Vorwärtsbewegungen, welche am 2. Mai zur Schlacht von Groß-Görschen führten. Sie brachte eine Niederlage, aber eine ehrenvolle, und ihm selbst eine Wunde. Er empfing sie am Abend zwischen 6 und 7 Uhr, als der Kampf um die Dörfer hin und her wogte; eine Kugel traf ihn in den Fuß. Der Rückzug ging auf Dresden, S. machte denselben mit. Seine Wunde war nicht allzu gefährlich, vorausgesetzt daß er sich Ruhe gönnte; statt dessen aber unterzog er sich dem Versuche, Oesterreich zu den Verbündeten herüberzuziehen. Am 8. Mai abgereist, erhielt er am 20. in Jetzelsdorf, der ersten Station in Niederösterreich, durch Metternich die höfliche Weisung, nach Prag umzukehren, wo er Schwarzenberg und Radetzky zu Besprechungen bereit finden würde. Am 31. traf er dort ein. Geistige und körperliche Unruhe verschlimmerten seine Wunde; am 28. Juni erlag er derselben.
Seine Gattin war bereits am 12. Januar 1803 gestorben. In seinen letzten Lebensjahren hatte er daran gedacht, ihr in einem jungen Mädchen, der zu Breslau lebenden Friederike Hensel eine Nachfolgerin zu geben; die Gedanken an sie beschäftigten ihn in seiner Todesstunde. Er hinterließ drei Kinder; eine Tochter Julie, welche sich am 10. November 1809 auf Schloß Finkenstein mit einem seiner Schüler, dem Graf Friedrich Dohna, zuletzt commandirendem General des 1. Armeecorps, vermählte, und zwei Söhne Wilhelm (s. d.) und August. Beide, Officiere in der englisch-deutschen Legion, waren, um an dem Befreiungskriege in den Reihen des preußischen Heeres theilzunehmen, 1813 nach Deutschland zurückgekehrt.
M. Lehmann (s. unten) kennzeichnet S. in dem „Handwörterbuch der gesammten Militärwissenschaften“, herausgegeben von B. Poten, Bielefeld und Leipzig, 1880, VIII, 297, folgendermaßen: „S. war eine von jenen Naturen, deren Aeußeres die innewohnende Fülle des Geistes und Tiefe der Seele mehr verbirgt als kundgibt. Er hatte weiche, fast bequeme Formen; glänzte keineswegs durch Schlagfertigkeit und Witz; handhabte die Feder nur langsam und unbeholfen; er verrieth auf den ersten Blick keine außergewöhnlichen Gaben: aber ein durchdringender Verstand, ein eiserner Fleiß, eine seltene Fähigkeit Menschen zu erkennen, zu behandeln und zu bilden, eine unwiderstehliche Gabe Vertrauen zu erwecken, ein zäher Wille, ein von Menschenfurcht gänzlich freier Muth erhoben diesen Plebejer unter die Führer eines Staates, welcher nicht der seiner Geburt war, unter die Rathgeber eines schwer zu behandelnden Monarchen, unter die Bahnbrecher neuer Ideen, unter die Wohlthäter der Menschheit.“
- C. v. Clausewitz, Ueber das Leben und den Charakter des Generals v. S., Hamburg 1832. – H. v. Boyen, Beiträge zur Kenntniß des General v. S., Berlin 1833. – Lebensbeschreibungen von: Premierlieutnant Schweder, Berlin [597] 1865; Rector Klippel, Leipzig 1869, 3 Bände; Professor M. Lehmann, Leipzig 1886–88, 2 Bände; – Derselbe, Stein, Scharnhorst und Schön, Leipzig 1877.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: Causewitz
- ↑ Ludwig Adolph Peter Graf von Sayn-Wittgenstein (1769-1843), Generalfeldmarschall der russischen Armee.