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Die Gartenlaube (1899)/Heft 3

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Textdaten
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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1899
Erscheinungsdatum: 1899
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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3. Heft. Preis 10 cents. 14. Februar 1899.



Max Weil & Co., cor. 12 th & Vine Street, Cincinnati, Ohio.

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Inhalt.
Seite
Das Schweigen im Walde. Roman von Ludwig Ganghofer (2. Fortsetzung.) 69
Ein Kostümfest des Vereins Berliner Künstler. Von Gustav Klitscher. Mit Ilustrationen von W. Pape. 80
Frau Stehles Antipathie. Novelle von Hermine Villinger. 84
Was kosten die Menagerietiere? Von G. Kopal. 92
Berühmte Tänze der Vorzeit. Von Alexis Becker. Mit Illustrationen von Fritz Bergen 93
Blätter und Blüten: Adolph v. Menzel an seinem Schreibtisch. (Mit Abbildung.) S. 97. – Das Schellenschlagen in Tirol, Von J. C. Platter. (Zu dem Bilde S. 77.) S. 97. – Blumenparade. (Zu dem Bilde S. 85.) S. 97. – Riesenflöße auf dem Ocean. (Mit Abbildung.) S. 98. – Ein Motorschlitten. (Mit Abbildung.) S. 98. – Ein Morgen vor der Breslauer Hütte in den Oetzthaler Alpen. (Zu dem Bilde S. 89.) S. 98. – Zu Wilhelm Jordans achtzigstem Geburtstag. S. 98. – Das Bismarck-Mausoleum im Sachsenwalde. (Mit Abbildung.) S. 99. – Große Lokomotiven. Von W. Berdrow. S. 99. – Fastnachtsbräuche im Sauerlande. Von R. Brand. S. 100. – Zu unseren Karnevalsbildern. S. 100.
Kleiner Briefkasten: S. 100.
Illustrationen: Faschingskinder. Von L. Schmutzler. S. 69. – Das Schellenschlagen in Tirol. Von Fritz Bergen. S. 77. – Abbildungen zu dem Artikel „Ein Kostümfest des Vereins Berliner Künstler“. Von W. Pape. Die Erstürmung der Minneburg. S. 72 und 73. Eingangsflur des Berliner Künstlerhauses. Fahrendes Volk. S. 81. Das „Luften“ im Kneipraum. S. 82. Der Festsaal des Berliner Künstlerhauses: Ansicht der Querwand mit der Empore und dem Bilde von Prof. Max Koch. Die Vorderansicht des Berliner Künstlerhauses. S. 83. – Blumenparade. Von H. Huisken. S. 85. – Ein Morgen vor der Breslauer Hütte in den Oetzthaler Alpen. Von M. Zeno Diemer. S. 89. – Abbildungen zu dem Artikel „Berühmte Tänze der Vorzeit“. Von Fritz Bergen. Initiale. Allemande. S. 93. Gavotte zu Anfang des XIX. Jahrhunderts. S. 94. Menuett. Sarabande in holländischer Form. S. 95. Aelterer Kontertanz. Quadrille des Lanciers. S. 96. – Adolph v. Menzel an seinem Schreibtisch. S. 97. – Amerikanisches Riesenfloß im Schlepptau eines Dampfers. Von Willy Stöwer. S. 98. – Ein Motorschlitten. Von R. Mahn. S. 98. – Das Bismarck-Mausoleum im Sachsenwalde. S. 99. – Hofball. Von Hans Stubenrauch. S. 100.


Hierzu Kunstbeilage III: „Im Kostüm der Großmutter“. Von P. Huat.




Kleine Mitteilungen.


Der schweizerische Bundesprästdent Eduard Müller. Durch fast einstimmige Wahl wurde am 12. Dezember vorigen Jahres der Bundesrat Eduard Müller von der schweizerischen Bundesversammlung zum Bundespräsidenten für das Jahr 1899 berufen. Der durch das allgemeine Vertrauen seiner Mitbürger ausgezeichnete Staatsmann erfreute sich schon lange eines hervorragenden Ansehens. Sein Vater war Professor der Theologie in Bern und wirkte einige Zeit in Dresden. In dieser Stadt erblickte Eduard Müller am 12. November 1848 das Licht der Welt; seine früheste Kindheit verlebte er aber bereits in Bern, und hier erhielt er auch seine Schulbildung. Er widmete sich alsdann der Rechtswissenschaft, vollendete seine Studien in Bern und besuchte außerdem noch die Universitäten in Leipzig, Heidelberg und Paris. Nachdem er sich in Bern niedergelassen, nahm er bald einen regen Anteil an dem politischen Leben seines Vaterlandes. Er wurde zu verschiedenen Aemtern des Kantons Bern berufen und bereits 1884 in den Nationalrat gewählt. Als Mitglied des Bundesrates zeichnete sich Eduard Müller besonders in der Verwaltung des Militärdepartements aus, dessen Leitung er als Bundespräsident niederlegte, um das Departement des Aeußeren zu übernehmen.


Dem Dichter Hoffmann von Fallersleben soll nun auch an der Stelle, wo er die letzten Jahre seines Lebens geweilt und gewirkt hat, ein Denkmal erstehen. Zu Höxter, in dessen Nachbarschaft Schloß Corvey liegt, welches dem Sänger des „Lieds der Deutschen“ das letzte Heim bot, in dem er vierzehn Jahre lang als Bibliothekar wirkte und am 19. Januar 1874 für immer die Augen schloß, hat sich für diesen Zweck ein Komitee gebildet. Als im Frühjahr vorigen Jahres dort der hundertjährige Geburtstag des Dichters festlich begangen wurde, mußte die Feiernden der Anblick der schmucklosen Tafel schmerzlich berühren, welche die Grabstätte Hoffmanns kennzeichnet. Wie wenig entspricht dieses Erinnerungszeichen dem Danke, welchen das deutsche Volk dem Dichter schuldet, der in trüber Zeit mit herzentflammender Begeisterung dem deutschen Einheitsgedanken in Wort und That gedient hat! Und er hat auch wie kaum ein zweiter deutscher Dichter das deutsche Volkslied gekannt, geliebt und gefördert und dem deutschen Volksgesang mächtige, noch heute nachwirkende Anregungen gegeben. Der Aufruf des Denkmalsausschusses in Höxter wendet sich daher an alle treuen Freunde echten Deutschtums, besonders aber auch an Deutschlands Gesang- und Turnvereine mit der Bitte, durch Veranstaltung von Konzerten, sonstigen Aufführungen und freiwilligen Sammlungen das Unternehmen thatkräftig zu fördern. Beiträge wolle man an den Schatzmeister, Herrn Theodor Schmidt in Höxter, senden; Quittung erfolgt durch die „Deutsche Sängerhalle“.


Preisrodeln in Tirol. Seit unvordenklichen Zeiten schon bildet in den Tiroler Bergen das „Rodeln“ eine der beliebtesten Wintervergnügungen der Jugend beiderlei Geschlechts. Die Rodel ist ein kleiner leichtgebauter Schlitten, der für eine, höchstens zwei Personen knappen Sitzraum gewährt. Auf diesem Schlittchen sausen die Knaben und häufig genug auch die Mädchen pfeilschnell über steile Bergwege und auf scharfgeneigten Thalhängen hernieder, sei es wie gewöhnlich zum Vergnügen oder auch um sich den Weg zu oder von der Schule wesentlich abzukürzen. Seit einigen Jahren nun ist das Rodeln zu einem förmlichen Sportzweig auch für Erwachsene geworden, und es wurden besonders auf der hierzu ganz ausgezeichnet geeigneten Salzbergstraße hoch über der Stadt Hall im Innthal eigene Rodelwettfahrten veranstaltet. Bald darauf fand die Sache noch weitere Ausdehnung, da und dort wurden Rodelklubs gegründet und in Gossensaß am Brenner sowie im Grödenthale Preisrodelfeste arrangiert. Auf den von Wolkenstein hinauf zum Grödnerjoch, zum Sellajoch etc. führenden Wegen hat der Grödner Rodelklub schon wiederholt sein alljährliches Preisrodeln abgehalten. In langer Reihe ziehen die Wettfahrer, jeder mit seiner Rodel versehen, den steilen Bergweg hinan zum Jochhospiz, wo sich mitten in der schneestarrenden Winterlandschaft ein sehr reges Leben und Treiben entwickelt. Das Rennkomitee verteilt die Rollen, die Gemeldeten werden den einzelnen Gruppen zugewiesen, die Startenden zahlen ihre Renngelder und erhalten die sichtbar zu tragenden Nummern, dann fährt der „Schrittmacher“ auf seiner Rodel in rasender Eile zu Thal, um drunten am Ziele die Meldung: „Rennen in Ordnung – Freie Bahn!“ zu erstatten. Knapp darauf folgt auch schon der erste Rennfahrer und in kurzen Zwischenräumen stürmt gruppenweise scharf hintereinander die ganze Rennerschar in schwindelnd eiliger, fliegender Fahrt von der Höhe herab. Unten in Wolkenstein beim „Ziel“ harrt in großer Spannung außer den Klubmitgliedern und den Zielrichtern ein zahlreiches Publikum, und jeder durchs Ziel schießende Wettfahrer wird mit heller Freude begrüßt. Die ganze Thalfahrt auf dem Wege, der im Anstieg beiläufig zwei Stunden erfordert, wird beim Preisrodeln in ungefähr zwölf Minuten zurückgelegt. Nach dem Rennen erfolgt die Verteilung der schönen Ehrendiplome und Wertpreise an die Sieger im Kampfe, und den Abschluß des Festes bildet eine fröhlich gemütliche Sitzung im Klubheim auf der „Post“ zu St. Ulrich. Das diesjährige Grödner Preisrodeln am 7. Januar mußte der ungünstigen Schneeverhältnisse wegen vom Tschierjoch durch das Hochthal Danter Tschapies nach Wolkenstein durchgeführt werden, wobei der Meisterfahrer A. Vinatzer von St. Ulrich die 5 km lange Fahrbahn in 5 Minuten 20 Sek. zurücklegte und damit den ersten Preis gewann. J. C. Platter.     


Das Gewicht der Schulmappe. Mit dem Schlag 3/48 Uhr beginnt es am Morgen in der Nähe des Schulhauses lebendig zu werden. Der Pedell öffnet die Schulthüre den von allen Seiten herbeieilenden Schülerinnen.

Der Blick der die Aufsicht führenden Lehrerin ruht prüfend auf der jungen Schar. Sie ermahnt zu anständigem, mädchenhaftem Eintritt in die Klassenräume, tadelt da einen flüchtigen Knicks und ergänzt gerade in dieser Morgenstunde hier und da die häusliche Erziehung.

Heute gilt ihr prüfender Blick besonders den Schulmappen, von denen manche ordentlich geschwollen aussieht, durch ihre Schwere die Trägerin augenfällig belästigt und ihre Haltung ungünstig beeinflußt. In solchem Falle heißt es: „Schnalle die Mappe ab und zeige, was du darin hast.“ An der Hand des Stundenplanes wird nun festgestellt, welche Bücher die Schülerin für diesen Tag braucht. Außer diesen nötigen quillt in den meisten Fällen eine Menge nicht notwendiger heraus, die das Kind unnötig belasten. Das ist oft bei sehr ängstlichen Kindern der Fall, die in der Besorgnis, etwas zu vergessen, Unnötiges mitnehmen, oder auch bei unordentlichen, die ohne Wahl einfach, was ihnen zunächst liegt, in die Mappe stecken. Kommt dann der Mutter eine solche schwere Mappe in die Hand, so beklagt sie die bedauernswerte Trägerin derselben und fürchtet mit Recht eine zu große Belastung des jugendlichen Rückgrats.

Dieses Ueberladen der Mappe ist ein Uebelstand, den die wohlgeleitete Schule vermeiden möchte. Die preußischen Schulaufsichtsbehörden haben diesem Punkte ihre Aufmerksamkeit längst zugewendet. Der Unterrichtsminister hat sogar die königliche wissenschaftliche Deputation für das Medizinalwesen zur Begutachtung darüber aufgefordert. Es sind in verschiedenen Schulen Wägungen von Mappen und Büchern veranstaltet worden, die ein nicht unbedeutendes Gewicht derselben ergaben. Die leere Mappe allein wiegt oft schon 2 Pfund. Mit Inhalt steigt ihr Gewicht schon für die Unterklasse auf 3½ Pfund; es soll aber auch für die nächsten Schuljahre nicht mehr als ein Achtel des Körpergewichts betragen, sondern eher weniger.

Wie ist nun diesem Uebelstand abzuhelfen? Für die Lehranstalten erwächst die Pflicht, so wenig wie möglich Bücher in die Schule mitbringen zu lassen. Ferner müssen sie gestatten, daß schwere Bücher, wie Bibeln, Atlanten etc. in der Schule aufbewahrt werden, um das Hin- und Hertragen derselben zu vermeiden. Außerdem überzeugt man sich in guten Schulen durch häufige Mappenuntersuchung, ob die Schülerinnen die über das Mitbringen der Bücher gegebenen Anordnungen befolgen. Doch kann die Schule gerade in diesem Fall die Unterstützung des Elternhauses nicht entbehren.

Die Aufgabe, die Töchter zur Ordnung zu erziehen, fällt im Hause der Mutter zu. Diese soll nun darauf halten, daß das Kind die Schultasche abends einpackt mit Beachtung des Stundenplanes. Sie möge von Zeit zu Zeit einen prüfenden Blick in die Mappe werfen, der ihr an Ordnung gewöhntes Auge nicht immer erfreuen wird. Sie würde oft darüber staunen, was die Mappe alles Unnötiges enthält. Dabei sähe sie das Aeußere der Hefte und Bücher, fände sicher manches ausgeschriebene Heft, manches zerknüllte Blatt, das zu beseitigen wäre.

Durch diese Anleitung schärft sie des Kindes Blick für Ordnung, verhindert eine Ueberlastung und leistet so durch gelegentliche Beachtung der Schulmappe ihrem Kinde und der Schule einen wichtigen Dienst. Marie Schönbrunn.     

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IM KOSTÜM DER GROSSMUTTER
Nach dem Gemälde von P. Huat

Die Gartenlaube 1899. Kunstbeilage 3

[69]

Halbheft 3.   1899.


Das Schweigen im Walde.
Roman von Ludwig Ganghofer.
(2. Fortsetzung.)


5.

Vor dem Jagdhaus droben wartete Pepperl pünktlich des Morgens um Zwei mit der Laterne, bis der Fürst aus der Thüre trat.

„So, da bin ich, Praxmaler! Es scheint, wir werden gutes Birschwetter haben.“

„Ein’ Morgen, Duhrlaucht, wie er net schöner sein könnt’.“

Martin war hinter dem Fürsten in der Thür erschienen und fragte:

„Bis um welche Stunde werden Durchlaucht zurück sein?“

„Das weiß ich nicht. Pepperl, was meinen Sie?“

Pepperl zog diplomatisch die Achseln auf und schmunzelte, wie man bei einem glücklichen Einfall lächelt. „Ja mein, da wird sich was G’naus net sagen lassen … Jagd is Jagd, da kann’s gehn, wie’s mag … es kann lang dauern, aber wir können auch in aller Fruh schon wieder daheim sein. Ja, Herr Kammerdiener … rühren S’ Ihnen nur net weg von Ihrem Posten, damit S’ net am End den Herrn Fürsten verpassen, wann er gahlings heimkommt. So, und jetzt geben S’ mir Ihr Büxl, Duhrlaucht … mit’m Bergstecken allein, da marschieren S’ Ihnen leichter! So … hab’ die Ehre, Herr Kammerdiener!“

Sie wanderten hinaus in die Nacht, Pepperl mit der gesenkten Laterne voran, und hinter ihm der Fürst, der zu Anfang etwas unsicher ging auf dem holprigen Weg, über den die schwankende Laterne ihren trüben, gaukelnden Schimmer warf. Aber es währte nicht lang’, und das Auge des Fürsten hatte sich an die Dunkelheit gewöhnt, sein Schritt an den rauhen Pfad.

„Sie können die Laterne löschen,“ sagte er, „dieses unruhige Licht stört mich nur … und ich hab’ es so gerne, in der Nacht zu gehen.“

Pepperl blies die Kerze aus, verbarg die Laterne in einem Busch und ließ seinen Herrn vorangehen auf dem Weg, der sich in dem nächtigen Walde mit mattem Grau von dem schwarzen Rasen abhob. Ein paarmal versuchte der Jäger ein Gespräch in Gang zu bringen. Da aber der Fürst, in Gedanken versunken, nicht zu hören schien, gab Pepperl schließlich diese Versuche auf. So wanderten sie stumm dahin, der kaum merklich steigenden Thalsohle folgend.

Die Nacht war schön und windstill; bald laut, bald wieder leiser werdend plauderte der Wildbach wie im Halbschlaf, in tiefer Schwärze stieg der schweigende Wald bergan, und über den grau verschwommenen Wänden funkelten am stahlblauen Himmel die zahllosen Sterne. Die Milchstraße, welche draußen in der dunstigen Ebene auch in hellen Nächten nur

Faschingskinder.
Nach einer Originalzeichnung von L. Schmutzler.

[70] matt erkennbar ist, schlängelte sich über den Sternenhimmel hin wie ein lichter Silberstrom, unterbrochen von schwarzen Inseln. Zuweilen ging ein sanftes Hauchen durch die finsteren Bäume – es währte nur kurz und schwieg dann wieder – als hätte die Natur im Schlummer wohlig aufgeatmet. Und wenn es kam, dieses kurze linde Hauchen, trug es von den Almen den Wohlgeruch der Brunellen ins Thal herunter, einen süßen Duft, der an köstliches Gewürz erinnerte. Wie schön war diese Nacht! Eine von jenen wundersamen Sommernächten, deren Schönheit dem lauschenden Wanderer in die Seele raunt: ich will dich vorbereiten auf den kommenden Tag, dessen Sonnenzauber und lichte Wunder du schon ahnen sollst, wenn noch der Sammetmantel meiner Schatten dich umschmiegt.

Immer wieder verhielt Ettingen die Schritte, stand regungslos auf den Bergstock gestützt und lauschte hinein in das nächtliche Schweigen des Waldes.

„Wie schön! Und diese Ruhe!“ Als er leis diese Worte vor sich hin murmelte, zuckte es über die langen Bergwände der Munde wie ein falbes Leuchten. Das währte nur einen Augenblick, doch alle Farben des Waldes, der Felsen und Almen erwachten in dieser Sekunde, um mit der nächsten wieder in Schlaf und Finsternis zu versinken.

„Was war das? Der Himmel ist klar …“

„Weit draußen im Flachland muß ein Wetter stehn. Da draußen hat’s ’blitznet … das war der Widerschein.“

Ettingen lauschte, als müßte er den fernen Donner hören. Doch in den sternfunkelnden Lüften blieb’s still und ruhig.

Er lächelte. „Sturm und Wetter da draußen … und hier die Ruhe! Das Schweigen im Walde!“

Sie schritten weiter.

Zwei Stunden waren sie fast gewandert, und über den östlichen Bergen begann sich schon der Himmel zu lichten, als ihnen durch den Wald, in welchem der Weg immer steiler wurde, leichte Nebelschleier langsam entgegenschwebten.

„Das Wetter von da draußen schickt seine Vorreiter in die Berge herein,“ sagte Ettingen, „der Tag wird trübe werden.“

„Gott bewahr’, Duhrlaucht … ein’ schönern Tag haben S’ noch nie net g’sehen! Der Nebel da, das is ja bloß der Seedampf. Wissen S’, zwischen die gachen Felsen droben, da liegt viel Firnschnee umeinand’, da bleibt auch im heißen Sommer d’ Nacht schön frisch … und in der Fruh, da fangt der Sebensee allweil zum rauchen an. Das muß so sein, das is ’s beste Wetterzeichen.“

Es währte nicht lang’, und sie waren völlig eingehüllt von den ziehenden Dämpfen. Man konnte auf zwanzig Schritte kaum noch einen Baum unterscheiden. Daß in den Lüften der Tag erwachte, sah man nur an dem Grau des Nebels, das immer lichter und lichter wurde.

„Wie lange haben wir noch zu steigen?“ fragte Ettingen.

„Ein Viertelstünderl noch … da is schon der See.“

Aber vom See war keine Spur zu gewahren. Nur ein paar grobe Felsblöcke des Ufers hoben sich in dem weißlichen Rauch mit verschwommenem Dunkel ab, man hörte das leise Geplätscher, mit dem das Wasser die Steine umspülte, und tief aus dem Ehrwalder Thal herauf summte das Brausen des Wasserfalles, der den Abstrom des Sees hinunterwarf über turmhohe Wände.

Der Pfad stieg immer mehr und verlor sich in ein steiles Latschenfeld. „Jetzt müssen wir schon die Füß’ ein bißl in acht nehmen. Weit haben wir nimmer zum Hirschen.“

Lautlos kletterten die beiden Jäger zwischen den Latschen hinauf. Je höher sie kamen, desto häufiger schüttelte Pepperl in Unruh den Kopf: der Nebel wollte nicht weichen.

Sie hatten im steilen Latschenfeld einen Rasenbuckel erreicht, als Pepperl seufzend im Klettern innehielt. „Jetzt können wir nimmer weiter! Der Hirsch muß wo umeinanderstehn auf den schönsten Schuß. Was machen wir jetzt? Wenn nur der Teufel gleich den ganzen Nebel kreuzweis reiten möcht’!“

Als wäre der fromme Wunsch des Jägers an die richtige Adresse geraten, so fuhr im gleichen Augenblick ein scharfer Windstoß über das Latschenfeld herunter und riß die wallenden Schleier entzwei.

„Mar’ und Josef!“ stotterte Pepperl. „Duhrlaucht … der Hirsch!“

Kaum hundert Schritte von den Jägern entfernt, kam der Hirsch gemächlich durch die Latschen gezogen und gabelte mit dem mächtigen Geweih wie spielend in die Büsche. Doch ehe Praxmaler die Büchse spannen und dem Fürsten reichen konnte, war der Nebel schon wieder zusammengeflossen, alles grau verhüllend.

Pepperl zitterte vor Aufregung an allen Gliedern und flüsterte: „Teufi, Teufi, Teufi, jetzt is g’fehlt! Jetzt hat er uns aber gleich im Wind … und nachher b’hüt’ dich Gott, Hirscherl!“

Aber da hörten sie in nächster Nähe das Brechen von Zweigen und den Schritt des Wildes. Wie ein großer, grauer Schemen tauchte dicht vor ihnen der Hirsch im Nebel auf – nun verhoffte er und wandte sich zur Flucht – aber da krachte auch schon der Schuß. Im Nebel war der Hall der Büchse dumpf und kurz, man hörte kein Echo, nur ein mattes Gepolter im Geröll, über welches der Hirsch gegen das Seethal hinunter flüchtete. Dann Stille.

Dem Praxmaler-Pepperl klopfte das Herz, daß man es hören konnte wie dumpfen Hammerschlag. Und die Hände um die Ohren höhlend, lauschte er thalwärts, als müßte er den Sturz des Wildes hören.

Scharf blies der Wind von den Felsen nieder. Der Nebel kräuselte sich um die Büsche und flatterte, er wurde lichter und lichter, und in der Höhe begann es schon zu schimmern wie mattes Blau und wie ein Rätsel des Sonnenglanzes. Da rissen die Schleier entzwei – wie sich ein Vorhang teilt, der ein heiliges Wunder verhüllte – leuchtende Matten sah man, ein steiles Latschenfeld in blauem Schatten, hier eine graue Wand und dort eine Reihe scharf geschnittener Spitzen, rosig angeflogen vom Schein der Morgensonne. Nur wenige Minuten, und die Höhe, auf der die Jäger ruhten, war völlig nebelfrei. In schweigender Größe dehnte sich rings um sie her die Felsenwildnis, in mächtigem Halbkreis umzogen von starrendem Gewänd – ihnen zu Füßen lag der Nebel ausgegossen, flach und weiß wie Milch, und drüben stiegen aus dem Meer dieser silbernen Dünste die Steinkolosse der Wetterschrofen auf, über deren wild zerrissenen Grat die goldleuchtenden Schneeferner der Zugspitze herüberblinkten. Schon sah man die Ehrwalder Alm, auf der sich mit dem fernen Gebrüll der Rinder die jauchzende Stimme eines Hirtenbuben mischte – schon stachen die Wipfel des Sebenwaldes schlank und spitz aus dem Nebel heraus – noch eine kurze Weile, und aus den in Luft und Sonne zerfließenden Dünsten leuchtete ein stilles grünes Wasserauge aus der Tiefe herauf: der Sebensee, ein kreisrundes Felsenbecken, erfüllt mit einer Flut von krystallener Klarheit. Steinfelder und flache Almgehänge umsäumten auf der einen Seite den See, und auf der anderen wurde sein Ufer gebildet durch mächtige Felsklötze, durch schroffe Wände und steile Latschenbeete, zwischen deren vereinzelten Zirbenbäumen und Fichten das Schindeldach einer kleinen Hütte leuchtete.

„Solch einen Morgen zu sehen … ist das nicht schöner als alle Jagd?“

Zum Glück für den weidmännischen Respekt, den ein Jäger vor seinem Jagdherrn haben soll, überhörte Pepperl diese stille, lächelnde Weisheit. Denn ehe der Fürst noch ausgesprochen hatte, war Praxmaler aufgesprungen, als hätte er plötzlich bemerkt, daß er auf glühenden Kohlen säße.

„Mar’ und Josef! Duhrlaucht! Der Hirsch! Da drunten liegt der Hirsch!!“ Die Freude schien Pepperl in einen Wahnsinnigen verwandelt zu haben. „Jesses Maria! Da liegt der Hirsch! Da liegt er ja! Da liegt er! Da liegt er!“ Ein Juchzer, daß alle Wände widerhallten von diesem jubelnden Schrei – und in der einen Hand den Bergstock, in der anderen die Büchse schwingend, sprang Pepperl über Büsche und Geröll hinunter, daß es anzusehen war, als müßte er sich bei jedem Sprung überstürzen, um Hals und Beine zu brechen. Jetzt verschwand er in den Latschen, doch ein heller Juchzer kündete, daß er mit gesunden Gliedern den Hirsch erreicht hatte.

Nun stieg auch Ettingen hinunter, und als er die Mulde betrat, in welcher der Hirsch, mit der Kugel im Herzen, verendet niedergebrochen war, kam ihm Pepperl schon entgegen, mit einem Sträußlein blühender Almrosen in der zitternden Hand. Die Augen des Jägers blitzten vor Freude, seine Wangen glühten vor Erregung. „Gratalier’, Herr Fürst! Gratalier’ zum ersten Hirsch bei uns daheraußen! Da kommen S’ her! Da, schauen S’ ihn an! Was das für ein Hirsch is! Ein G’weih hat [71] er droben …. Teufi, Teufi, Teufi, is das ein G’weih! Und den Schuß, den er hat! Im Nebel ein’ so ein’ Schuß machen … wie ’nauf’zirkelt aufs Blatt! Gelten S’, Duhrlaucht … gelten S’, der freut Ihnen? Gelten S’ ja? – Und schauen S’, Duhrlaucht … weil S’ jetzt g’rad’ die schönste Freud haben … jetzt muß ich aber auch gleich was ’raussagen! Gestern auf d’ Nacht, Duhrlaucht … meiner Seel’, es is wahr: da hab’ ich mich schon schauderhaft aufg’führt! Ein’ Rausch hab’ ich g’habt, daß ich mich selber schenier’! Und … und im Rausch … no ja, da bin ich halt mit ’m Herrn Kammerdiener z’samm’g’wachsen und hab’ ihm schieche Sachen ins G’sicht ’neing’sagt … schieche Sachen, ja, Duhrlaucht, schieche Sachen!“ Er schnaufte, wie ein von schwerer Bürde Erlöster. „Jetzt is ’s heraußen! Gott sei Dank!“ In Zerknirschung blickte er an seinem Herrn hinauf. „Ich bitt’ schön, Duhrlaucht … thun S’ mir halt gnädig verzeihen! G’schehen soll’s nimmer … da leg’ ich mein’ Hand dafür ins Feuer! Thun S’ nur halt verzeihen! Gelten S’, ja?“

Lächelnd hatte Ettingen die so stürmische und bei all ihrem Ernst so drollig wirkende Beichte angehört. Nun klopfte er den Jäger freundlich auf die Schulter und sagte: „Ja, Pepperl, die Sünde soll vergeben und vergessen sein! Aber seien Sie klug und nehmen Sie ein andermal Ihren Durst in festere Zügel! Ja? Und nun sagen Sie mir … hat Ihnen Martin Ursache gegeben, daß Sie grob gegen ihn wurden?“

Eine dunkle Blutwelle schoß dem Jäger ins Gesicht, aber er sagte entschieden: „Na na, Duhrlaucht, g’wiß net! Der ang’fangt hat, der bin schon ich g’wesen!“ Ein Glück, daß sich Ettingen zu dem erlegten Hirsch wandte, um das Geweih zu betrachten – denn länger hätte Pepperl den forschenden Blick seines Herrn wohl kaum ertragen, ohne in ernstliche Verlegenheit zu geraten. Nun aber, da ihm Ettingen den Rücken kehrte, atmete er erleichtert auf, kreuzte die Fäuste über der Brust und that einen dankbaren Blick zum Himmel wie einer, der sagen will: „Gott sei Dank, jetzt bin ich wieder g’sund!“ Dann warf er die Joppe ab und zog das Jagdmesser, um an dem erlegten Hirsch das weidmännische Handwerk zu üben.

„Das seh’ ich nicht gerne,“ sagte Ettingen „bei dieser Arbeit laß ich Sie lieber allein. Ich steige zum See hinunter und warte dort, bis Sie nachkommen.“

Die Büchse zurücklassend, folgte er einem Almensteig, der in Windungen durch das Latschenfeld zum Seeufer hinunterführte.

Als er zu den lichter stehenden Bäumen kam, vernahm er den süßen Schlag einer Ringdrossel. Er lächelte. Der zärtliche Vogelschlag erweckte in ihm die Erinnerung an jenen ersten Abend – an jene seltsame Begegnung im schweigenden Walde.

In Gedanken versunken folgte er dem Pfad und blickte erst wieder auf, als er den See erreichte. Still und schimmernd lag die grüne Flut zu seinen Füßen, durchsichtig wie Glas … die glatte Oberfläche war durchzogen von langen Silberstrichen und spiegelte mit reinen Linien und grün behauchten Farben alle Felsblöcke des Ufers, die Bäume und einen sonnbeglänzten Berg. Durch eine tiefgeschnittene Bergscharte blickte schon die Sonne herein ins Seethal und durchleuchtete am Ufer einen breiten Streif des Wassers. Große Forellen, die dem Licht und der Wärme nachgezogen waren, sonnten sich hier am Ufer und standen so dicht am Spiegel, daß ihre sacht spielenden Rückenflossen halb aus dem Wasser ragten.

Ettingen blickte auf; er hatte bei diesem Schauen und Schlendern am Ufer den Pfad verloren und konnte nicht mehr weiter. Ein hoher, überhängender Felsen stieg vor ihm aus dem Wasser auf und versperrte den Weg. Aber die Nische, die der mächtige Steinblock bildete, bot ein liebliches Plätzchen zum Rasten – und das mußte auch schon ein anderer gefunden haben, denn unter dem Fels war eine Bank aus Steinen zusammengetragen und mit Fichtenzweigen und Moos belegt.

Er ließ sich nieder, und während er träumend in die stille grüne Flut blickte, spann er heiteren Sinns die Gedanken weiter, die ihn begleitet hatten, seit er den Schlag der Drossel vernommen.

Und seltsam! Wie eine Erinnerung sich nur so lebhaft vor den Augen gestalten kann? Er glaubte wirklich zu sehen, was er dachte – als wär’ es aus seiner Seele herausgetreten in die Luft, vor seinen Füßen versunken im See! Ganz deutlich sah er es, wie zum Greifen wahr – das schöne „Schweigen im Walde!“ Zwischen dem Spiegelbild der Alpenrosen, die über den Saum des Felsens niederhingen, sah es aus dem Spiegel der Flut zu ihm herauf wie ein stilles ernstes Nixengesichtchen mit großen klugen Augen! Die lockig aufgelösten Haare, die das Gesicht umschwankten, schienen in der grünen Flut zu schwimmen und aus der Tiefe heraufzustreben. Da kam eine Hand und strich die Locken zurück – im gleichen Augenblick verschwand das Gesicht, und jählings erweckt aus seiner träumenden Märchenstimmung, fuhr Ettingen betroffen auf. Nicht seine eigenen Gedanken hatte er gesehen, sondern ein Spiegelbild der Wirklichkeit – und als er hinaufspähte zum Rand des Felsens, hörte er das Rieseln kleiner Steine und einen leichten Schritt, der sich entfernte. Dann war wieder Stille. Von den überhängenden Büschen flatterten ein paar Almrosenkelche wie rote Käferchen durch die Luft und fielen in die Flut.

„Das schöne Wunder geht um … auf jedem meiner Wege!“ murmelte Ettingen vor sich hin und wanderte am Ufer zurück, um den verlorenen Weg zu suchen.

Endlich fand er ihn. Er zog sich steil durch die Latschen hinauf, wo er zur Höhe des überhängenden Felsens führte. Aber da versperrte ihm eine lebendige Barriere den Weg – ein Esel, der von den dürren Aesten einer altersmüden Fichte die zarten Fäden der Bartflechte herunterschmauste.

„So? Bist du auch da? Guten Morgen!“ Ettingen streckte die Hand, um das Grautier zu locken. Aber der Esel machte scheue Augen, schüttelte trutzig die langen Ohren, schlug mit den Hinterfüßen aus und sauste durch die Latschen gegen den See hinunter.

Lachend sah ihm Ettingen nach. „Höre, du! Wenn deine märchenhafte Herrin nicht freundlicher ist …“

Ueber den Zweigen einer Erlenstaude sah er ein dunkelblaues, noch feuchtes Schwimmkleid und einen weißen Bademantel zum Trocknen ausgebreitet.

Besonders empfindlich und sehr verzärtelt war sie also gewiß nicht, diese schweigsame Waldfee! An solch einem frischen Bergmorgen in 1600 Metern Höhe ein Seebad mit zehn Grad Reaumur … das war ein etwas gruseliges Vergnügen, gegen das sich unter Umständen auch eine ganz gesunde Männerhaut energisch wehren konnte! Und nun gar solch ein knospenhaftes, zierlich schlankes Ding, das die Zwanzig noch kaum überschritten hatte. Schon überschritten? Nein! Aus diesen großen, ruhigen Augen blickte wohl ein klarer Lebensverstand, wie ihn frühe Jugend nicht besitzt – doch diese schmalen Wangen hatten etwas kindlich Unentwickeltes, auf diesen schönen strengen Lippen lag’s wie ein Hauch der unberührten Reinheit, aus ihnen redete eine stille heitere Mädchenseele, die gewiß nur Sonne erlebt hatte, keinen Sturm und Schmerz!

Wer sie wohl sein mochte? Und was suchte und trieb sie hier? Daß sie die Natur liebte, sich selbst genug war und sich wohl fühlte in der Einsamkeit – das war ein gutes Zeugnis für ihre Herzens- und Geistesbildung. Denn wer die Welt nicht nötig hat, ist immer reicher als die Welt – und die Einsamkeit verträgt nur jener, der sich selbst in jeder Stunde etwas zu sagen hat.

Wer sie war? Vielleicht die Tochter stadtmüder Leute, die dort unten im Ehrwalder Thal ihre Sommerfrische genossen? Nein! Wenn sie noch Eltern hätte – die würden ihrem Kinde solche Freizügigkeit nicht gestatten, auch nicht einem Kinde, das neben eigenen Gedanken auch Mut und eigenen Willen hat – denn Mut gehörte dazu, wenigstens für ein Mädchen, so einsam in menschenferner Felsenwildnis zu hausen. Aber wo hauste sie?

Aus dem dichten Latschenfeld war Ettingen auf ein freies, nur von wenigen alten Wetterfichten durchsetztes Plateau getreten, das einen weiten, herrlichen Ausblick bot über den See und gegen das Gaisthal hinaus, über den Sebenforst und das Ehrwalder Thal. Inmitten des Platzes erhob sich ein kleines Blockhaus, aus dessen eisernem Kaminrohr sich dünne, milchblaue Rauchwölklein emporkräuselten in die sonnige Morgenluft. Ueberall an den Balken der Hütte schlangen sich dichte Epheuranken bis unter das vorspringende Dach, bildeten über der halb offenen Thür eine kleine Laube und ließen von den Holzwänden nicht viel mehr gewahren als die beiden kleinen, mit grünen Läden versehenen Fenster, hinter deren blanken Scheiben rote Vorhänge schimmerten. Neben der Thüre zog sich an der Wand eine Holzbank hin, auf welcher eine Messingpfanne zwischen hölzernen

[72]

Das Kostümfest des Vereins Berliner Künstler: Erstürmung der Minneburg.
Nach dem Leben gezeichnet von W. Pape.

[73] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [74] Tellern und weißem Theegeschirr zum Trocknen in der Sonne stand. Ein roh gezimmerter Stangenzaun, an welchem eine schon dicht verwachsene Zeile junger Fichtenbäumchen angepflanzt war, zog sich im Geviert um die Hütte und umschloß einen kleinen sorgsam gepflegten Garten, der sich mit seinen grünen Rabatten, mit seinen leuchtenden Blumenbeeten und seinen weißen, kiesbestreuten Wegen gleich einer lieblichen und wundersamen Oase von der wilden Unkultur der Umgebung abhob. Aber auf diesen Beeten blühte keine der Zierblumen, wie sie in den Gärten des Thales heimisch sind – eine kundige Gärtnerhand hatte hier gesammelt und durch Pflege veredelt, was zwischen der Waldgrenze und den Schneefeldern der Berge an Blumen gedeiht. Neben feurigen Alpenrosen schimmerten die blauen Glocken des Enzian, Speik und Edelraute blühten neben dem Almrausch, dessen zarte, rosige Dolden schon zu verwelken begannen, Mardaun und Brunellen neben Arnika und zierlichen Orchisarten, und ein aus Felsen aufgebauter Hügel trug in seinen mit Erde ausgefüllten Spalten die kleinen blaßgrünen Stauden des Edelweiß, dessen Stöcke, nach den frischen saftigen Blättern zu schließen, hier gut zu gedeihen schienen, obwohl sie ohne Blüten waren. Die Farben all dieser seltenen Bergblumen, die hier in so reicher Fülle auf einem winzigen Flecklein Erde gesammelt waren, hatten etwas Ungewöhnliches und Seltsames, und zu diesem überraschenden Anblick gesellte sich der fremdartige, süße Duft, den diese blühenden Beete in den reinen Morgen hauchten.

Ein einziger Baum nur stand im Garten, in einer Ecke des Zaunes. Und der wunderliche Wuchs dieses Baumes stimmte zu allem übrigen, als hätte ihn die romantische Laune eines Künstlers unter Tausenden ausgewählt und hierher gestellt, um den ungewöhnlichen Eindruck dieses ganzen Gartenbildes noch zu erhöhen. Es war kein Baum – es waren sieben Bäume in einem: eine uralte riesige Zirbe, auf deren harfenförmig ausgebogenem Hauptstamm sieben senkrecht nebeneinander aufsteigende Aeste sich zu starken Stämmen ausgewachsen hatten. Der Baum war anzusehen wie eine gewaltige grüne Leier. Und diese Leier klang auch! Wenn der sachte Wind die Aeste bewegte, ging ein tiefes lindes Rauschen durch die zottigen Nadelbuschen, und mit diesem Grundton klangen leise feine Glockenstimmchen zu einem weichen, traumhaften Accord zusammen.

Verwundert – so recht wie einer, der im Märchen die Pforte einer verzauberten Stätte betritt – zur Neugier gereizt und doch von einer seltsamen Scheu zurückgehalten, stand Ettingen vor der Umfriedung des Gartens. Bald glitt sein Blick über die stillen Blumen hin, bald suchten seine Augen in den Wipfeln des Harfenbaumes die tönenden Glöckchen, bald wieder musterte er die Hütte und spähte nach Thür und Fenstern.

Er lächelte. „Hier muß es wohnen … mein Märchen!“

Und da kam es auch schon gegangen – drüben, auf der anderen Seite des Gartens, vom See herauf. Aber es kam nicht schwebenden Schrittes, nicht mit dem Lilienstab, so gar nicht märchenhaft, sondern festen Ganges, gut ausholend bei jedem Schritt, und während sie den linken Arm, um das Gleichgewicht zu halten, seitwärts streckte, trug sie in der rechten Hand eine große, wassergefüllte Gießkanne, deren schwere Last jede Linie dieses geschmeidigen Mädchenkörpers straffer spannte – ein Bild gesunden, jugendfrischen Lebens, kraftvoll und schön zugleich.

Auch anders gekleidet war sie als an jenem Abend im schweigenden Walde. Sie trug eine helle Bluse aus leichtem Flanell und dazu einen glatt fallenden braunen Lodenrock, unter dessen Saum noch ein Stücklein jener grauen Wollstutzen zu sehen war, wie die Sennerinnen sie bei der Arbeit zu tragen pflegen. Das reiche Haar, das nach dem Bade noch nicht völlig getrocknet schien, fiel ihr mit wirrem Geringel über Nacken und Schultern bis auf die Hüften nieder, und die um Stirn und Schläfen sich kräuselnden Härchen leuchteten in der Sonne so goldig, daß der ganze schöne Mädchenkopf wie von einem zitternden Schimmerkranz umgeben war.

Als sie mit dem Knie das Gartenthürchen vor sich aufstieß, gewahrte sie drüben am Zaun den ihrer harrenden Gast. Kaum merklich zuckte es um ihre Lippen, als hätte sie in Gedanken zu sich gesagt: Das ist er wieder, der von neulich, aus dem Gaisthaler Wald!

Ettingen lüftete das Hütchen. „Guten Morgen, mein Fräulein!“

Schweigend dankte sie, wohl freundlich, aber doch nicht anders, als man auf der Straße den höflichen Gruß eines Fremden erwidert.

„Und wollen Sie einem müden Sterblichen erlauben, daß er Ihren blühenden Zaubergarten betritt, um eine Minute zu rasten … dort, unter Ihrem singenden Baum?“

Nun blickte sie auf, und eine Furche lag zwischen ihren Brauen. Hatte ihr seine Frage wie Spott geklungen? Oder wie die banale Redensart eines Zudringlichen? Doch als ihr Auge dem seinen begegnete, glättete sich ihre Stirn und sie sagte ruhig:

„Treten Sie nur ein … dort das Thürchen hat keinen Riegel. Man sieht Ihnen ja an, daß Sie heute schon einen Weg hinter sich haben, der Ihnen warm gemacht hat. Dort bei der Zirbe finden Sie eine Bank … die hat Schatten.“

Während sie das sagte, ging sie auf die Hütte zu. Nun stellte sie die Kanne nieder und verschwand in der Thüre.

Welch einen weichen, traulichen Klang ihre Stimme hatte! Und wie diese paar Worte so einfach und natürlich hingeplaudert waren! Ettingen verwandte die Augen nicht von der Thüre, während er raschen Ganges die Fichtenhecke umschritt und den Garten betrat. Gerne hätte er einen Blick in das Innere der Hütte geworfen, aber die Thüre war zugelehnt. Einem der weißen Kieswege folgend, ging er auf die Zirbe zu, in deren Schatten er einen schwer gezimmerten Holztisch fand und eine aus bizarr gewachsenen Latschenzweigen geformte Bank, deren Holz unter dem Schnee vieler Winter schon völlig schwarz geworden war.

An diesem Tische mußte schon manch ein müder Wanderer gerastet haben, denn zahlreiche Buchstaben, ganze und halbe Namen, Jahreszahlen und absonderliche Zeichen waren in die morsche Tischplatte eingeschnitten. Auch der breite Stamm des Harfenbaumes war übersät mit solchen Zeichen, alten und neuen, unter denen eine Reihe von Einschnitten, die in der Mitte des Baumes regelmäßig übereinander angebracht waren, eine Art von Hausherrenrecht auf dieser Rinde zu beanspruchen schien. Da stand zu oberst in der Reihe: „LOLO, aetatis suae XIV – PAPA, aetatis suae XLV[1] – dabei eine Jahreszahl, und diese Zeichen waren umzogen von einer tief eingeschnittenen Herzlinie mit einer Flamme. Diese Inschrift war sieben Jahre alt – die Schnitte begannen schon in der Rinde zu vernarben. Darunter standen noch, ersichtlich von der gleichen Hand geschnitten, die Zahlen von fünf aufeinander folgenden Jahren, und die letzte dieser Zahlen – sie schimmerte noch weiß im Holz und hatte erst einen einzigen Winter überstanden – war umgeben von einem Kränzlein frischer Alpenrosen. Das berührte, als hätte die Spenderin dieser Blumen sagen wollen: „Du letztes Jahr! Wie warst du schön! Ich werde dich nie vergessen! Nie!“

Nachdenklich, von seltsamer Stimmung umfangen, betrachtete Ettingen diese Zeichen und Blumen, während ihm zu Häupten der Wind durch die buschigen Zweige der Zirbe strich und leis die melodischen Glockenstimmchen tönen machte.

„Lolo? …. Ob das ihr Name ist?“ …. Dann hatte ihr Vater dieses kleine Paradies geschaffen, hier in der einsamen, friedlichen Wildnis der Berge? Und mit ihrem Vater lebte sie hier? Sieben Sommer? Sieben schöne Sommer, so schön und reich, daß ihre Freude sich in die Rinde dieses Baumes grub, um ein Zeichen der Dauer zu haben? – Und weshalb war dieses jüngste Jahr noch nicht eingeschnitten? Zählte es nicht mehr?

Oder war die Hand erkaltet, welche diese anderen Zeichen eingegraben? Hatte sie den Vater verloren im vergangenen Jahr? … Deshalb diese Blumen um die letzte Zahl?

Da weckte ihn ein leises Klirren aus seinen Gedanken.

Drüben, beim Blockhaus, ging das Mädchen langsam an der die Holzwand säumenden Rabatte entlang, um den Epheu zu begießen. Er hatte überhört, daß sie aus der Hütte getreten war. Und nun trug sie die Haare aufgesteckt, nur lose über dem Scheitel zu einem Knoten geschlungen, aber das stand ihr fast noch besser zu Gesicht als das offene ungezügelte Gelock. Wie der Knoten die Fülle des Haares nicht bändigen wollte, wie die kleinen widerspenstigen Ringeln sich lösten und bei jedem Schritt um Stirn

  1. Lolo, im 14., Papa, im 45. Lebensjahre.

[75] und Schläfen zitterten gleich zartem Goldgespinst – wie entzückend das anzusehen war!

Sie hatte die letzten Wassertropfen über den Epheu gesprengt und stellte die Kanne nieder, um einige der langen Grasschmehlen zu brechen, die bei der Hecke wuchsen. Achtsam zog sie die zarten Halme durch die Finger, um sie geschmeidig zu machen, und begann mit ihnen die herabhängenden Epheuranken an der Hüttenwand aufzubinden.

„Wie gut Sie das verstehen!“ sagte Ettingen. „Als ob Sie eine gelernte Gärtnerin wären!“

„Ach, nein! Meine Gärtnerkünste sind recht bescheiden. Zu Hause, in unserem Gemüsegärtchen, da ist mir die Mutter bei weitem über. Aber hier, was der kleine Garten da verlangt, das hab’ ich gelernt in sieben Jahren. Ja, das versteh’ ich.“ So plauderte sie, einfach und ruhig, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen – als spräche sie zu einem, den sie lange kannte, oder als läge es nicht in ihrem Wesen, Scheu vor einem Fremden zu empfinden. „Und sehr viele Mühe verlangen diese Beete gar nicht. Das hier sind ja keine verzärtelten Gartenpflänzchen. Das sind kräftige, dauerhafte Bergblumen! Nur der Epheu da … den haben wir aus dem tieferen Wald heraufgebracht … der hält im Hochsommer die Hitze nicht gut aus und will immer Wasser haben. Anfangs glaubten wir gar nicht, daß er durchzubringen wäre. Erst seit drei Jahren ist er so hübsch und kräftig in die Höhe gegangen und hat diese großen vollen Blätter bekommen. Nicht wahr … wie dieses tiefe saftige Grün mit dem rötlichen Holzton der Balken warm zusammenstimmt?“

Sie trat ein paar Schritte zurück, wie um die malerische Harmonie dieser leuchtenden Farben besser schauen und genießen zu können.

„Sie sind Künstlerin, Fräulein?“

„Ich? Künstlerin?“ sagte sie, fast erschrocken. Sie schüttelte den Kopf, ein leiser Seufzer schwellte ihre Brust, und schweigend nahm sie die Arbeit wieder auf.

Ettingen saß zu entfernt, um sehen zu können, daß ihr die Hände zitterten. „Verzeihen Sie meine Frage,“ sagte er. „Aber sie kam mir so auf die Zunge … nicht nur, weil Ihre letzten Worte mich an die Sprache erinnerten, wie ich sie manchmal habe von Malern reden hören … auch weil der erste Eindruck, den dieses entzückende Flecklein Erde mit seiner blühenden Schönheit auf mich machte, gleich den Gedanken in mir weckte: das kann nur ein Künstler geschaffen haben!“

Der stille Ernst ihrer Züge wandelte sich in sonniges Lächeln, und so leise, daß es Ettingen kaum noch hören konnte, fragte sie: „Weshalb glauben Sie das?“

„Dieser wunderbare Baum da? Steht er denn nicht schon ein paar hundert Jahre hier? Und der schöne Bergsee dort unten, dieses große grüne Märchenauge, hat wohl im Laufe der Zeiten viele, viele Besucher aus dem Thal herausgelockt. Wie mancher von ihnen mag schon im Zufall seiner Bergfahrt diesen Baum gefunden haben? Und da blieb wohl jeder eine Minute stehen, betrachtete den Baum und schüttelte den Kopf, indem er dachte: Merkwürdig, was doch für sonderbare Bäume wachsen können! Aber dann kam einmal ein anderer … keiner mit Alltagsgedanken unter der Stirn und mit landläufigen Gefühlen im Herzen … sondern einer mit weicher träumerischer Künstlerseele, die sich von aller Stille der Natur um so inniger angezogen fühlt, je unbehaglicher ihr der Lärm des Marktes ist. Der sah den Baum … und da muß er sich in seiner bilderschauenden Art doch gleich gedacht haben: Wie eine Harfe! Und diesen Gedanken … ich glaube wenigstens, es müßte so sein, daß sich in einem Künstlerkopfe der erste Einfall gleich weitergestaltet … diesen Gedanken spann er fort: Eine Harfe soll tönen, ich will ihr Stimme geben! Es mag ja sein, daß es zuerst nur eine heitere, naive Künstlerlaune war, vielleicht nur eine phantastische Spielerei, welche die sieben Glocken dort hinaufhängte in die Wipfel. Dann aber, als er hier im Schatten saß, an einem Tag wie heute … als über ihm die Zweige der grünen Harfe rauschten und leis und märchenhaft die Glocken klangen … wie schöne und reine Künstlerträume mögen da in seinem Herzen erwacht sein, schnell reifend in der Stille, die ihn umgab, ins Große wachsend beim Anblick dieser Steinriesen dort oben, beim Anblick dieser ganzen herrlichen Natur! Wie selbstverständlich, daß er denken mußte: Hier möchte ich Tage und Wochen bleiben, hier träumen und schaffen, hier möchte ich wohnen, nur mir gehören und die Welt vergessen! So baute er sich diese Hütte … und da gefiel ihm der kahle Grund nicht mehr, auf dem sie stand … er hatte Augen, die nach blühender Farbe dürsteten, und muß wohl ein großer Freund der wilden Bergblumen gewesen sein … und so begann er den Schmuck dieser Beete zu sammeln …“

„Nein, das kann man nicht so erraten!“ unterbrach sie ihn plötzlich. Sie hatte längst schon in der Arbeit innegehalten. Mit der einen Hand an die Hüttenwand gestützt, so stand sie in der leuchtenden Sonne und schaute zu ihm hinüber mit einem Blick, dessen Glanz ihm deutlich verriet, daß seine Worte ihr eine Freude bereitet hatten. „Jemand muß Ihnen das erzählt haben! Draußen in der Leutasch! Oder einer von den Jägern? Sagen Sie mir’s, wer hat Ihnen das erzählt?“

„Niemand, Fräulein! Das alles hab’ ich mir so gedacht, vorhin, als ich da draußen stand und über den Zaun hineinschaute in dieses blühende Idyll. Und wirklich? Ich habe erraten, wie es war?“

„Ja! So war es!“ Langsam kam sie einige Schritte näher. Aber sie sah ihn nicht mehr an, während sie sprach. Ihre Augen glitten über die Wände der Hütte, über die Blumen hin und hinaus zu den Wipfeln des klingenden Baumes. „So war es! So hat mein Vater den Baum gefunden. So hat er die Hütte gebaut. Aber das mit den Glocken dort oben, nein, das haben Sie nicht erraten. Das war keine Spielerei, keine Künstlerlaune! Das war eine Freude, die seine Liebe sich ausdachte … für mich! Ich war ja damals noch ein Kind! Aber der Baum ist mir heute noch lieb … noch lieber als damals! Wenn er so klingt wie jetzt … das erzählt mir –“

Sie verstummte, und schweigend saß Ettingen in ihren Anblick versunken. Wie schön sie war! Und wie viel rührend Kindliches redete aus der still versunkenen Art, mit der sie so regungslos zwischen all den blühenden Blumen stand und mit verträumtem Lächeln hinaufblickte zu den leis klingenden Wipfeln!

Plötzlich erwachte sie aus ihrem Schauen und schien sich zu erinnern, daß sie nicht allein war. Langsam strich sie mit der Hand über die Stirne. Dann nickte sie ihm zu, mit ihrem ernsten Lächeln, und sagte: „Aber alles andere? Ja! Wie gut Sie das erraten haben! Daß dieser Platz ihm lieb war wie kein anderer auf der Welt … weil es so schön ist hier, und so weit von allen Menschen. Und wie gerne er hier immer saß und träumte! Ja! Das Beste, was er geschaffen, hat er hier gefunden! Und er war ein Künstler … wenn das auch wenige nur gewußt haben! Er war ein Künstler!“

Wie sie das sagte! Ein Frommer, in dessen Seele der reine, lautere Gottesglaube eingewachsen ist mit tausend Wurzeln, kann nicht anders sagen: „Ich glaube an Gott, und daß er gut ist und groß!“ Sie hatte sich gebückt und eine der süß duftenden Brunellen gebrochen, die sie wie küssend mit den Lippen streifte.

„Wie gut erst müßten Sie von ihm denken, wenn Sie sehen könnten, was er geschaffen hat. Ich glaube, Sie hätten ihn verstanden! Sein bestes, das war seine Liebe zur Natur, und wie er sie kannte, und wie er sie zu deuten wußte! Und das hätten Sie ihm nachempfunden. Ich weiß es, denn Sie lieben die Natur und verstehen sie auch! Ja! Das hab’ ich Ihnen gleich angesehen, schon neulich, als ich Sie da draußen traf, im Tillfußer Wald! Der Platz war es, den Sie sich ausgesucht hatten! Und da hab’ ich mir gleich gedacht: Der weiß, was es da zu sehen und zu hören giebt! Sie werden sich meiner nicht mehr erinnern, ich bin ja auch nur so an Ihnen vorbeigeritten …“

Sie brach ab und vergrub die Blume in ihr Haar.

Ettingen nickte nur. Er schien sich anderes nicht zu wünschen, als so schweigend zu sitzen und sie nur immer anzusehen, wie sie so ruhig in der Sonne stand, und ihr nur immer zu lauschen, wie sie so vor sich hin plauderte, als spräche sie gar nicht mit ihm, sondern mit sich selbst.

Da klang vom Gehänge des nahen Latschenfeldes herauf der helle Juchzer einer Knabenstimme.

Sie blickte über den Zaun hinunter, antwortete mit einem klingenden Jodelruf und wandte sich lächelnd zu Ettingen: „Da kommt mein kleiner Küchenbote, der für mich sorgt wie die [76] biblischen Raben für den Elias.“ Während sie langsam auf das Gartenthürchen zuschritt, blickte sie über die sonnigen Berge hin. „Ein Tag ist das heute, ach, ein Tag …“

Ettingen nickte. „Er könnte nicht schöner sein!“


6.

Ein mager aufgeschossenes vierzehnjähriges Bürschlein kam in den Garten gesprungen – wohl ein Hüterbub von einer der naheliegenden Almen. Er trug ein mürbes, verwaschenes Kittelchen aus blauer Leinwand und ein abgewetztes Lederhöschen. Die hageren Beinchen waren von der Sonne so kupferbraun gebrannt, daß ihre lange Nacktheit gar nicht auffiel. Für einen Sennbuben, dessen Arbeit täglich sechzehn Stunden durch Schmutz und Unrat geht, war er ganz auffällig sauber gewaschen. Und das glatte Blondhaar, das unter dem verwitterten Filzhütchen hervorlugte, klebte ihm so naß an den Ohren, als hätte er vor wenigen Minuten erst den Kopf unter einer Brause herausgezogen. In der Hand trug er an einem Strick ein kleines Holzgeschirr, das mit Fichtenzweigen überbunden war.

So ehrfürchtig, als wäre er in eine Kapelle getreten, zog der Bub sein Hütlein. „Recht schön guten Morgen, Fräul’n Petri!“

Nun wußte Ettingen ihren ganzen Namen: Lolo Petri.

„Guten Morgen, Loisli! Bringst mir was?“

„Ja, Fräul’n! Aber der Vater laßt sich verentschuldigen, daß er heut nix anders hat als bloß ein Bröserl Butter und ein Tröpferl Milli. Aber morgen bring’ ich schon wieder was! Gelten S’, ich därf morgen wiederkommen?“ Der Bub stellte die Frage, als wär’ es für ihn ein Geschenk, wenn er kommen durfte.

„Morgen, Loisli? Büberl, morgen wird’s schlecht ausschauen!“ sagte sie, den Dialekt des Buben so weich und geläufig plaudernd, als hätte sie von Kind auf keine andere Sprache geredet. „Weißt, morgen fahr’ ich heim zum Mutterl.“

„Aber gelten S’, Sie kommen bald wieder?“

„Ja, Loisli! Heut über drei Tag, da därfst dich wieder einstellen bei mir.“

„Und gelten S’, nachher verzählen S’ mir wieder was?“

„Ja, mein Bürscherl, komm nur, und … Aber schau nur an, wie nett und sauber als dich heut gemacht hast! So! Brav! So laß ich mir’s g’fallen!“

Der Bub kicherte in verlegener Freude. „Ja, wissen S’, seit S’ mich neulich so ausg’scholten haben, trau ich mich nimmer ’rein mit ein’ schmierigen G’sicht. Aber, gelten S’, heut bin ich sauber?“

„Sauber, ja, aber da schau her …“ Sie nahm das Bürschlein bei der Hand und drehte an seiner Joppe den Aermel vor, der einen spannenlangen Riß über den Ellbogen hatte. „Was is denn das?“

Der Bub wurde rot und stotterte: „Mir scheint, das is ein Loch!“

Da lachte sie, hell und herzlich. „Ja, du, das scheint mir auch. Nur ’runter gleich mit ’m Jöpperl!“

„Thun S’ mir’s flicken, Fräul’n?“

„Freilich! Und bis ich fertig bin, kannst dort das Gießkanndl nehmen und kannst mir Wasser vom See raufholen, gelt? Weißt, jede Gutthat muß der Mensch verdienen!“

„Ja, Fräul’n! Und …“ Hurtig zog der Bub das Jöpplein herunter, „und tausendmal Vergeltsgott derweil!“ Er schoß auf die Gießkanne zu, packte sie und eilte mit langen Sprüngen davon. Während er durch die Latschen hinuntertrollte, nahm er die Brause von der Kanne, um das Rohr als Trompete benutzen zu können. So mißtönig diese Laute auch klangen – sie schienen dem Buben eine wahre Feiertagsfreude zu bereiten. Und als er sich müd geblasen hatte, begann er unter lustigem Jodeln auf der Kanne zu trommeln.

Lolo war in die Hütte getreten, um zu verwahren, was der Bub ihr gebracht hatte. Dann kam sie mit Nähzeug, setzte sich auf die Thürschwelle und begann die Wunde des Jöppleins in die Kur zu nehmen. Die Sonnenlichter, welche durch die Lücken der Epheulaube drangen, spielten mit Leuchten und Gezitter um ihre Gestalt.

Ettingen sah ihr lächelnd zu. „Geben Sie acht, Fräulein,“ sagte er nach einer Weile, „wenn der Bub das nächste Mal wiederkommt, wird er sein Kittelchen übel zurichten, um Ihnen Arbeit zu machen und länger bleiben zu dürfen.“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein! Bevor er das nächste Mal wiederkommt, wird er sein Jöpplein genau untersuchen und die Alm nicht verlassen, bevor ihm nicht die Mutter jeden Schaden ausgebessert hat.“

„Wie gut Sie von dem Jungen denken!“

„Wie er es verdient! Er ist ein braver, lieber Bub und wird einmal ein tüchtiger, herzensguter Mensch werden.“

„Denken Sie von allen Menschen so freundlich?“

„Von den guten, ja.“

„Aber von jenen, denen Sie neu begegnen? Und von denen Sie nicht wissen können, ob sie gut oder schlecht sind?“

„Auch von denen. Wer mißtrauisch ist, begeht ein Unrecht gegen andere und schädigt sich selbst. Ich glaube, daß wir die Pflicht haben, jeden Menschen für gut zu halten, solange er uns nicht das Gegenteil beweist.“

„Das ist eine wahre und schöne Lebensregel!“

„Nur eine selbstverständliche,“ sagte sie ernst, „eine, die keiner entbehren kann, der am Verkehr mit den Menschen Freude haben will.“

„Ja, mein Fräulein, Sie haben recht! Und im Grunde genommen denke auch ich nicht anders, nein, trotz allem nicht!“ Es ging wie ein trüber Gedanke über seine Stirne – aber das schien ihm selbst nur halb bewußt zu werden, denn gleich wieder lächelte er. „Und ich hörte das gerne von Ihnen sagen, denn … nun weiß ich doch, daß Sie auch mich für gut halten. Oder nicht?“

Sie hob das Gesicht, als hätte ihr diese Frage nicht gefallen. Aber an seinem Blick erkannte sie, wie heiter das gemeint war, und da sagte sie: „Ich wüßte nicht, womit Sie mir das Gegenteil bewiesen hätten.“

„Vielleicht durch die unbescheidene Hartnäckigkeit, mit der ich mich hier festgesetzt habe?“

„Das beweist nur, daß es Ihnen hier gefällt. Und das macht mir Freude!“

Der letzte Bergschatten, der noch auf einzelnen Beeten gelegen, war über die Hecke zurückgewichen, und Hütte und Gärtchen lagen in voller, ungetrübter Morgensonne. Der Wind war still geworden, und in den Wipfeln des Harfenbaumes schwiegen die Glocken. Man hörte nur noch den Wasserfall, der fern in der Tiefe rauschte, und das leise, feine Gesumm der wilden Bienen, die von überall her zu den blühenden Beeten geflogen kamen und gleich schwirrenden Fünklein in wirrem Zickzack die sonnige Luft durchschnitten.

Da brachte der Bub die zum Ueberlaufen gefüllte Wasserkanne. „So, Fräul’n, da bin ich schon wieder!“ Dabei stellte er die Kanne so energisch nieder, daß das Wasser rings über den Kiesweg spritzte.

„Ich dank’ dir, Bürscherl! Und schau, dein Jöpperl hab’ ich auch schon fertig. Komm, schlupf ’rein!“

Lolo hielt dem Buben das Kittelchen hin, und er fuhr mit beiden Fäusten in die Aermel. „Vergelt’s Gott tausendmal!“ Neugierig schielte er nach der geheilten Wunde. „Sie! Das haben S’ aber fein g’macht! Da sieht man ja gar nix nimmer!“

„Na, na! Die Mutter wird’s schon sehen, paß nur auf!“ Lächelnd gab sie dem Buben einen Klaps auf die Wange. „Und jetzt mach’, daß du heimkommst. Drunten brauchen sie dich bei der Arbeit.“

Loisli drehte das mürbe Hütlein zwischen den Händen, blickte mit glänzenden Augen zu dem Mädchen auf und bettelte: „Krieg’ ich noch ein Blümerl, Fräul’n?“

„Ja, Bürscherl, was willst denn für eins?“

„Ein Brunellerl thät ich gern haben. Die Enkern schmecken[1] viel feiner als die anderen von der Alm draußen.“

Lolo pflückte ein paar von den braunen Blütenköpfchen und reichte sie dem Buben. Sein Gesicht strahlte vor Freude, während er die Blumen achtsam hinter die Hutschnur schob. Und mit einem Juchzer rannte er davon, das leere Holzgeschirr im Kreis wie eine Schleuder schwingend.

Das Mädchen nahm die Gießkanne auf und begann den Epheu zu besprengen.

„Der Bub hat recht, Fräulein,“ sagte Ettingen, „die

[77]

Das Schellenschlagen in Tirol.
Nach einer Originalzeichnung von Fritz Bergen.

[78] Blumen hier gedeihen in Ihrer Pflege, sie sind schöner als die anderen dort oben und draußen im Wald.“

„Gewiß nicht. Sie sehen in der Blüte nur reicher aus, weil sie dichter stehen. Ich thue ja nicht viel mehr, als daß ich sie wachsen lasse.“

„Da sind Sie aber wirklich zu bescheiden. Und wie sehr diese Blumen die Pflege Ihrer Hand empfinden, kann ich Ihnen gleich beweisen. Hier …“ Ettingen nahm das kleine Rosensträußlein, das ihm Pepperl beim erlegten Hirsch gegeben, von seinem Hut, „ich habe ein paar Almrosen von dort oben mit heruntergebracht. Sehen Sie nur, wie klein diese Blüten sind und wie matt in ihrem Rot! Die sind ja mit den Almrosen, die Sie hier im Garten haben, gar nicht zu vergleichen. Wie groß und üppig die Kelche hier sind, wie feurig in der Farbe!“

Sie hatte zur Bank hinübergeblickt und lächelte, als sie seine Blumen sah. „Das ist richtig, ja. Aber der Unterschied kommt nicht von meiner Pflege, er liegt in der Gattung. Was Sie dort haben, das sind die gewöhnlichen Steinrosen, aber die meinen hier, das sind Edelrosen.“

„Edelrosen? So giebt es eine Aristokratie auch unter den freien Bergblumen?“

„Sie scheinen kein allzu eifriger Hochtourist zu sein, weil Sie diesen Unterschied nicht kennen. Sehen Sie …“ Lolo stellte die Kanne nieder, brach von den mit glühenden Blüten übersäten Rosenstauden einen der schönsten Zweige und kam zur Bank. „Der Unterschied ist am besten an den Blättern zu erkennen. Das Blatt der Steinrose hat mattes Grün und ist behaart, die Blätter der Edelrose sind glatt, von tiefem, wachsglänzendem Grün und auf der Unterseite braun angeflogen. Hier, vergleichen Sie nur …“ Sie reichte ihm das Rosenzweiglein und sagte dabei lächelnd: „Sie sind wohl erst kurz aus der Stadt gekommen? Und noch nicht lange in den Bergen?“

„Seit drei Tagen erst. Aber nun, mein Fräulein, da ich bereits Ihren Namen kenne …“

„Sie kennen meinen Namen?“

„Zur Hälfte hab’ ich ihn hier auf dem Baum gelesen … dann kam der Bub und grüßte Sie: Fräulein Petri! Da darf sich wohl auch Ihr dankbarer Gast Ihnen vorstellen: Ich heiße Heinz Ettingen.“

Sie nickte flüchtig, als wäre sein Name für sie etwas Nebensächliches – ein Name, den sie hörte, um ihn wieder zu vergessen.

„Und da leben Sie nun hier so allein den ganzen Sommer?“

„Den ganzen Sommer nicht, aber doch jede Woche ein paar Tage.“

„Aber in diesen paar Tagen sind Sie doch immer allein?“

„Heuer, ja, heuer bin ich allein,“ erwiderte sie leis und neigte das Gesicht.

„Daß Ihnen die Tage nicht zu lang werden, das begreif’ ich. Es ist ja so wunderbar schön hier. Jede Stunde muß Ihnen eine Fülle tiefer Eindrücke und reicher Gedanken bringen. Und doch … so einsam hier auszuhalten, dazu gehört für ein junges Mädchen ein seltener Mut.“

Das schien sie nicht zu verstehen. „Mut? Warum Mut?“ fragte sie verwundert. „Ist man nicht am sichersten, wenn man allein ist? Und was sollte ich denn hier zu fürchten haben? Der Sommer in den Bergen hat keine Gefahr, wenigstens hier in dieser Höhe nicht … und der Platz hier, auf dem mein Häuschen steht, ist sicher gegen Wildwasser. Lawinen und Schneestürme giebt es im Sommer nicht. Und eine Gewitternacht? Da sitz’ ich am liebsten dort auf der Thürschwelle und schaue hinaus in das Toben und Leuchten … und kann mich nicht sattsehen an den wundervollen Bildern, die jeder Blitz in der Finsternis lebendig macht.“

„Aber die Menschen, die der Zufall vor ihre Thüre führt? Und alle Menschen, mein liebes Fräulein, alle sind doch nicht gut!“

„Die Leute in der Gegend kennen mich, und ich kenne sie und weiß mit ihnen umzugehen … Und die fremden Touristen, die manchmal vor meine Thür kommen? Das sind nette, manierliche Menschen, mit denen ich gerne plaudere … wenn ich auch keine Sehnsucht habe nach der Stadt, so hör’ ich doch gerne von ihr erzählen. Und wer Freude an der Natur hat, der hat auch immer ein gutes Herz. Und wenn manchmal einer kam, der ein bißchen übermütig und ein wenig zudringlich wurde, weil er sah, daß ich allein war und jung bin und nicht häßlich …“

„Sehen Sie,“ rief Ettingen, und seine Stimme klang seltsam verändert, als hätte ihn plötzlich eine bange Sorge um dieses schöne, einsame Geschöpf befallen, „sehen Sie, das ist also doch schon geschehen!“

„Nicht oft!“ Sie blickte freundlich zu ihm auf, als hätte sie gefühlt, was aus dem Klang seiner Stimme redete. „Aber dann hab’ ich auch immer noch das rechte Wort gefunden, auf das sie hörten.“ Sie lächelte. „Nein! Ich habe nichts zu fürchten hier. Die einzige Sorge, die ich hier habe, geht nur meinen Garten an. Den, freilich, den haben sie mir manchmal bös geplündert, wenn ich ein paar Tage fort war. Wenn ihnen die Blumen nur Freude machten … in Gottesnamen! Ich hab’ mir wieder neue geholt von da draußen. Nur das Edelweiß … sehen Sie, dort auf dem Steinhügel, da hab ich ein paar Stückchen eingepflanzt … das Edelweiß ist im Wettersteingebirg so selten, und ich bekomme nur manchmal von den Jägern ein Stöcklein … aber ich kann mit aller Müh’ und Pflege kein Blümchen aufbringen. Kaum guckt ein Sternchen heraus, da ist’s schon wieder weg … mitgenommen von einem, der’s gefunden hat. Da muß ich mir eben denken: wer drunten im Thal das weiße Sternchen auf seinem Hut herumträgt, hat vielleicht an ihm noch größere Freude, als ich sie gehabt hätte. Nein! Sonst hab’ ich hier nichts zu fürchten. Und es ist so schön hier, so schön! Und ich bin auch nicht allein. Hier wohnt mein Erinnern mit mir, als wär’ es noch immer ein Wirkliches, und jeder neue Tag hier ist für mich eine neue Freude, die mein stilles, einfaches Leben reich macht.“

Ettingen betrachtete sie schweigend, gefesselt von dem Reiz dieses ruhigen Lächelns, von dem reinen und schönen Glanz dieser stillen, tiefen Mädchenaugen. Und dann sagte er plötzlich:

„Wie glücklich, Fräulein, wie glücklich sind Sie in Ihrem guten Glauben, in Ihrer furchtlosen Freude, in Ihrer reichen Einsamkeit!“

„Glücklich? Ja, ich war es … und ich bin es!“

Ein leichter Windhauch, wie sanftes Sonnenatmen, strich über den blühenden Garten hin, und durch die Zweige des Harfenbaumes ging ein leises Flüstern. Doch die Glocken tönten nicht.

Ettingen blickte zu den Wipfeln hinauf, als hätte er sich im stillen gefragt: „Warum klingen sie nicht?“ Und da gewahrte er, was er bisher noch nicht gesehen hatte: daß an einem der Stämme ein kleines Bild mit hölzernem Dächlein angebracht war, nach Art jener „Martertäfelchen“, die das Landvolk zu frommem Gedächtnis an Stellen errichtet, an denen ein Unglück geschah oder eine wunderbare Rettung sich vollzog.

„Ein Bild?“

Ettingen erhob sich, um das hochhängende Bildchen besser betrachten zu können.

Das kleine Gemälde war wohl von Schnee und Regen schon übel zugerichtet, doch in Zeichnung und Farben noch deutlich zu erkennen. Man merkte gleich, daß die kundige Hand eines geschulten Malers dieses Bildchen geschaffen hatte, obwohl es ganz den steifen, naiven Stil und die grellen Farben der ländlichen Marterbildchen zeigte – es sprach beabsichtigter Humor aus dieser Anlehnung an den bäuerlichen Kunstgeschmack. Die Landschaft war trotz aller Karikatur ganz unverkennbar: dieser blaue Kreis, das war der Sebensee, diese giftgrünen Zungen, das waren die Almgehänge und Latschenfelder, diese gelben Zuckerhüte stellten die beleuchtete Sonnenspitze und ihre Nachbarberge vor, und diese sieben grüngefransten Spieße, die an die Bäumchen eines Nürnberger Spielzeugkastens erinnerten, das waren die sieben Wipfel des Harfenbaumes. In seinem Schatten kniete ein bärtiger Mann mit steifgefalteten Händen und einem schwebenden Kreuzlein über dem Scheitel. Vor ihm stand, mit segnend ausgestreckten Händen und von einem Heiligenschein umgeben, die Gestalt eines Weibes, das an Genoveva denken ließ, denn die gelösten Haare umhüllten gleich einem Mantel den streng und keusch gezeichneten Leib, dessen einziger Schmuck ein [79] grünes Kränzlein war. Die Erscheinung dieser heiligen Frau, die auf den betenden Mann so friedlich und erlösend wirkte, schien zwei abenteuerliche Spukgestalten in entsetzte Flucht zu jagen: eine üppige Teufelin und einen schmerbäuchigen Faun, der ein Schwein am Stricklein führte und einen Kranz von Würsten um den Leib geschlungen trug. Die beiden Unholde schnitten in ihrem Schreck so drollige Gesichter und waren mit so heiterer Laune karikiert, daß Ettingen lachen mußte.

„Ein köstlicher Scherz!“ sagte er. „Und der Humor dieses Bildchens wirkt auf mich, obwohl ich das Wunder, das hier verherrlicht ist, nicht recht verstehe. Darf ich wissen, was es bedeutet? Aber richtig, da steht ja auch eine Inschrift! Und gar eine lateinische!“ Er übersetzte: „Ich bete dich an und singe mein Lob dir, göttliche Mutter Natur, deren schönes Wunder mich erlöste aus den Klauen der Teufel, die da heißen: Unverstand des Pöbels und eitle Thorheit der Menschen! Mein Leben soll dir, o heilige Mutter, zum Danke geopfert sein wie ein Lämmlein mit schneeigem Fell, und meine Kunst, die vor die Säue geworfen war, soll einsam und sorglos blühen zu deinen Füßen, frei und schön, wie eine Blume deiner Berge!“

Der Klang seiner Stimme war ernst geworden, denn die seltsame Inschrift ließ ihn vermuten, daß hinter dem Scherz dieser Farben sich ein tiefes Weh verbarg. Und als er aufblickte, sah er, daß die Augen des Mädchens in Thränen schwammen.

„Fräulein?“

Sie wandte sich schweigend ab, als hätte sein Lachen und seine Frage in ihrer Seele ein Heiliges berührt, das sie dem Fremden nicht preisgeben wollte. Und als möchte sie auch ihre Bewegung vor ihm verbergen, ergriff sie die Gießkanne, um sie in die Hütte zu tragen.

Aber Ettingen vertrat ihr mit raschen Schritten den Weg. „Nein, Fräulein, so dürfen Sie nicht gehen! Mag ich für Sie auch ein Fremder sein, an den Sie schon morgen nicht mehr denken … aber ich habe hier eine so schöne Stunde verlebt, daß ich es mir nie verzeihen könnte, wenn ich Ihnen Ursache zu einer Verstimmung gegeben hätte. Ich fühl’ es, daß ich Sie durch meine Neugier und durch mein Lachen verletzt habe! Aber ich wußte nicht, daß ich es that! Seien Sie mir nicht böse!“

Da reichte sie ihm die Hand und lächelte, während ihre Augen noch in feuchtem Glanze schimmerten. „Ich bin Ihnen nicht böse, gewiß nicht! Dazu hätt’ ich doch gar kein Recht. Und Sie konnten ja wirklich nicht wissen, daß Ihr Lachen mir wehthat. Das Bildchen dort muß doch auch so heiter auf jeden wirken, der nicht weiß, was es bedeutet und wie es entstand. Ehe mein Vater das lustige Ding da malen konnte, mußte er alle Enttäuschung seines Lebens überwinden. Und als er das Bildchen dort an den Baum hängte, das bedeutete für ihn, daß er jede Hoffnung begrub und für immer darauf verzichtete, für sein Talent die Anerkennung der Welt zu gewinnen. Aber deshalb dürfen Sie nicht glauben, daß ihm der Mut oder die rechte Kraft gefehlt hätte …“

„Nein, liebes Fräulein, nein, das thu’ ich auch nicht, gewiß nicht! Was ich hier sehe und was ich von Ihnen hörte, läßt mich ja vom Wesen Ihres Vaters so manchen Zug erraten. Er muß als Mensch und als Künstler geliebt und gesucht haben, was weit abseits von der Heerstraße und ihren ausgefahrenen Geleisen liegt. Aber alles Ungewöhnliche begegnet so leicht dem Mißverstand. Und ich kann mir denken, daß eine feinbesaitete, stolze Künstlernatur auf die Dauer des nutzlosen Kampfes müde wird und der Welt verbittert den Rücken wendet.“

Sie atmete auf und nickte. „Ja! Das war es! Sein Stolz war zu tief verwundet! Kunst, das war für ihn nur das Große, Reine und Schöne. Auch das Wahre! Aber er hatte Augen, denen alle Dinge anders erschienen, als sie sonst den Menschen erscheinen. Da malte er nun alles, wie er es sah, nicht so, wie es die Leute sehen wollten. Und dann verstanden sie ihn nicht und …“ es zuckte wie Schmerz um ihre Lippen, „und lachten über ihn! Das war es, was er nicht ertrug … dieses Lachen immer! Das hat seinen Mut gebrochen … aber nur den Mut des Künstlers … als Mensch ist er ein fester und ganzer Mann gewesen! Das hat er bewiesen, als er starb!“

„Sie haben Ihren Vater verloren?“

„Verloren?“ Sie schüttelte den Kopf. „Nein! Was man zu tiefst in seinem Herzen besitzt, was mit uns verbunden ist in jedem Gedanken und Gefühl … das kann man nicht verlieren. Er starb … und das ist doch nur ein Wort, das den Ueberlebenden wehthut … mehr ist es nicht!“

Vom nahen Latschenfeld ließ sich das Klirren eines Bergstockes und der Hall schwerer Tritte hören.

Sie blickte auf, und wie erwachend fuhr sie mit der Hand über die Stirne.

„Ich muß gehen … verzeihen Sie … aber dort unten wartet meine Arbeit.“

Er meinte ihr nachzufühlen, weshalb sie diesen raschen Abschied nahm. Sie sah den Jäger kommen und wollte wohl jetzt nach allem, was sie gesprochen hatte, nicht von alltäglichen Dingen reden oder das lustige Geschwätz des Jägers hören. Deshalb machte er keinen Versuch, sie zurückzuhalten.

Mit stummem Gruß wollte sie gehen. Aber da reichte sie ihm plötzlich die Hand, sah mit feuchten Augen zu ihm auf und sagte: „Ich danke Ihnen.“

Das kam so überraschend für ihn, und der Klang ihrer Stimme berührte ihn so seltsam, daß er im ersten Augenblick nicht wußte, was er sagen sollte.

Da löste sie auch ihre Hand schon wieder aus der seinen und ging in die Hütte. Als sie nach kurzer Weile wieder ins Freie trat, hatte sie einen grob geflochtenen Basthut aufgenommen, dessen breite Krempe ihr Gesicht überschattete. Sie versperrte die Thür der Hütte, und ehe sie den Garten verließ, nickte sie noch einen Gruß zu Ettingen hinüber. Während sie dann langsamen Schrittes zwischen den Büschen gegen den See hinunterstieg, kam Praxmaler von der anderen Seite auf den Garten zugegangen.

Ettingen war an den Zaun getreten und blickte dem Mädchen nach. Er fühlte sich von dieser Begegnung im Innersten ergriffen, und die Gedanken schwirrten in ihm durcheinander, wie über den Blumen die wilden Bienen. Was hatte ihn nur so sehr bewegt? Der stille, schöne Reiz dieses Ortes? Oder die Erscheinung dieses Mädchens, ihre freie, ruhige Art, sich zu geben und zu sprechen? Oder der Einblick, den er in das seltsame Leben und Schicksal ihres Vaters gewonnen hatte, dieses weltflüchtigen Künstlers, der alle Dinge anders sah, als die Menschen sie zu sehen pflegen – und der in jeder Erinnerung dieses Ortes fortlebte, während sein Herz doch längst schon erkaltet war? Und wie mußte diese Tochter ihn geliebt haben, wie mußte auch jetzt noch der Gedanke an ihn ihr ganzes Leben füllen, da sie es wie ein kostbares Geschenk betrachtete, daß sie eine Stunde von ihm hatte sprechen dürfen!

„Ich danke Ihnen!“

Wie gut ihm dieses Wort gefiel! Es war ein Wort, das so tief blicken ließ wie dort unten der klare See! Und was ihr Vater auch als Künstler aus seiner weichen, träumerischen Seele herausgebildet und geschaffen haben mochte – er hatte sicher der Welt kein edleres Werk seines Blutes und Geistes hinterlassen als dieses junge schöne Menschenkind mit seiner freien und furchtlosen Lebensruhe, mit seinem tiefen, reinen Gefühl und seinem guten Denken!

Da weckte ihn die Stimme des Jägers aus seinem lächelnden Sinnen: „Grüß’ Ihnen Gott, Herr Fürst! Ein bißl lang’ hat’s ’dauert, gelten S’?“ rief Pepperl seinem Herren schon von weitem zu. „Aber der Tag wird heiß, da hab’ ich den Hirsch net liegen lassen können. Drum bin ich gleich ’nüber g’sprungen auf d’ Sebenalm und hab’ mich um ein paar Leut’ umg’schaut, die den Hirsch heut noch ’nausliefern ins Jagdhaus.“ Er hatte den Garten erreicht, setzte den Bergstock ein und schwang sich mit hohem Satz über den Zaun. „Aber gleich hab’ ich mir ’denkt, daß ich Ihnen da im Gartl von der Fräul’n Petri find’!“ Er blickte zur Hütte hinüber. „Schad’! Sie muß net daheim sein, ’s Hüttl is g’sperrt! Aber gelten S’, schön is daherinn! Ja, so ein Platzerl find’t man net leicht in der Welt! Das hat er verstanden, ihr Vater!“

„Sie haben ihn gekannt?“

„Den Maler-Emmerle? Aber freilich hab’ ich den ’kennt!“

„Wie sagten Sie, daß er hieß?“ [80] „Emmerich Petri hat er g’heißen. Aber d’ Leut’, die haben halt allweil g’sagt: der Maler-Emmerle. In der ersten Zeit, wie er von der Münchnerstadt zu uns da ’raus ’kommen is und hat sich draußen in der Leutasch das Häusl ’kauft, da haben d’ Leut’ schon diemal ein bißl g’lacht über seine g’spaßigen Sachen. Aber nachher, ja, da haben s’ ihn fein gern mögen! Er is aber auch ein lieber, guter Mann g’wesen!“

„Er war ein Künstler?“

„Ein Kienschtler? Ah na! Gott bewahr’! Der is schon was Bessers g’wesen!“ beteuerte Pepperl, denn nach ländlicher Anschauung verstand er unter „Kienschtler“ nur die „Seiltanzler“ und „Kamödispieler“. „Wissen S’, ein Taferlmaler is er g’wesen … ein Marterl hat fein keiner net schöner malen können als wie der Herr Petri. Und die Heiligen, die er an d’ Häuser hing’malen hat, die schauen fein nobel aus. Und für ihm selber, da hat er diemal auch so Bildln g’malen … kleine und endsgroße …“

„Und Sie haben solche Bilder von ihm gesehen?“

„Aber freilich! Hängen ja draußten in sei’m Häusl noch alle Stuben voll. Sie, Herr Fürst, die Bildln, die müssen S’ Ihnen einmal anschauen!“ Pepperl kicherte lustig vor sich hin.

„Was da für narrische Sachen dabei sind! Am liebsten hat er allweil die jungen Buben g’malen, und völlig nacket … aber bloß in der oberen Hälft’,“ wieder kicherte Pepperl, „und statt die menschlichen Füß’ hat er ihnen allweil Gaisbockhaxln hing’malen. Und Rösser hat er g’malen mit Mannsbilderköpf’! Und Tigerkatzen mit Frauenzimmerg’sichter. Und Weibsbilder mit Karpfenschwanzln statt die Füß’! Und lauter so verruckte G’schichten …“ Pepperl schüttelte sich vor Lachen. „Gleich hinwerden könnt’ man vor lauter Gaudi, wann man so was anschaut!“

Auch Ettingen lächelte. Kentauren, Faune, Tritonen und Sphinxe – und dazu der Kunstverstand des guten Praxmaler-Pepperl: in diesem Kontrast lag eine Komik, der auch die ernste Stimmung Ettingens nicht zu widerstehen vermochte. Aber es widerstrebte ihm, noch weitere Fragen zu stellen. Schweigend trat er zum Tisch, warf die schon welk gewordenen Steinrosen über den Zaun und schmückte seinen Hut mit der Edelrose, die ihm Lolo Petri gereicht hatte.

Praxmaler riß die blauen Augen auf, als hätte er etwas ganz Unerhörtes erlebt, und stotterte:

„Aber, Duhrlaucht! Mar’ und Josef! Die Blümeln, die S’ da wegwerfen … das is ja der Bruch für ’n Hirsch!“

„Dieser Zweig gefällt mir besser!“

Pepperl schwieg; doch er schüttelte den Kopf und sah seinen Herrn von der Seite an. Daß es einen blühenden Zweig auf Erden geben konnte, der einem Jäger besser gefiel als der grüne Bruch für einen Vierzehnender – das war für ihn etwas völlig Neues und Unverständliches.

Ettingen setzte den Hut auf und griff nach dem Bergstock.

Da sagte der Jäger, als hätten seine Gedanken eine jähe Schwenkung gemacht: „Ja, schauen wir, daß wir heimkommen. Der Herr Kammerdiener wird eh’ schon auf der Paß liegen!“

Sie gingen zum Zaunthürchen, Pepperl mit langen Schritten voraus, während Ettingen zögernd folgte. Lächelnd blickte er noch einmal über die blühenden Beete hin und empor zu den still gewordenen Wipfeln des Harfenbaumes, die mit ihrem goldig umleuchteten Grün hinaufstiegen in das reine Blau des Himmels.

„Welch ein schöner, einzig schöner Morgen! Wie diese Luft sich atmet! Wie leicht und froh man sich fühlt … als ginge man einer großen Freude entgegen!“

Abermals schüttelte Pepperl den Kopf. Und nun seufzte er sogar. Denn er – in seinem verantwortungsvollen Herzen war der Gedanke an das „unb’hütete dumme Gansl“ wach geworden – er ging einer schweren Sorge entgegen.

Während sie dann schweigend auf schmalem Pfad über das Latschenfeld hinunterstiegen, fuhr der Jäger plötzlich aus seinen Gedanken auf und murmelte: „Was is denn das g’wesen jetzt?“ Er spähte über die Latschen hin.

„Was haben Sie?“ fragte Ettingen.

„G’wesen is mir, als hätt’ ich wen g’hört in die Latschen drin. Ich muß mich aber dengerst ’täuscht haben. Es rührt sich nix mehr.“

Sie schritten weiter und verschwanden im Schatten des nahen Waldes. Als ihre Schritte verhallt waren, rauschte es in den Latschen, und aus den Zweigen tauchte langsam das bleiche Gesicht Mazeggers auf.

Eine Weile stand der Lauschende unbeweglich und blickte mit funkelnden Augen gegen den Wald hinunter; in hartem Lächeln preßte er die schmalen blutlosen Lippen zusammen. Dann wand er sich langsam durch die dichten Büsche auf den Pfad hinaus. Hier legte er Büchse und Bergstock ab, kniete auf den Boden nieder und nahm mit zitternder Vorsicht aus seinem Rucksack ein blühendes Edelweißstöcklein hervor, dessen Erdballen mit einem Taschentuch umbunden war. Er entfernte das Tuch, kniff mit den Nägeln ein paar welk gewordene Blätter fort, schöpfte mit der Hand von dem Wasser, das neben dem Pfad in dünnem Faden sickerte, und besprengte den dürr gewordenen Wurzelballen und die erst halb entwickelten weißgrünen Blütensterne. In Unruhe und dennoch geduldig wartete er fast eine halbe Stunde, bis sich die schmachtenden Pflänzchen wieder erholt hatten und frisch erschienen.

Dann erhob er sich und stieg zum See hinunter. Als er den Waldsaum erreichte, spähte er mit heißen Augen ringsumher. Nun schlug ihm brennende Röte über das bleiche Gesicht, und hastig lehnte er Bergstock und Büchse an einen Baum.

(Fortsetzung folgt.)


Ein Kostümfest des Vereins Berliner Künstler.
Von Gustav Klitscher. 0 Mit Illustrationen von W. Pape.


Ein regnerischer, naßkalter, abscheulicher Winterabend. Vor dem schönen neuen Heim des Vereins Berliner Künstler in der eleganten Bellevuestraße fährt Wagen auf Wagen vor, und in dem vom elektrischen Licht hell durchfluteten Vestibül sammelt sich eine dichte Schar sonderbar vermummter Gestalten. Aber allmählich fallen die Hüllen, und aus den häßlichen Puppen schlüpfen buntfarbige, prächtige Schmetterlinge aus. Der merkwürdige Ritter in goldstrotzendem Wams mit Cylinder, Regenmantel und Gummigaloschen wird zum Tannhäuser, losgelöst von Kapes und Kapuzen stehen plötzlich in strahlender Schöne minnigliche „Frouwen“ da. Und nun geht’s vorwärts – in den Frühling hinein! Ein „Maienfest zur Zeit der Hohenstaufen“ soll gefeiert werden, so lautet die Einladung, und der Mai ist’s wirklich, der uns jetzt grüßt mit Maienlust und Maienfröhlichkeit. Wir steigen die große Mitteltreppe hinauf, deren grünender Pflanzenschmuck alle trübe Winternot vergessen läßt, und treten dort, wo sich sonst der Oberlichtsaal der Gemäldeausstellung befindet, in eine Frühlingslandschaft am Rhein. Unter einer mächtigen Eiche ist ein Wirtschaftszelt aufgeschlagen, ringsum grünende Berge, im Hintergrunde aber fällt der Blick auf Pfalz Caub und die Feste am Ufer. Und in der lachenden Aue tummelt sich eine fröhliche Menge in Trachten des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts, alle Stände, jedes Alter, Männlein und Weiblein im bunten Gemisch. Da sind Ritter in Kettenhemd und Sturmhaube, Edelherren in Sammetrock und Seidenmantel, Bürger und Bauern. Fahrendes Volk singt Schelmen- und Liebeslieder und bittet die Zuhörer um eine Gabe (vgl. die untere Abbildung S. 81); ein Quacksalber naht, der berühmte Doktor Eisenbart in Person, und preist seine Mixturen an, Narren und Possenreißer, alle sind sie da, und dazwischen in schönem Kranz Frauen und Mägdelein die Fülle. Und alle wollen maienfröhlich sein, als sollte der Sänger jener Tage, Herr Walther von der Vogelweide, noch einmal Recht behalten, wenn er sagt:

„Jetzt im Maien mögt ihr schauen:
Wunders man gewahrt,
Seht die Herren, seht die Frauen,
Wie das stolz gepaart.
Ja er hat Gewalt.
Ob er Zauberlist ersonnen?
Wo er naht mit seinen Wonnen,
Da ist niemand alt!“

[81] Hinter den Tannen, aus dem Busch hervor, tönt seltsamer Sang. Dort steht im Dunkel verborgen ein Zelt, in dem allerhand orientalisches Volk sein Wesen treibt. Hier murmeln die Fremden ihre eintönigen Lieder, während ein altes Weib aus den Linien der Hand weissagt und schwarzäugige Dirnen fremdartige Tänze tanzen.

Eingangsflur des Berliner Künstlerhauses.
Nach einer Photographie von Zander und Labisch in Berlin.

Auch ein indischer Gaukler fehlt unter ihnen nicht. Während wir staunend dastehen, schmettern Fanfaren und Musik. Es ist Zeit, zum großen Festsaal hinauf zu eilen. Hier unter den bunten Bannern und Wimpeln, die den Raum schmücken, steht die Menge schon dicht gedrängt. Kaum daß man durch die hohen gotischen Fenster einen Blick in das Rheinthal werfen kann, das an den Wänden in täuschender Malerei dem Auge erscheint. Rechts ist die Bühne zur Minneburg umgewandelt, mit Mauer und Thor. Liebliche Frauen und Mädchen, Rosen im Haar, grüßen von der Zinne herab. Aber das Thor ist geschlossen. Der Zugang zu ihnen ist verwehrt. Die Idee des Festspiels, das nun folgt, ist die Erstürmung der Minneburg durch Junker Mai und seine Mannen. Dies Spiel ist nicht frei erfunden, sondern war während des Mittelalters im Volke heimisch und wurde in Stadt und Dorf an jedem ersten Maien aufgeführt. Die Regie des Malers Pape hat es prächtig und stilgerecht neu erstehen lassen.

Schon hat der Landgraf (Professor Eschke) mit seiner erlauchten Gemahlin auf den für sie bereit gestellten goldenen Stühlen Platz genommen, und jetzt naht unter Vorantritt der Spielleute, mit kriegerischer Musik, mit Hallo und Holla die Schar der eisengepanzerten Ritter, die trotzig ihre Schwerter aneinander schlagen.

Ihnen folgt unter dem Maienbaum, der jungen Birke, Junker Mai selbst (Maler Storch), begleitet von seinen Leuten. Er fordert Einlaß in die Burg, aber Frau Minne (Fräulein Vickers) erscheint mit dem neckischen kleinen Liebesgott auf der höchsten Warte und weigert den Einlaß. Zunächst versucht’s der Junker diplomatisch. Während sich die Ritter im Kreise lagern, entspinnt sich ein wunderhübscher Dialog zwischen ihm und der reizenden Frau Minne, den Julius Lohmeyer in zierliche Verse gebracht hat. Der Junker sucht sich angenehm zu machen und stellt seine Vorzüge ins beste Licht:

Fahrendes Volk.

[82]

„O hochgemute Fraue,
Die Sonne ist mein Seneschall,
Mein Herold ist die Nachtigall,
Mein Reich die blühende Aue.“

Aber Frau Minne weiß, daß auch sie nicht wehrlos ist:

„Meine Burg ist edle Sitte,
Mein Schelmenknabe, schußbereit,
Trifft durch das schwerste Eisenkleid
Bis in des Herzens Mitte.“

So geht Rede und Gegenrede hin und her, keiner will nachgeben. Jetzt muß Gewalt entscheiden. Junker Mai befiehlt den Sturm auf die Burg, welchen das Bild auf S. 72 und 73 den Lesern vergegenwärtigt. Die Kriegsmannen holen Leitern herbei und suchen sie an die Mauer zu legen. Aber die Schönen auf der Zinne wollen es hindern, Rosen und Blumenpfeile fliegen als Kampfgeschosse hinüber und herüber. Gott Amor ist nicht müßig, doch schließlich bleibt den Rittern der Sieg, sie dringen in Frau Minnes Burg ein, mancher freilich mit dem Pfeil in des Herzens Mitte.

Nunmehr beginnt zur Feier des Siegs und der Hochzeit von Minne und Mai unter der Birke der Reigen, zu dem eine altdeutsche Weise gesungen wird. Dann bildet sich der Brautzug, der in malerischen Windungen alle Festräume durchschreitet, bis er schließlich im Keller im Kneipgemach Halt macht. Dieses ist durch treffliche, stilisierte Bilder von Röchling, Knötel und Engelhardt in eine altdeutsche Trinkstube umgewandelt worden. Droben auf einer Estrade an langer Tafel sitzen die Ritterbürtigen beim Hochzeitsschmaus, unten sammeln sich die Bürger und gewöhnlichen Sterblichen. Aber bald sind auch hier alle Standesunterschiede verwischt, und es hebt in schöner freier Menschlichkeit ein gewaltiges Pokulieren an. Längst vergessene Trink- und Liebeslieder feiern fröhliche Auferstehung, und gar absonderlich hallt es in markigen Tönen durch den Raum:

„Komme, komme, komm zu mir,
Lasse mich nicht sterben hier,
Hyrca, Hyrca, Nazaga, Tiriliri!“

Das „Luften“ im Kneipraum.

All diese alten Gesänge verdankt man dem geschickten Sammeleifer des Doktor Jacobsen, der als Süßkind von Trimberg durch die Menge schreitet. Die Ritter sprechen tapfer dem Rebensaft zu, und wiederholt wird zum „Luften“ geschritten, wobei ein saumseliger Zecher von kräftigen Fäusten emporgehoben wird, währenddem er zu trinken hat (vgl. obenstehende Abbildung). Inzwischen ist von der Bühne im Festsaal die Minneburg verschwunden, Klingsors Zauberspiegel hat sie verdrängt. Klingsor (Maler Hendrich) zeigt in diesem „das Gold der deutschen Sage“, das sich in Gestalt von lebenden Bildern vor uns ausbreitet. So sehen wir, hübsch gestellt, die Rheintöchter, die den Nibelungenhort hüten, Siegfried, der in der Gibichenhalle aus Gutrunes Hand den Willekumm entgegennimmt, die Loreley im Abendsonnenschein, und endlich Klingsors blumenprangenden Zaubergarten. Hofschauspieler Hartmann spricht zu den Bildern einen verbindenden Text von Laverrenz.

Damit aber auch das Satyrspiel nicht fehle, machte den Schluß der Aufführungen ein Knappenturnier. Auf Stöcken sprengten sie mutig gegeneinander vor, freilich nicht mit Lanzen, sondern mit eingelegten Besen, und sie machten ihre Sache sehr lustig, bis sie schließlich sich gegenseitig in den Sand oder besser aufs Parkett streckten. Nun konnte endlich der allgemeine Tanz beginnen. Und er begann. Es war ein prächtiges, farbenfrohes Bild, wie sich all diese geputzten Menschen, von denen nur eine geringe Minderzahl nicht stilgerecht im Geschmack der Zeit gekleidet war, froh im Kreise drehten. Jetzt kam auch die Damenspende zur Verteilung, die Nachahmung einer alten Minnesängerhandschrift mit Miniaturen und Sprüchen. Wollte einer sich noch etwas Besonderes gönnen, so fand er unten, neben der Trinkstube, im Billardzimmer, das zu einem Refektorium umgewandelt war, kunstfertige Mönche, welche ihm die Handschrift mit Aquarellen illuminierten. Später und später wurde es, aber des Maien Zauber blieb ungebrochen. Und sollte es bei einzelnen wirklich zu spät geworden sein, ein Unrecht war auch das nicht, denn die Damen hielten wacker mit aus, und das muß als Entschuldigung gelten. Wie sagt wiederum Herr Walther?

„Wer eines guten Weibs sich freut,
Der alle Missethaten scheut!“

Das schöne Fest in dieser Weise zu feiern, war dem Verein Berliner Künstler nur dadurch möglich, daß er seit Beginn dieses Winters ein neues Heim besitzt. Bis dahin war er im Architektenhause in der Wilhelmstraße zu Gast gewesen, aber immer mehr hatte sich der Wunsch nach einem eigenen Herd fühlbar gemacht. So wurde schließlich in einer der schönsten Straßen Berlins, doch ganz in der Nähe des weltstädtischen Getriebes, das über den Potsdamer Platz flutet, ein Privathaus angekauft, welches durch Umbau – zu einem Neubau reichten die vorhandenen Mittel nicht aus – für die Zwecke der Künstlerschaft hergerichtet werden sollte. Die Aufgabe war schwierig, und als es sich um die Wahl eines Architekten handelte, kam man wie von selbst auf Carl Hoffacker, der seine Gabe, geschickte Raumausnutzung mit schöner Form zu vereinigen, in Berlin schon oft, zuletzt durch die großen Gebäude der Gewerbe-Ausstellung erwiesen hatte. Der Verein verlangte nicht wenig: einen großen Festsaal, Ausstellungsräume mit Oberlicht und nördlichem Seitenlicht, eine Kneipe und ein Billardzimmer, Kegelbahnen, Raum für die Bibliothek und die große Kostümsammlung des Vereins, dann eine Anzahl von Klubzimmern, in denen sich auch die Damen heimisch fühlen möchten, eine ganze Reihe von Räumen für die Verwaltung des Vereins, endlich feuersichere Lagerplätze für Kunstwerke und Kisten. All dies hat der Architekt mit großem Geschick in den gegebenen Platz hineingebaut.

Schon die nur von wenigen Fenstern unterbrochene Fassade wirkt eigenartig (vgl. Abbildung S. 83). Ueber dem Portal prangt ein großes Mosaikbild: in der Mitte strebt die deutsche Eiche [83] empor, in ihrer Blätterkrone ein Bildnis Albrecht Dürers tragend, als Wahrzeichen deutscher Kunst. Rechts und links stehen zur Seite weibliche Idealfiguren, Malerei und Skulptur verkörpernd.

Der Festsaal des Berliner Künstlerhauses: Ansicht der Querwand mit der Empore und dem Bilde von Prof. Max Koch.
Nach einer Photographie von Zander & Labisch in Berlin.

Durch das Portal tritt man in ein weites Vestibül, von Korbgewölben überspannt, in lichten Farben gehalten (vgl. Abbildung S. 81). Rechts und links von ihm liegen die Klubräume und Garderoben. Geht man geradeaus die große Freitreppe zur Hälfte hinauf, so gelangt man in die nach hinten gelegenen Ausstellungssäle, die einer dauernden Gemäldeausstellung dienen. Sie sind in erlesenem Geschmack ohne jede Aufdringlichkeit dekoriert; alles ist darauf berechnet, einen bescheidenen und doch würdigen Hintergrund für die Kunstwerke zu bilden. Verfolgt man aber die Treppe, die sich in zwei Läufe gabelt, bis zu Ende, so kommt man in den großen Festsaal (vgl. obenstehende Abbildung), dessen eine fensterlose Längswand nach der Straße hinausgeht.

Die Vorderansicht des Berliner Künstlerhauses.
Nach einer Photographie von Zander & Labisch in Berlin.

Die Decke bildet ein einmal gebrochenes Tonnengewölbe in Holzarchitektur, oben mit Glas eingedeckt, durch das der Saal sein Oberlicht erhält. So kann er auch als Ausstellungsraum für ganz große Bilder dienen. Die eine Schmalwand nimmt eine richtige, praktikable Bühne mit Schnürboden ein, über dem Vorhang ein stilisierter Ritter Georg; an der andern Schmalwand ist eine breite Galerie weit in den Saal vorgebaut.

Ueber ihr prangt ein großes Bild von Max Koch: „Baldur erscheint auf der Erde.“ Ein schöner Jüngling, von den Strahlen der aufgehenden Sonne umloht, steigt über den Nebeln empor, und die verschlafenen Menschen schauen ihm staunend entgegen. Will man zu der Restauration, so muß man hinab bis in den Keller unter den Ausstellungsräumen. Hier ist die höchst gemütliche Kneipe, daneben das Billardzimmer.

Alles ist darin behaglich, wohnlich, anheimelnd. Hohe Holzpaneele ziehen sich an den Wänden entlang, schwere Eichenmöbel dienen zum täglichen Gebrauch. Unter dem Billardsaal, der etwas höher liegt als das Kneipzimmer, befinden sich die Kegelbahnen. Auf der andern Seite des Baues ist die Bibliothek angeordnet. Die übrigen Räume für Verwaltung u. s. f. verteilen sich dann in einem Hinterflügel. – Die Berliner Künstler haben jetzt ein schönes neues Haus, sie haben darin bereits schöne Feste gefeiert. Unlängst sah der große Saal den neuen Ritter des Schwarzen Adlerordens, den alten Menzel, als Gefeierten an der Spitze seiner Kollegen, die ihm Glückwunsch und Huldigung darbrachten. Aber auch an ernsten Kämpfen hat es in dem neuen Hause bereits nicht gefehlt. Auch hier stehen sich Junge und Alte, Secessionisten und Akademiker schroff gegenüber. Hoffen wir, daß der gemeinsame Besitz alle Auseinanderstrebenden immer wieder zusammenführt. Sind auch ihre Wege verschieden, sie haben ja doch alle nur ein großes, herrliches Ziel, die Kunst!



[84]

Frau Stehles Antipathie.

Novelle von Hermine Villinger.


Die Bewohner am Schloßplatz wurden seit einiger Zeit durch das tägliche Erscheinen eines großen zottigen Schäferhundes beunruhigt, der alle Anzeichen der Herrenlosigkeit und eines gänzlich herabgekommenen Zustandes an sich trug.

Er setzte sich gewöhnlich mitten auf die Straße, wo er in ein großes Jammergeheul ausbrach, als wollte er alle Menschen zu Zeugen seines abgrundtiefen Elends anrufen. Blieb jedoch ein Vorübergehender stehen und sah nach ihm hin, so ergriff das Tier schleunigst die Flucht. Gegen Abend verschwand er vom Schloßplatz, um am andern Tag zur Mittagsstunde wieder zu erscheinen.

„Polde,“ sagte Frau Stehle, die Kanzleidienersfrau, zu dem kleinen Burschen, der ihr die Kohlen trug, „geh’ mal ’naus und bring’ dem Hund ein paar Knoche, das Geheul kann man ja nimmer mit anhöre.“

Der Kleine trat mit seinem Vorrat auf die Straße und warf dem Hund einen Knochen hin. Das Tier sah ihn liegen, wimmerte leise und traute sich nicht von der Stelle. Ein zweiter Knochen flog heran, der den Hund fast traf; er machte Kehrt, wandte sich aber im nächsten Augenblick um und stürzte wie wütend auf den Knochen los. Während er ihn zerbiß und zernagte, zitterte er am ganzen Körper.

Das Kind warf ihm Knochen um Knochen hin; ein hartes Stück Brot, das unter dem Abfall gewesen, hatte es in die Tasche gesteckt. Als der Hund mit seinen Knochen fertig war, kam er um einen Schritt näher und sah den Kleinen fest an, beinahe herausfordernd, so daß der schnell in die Tasche griff und das Brot holte.

Es war aber so hart, daß es sich nicht zerbrechen ließ, der Kleine ging deshalb zum nahen Brunnen und weichte es ein wenig auf, sodann gab er die eine Hälfte dem Hund und steckte die andere in die Tasche. Das Tier war schnell fertig, setzte sich nieder und ließ den Blick nicht von des Knaben Händen.

Es entspann sich ein Kampf in der Brust des Kleinen; er wollte gehen, aber er brachte es nicht über sich, der Blick des Hundes schien ihn förmlich festzubannen – dieser Blick des Elends, des Hungers und der Not. Verstand er diese Sprache, der kleine blasse Mensch, mit den magern, vom Kohlentragen schwarz gefärbten Händen?

Eine Weile standen sie so, Aug’ in Aug’, der Hund und das Kind, wie gesonnen, einander auf ihre Ausdauer hin zu prüfen. Dann griff der Knabe mit einem Seufzer in die Tasche und warf dem Hund den Rest des Brotes hin. Der verschlang den Bissen, schluckte ein paarmal und legte sich dann nieder, die Schnauze auf die ausgestreckten Pfoten bettend; er schien genau zu wissen: es war nichts mehr zu erwarten.

„Polde, Polde,“ ließ sich die kräftige Stimme der Frau Stehle vernehmen, „Herr du meine Güte, in der Zeit hätt’ ich die Hund’ von der ganzen Stadt gefüttert; ’s ist halt kein Trieb in dir, kein Tummeleifer! Ich sag’ dir’s und du merk’ dir’s: wenn du nit bald deine Lahmheit ablegst, in vier Woche sind wir fertig miteinander.“

Sie gingen durch den Flur des Vorderhauses; im Hof zu ebener Erde lag die Wohnung. Polde fuhr in ein Paar Strohschlappen, und auch in diesen wagte er kaum fest auf den mit Sand bestreuten Dielen des schmalen Vorplatzes aufzutreten.

Die Frau war in die Wohnstube gegangen und hatte die Thüre offen gelassen; es war ein Eckzimmer mit drei Fenstern, die sämtlich weit offen standen. Infolgedessen war hier alles in Bewegung: die Vorhänge mit den wundervoll gehäkelten Einsätzen und Spitzen, die Enden der ebenfalls gehäkelten Tischdecke, wie gepeitscht zappelten sie um den Tisch herum; der Lampenschirm, eine Häkelei auf rosa Seidenpapier, knisterte wie ein kleines Holzfeuer. Der ganze Raum machte den Eindruck einer Häkelmusterausstellung, und jeder mußte es einsehen, daß auf diesem blütenweiß überhäkelten Kanapee unmöglich ein Mensch Platz nehmen durfte. Herr Stehle setzte auch nie den Fuß in dieses Zimmer, das er den „Luftballon“ nannte.

Frau Stehle suchte in der obersten Schieblade ihrer Kommode nach kleinem Geld.

„Erdöl, Schmierseif’, Stiefelwichs – zehn – zwanzig – dreißig – verstande, Polde?“

Er gab keine Antwort; mit vorgestrecktem Oberkörper stand er auf der Schwelle, nach jener Wand der Stube starrend, wo der große Schrank stand, ein schönes altes Möbelstück mit eingelegter Arbeit. In die kranken rotumränderten Augen des Kleinen war plötzlich Leben gekommen; er sah nichts mehr als diesen Schrank.

Da fuhr die Frau herum. „Ob du mich verstande hast?“

Der Knabe schaute sie mit einem so dummen Ausdruck an, daß sie ihn in heller Wut bei den Schultern packte.

„Jetzt sag’ mir nur eins: ob du überhaupt was in deinem Schädel drin hast, will ich wisse – hast was drin oder nit?“

„Den Schrank,“ stotterte er.

Sie lachte laut auf: „Den große Schrank? Ja, was thut denn der in deinem Kopf?“

Er wurde dunkelrot. „Möbelschreiner will ich werde!“

„Du! o lieber Polde, da muß man ein anderer sein; zum Straßekehrer, ja, da könnt’s knapp reiche, von dene tummelt sich auch keiner; alle Eimer im ganze Quartier könnt’ ich ausgeleert habe, bis so einer mit einem Eimerle zu Streich komme ist.“

Frau Stehle war der Schaffeifer in Person; wie ein Wirbelwind ging’s bei ihr treppauf, treppab; die Bureauzimmer, die Bureauöfen, das ganze Haus von oben bis unten hielt sie blank und rein. Dazwischen trieb sie ihr altes Geschäft weiter; sie war eine, wie sie von sich selbst sagte, weltberühmte Büglerin gewesen, und den liebsten ihrer Kunden lieferte sie nach wie vor eine Wäsche, die nicht ihresgleichen hatte.

Die rotwangige, rundliche, äußerst appetitliche Frau zählte jetzt vierzig Jahre; mit dreißig hatte sie sich verheiratet; kurz darauf war ihr die Mutter gestorben. Frau Stehle machte ihren Schmerz so gründlich ab wie ihre Putzereien; sie weinte zwei Tage und zwei Nächte lang, bis sie kein einziges trockenes Taschentuch mehr hatte; hierauf setzte sie das kleine Stübchen, das ihre Mutter bewohnt hatte, unter Wasser, bürstete und fegte wie besessen herum und erklärte: „So, das wird jetzt ’s Bubezimmer.“

Es blieb aber leer; da Frau Stehle nie Zeit zum Nachdenken hatte, machte sie sich auch keinen Kummer darüber.

„Ich hab’ genug Kreuz,“ konnte sie sagen, wenn sie ihren Mann die Treppe herunterkommen hörte – eins, zwei – eins, zwei – so bedächtig, daß ihr die Ungeduld in allen Gliedern zuckte. Und so war er im Sprechen, im Schaffen und im Denken; es pressierte ihm nie, er that seine Pflicht und damit war’s aus. Frau Stehle aber dachte manchmal bei sich selbst: Jesses im Himmel, wenn mein Mann einer wär’ wie ich eine bin, man thät ja auf uns deute!

Und so war sie den ganzen Tag hinter ihm her, schalt über sein langsames Thun und suchte ihm ihren Eifer einzutrichtern. Aber sie kam nicht durch; Stehle war ein breitspurig auftretender Mann mit kühn gedrehtem Schnurrbart und einer außergewöhnlich tiefen Baßstimme; jeder mochte ihn leiden, denn er hatte immer ein Späßchen zur Hand und eine ungemein behagliche Art, jedem, mit dem er zu thun hatte, etwas von seinem Seelenfrieden mitzuteilen. Nur bei der Frau gelang es ihm nicht; ja, so ungern er auch unerfreuliche Angelegenheiten ins Auge zu fassen liebte, er sah es kommen, bemerkte es an einzelnen Aeußerungen seiner Kollegen im Hintergebäude – mit seiner Herrschaft im Hause war es nicht mehr weit her.

„Jetzt sag’ mal, Stehle,“ rief ihm die Frau eines Tages schon auf der Treppe des Vorderhauses entgegen, so daß es die ganze Nachbarschaft hören konnte, „in wie viele Wirtschafte hast du heut’ wieder dein Mäpple spaziere trage?“

Da wußte er sich in seiner Verlegenheit nicht anders zu helfen, als indem er in ein Brummen ausbrach, in ein Brummen, das ungefähr dröhnte wie das nicht allzu ferne Grollen eines Gewitters. So ging er hinter der Frau her, den Gang entlang, und merkwürdig, mit keinem Wort begehrte sie mehr auf. „Ach Gott, Stehle,“ sagte sie, als sie in ihrer Wohnung waren, „um Gottes Wille, sei doch kein so Wüterich; das hört man ja bis in die Kaiserstraß’ – was solle denn die Leut’ von unsrer Eh’ denke, wenn du so wüst thust!“

[85]

Blumenparade.
Nach dem Gemälde von H. Huisken.

[86] Da hatte er etwas gelernt: so oft er nun ein wenig lange ausgeblieben war oder sonst ein schlechtes Gewisien hatte, verlegte er sich aufs Brummen; die Frau hörte ihn schon in der Küche, wenn er die Treppe herunter stampfte, und es tönte den Gang entlang, als sei einer aus dem Bärenzwinger im Stadtgarten ausgebrochen. Die Fragen erstarben ihr auf den Lippen, und sie that alles, was er wollte, nur damit er still war. Er brachte es sogar so weit, daß ihm zuweilen gestattet wurde, eines der beiden Fenster im Schlafzimmer zu schließen; hier war sein Tisch mit dem Tintenzeug. Sonst, kaum war er bei der Arbeit gesessen, kam die Frau hereingestürzt: „Da drin ist wieder keine Luft!“ und riß das zweite Fenster auf.

Beklagte er sich: „Siehst denn nit, ich sitz’ ja mitte im Zug?* gab sie ihm zur Antwort: „Das muß einer aushalte könne, Luft muß sein.“

„Gott sei Dank,“ sagte er jeden Tag von neuem, so oft er sich an den blankgescheuerten Tisch in der Küche setzte, „Gott sei Dank, daß unser Küchele nur ein Fenster hat!“ –

„Frau Stehle,“ sagte der Polde, nachdem er seine zehn Eimer Kohlen in die verschiedenen Bureauzimmer geschleppt hatte, „Frau Stehle, er wartet –“

Sie stand in der Küche mit beiden Armen im Waschkübel.

„Wer wartet?“

„Der Schloßplatzhund.“

„Hab’ jetzt keine Zeit, du siehst – geh’ heim!“

Eine ganze Weile verging, da glaubte sie etwas wie einen Seufzer zu hören. „Herrgott,“ rief sie aus, „jetzt steht der Bub’ noch immer da – was willst denn noch?“

Keine Antwort.

„Entweder du redst oder du gehst!“ fuhr sie ihn an.

Er seufzte wieder, das Sprechen wurde ihm offenbar nicht leicht, endlich kam es ihm stockend über die Lippen:

„Er – er hat so – so traurige Auge.“

Frau Stehle fuhr mit dem rechten Arm aus der Seifenbrühe und riß den Küchenschrank auf.

„Da, in dem Schüssele links sind ein paar Sache, hol’s –“

Draußen im halbdunklen Gang beugte sich der Knabe rasch über die Schüssel und nahm einen Mundvoll von dem kalten Gemüse; es überkam ihn sogar einen Augenblick die Versuchung, sich mit dem Essen zu verstecken. Aber er überwand sich, indem er sich vornahm: die Hälft’ will ich ihm geben.

Er hatte eben angefangen, den Hund zu füttern, als an dem Haus neben dem Bureaugebäude ein Fenster geöffnet wurde.

„Du, Kleiner,“ rief ihn eine Frau an, „komm’ einmal her, ich hab’ auch was für das arm’ Tier.“ Dem Polde wurde eine ganze Schüssel voll Knochen und Fleischreste eingehändigt.

„So gute Sache,“ seufzte er in sich hinein, aber die Frau blieb am Fenster stehen und schaute zu, wie sich’s der Hund schmecken ließ; so ging Polde, der sich fürs Leben gern etwas genommen hätte, leer aus.

Die Nachbarn fuhren fort, von dem Abfall ihrer Mahlzeiten herzugeben; ein paar Dienstmädchen aus den nächsten Häusern kamen auch mit Knochen und Brotresten herbei. Der Hund aber wollte seine Mahlzeiten nur vom Polde verabreicht haben; er nahm nichts, wenn ihm ein andrer etwas hinwarf, sondern bellte jeden an und wies ihm die Zähne.

Polde saß nun jeden Nachmittag auf der Treppe des Bureaugebäudes und machte seine Aufgaben, und der Hund saß zufrieden mitten auf der Gasse, statt wie sonst heulend herumzuirren.

Frau Stehle fand einmal den Kleinen da draußen und schalt ihn tüchtig aus: „Was gehst du denn nit heim und machst deine Aufgabe in der warme Stub’, statt auf die naßkalt’ Trepp’ zu sitze?“

Das Kind sah nach dem Hund. „Er ist sonst so allein –“

„Dumm’s Zeug’,“ sagte Frau Stehle, „das ist kein Hund wert, daß einer nix lernt; wie kannst denn du da drauße dein Schriftlich’s mache – gelt, du machst’s nit?“

Polde wurde rot.

Sie wollte ihn in ihrer raschen Art von den Steinstufen wegreißen, da fuhr sie ordentlich zusammen, so eiskalt waren die Fingerchen, die sie in der Hand hielt. „Geh’ in die warm’ Küch’,“ sagte sie, „ich will dir’s erlaube, dein Schriftlich’s meintwege drin zu mache, aber wasch’ zuerst deine Händ’, sonst wird mir’s übel, wenn ich die schwarze Pfote alleweil sehe soll!“

Als er vor ihr herging, erschrak sie über seine fadenscheinigen Höschen, durch die man fast die blanke Haut durchschimmern sah. „Auf Weihnachte mach’ ich ihm einen Anzug,“ nahm sie sich vor.

Während er sein Schriftliches machte, bekam er ein Schüsselchen Kaffee und ein Stück Brot dazu. Er war so schnell damit fertig, daß Frau Stehle zu ihm sagte: „Man könnt’ ja meine, du bekommst den ganze Tag nix zu esse; so viel ich doch weiß, hat dein Vater einen schöne Verdienst; oder geht dir was ab?“

Das Kind wurde dunkelrot und schüttelte den Kopf.

Eben das ärgerte die lebhafte, gesprächige Frau so sehr an Polde: es war nichts aus ihm herauszubringen, nicht ein Lächeln, kein frohes Wort; nie daß er etwas von zu Haus erzählt oder eine genügende Antwort gegeben hätte, wenn sie nach den Seinen fragte.

„Der Bub’ hat keinen offene Blick,“ sagte sie zu ihrem Mann, „jetzt ist er schon bald ein Jahr im Haus, und ich weiß noch immer nit, was in ihm vorgeht – ist er gut oder ist er schlecht? nix weiß ich –“

„Du siehst’s ja, wie er mit dem Hund ist,“ sagte Herr Stehle, „das kann dir doch genug sein.“

Sie zuckte die Achseln. „Er ist halt mei Antipathie!“

Eines Abends, der Polde wollte eben die Küche verlassen, fiel es ihr auf, wie vollgepfropft der Schulranzen war, den er unter dem Arm trug.

„Was hast denn da drin?“ fragte sie und schnürte den Ranzen auf.

Ein paar große Stücke Steinkohlen gleißten ihr entgegen.

„Was,“ schrie sie auf, „nit emal ehrlich ist der Kerl? Seine Dummheit, seine Lahmheit, alles hab’ ich in Kauf genomme – aber nit emal ehrlich! Warum nimmst du Kohle?“ herrschte sie den Buben an, „hat’s dich deine Mutter geheiße? Red’ – die Wahrheit will ich wisse, red’, du verstockter Kerl, du hinterlistiger, jetzt redst einmal oder –“

Da gewahrte sie, wie er am ganzen Körper zitterte, da sah sie den Blick voll Todesangst, der von ihr zu ihrem Mann irrte, sich an dessen Gesicht wie hilfesuchend festklammernd.

„Polde,“ nahm Herr Stehle das Wort, „das war nit brav von dir, so was darf nimmer vorkomme, sonst müsse wir dir den Laufpaß gebe –“

„Von jetzt ab giebt’s keinen Kaffee mehr am Nachmittag,“ unterbrach ihn die Frau, „das ist deine Straf!“

„Den Kaffee hätt’ ich ihm gelasse,“ meinte der Mann, nachdem das Kind gegangen war.

„So? Natürlich, o ja, du, selber so ein Lahmhans – braucht’ ich überhaupt den Bube, wenn du dich tummeln wolltst und eine Stund’ früher aufstehe? Aber ein Mann und sich tummeln, ein Mann und sich eine Müh’ anthun – es ist einer wie der andre. Die Herre da drobe, Gott soll mich bewahre, mein halb’s Tagwerk hab’ ich vollbracht, rücke die erst an; aber in die Nacht ’nein bleibe, nur damit ich so spät wie möglich an meine Zimmerräumerei komm’, das ist ihr Hauptpläsir. So, und jetzt setz’ dich her und lies mir die Zeitung, denn seine Bildung muß der Mensch habe; ich flick’ derweil deine Socke und näh’ am Polde seinem Anzug, denn einen Anzug muß er habe, das laß ich mir nit wegdisputiere.“

Herr Stehle lachte und nahm die Zeitung zur Hand.

Am andern Morgen, als sie beim Frühstück saßen, kam der Polde in die Küche, viel eiliger als sonst: „Jetzt weiß ich auch, warum er so verhetzt ist.“

„Wer?“ fragte Frau Stehle.

„Der Schloßplatzhund,“ sagte das Kind, indem es seinen Morgenkaffee in Empfang nahm und schnell hinunter trank; das Brot wurde in die Tasche gesteckt.

„Ich bin ihm nach, gestern abend – an die Bahn rennt er, an alle Wäge hat er ’rumgeschnuppert und übers Gleis’ – immer hin und her; sie habe nach ihm geworfe und getrete, einen Klotz hat er an Kopf kriegt, daß er geblutet hat. Einer hat gesagt – das ist jetzt alle Abend dieselbe Geschicht’. Drum ist er so verhetzt,“ schloß der Polde.

So lange hatte er noch nie geredet.

„Jetzt wird mir’s immer besser,“ sagte Frau Stehle, „du laß’st einen ja gar nit zu Wort komme.“

„Hm,“ meinte Herr Stehle, „das ist ein arm’s Tier, ein [87] arm’s, der Hundefänger hat ihm auch schon aufgepaßt; ’s hat halt seinen Herr verlore.“

Der Polde stand mit einem Male dicht vor ihm.

„Kann man nix mache, daß er ihn wiederfindet?“

„Ha“, gab ihm der Bureaudiener zur Antwort, „eine Hundemark hat er, glaub’ ich, anhänge, aber man kommt ihm ja nit bei; auf der Mark könnt’s stehe, wem er gehört, nur lese müßt’ man’s könne –“

Polde war mit einem Male so viel flinker als früher; sonst hatte er sich recht Zeit gelassen mit seinen Kohleneimern, jetzt ging’s unter lautem Keuchen die Treppe hinauf; dann besorgte er noch seine Ausgänge, die er sich sonst auf den Nachmittag gespart hatte. Kaum war die Schule aus, war er auch schon auf dem Schloßplatz. Brachten die Leute in der Nachbarschaft nicht das Futter zur rechten Zeit, so ging Polde in die Häuser, um es zu holen. Mit jedem Tag warf er dem Hund die Brocken etwas näher; das Tier stutzte und besann sich; es ließ den Knaben locken, bitten und flehen, indem es ihn unverwandt anschaute, wie um auf den Grund seiner Seele zu dringen. Dann wagte es den Schritt und Polde buhlte am folgenden Tag um einen neuen. Hatte der Hund sein Futter bekommen, so saß er dem Knaben gegenüber, und ganz allmählich wurde der Raum zwischen ihnen kleiner und kleiner.

Es war ein naßkaltes, unfreundliches Wetter; Frau Stehle stand mit dunkelrotem Kopf in ihrer kleinen warmen Küche am Bügelbrett.

„Kannst jetzt das Büble nit reinkomme heiße?“ meinte der Mann, „’s steht immer drauße und friert.“

Frau Stehle wußte es wohl; es ließ ihr auch keine Ruhe, aber hatte es einen Sinn, sich anderer Leute Kinder ins Haus zu gewöhnen? Außerdem war es ihrer mitteilsamen Natur geradezu eine Qual, so ein verstocktes Geschöpf um sich zu haben.

Nichtsdestoweniger ging sie von Zeit zu Zeit unter die Hausthüre, um nach ihm zu sehen, und eines Tages gewahrte sie zu ihrem Schrecken, wie der Knabe ein Stück altbackenes Brot vom Futter des Hundes gierig in den Mund steckte. Sie wies ihn herein.

„Polde, jetzt sag’ mir einmal ehrlich, was habt ihr heut’ zu Mittag gegesse?“

Er machte wieder sein verstocktes Gesicht und schwieg. Aber sie war gesonnen, ihn endlich zum Reden zu bringen, und wappnete sich mit Geduld. Dreimal stellte sie dieselbe Frage an ihn:

„Was ihr heut’ gegesse habt?“

Endlich stotterte er: „Weiß nimmer.“

„Habe sie dir vielleicht nit genug gebe?“

„Doch.“

„Warum aber ißt du denn vom Hund seinem Sach’?“

„Ich hab’ nit von seinem Sach’ gesse.“

„Lügst wieder, ich hab’s doch gesehe.“

Er besann sich: „Versucht hab’ ich, ob’s nit zu schlecht für ihn ist.“

„Polde, ich will dir was sage: wenn du mir offe und ehrlich bekennst: ja, Frau Stehle, ich bekomm’ nit genug zu esse – dann kriegst wieder alle Tag deinen Nachmittagskaffee. Ueberleg’ dir’s, ich laß dir Zeit.“ Sie faßte einen frischen Stahl und wandte dem Polde den Rücken; als sie sich umsah, war er nicht mehr da.

„Jetzt weiß ich,“ sagte sie zu ihrem Mann, als er herunterkam, „jetzt hab’ ich’s heraus, der Bub’ wird ein Bösewicht, so bereitet sich der vor, mit Verdrucktheit; da hilft kein guter Wille, da hilft kein Mitleid; da wär’ ich dumm, ich geb’ ihm den Laufpaß.“

„Das thät ich nit,“ meinte der Mann, „ich weiß nit, mich erbarmt der Bub’; er will den Hund zähme wege der Hundemark, damit er sehe kann, wem er gehört. Da kann man sich doch nur wundre über so eine Geduld. Er hat mir’s selber gesagt.“

„So, warum sagt er denn mir nix?“

Herr Stehle unterdrückte die Antwort, die ihm auf der Zunge schwebte; er wollte die Frau nicht gegen das Kind aufbringen; es ging ihm, dem Mann, ja so besonders gut, seit ihre Gedanken sich so nachhaltig mit der Erziehung des Buben beschäftigten; es ging alles so viel glatter ab zwischen ihnen, beinahe friedlich.

„So,“ sagte sich Frau Stehle, „er will den Hund zähme, das soll mich denn doch wunder nehme –“

Sie ging vors Haus, um sich die Sache anzusehen.

Ein wenig Schnee lag auf den kahlen Aesten der Bäume drüben auf dem Schloßplatz; ein schneidender Wind kämpfte mit dem von Schneeflocken untermischten Regen, der prasselnd gegen die Straße schlug. Pfützen und Schmutz wohin das Auge sah, und kein Mensch weit und breit. Der Polde stand da, triefend vor Nässe mit eingebogenen Knieen, die vor Kälte schlotterten. Aber sein Gesichtchen sah ganz zufrieden aus; etwas unbeschreiblich Mitleidiges lag darin; er sah auf den Hund nieder, der so nahe bei ihm lag, daß er ihn hätte mit der Hand erreichen können. Allein Polde rührte sich nicht; fürchtete er durch eine Bewegung, durch ein Uebereilen das schwer errungene Vertrauen des Hundes zu verscherzen? Nicht einmal ein Zucken der tiefschwarzen Augenwimpern, die das einzig Schöne in des Knaben Gesicht waren, verriet, was in seinem Innern vorging. Er sang ein Schullied mit zarter heiserer Stimme und der Hund winselte dazu.

Frau Stehle konnte dieser elenden kleinen Stimme nicht lange zuhören, sie ging flugs ins Haus zurück, indem sie sich mit der Hand wie verstohlen über die Wangen fuhr.

Zu Weihnachten sollte der braven Frau Stehle eine neue Enttäuschung blühen; sie hatte sich gefreut, den Buben recht zu beschenken; zu dem Anzug sollte er ein Paar Strümpfe bekommen, alte noch gute Schuhe, ein Hemd und sogar einen farbigen Schlips, den ihr Mann noch ganz gut hätte tragen können.

Polde nahm alles hin, ohne eine Miene zu verziehen, nicht einmal der große Lebkuchen und die roten Aepfel vermochten ihm ein Lächeln zu entlocken. Er sagte „Danke“ und lief so gleichgültig mit seinen Sachen davon, als ob sie ihn nichts angingen.

„Der Kerl hat mir die ganz’ Weihnacht’ verdorbe,“ beklagte sich Frau Stehle bei ihrem Mann, „ich kann nit lebe mit so einer Natur, ich kann’s halt nit, ich muß Mensche um mich habe, die lache könne und rede – so ein Duckmäuser macht mich ganz krank. Ich will ja gar nit emal von Dank sage, aber doch ein bisle Freud’, ein bisle Freud’ will man doch sehe, wenn man sich den Schlaf abgespart hat, um so ein Kind rauszustaffiere –

Nein,“ fuhr sie ihrem Mann ins Wort, der sie zu besänftigen suchte, „ich will nix höre, nimm ihn mir nit in Schutz, der Bub’ ist halt mei Antipathie, und seine Antipathie kann sich kein Mensch auf der Welt wegdisputiere, und damit ich nit immer alles Unangenehme allein hab’ – du giebst ihm den Laufpaß – du! und damit fertig, wenn du überhaupt an dem Feiertag irgend eine von deine Leibspeise auf dem Tisch sehe willst!“

Die mochte Herr Stehle doch sich nicht verscherzen, und so schwieg er und dachte: ’s kommt auch wieder anders.

Polde erschien am Feiertagmorgen wieder in seinem alten zerrissenen Anzug, und als ihn Frau Stehle zur Rede stellte, warum er seinen neuen Rock nicht angezogen habe, gab ihr der Bub’ zur Antwort: „Weil ich nit hab’ wolle.“

Warum packte sie ihn denn nicht bei den Ohren?

„O du,“ knirschte sie hinter ihm her, als sie ihn mit seinem Eimer voll Kohlen davon wanken sah, „wenn du nur ein einzig’s Mal offe wärst, was thät ich nit für dich –“

„Hast ihm aufgesagt?“ fragte sie den Mann.

„Noch nit,“ brummte er, „so wart’s doch ab!“

Sie kam später gerade dazu, wie er draußen bei dem Buben stand. Aber statt mit seiner Angelegenheit herauszurücken, griff er in die Tasche und schenkte dem Polde ein paar Pfennige.

Bei Tisch fragte die Frau: „Hast ihm jetzt aufgesagt?“

„So halb und halb,“ brummte Stehle.

„Jetzt lügt der auch,“ dachte sie und lief von Stund an alle paar Augenblicke hinaus, um auch den Mann zu beobachten.

So geschah es eines Tages, daß sie gerade in dem Augenblick dazu kam, wie der Hund und das Kind beisammen standen, ganz dicht beisammen. Polde streichelte das Tier, das vertrauensvoll zu ihm aufschaute; mit zitternden Händen nestelte er an dem Halsband herum; wie fest saß die eingerostete Schnalle, die Haare des Hundes klebten daran. Eine fieberhafte Ungeduld schien das Kind zu erfassen, seine Blicke irrten umher, offenbar in der Angst, es möchte jemand kommen und den Hund in die Flucht treiben. Poldes Hände wurden immer ungeschickter, endlich bückte er sich, um mit den Zähnen den Riemen zu erfassen; etwas Klirrendes fiel zur Erde, der Hund schrak zusammen und floh, Polde aber hielt tief aufatmend das Halsband in den Händen.

Was wird er jetzt mache? fragte sich Frau Stehle, wenn er jetzt nit zu mir kommt und den Mund aufthut, dann –

[88] Sie machte eine wegwerfende Bewegung mit der Hand. Insgeheim aber war sie ergriffen, wollte es nur nicht Wort haben und eilte durch die Küche in das kleine Bubenzimmer.

„Er soll mich suche,“ sagte sie zu sich selber, indem sie sich bemühte, ein gleichgültiges Gesicht zu machen.

Sie hörte ihn von draußen in seine Strohschlappen fahren; er ging in die Küche; nach einer Weile öffnete er die Thüre ins Schlafzimmer, blieb stehen und sah sich um; auch nach dem Nebenzimmer, in dem sie sich befand, lauschte er; dann trat er über die Schwelle, bei jedem Schritt innehaltend, und stand vor dem Tisch, in dessen Lade der Mann sein Schreibzeug hatte. Frau Stehle war eben im Begriff, hervorzustürzen, da sah sie, Polde hatte weiter nichts genommen als eine Korrespondenzkarte.

Als sie in die Küche kam, saß er am Tisch über seinem Schulheft; bei ihrem Eintritt hatte er rasch eine Seite umgewendet; so kindisch war er, sich einzubilden, sie merke nicht, was er trieb.

„Was schreibst du denn da?“ fragte Frau Stehle.

„Meine Aufgabe.“

Es zuckte ihr in den Fingern, und doch, sie wußte selber nicht warum: sie ließ ihn gewähren, machte sich hinter seinem Rücken am Herd zu schaffen und warf nur von Zeit zu Zeit einen Blick über des Knaben Schultern.

Polde brauchte eine Ewigkeit zu seinem Unternehmen; die Hundemarke lag vor ihm, obenan war ein kleines Schaf eingraviert, darunter ein Name. Dies kleine Schaf einigermaßen erkenntlich nachzuzeichnen, kostete Polde keine geringe Mühe; es nahm den halben Platz der Postkarte weg. Jetzt mußte er sich kurz fassen; er seufzte ein paarmal tief auf; Frau Stehle hinter ihm am Herd war ganz vergessen; sie konnte sein Machwerk getrost lesen:

 „Lieber Herr Dietrich in Straßburg.

Endlich habe Ich die Hundsmarkk verwischt kommen sie Schnell Er ist immer auf dem Schloßplatz.

 Ihr sieliebender
 Leopold Weber.“

Nun hatte er’s eilig, warf seine Sachen in den Ranzen, stolperte über einen Stuhl, vergaß die Mütze und hörte nicht, daß ihm Frau Stehle etwas nachrief. Sie hatte ihm sagen wollen, er müsse auch eine Adresse schreiben.

„Nun, so lauf!“ unterbrach sie ihr Vorhaben und warf die Küchenthüre hinter sich zu.

Es ging ihr so ganz eigen mit diesem Kinde: je mehr der Polde sie rührte, um so zorniger ward sie auf ihn; sie glaubte, es müßte sein, sie müßte seinen Trotz brechen, sein verschlossenes Wesen besiegen. Sie hatte ihn eines Morgens wieder nach Hause geschickt mit der Weisung, daß er sich nicht anders als in seinem guten Anzug vor ihr zeigen dürfe. Seither erschien er jeden Morgen so wie sie es ihm befohlen hatte, aber des Nachmittags kam er wieder in seinen alten Fetzen.

Das Wetter blieb sich immer gleich – Wind, Regen, Schnee, alles durcheinander, und der Hund und das Kind sahen alle Tage verkommener und elender aus. Dicht aneinander gedrängt standen sie da, als suchte eines bei dem andern Schutz und Wärme.

„Nun, wie steht’s, wie weit bist denn jetzt mit dem Aufsage?“ fragte Frau Stehle eines Tages wieder ihren Mann.

Der wurde ganz zornig: „Du hast kein Herz, du hast kein Gemüt – ich heiß das Kind nit gehe, ich ganz gewiß nit! Ich kann dich nit begreife, daß du den Bub’ nit reinrufst und ihm keinen Kaffee giebst.“

„Ich hab’ dem Polde gesagt, daß er mir in dem Aufzug nimmer unter die Auge komme darf,“ erklärte sie, „er soll folge; ich werd’ mich von dem Kind nit unterkriege lasse; er könnt’s ganz gut habe; wenn er nit will, so hat er’s halt schlecht!“

Nie hatte sie wütender gearbeitet als gerade jetzt, denn immerfort sah sie das Kind da draußen stehen, wo sie ging und stand; sie wußte ja, er wartete, er hoffte auf den Herrn des Hundes; er war so kindisch, zu glauben, seine Karte wirke Wunder!

Aber gerade wenn sie so recht voller Mitleid war, wenn sie sich vornahm: ich will ihm alles verzeihen, ich will recht freundlich mit ihm sprechen – da wurde es ihr jedesmal übel belohnt.

„Ich weiß nit, Polde,“ hatte sie zu ihm gesagt, „mir fehlt eine Korrespondenzkart’, hast du vielleicht eine rumliege sehe?“

„Nei.“

„’s könnt aber doch sein, besinn’ dich – schau, mit einem offene Wort kann man mich um den Finger wickle, – hast keine Korrespondenzkart’ genomme?“

„Nei.“

Sie hätte ihn schütteln mögen. Was war denn mit so einem anzufangen? Sie dachte an seine Eltern. Wußten sie, daß ihr Kind log und betrog? War es nicht eigentlich ihre Pflicht, diesen Leuten zu sagen, was sie vom Polde hielt?

Aber wenn sie ihn dann prügelten – dieses magere, elende Körperchen. –

Sie war gerade wieder einmal so weit mit ihren Gedanken, als sie durch ein markerschütterndes Hundegeheul von ihrer Beschäftigung aufgeschreckt wurde. Sie ließ alles stehen und liegen und eilte hinaus; die ganze Nachbarschaft war an den Fenstern. Mitten auf der Straße aber stand ein breitschulteriger Mann in einer Pelzmütze, und um ihn herum sprang der Schloßplatzhund in rasenden taumelnden Sätzen; er leckte dem Mann die Füße, er zerrte ihn am Rock, legte ihm die Tatzen auf die Schultern und seufzte und jammerte wie ein Mensch.

Der Fremde sagte zu Stehle, der auch herbeigekommen war:

„Bin froh, daß ich meinen Lux wieder hab’, so versteht keiner das Vieh zu treiben wie der. Im Spätjahr ist er mir auf der Bahn hier abhanden gekommen; ich hatt’ ihn im Wirtshaus an den Tisch gebunden und vergessen. Ich dank’ auch schön für die Nachricht.“

Der Mann ging rasch davon, von dem Hund unter stürmischem Jubelgebell begleitet. Polde sah ihm nach; mit offenem Mund stand er da, die Hände in den Taschen.

„Komm herein!“ rief Frau Stehle, als der Besitzer des verwahrlosten Hundes glücklich mit diesem von dannen gezogen war; ihr Mann trieb den noch immer ganz verdutzten Polde vor sich her in die Küche.

Der Mann war in großer Freude über den Vorfall. „Jetzt ist das arm’ Tier erlöst – das ist schön, das ist schön!“ rief er ein über das andere Mal aus.

Polde war still wie immer.

Frau Stehle sah ihn zornig an; nun saßen sie so nett beisammen in der kleinen blanken Küche, hätten sie sich nun nicht miteinander über das Ereignis freuen können? Aber nein, der Bub’ machte sein altes finsteres Gesicht, aus dem kein Mensch klug zu werden vermochte.

Frau Stehle schob ihm eine Schüssel Kaffee hin. „So, jetzt ist’s aus mit deiner Hundekomödie! was hast nun gehabt für all deine Müh’? Gelt, jetzt hast’s verschmeckt, wie Undank thut?“

Polde sah sie groß an. „Ich hab’ ja gesehe, wie er sich gefreut hat!“

Stehle lachte gutmütig über diese Antwort; die Frau schwieg; sie hatte sich dem Herd zugewendet, so trank sie mechanisch ihren Kaffee.

Vor Stehle stand die rotlackierte Zuckerbüchse mit den goldenen Sternchen; er nahm ein Stück Zucker, warf es dem Buben in die leere Schüssel und schob diese über den Tisch: „Alte, er hat noch Hunger.“

Die Frau schenkte die Tasse voll, der Mann schnitt ein Stück Brot dazu. Der Knabe aß und trank mit der Gier eines Halbverhungerten; immer wieder schob der Mann die Schüssel über den Tisch, und ohne ein Wort zu sprechen, schenkte sie die Frau voll. Eine eigene Stille herrschte in dem engen freundlichen Raum, mit den blinkenden Messinglöffeln an den Wänden und den Schäften voll glänzender Töpfe und Gläser.

Aus Poldes Brust brach sich ein tiefer Seufzer; er sah ganz verwundert drein; jetzt erst wurde er sich’s bewußt; er hatte ja immerfort gegessen, immerfort. – Verlegen schob er seine Schüssel zurück, bald nach Herrn Stehle, bald nach dessen Frau schielend. Plötzlich erhob er sich und schlich wie ein Dieb auf den Zehenspitzen zur Küche hinaus.

Frau Stehle machte sich über das Geschirr her, und der Mann saß noch immer stumm auf seinem Platz. Mit einem Male schlug er mit der Faust auf den Tisch, daß die Tassen tanzten. „Du hast den Bub’ halb verhungern lassen – du, ja, du!“

Wütend sprang er auf und schoß zur Küchenthüre hinaus.

„Bin ich denn seine Mutter,“ schrie ihm die Frau nach, „bin ich denn seine Mutter?“

[89]

Ein Morgen vor der Breslauer Hütte in den Oetzthaler Alpen.
Nach der Natur gezeichnet von M. Zeno Diemer.

[90] Im nächsten Augenblick fuhr es ihr durch den Kopf: Was muß das für eine sein – die will ich mir einmal näher besehn – jawohl!

Zum erstenmal in ihrem Leben konnte Frau Stehle in der Nacht ihren gewohnten Schlaf nicht finden. Bin ich denn krank? fragte sie sich, was hab’ ich nur – warum, ums Himmels willen, ist mir so schrecklich schwer und kurios zu Mut?

Sie warf sich herum, vergrub das Gesicht in ihrem Kissen, sie fing an, laut mit sich selbst zu schelten; es half nichts, die innere Stimme drang durch, die ihr sagte: dies Kind hat dich beschämt – dies Kind hat dich untergekriegt.

Sie fuhr in die Höhe und machte Licht. „Was ist denn los?* fragte die schlaftrunkene Stimme des Mannes.

„Nix,“ gab sie zur Antwort, „’s ist mir nur öd’, ich muß was esse.“ Sie ging in die Küche, stellte das Licht auf den Tisch, setzte sich daneben und fing an zu schluchzen, als ob sie alle die Thränen, die sie in ihrem Leben zu weinen versäumt hatte, in diesem Augenblick nachholen wollte.

Am andern Morgen war sie noch rascher, noch thätiger als sonst; das ging wie der Wirbelwind durch alle Stuben, treppauf, treppab. Der Mann, der sich im Schlafzimmer für die Kirche fertig machen wollte, konnte kaum mit seinem Scheitel zu Streich kommen, weil ihm der Durchzug immer wieder die Haare durcheinander jagte. Er schloß eines der Fenster, und als die Frau herein kam und wieder alles aufreißen wollte, fing er an zu brummen, worauf sie der Nachbarschaft wegen ihr Vorhaben aufgab. Aber es war eine solche Unruhe in ihr, daß sie vor dem Fenster, das sie nicht öffnen durfte, stehen blieb und einen Marsch auf den Scheiben trommelte.

„Ich hab’ einmal einen Eisbär in seinem Käfig ’rumtanze sehe, gerad’ so bist,“ sagte der Gatte, worauf sie miteinander zur Kirche gingen.

Das Christkind lag noch vom Weihnachtsfest her in seinem Kripplein, von hohen dunklen Tannen umgeben, und die Kleinen knieten haufenweis’ auf den Stufen des Altars, dem Jesulein so nahe wie möglich. Just kam die Sonne einmal wieder nach all den häßlichen Regentagen und drang durch die farbigen Fensterscheiben, einen freudigen Glanz über die liebliche Kindergruppe gießend. Der Geistliche auf der Kanzel aber hatte zum Text seiner Predigt den Spruch erwählt: „Lasset die Kindlein zu mir kommen und wehret ihnen nicht!“

Frau Stehle in ihrer Kirchenbank horchte nicht viel hin; sie hatte diese Stunde, in der sie notgedrungen mit müßigen Händen dasitzen mußte, stets dazu angewandt, ihr Wochenrepertoire zu entwerfen: Montag Wäsch’ einseife, Bureauzimmer eins bis sieben; Dienstag Wäsch’, Zimmer acht bis vierzehn –

So hatten ihre Gedanken aus alter Gewohnheit den Weg eingeschlagen, den sie immer zu gehen pflegten, als ihr plötzlich das Bild, das sie die ganze Nacht vor Augen gehabt, wieder einfiel – der Polde, wie er da draußen stand im Regen, zitternd vor Kälte, mit eingebogenen Knieen – so dürftig, so über alle Begriffe dürftig.

Fort damit! – sie fuhr sich mit der Hand übers Gesicht; es kitzelte sie so eigen in der Kehle – weinen, um Gottes willen, was würde man denn in der ganzen Kirche von ihr denken – sie, die heitere, die tüchtige, alleweil redselige Frau Stehle und weinen –

Sie schluckte ein paarmal und lauschte dann mit großer Anstrengung der Predigt, ohne recht zu fassen, was sie hörte. Plötzlich aber schlugen ein paar Worte an ihr Ohr, Worte, die sie schon oft vernommen hatte, ohne sich je etwas dabei zu denken. Es war die Rede Jesu an seine Jünger, in der er sie auf das Beispiel der Kinder verweist: wenn sie nicht würden wie die Kinder, so werde ihnen das Himmelreich verschlossen bleiben. „Und wer ein solches Kind aufnimmt in meinem Namen, der nimmt mich auf.“

Frau Stehle beugte sich vor, die Hände krampfhaft gefaltet, das Gesicht mit Glut übergossen: „Ich – ich – aber lieber Gott, so vergiß doch nit – meine Ordnung, meine Sauberkeit – und was ich leist’, was ich leist’, lieber Gott – auch die Arme; hab’ ich je versäumt, ihne meine alte Sache zu gebe – Sache, die oft noch recht gut ware, und – und –

Aber das Kind,“ unterbrach sie sich plötzlich selber, „ja, das hab’ ich drauße stehe lasse – was das Kind an dem Hund gethan, das hab’ ich nit an dem Kind gethan – Herrgott im Himmel,“ seufzte sie in tiefster Zerknirschung auf, „hab’ ich müsse vierzig Jahre alt werde, eh’ ich mein Christentum verstande hab’!“

Der Gottesdienst war zu Ende. „Geh’ du heim,“ sagte Frau Stehle zu ihrem Manne, „ich mach’ noch einen Besuch.“

Unterwegs kehrte sie in einem Bäckerladen ein und kaufte ein halbes Dutzend Brezeln, dann eilte sie mit ihren festen kurzen Schritten dem östlichen Stadtteil zu, bog in eine enge Gasse mit uralten einstöckigen Häusern und suchte nach einer Nummer; dann trat sie in ein Haus von schmutzig grüner Farbe, das noch vernachlässigter als die übrigen aussah.

Sie klopfte an eine Thüre im dunklen Flur; eine Frau rief Herein und öffnete. Frau Stehle fuhr fast zurück, so erstickend war die Hitze in dem unordentlichen Raum; ein paar ungemachte Betten standen herum, in einem lag ein Kind, vier andere saßen am und auf dem Tisch und vertilgten gebratene Kastanien; auch die Frau hatte den Mund voll; sie trug eine schmutzige Nachtjacke über einem vielfach durchlöcherten Unterrock.

Die Kleinen waren weder gewaschen noch gekämmt und trugen kaum das Nötigste. An den Wänden aber hingen allerlei bunte Röckchen und Mäntelchen, die neu aussahen.

Frau Stehles erstes Wort war, als sie über die Schwelle trat: „In der Luft halt’s kein Mensch aus!“ worauf sie das nächste Fenster aufriß und dann dem Weib erklärte:

„Da bin ich; ich hab’ gedacht: mußt auch einmal dem Polde seine Eltern besuche.“

„Recht schön von Ihne,“ meinte die Frau und schob dem Besuch einen Stuhl hin.

„Hm ja, hm ja,“ sagte Frau Stehle, „es scheint ja alles recht gesund zu sein; den Haufe Kastanie, du meine Güte! Wo ist denn der Polde?“

„Komm emal vor du, hinterm Ofe!“ rief die Frau über ihre Schulter weg.

Der Polde erschien in einem Aufzug, daß Frau Stehle die Hände zusammenschlug. „Aber warum hat er denn ums Himmelswille nit emal am heilige Sonntag seinen gute Anzug an?“

Die Frau lachte: „s’ ist halt noch einer da in seinem Alter; wenn der Polde heim kommt, schlupft der Fritzle nein, gelt du?“ wandte sie sich an den Buben, indem sie ihn ein wenig in die Seite stieß. Er verzog keine Miene.

„Scheint’s, er ist daheim auch nit freundlicher als bei mir?“ meinte Frau Stehle.

„Der,“ lachte das Weib auf, „das ist der echt’ Straßeköter; in der Früh’ geht er fort und nachts kommt er heim.“

„Aber zum Mittagesse ist er doch da?“

„Gott bewahr’, dem ist ja nix gut genug, ich mag noch so oft zu ihm sage: nimm dir, nimm dir; ich sag’ immer zum Mann: laß ihn gehe, der wird wo anders gefüttert.“

Frau Stehle war es ganz heiß geworden; sie gedachte der altbackenen Brotrinden, die der Polde vom Hundefutter genommen hatte.

„Polde,“ sagte sie, den Knaben näher an sich heranziehend, „geh’, sag’ mir die Wahrheit, ich bitt’ dich um alles in der Welt, warum gehst du nit heim zum Mittagesse, wer giebt dir was? du mußt doch hungrig sein?“

Sie fragte, sie flehte, er blieb stumm. Das Weib lachte ohne Unterlaß: „Der und rede – ich sag’ Ihne, Frau Stehle, eher geht die Welt unter, als daß der ’s Maul aufthut, wenn er nit mag.“

Frau Stehle ließ den Knaben los. „Ist Ihr Mann nit daheim?“

„Er holt was zum Mittagesse; Sonntags, wenn er daheim ist, da laß ich mir’s wohl sein. Er hat schon ’s Wasser in Ofe gestellt, da braucht er nur die Würst’ ’nein zu werfe.“

„Das thut bei Ihne der Mann?“ verwunderte sich Frau Stehle.

„Jawohl, und warum denn nit? Ich hab’ eine gute Partie gemacht, ich will mich nit totschaffe; vier bis fünf Mark verdient er im Tag, da kann man sich’s wohl sein lasse.“

„Ja, wenn er aber doch so viel schaffe muß in seinem Beruf, da könne Sie doch nit verlange, daß er auch noch die Arbeit im Haus thut?“

„Verlange thu ich’s nit, aber wenn er heim kommt, so nimmt er mir halt ab, was er kann; das ist doch gescheiter als [91] er geht ins Wirtshaus. Wir sind so vergnügt, wir möchte’s gar nit anders habe. Alle Sonntag Nachmittag kehre wir ein und komme erst in der Nacht heim. Dann legt er mir alle Kinder ins Bett, denn ich bin immer ganz taumelig vom Bier.“

„So!“ Frau Stehle sah ganz verwirrt drein. „Daß es so Männer giebt, merkwürdig!“

Sie holte ihre Düte aus der Manteltasche.

Die Kinder waren mittlerweile mit ihren Kastanien fertig geworden und fingen an, die Mutter mit den Schalen zu bewerfen. Das gab ein lustiges Gelächter; die Frau fing die kleinen Missethäter auf, und hatte sie einen, bedeckte sie ihm das Gesicht mit Küssen. Es war nicht zu verkennen, die Frau liebte ihre Kinder.

Frau Stehle wurde immer kleinlauter. „Die sind doch alle lustig,“ dachte sie, „also liegt’s am Polde.“

Sie hatte die Brezeln auf den Tisch gelegt. „Kommt her, Kinder, und laßt’s euch schmecke, du auch, Polde –“ Er kam.

„Nimm dir, nimm dir,“ ermutigte ihn die Mutter, dabei sah sie ihn an, und da geschah’s – Frau Stehle ertappte diesen Blick und erschrak; der, der sagte ganz was andres als: nimm dir, nimm dir – es war der Blick einer raubgierigen Katze, im Begriff, auf ihr Opfer loszustürzen. Polde, der schon die Hand nach der Brezel ausgestreckt hatte, ließ sie wieder sinken und zog sich in seine Ecke zurück.

Die Frau aber brach in ein unbändiges Gelächter aus.

„Haben Sie jetzt wieder gesehe – undankbarer Strick du! Die andre sind froh um alles, gelt ihr?“

Und flugs teilte sie Poldes Anteil unter die aufjubelnden Kleinen aus.

Frau Stehle aber war alle Farbe aus dem Gesicht gewichen. „Sie,“ sagte sie, die Hand auf den Arm der Frau legend, „der Polde ist nit Ihr Kind, das mache Sie mir nit weis!“

Das Weib sah etwas verblüfft drein, dann kicherte es leise:

„Gelt, halt der Unterschied zwischen ihm und den andern? Ich sag’s immer zum Mann: das muß ja jeder sehe, daß der Grünschnabel nit in die Famill’ gehört.“

„Also ein Kostkind.“

Sie nickte. „Er ist mit meinem Erste aufgezoge; mein Mann hat gar einen gute Name in der Stadt; der Polde hat’s nie gemerkt, daß er nit uns gehört.“

„Aber Sie sage’s ja jetzt vor ihm.“

„Was versteht denn so ein Kind? Sie werde doch nit schon gehe, Frau Stehle, das wär’ mir aber leid; der Mann wird gewiß bald komme, ich werd’ ihn schelte, daß er so lang’ ausbleibt.“

„Ja, wisse Sie, bei uns ist das halt so,“ sagte Frau Stehle, „da kocht die Frau zu Mittag, und der Mann scheltet, wenn die Supp’ nit zur Zeit auf dem Tisch steht.

Polde,“ wandte sie sich im Vorbeigehen an den Buben, „ich hätt’ noch was zu thun für dich heute abend, kannst ruhig in deinem alte Kittel komme, ’s macht nix.“ Sie ging unter lautem Gelächter zur Thür hinaus, sie mußte lachen, um das Schluchzen zu ersticken, das ihr mit Macht zur Kehle heraus wollte.

Mein Gott, mein Gott, auf diesen ihren beiden Armen hätte sie ihn mögen davontragen vor aller Welt Augen –

Sie lief, sie rannte, der Weg zum Schloßplatz wollte heute kein Ende nehmen.

Ihr Mann war nicht zu Haus, noch eine Stunde war’s bis zur Essenszeit; das Feuer im Herd zischte, der Kochlöffel flog von einem Topf in den andern, Frau Stehle redete – mit erhobener Stimme und fliegendem Atem – alles sagte sie, was sie auf dem Herzen hatte, womit sie ihren Mann rühren, überzeugen, erschüttern wollte.

„Aber um Gottes Wille,“ ertönte seine Stimme unter der Küchenthüre, „man meint ja, du hättest mit einem ganzen Regiment Händel!“

Sie setzte die Suppe auf den Tisch. „Stehle,“ platzte sie los, „du weißt nit, was Herzweh ist, aber ich weiß es – der Bub’ hat gehungert seit er auf der Welt ist – das Weib ist nit seine Mutter. Nimm dir, nimm dir – hat sie zu dem Kind gesagt, aber die Auge – die Auge! Da hab’ ich alles gewußt, ’s ganz Elend – alles versteh’ ich – sein verschüchtert’s verstockt’s Wese – sein ganzes Betrage. Ich bitt’ dich um Gottes Wille, wie kannst du von dem Kind verlange, daß es offe sein soll! Vom Hundsfutter hat’s heimlich gegesse, und wir sitze da drin in unserem Küchele und lasse ’s uns schmecke – lasse das Kind da drauße im Rege stehe und sehe zu, wie’s alleweil elender wird und verkommener und –“

„Ja, was willst denn eigentlich,“ unterbrach sie der Mann, „deine Supp’ wird ja ganz kalt!“

„Nit einen Löffel ess ich, eh’s nit ausgemacht ist: wir nehme den Bub’.“

„Nehme?“ fragte Stehle, „ins Haus doch nit – wie soll ich denn das verstehe?“

„Herrjes, wie kann man’s denn anders verstehe? Vater und Mutter wollen wir ihm sein –“

„Jetzt hör’ auf, das geht mir denn doch ein bißle zu weit: ich bin immer dafür gewese, daß du dem Bub’ zu esse giebst; ich bin ein gutmütiger Mann, das weiß die ganz’ Welt, das laß ich mir nit abstreite. Aber so eine Last ins Haus, ein Kind, das einem nit gehört, davon will ich nix wisse, das kann man von keinem Mensche verlange, daß er so mir nix, dir nix sein bißle Behage aufgiebt.“

Frau Stehle ging zum Herd, stellte dem Mann das übrige Essen hin und setzte sich wieder vor ihren Teller Suppe.

„Hast die Predigt angehört, Stehle?“

„Von A bis Z.“

„Und kannst so daher rede? Ich hab’ nur einen Satz gehört, und der hat mich geschüttelt wie Espelaub: das von den Kindlein, und daß wir werde solle wie eins von ihne, und: ,Wer ein solches Kind aufnimmt in meinem Namen, der nimmt mich auf.‘ Gelt, das ist dir zu einem Ohr nein und zum andern naus? Jawohl, Stehle, deine ganze Gutmütigkeit, gleich geht sie spaziere, wenn nur von fern deine Bequemlichkeit auf’m Spiel steht. Der Polde – Mann, ich vertrag’s nit, guck’, ich halt’s nit aus – ’s liegt wie ein Druck auf mir: ein Kind hat mich beschämt – der elend’, der miserabel Polde, wie er steht und geht in seine Lumpe und Fetze, der soll mich untergekriegt habe! Ich bin nit gutmütig, ich weiß, daß ich nit gutmütig bin, aber ich kann nit lebe ohne mei Selbstachtung; ich muß ins Bett liege könne mit dem Gedanke: so recht, Frau Stehle, heut’ hast’s wieder gut gemacht! Sonst kann ich nit schlafe, und wenn ich nit schlafe kann, dann kann ich auch nit schaffe, und dann lieber gleich ins Grab, ja, wahrhaftig, jede Schaufel Erd’ wär’ mir lieber als so ein Lebe! Und jetzt wähl’, Stehle, und gieb doch ein bißle acht, hast schon einen Flecke auf deinen gute Rock gemacht.“ Sie tauchte flugs ein Tuch ins heiße Wasser.

„Du weißt, das kann ich nit leide,“ sagte der Mann, während sie an seinem Flecken herumrieb.

„Und ich kann keinen Fleck sehe.“

„Und willst mit dem Bub’ fertig werde – so ein Schmutzfink? Und ich hab’ geglaubt, du haltst’s nit aus mit so einem verstockten Geschöpf, ich hab’ geglaubt, der Bub’ ist deine Antipathie?“

„Ebe deshalb muß er anders werde.“

„Du hast doch aber die ganz’ Zeit nix mit dem Starrkopf ausgericht?“

„Weil ich’s verkehrt angefange hab’; ich werd’s jetzt mache wie’s der Polde mit dem Hund gemacht hat. Das Kind ist verstockt, das Kind ist verloge und ein Schmierfink obedrein, eins aber hab’ ich raus: ein mitleidig’s Herz hat der Polde, und das ist meine Spekulation. Lasse wir’s auf einen Versuch ankomme, nur um zu sehe, ob ich recht hab’ oder nit – Stehle, ich bitt’ dich um alles in der Welt, nur ein einziges Mal in deinem Lebe gieb nach!“

Er lachte laut auf und sagte weiter nichts als: „Du lieber Gott im Himmel!“

Sie fing sofort an zu essen, kaum sich Zeit zum Schlucken gönnend, so unaufhaltsam drängten sich ihr die Worte über die Lippen:

„Vor alle Dinge – den will ich aber einseife! Gelt, Stehle, du holst mir den große Kessel aus der Waschküch’ rauf? Derweil zieh’ ich ’s Bett an im Bubezimmer – jetzt kommt’s doch auch noch dran! Dein dunkelgraue Rock und die alte Hose kann ich gerad’ noch zuschneide und zu Fade schlage, bis der Polde kommt – in der Nacht näh’ ich’s dann fertig; unser Herrgott wird ein Aug’ zudrücke wege ’m Sonntag, eine Ehr’ ist die andre wert. Und morge gehe wir gleich auf die Polizei und spreche mit dene [92] Herre; ich will’s ihne aber sage, da muß besser aufgepaßt werde in Zukunft, so Mannsleut’ –“

Sie horchte plötzlich auf; draußen fuhr der Polde in seine Schlappen; im nächsten Augenblick trat er über die Schwelle. Ganz still stand er da und wartete auf den Befehl, den man ihm geben würde. Frau Stehle warf einen kurzen Blick auf ihren Mann, dann preßte sie plötzlich die Küchenschürze gegen das Gesicht und fing an wie von Sinnen drauf los zu schluchzen.

Herr Stehle sah sie ein wenig überrascht an, mit einem Male schien ihm ein Verständnis zu kommen, denn sein Blick suchte das Kind, das mit großen Augen dastand, starr vor Erstaunen. Frau Stehle, die allezeit wohlgemute, laute, heftige Frau Stehle, die ihn immer so streng ansah und vor der er sich so sehr fürchtete, da saß sie und weinte in ihre Schürze.

Dem Polde krampfte es die Kehle zusammen; schüchtern trat er einen Schritt näher, dann noch einen; er stand jetzt dicht vor der Weinenden, deren Kopf er plötzlich in heller Seelenangst umfaßte: „Frau Stehle, Frau Stehle, warum weine Sie denn?“

Da zog sie die Schürze weg, und er sah in ihr lachendes, in Thränen gebadetes Gesicht. „Weil mir unser Herrgott ein Kind geschenkt hat – dich, ja, dich, du arm’s, verstockt’s, schmutzig’s, ausgehungert’s Würmle du! Aber wart’ nur, jetzt wolle wir dir’s Mägele stopfe – und vor alle Dinge –“ sie riß ihm den Rock vom Leibe, „’s Best vom Lebe, Sauberkeit sollst kenne lerne –“


Was kosten die Menagerietiere?

Ja, was kostet wohl ein schneidiger Löwe, ein anständiges, ausgewachsenes Krokodil oder sonst eine über die gewöhnlichen Haustierkreise bedeutend erhabene Bestie? – Wir halten dafür, daß diese Frage füglich in einem Familienblatte erörtert zu werden verdient. Denn daß sie in vollem Ernste an den „Haushaltungsvorstand“ herantreten kann, dafür läßt sich der Beleg leicht bringen.

Einer der Berliner Romane Paul Lindaus, „Die Gehilfin“, Buch 3, Kap. II, Seite 94 ff., schildert die eintretende Verstimmung am häuslichen Herde des jungen Bildhauers Victor Ellers, als dieser den lebhaften Wunsch äußert, sich einen jungen Löwen anzuschaffen: Solange das Ding klein sei, mache es furchtbaren Spaß im Atelier; nachher könne es als Modell für die Löwenbraut dienen. Aber der bis dahin stets so freigebige Schwiegervater Großkaufmann Donnsdorf schüttelt traurig den Kopf. Er hat so große Verluste erlitten, daß seine Mittel die Anschaffung nicht mehr erlauben, also Victor in dieser Beziehung sich Entbehrungen auferlegen muß.

Romane spiegeln die Wirklichkeit, freilich nicht immer ganz getreu. Wenn beispielsweise einer unserer bessergestellten Leser ähnliche Anschaffungspläne hegen sollte, so könnte er sich des alten, aber auch gegenwärtig noch vielgelesenen Holteischen Romans „Die Vagabunden“ erinnern. Dort, in Kap. XXIX, geht die gänzlich abgebrannte, zum Glück noch sehr begüterte Menageriebesitzerin Madame Simonelli nach London, um daselbst den lebenden Besitzstand einer neuen Tierbude anzuschaffen. Für 100000 Franken „kann sie den halben Tower auskaufen“.

So war es in früherer Zeit. Heutzutage hebt sich die Brust jedes guten Deutschen höher, wenn er auf die vielen Handelsbahnen blickt, auf denen deutsche Tüchtigkeit den stolzen Briten den Rang abzulaufen verstanden hat, und das ist auch auf dem Gebiete des Handels mit Menagerietieren der Fall. Tower: überwundener Standpunkt! Auch sind die welschen Franken oder die englischen Sovereigns längst nicht mehr die übliche Währung dieses Zweiges. In biederen deutschen Mark sind die Preisverzeichnisse des weltbekannten Tierparks von Carl Hagenbeck in Hamburg ausgestellt, und auf den kühnen Gedanken, den „Hagenpark“ (so lautet seine Telegrammadresse) mit kläglichen 100000 Franken „auskaufen“ zu wollen, würde keine heutige Madame Simonelli mehr kommen.

Aber keine Abschweifung! Bezweckt doch diese Plauderei, den Leser über die Preise der fremden Tiere, die er so oft anstaunt und bewundert, einigermaßen zu unterrichten. Der vorhin erwähnte junge Bildhauer hatte sich gar nicht so gewaltige Dinge in den Kopf gesetzt; für etwa 1000 bis 1600 Mark hätte ihm der Schwiegervater sogar schon einen ausgewachsenen Löwen oder Tiger leisten können, und ein eben erst entwöhnter Löwe wäre schon für einige hundert Mark zu haben. Was diese sehr gangbare Ware anbelangt, so machen die Zoologischen Gärten aller Völker dem „Hagenpark“ und anderen Tierhandlungen einen recht lebhaften Wettbewerb, denn der „König der Tiere“ führt gewöhnlich auch in der Gefangenschaft ein gemütvolles und mit Elternfreuden reich gesegnetes Familienleben. Es bedarf daher nur einer Anzahl brieflicher Anfragen an solche Anstalten, um eine reiche Auswahl von Anerbietungen zu beschaffen. Solche „Kleinigkeiten“ kauft man also unter der Hand ebenso gut und billig, ja möglichenfalls noch vorteilhafter als bei Hagenbeck.

Wer sich aber etwas Gediegenes und Großartiges anschaffen will, den müssen wir doch auf die genannte Hauptbezugsquelle verweisen, die hierin an Auswahl wirklich unübertroffen dasteht. Namentlich verdienen die vielen Gruppen, die Hagenbeck ausbietet, unsere Beachtung. Da greifen wir hinein in das volle Tierleben. Die „Gruppe 6“ des Katalogs zählt noch zu den billigen Sorten. Zu ihr gehören: 3 männliche Löwen „Max“ „Lolo“, „Philipp“, je 1½ Jahr, als Altersgenossin 1 weiblicher Tiger „Henny“, ferner 1 weiblicher Puma „Kitty“, 3 Jahre; 1 dreijähriges Kragenbären-Ehepaar „Harry“ und „Jette“, ferner (noch unbenannt) 2 zweijährige Kragenbären, 2 einjährige Eisbären, 2 einjährige „importierte“ Somali-Löwinnen und endlich 2 Ulmer Doggen. Diese Gesamtheit, laut Preisverzeichnis „als glückliche Familie zusammenlebend“, kostet nur 16000 Mark, und zwar: „alle Angebote und vorbehaltlich des Freiseins: Preise inkl. Verpackung loco Hamburg; Versand: Risiko des Empfängers.“

Eine besondere Gattung bilden Gruppen bereits zu Kunststücken dressierter Tiere; so ist z. B. ein reitender „Tiger zu Pferde“, mit Käfig und Centralkäfig, sowie Rotschimmel und Dogge, schon für 10000 Mark zu haben. Größere, vielseitig zusammengesetzte und zu eleganten „Tricks“ abgerichtete Tiergruppen kosten 25000, 30000, 40000, 50000 Mark und mehr; die teuerste Nummer umfaßt 5 Löwen, 3 asiatische Tiger, 1 Leoparden, 1 Eisbären, 1 Kragenbären, 4 Ulmer Doggen und kostet 55000 Mark, einschließlich Centralkäfig von 10 m Durchmesser und sonstigem Beiwerk.

Zu den originellsten Angeboten zählt ein sogenanntes Eismeerpanorama; Preis einschließlich Zeichnungen und Ausstellungsrecht 16000 bis 50000 Mark; für letztgenannten Preis erhält man 11 Eisbären, 3 Seelöwen, 15 Seehunde, 8 Kormorane, 40 verschiedene Möwen und eine passende Scenerie.

Gemütlichere Tiere als Löwen, Tiger u. dergl. Gelichter enthält Gruppe 10, denn sie besteht aus 4 weiblichen indischen Elefanten, „Rosa“, „Toni“, „Nelly“, „Petit“, also Pflanzenfressern ersten Ranges. Freilich gehören 3 Windhunde dazu, doch diese Tierchen füttert man bekanntlich ganz gut mit Zwieback. Der Preis ist 30000 Mark, einschließlich Zubehör, denn auch diese zarten Wesen sind abgerichtet.

Selbst mit Gruppen von Vögeln kann der Kauflustige bedient werden. Eine solche bilden gelbflügelige, sowie blaue gelbbrüstige und Hyazinth-Araras, Nasen-, gelbhaubige und Molukken-Kakadus, zusammen 17 Stück; sie sind niedlich dressiert, fressen auch bedeutend weniger als die Elefanten und bringen nicht so unangenehme Kratz- und Bißwunden bei wie Löwen oder Tiger, also für den geringen Preis von 6000 Mark geradezu gefunden!

Was nun die Preise für einzelne Tiere und Vögel anbelangt, so sind sie zum Teil derart bemessen, daß auch ein besser gestellter Privatmann an eine Anschaffung denken kann. Ein Steinadler (40 Mark) oder ein australischer Keilschwanzadler (60 Mark) würden sich gewiß in einer Gartenvoliere recht vornehm ausnehmen. Südamerikanische Zwergfalken (Paar 40 Mark), Pondicherrygeier (Paar 200 Mark), der westafrikanische Angolageier (nur 25 Mark) könnten dort gleichfalls zur Zierde gereichen. – Der teuerste Affe, den man sich kaufen kann, ist der Chimpanse (Stück 800 Mark), der billigste der kleine Hamadryas (Stück 25 bis 40 Mark). Papageien dürften in jeder Großstadt käuflich sein; die teuersten Sorten Hagenbecks kosten 250 Mark das Stück.

Für gewichtigere Tiere werden naturgemäß auch höhere Preise gefordert. Ein weibliches sechsjähriges Nilpferd kostet z. B. das runde Sümmchen von 18000 Mark; billiger, jedoch gleichfalls sehr ansehnlich, ist ein siebenjähriges Rhinoceros, Männchen, 12000 Mark. Elefanten, 4 bis 8 Fuß hoch, kommen auf 5500 bis 10000 Mark zu stehen, ein netter südamerikanischer Tapir läßt sich schon für 800 Mark erwerben.

Die Preise für einzelne Tiere sind naturgemäß je nach deren Alter und Aussehen verschieden bemessen. So werden für Känguruhs 200 bis 1200 Mark gefordert, für Leoparden, Panther und Jaguare 600 bis 3000 Mark, für Antilopen 500 bis 2500 Mark. Besonders teuer sind die Giraffen (4500 Mark), Zebras (2500 Mark); für den letzteren Preis kann man schon ein Paar Bisons erhalten. Kamele kosten durchschnittlich 650 Mark, Lamas 1200 Mark das Paar. Junge braune Bären sind schon für 125 Mark zu haben, Wölfe für 100 Mark und Hyänen für 300 Mark.

Anch Alligatoren stehen auf der Preisliste; sie werden in der Länge von 2 bis 10 Fuß ausgeboten und kosten 20 bis 350 Mark das Stück; ebenso ist kein Mangel an Riesenschlangen, sie sind in Längen von 8 bis 23 Fuß vertreten und mit 100 bis 2000 Mark bewertet. Uebrigens kaufmännisch gesprochen: alle Preise ohne unsere Verbindlichkeit! Und nun genug der Beispiele; weitere Zahlen dürften unsere Leser ermüden. Den Damen, die hübsche Hutfedern so gern haben, sei nur noch mitgeteilt, daß ein Somalistrauß für 600 Mark und einer vom Senegal mit 700 Mark verkauft wird.

Manchen unserer Leser dürfte es wunder nehmen, wenn wir noch erwähnen, daß Hamburgs Ausfuhr von Menagerietieren nach Amerika besonders hohen Umfang erreicht hat. Ueberall „drüben“, besonders in Südamerika, werden Zoologische Gärten angelegt, und Hamburg als Mittelpunkt des Menageriemarktes versorgt diese Anstalten mit den wilden Tieren aller Zonen. G. Kopal.     


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Berühmte Tänze der Vorzeit.

Von Alexius Becker.0 Mit Illustrationen von Fritz Bergen.

Wenn unsere Urgroßeltern einen modernen Tanzsaal beträten, wären sie wahrscheinlich sehr verwundert über die Veränderung, die stattgefunden, seit sie selber im glücklichen Frohsinn der Jugend nach den Klängen der Musik sich gewiegt und gekreiselt haben. Vor allem würden sie eine ganze Reihe von Tänzen vermissen, die ehemals auf keinem Balle fehlen durften. Das gilt besonders von der Allemande, dem buntbewegten Tourentanz unserer Altvordern, der noch zu Beginn dieses Jahrhunderts eine hervorragende Rolle bei den Vergnügungen aller Stände spielte. Zugleich bildet dieser Tanz in kultureller Hinsicht eine der interessantesten Erscheinungen auf dem gesamten Gebiete der Choreographie, d. h. der Tanzkunde. Zuerst in die eigentliche Geschichte trat die Allemande in jener für Deutschland so verhängnisvollen Epoche, als das Elsaß unter der Regierung Ludwigs XIV an Frankreich verloren ging. In ihrer charakteristischen Eigenart, jenem langsamen Schleifschritt, der unter einem ganz bestimmten Rhythmus ausgeführt wurde, darf sie jedoch wahrscheinlich als ältester und einziger Nationaltanz der Deutschen angesehen werden. Während nämlich der Körper, leicht gestützt auf die Spitze des einen Fußes, die Drehung vollführt, zeichnet die des anderen in anmutiger Wellenform einen Halbkreis auf den Fußboden. Kurzum: es ist im allgemeinen dieselbe Tanzform, die augenblicklich der Walzer zeigt, noch ursprünglicher jedoch sein nächster Verwandter oder vielmehr sein Vorgänger auf choreographischem Gebiete, der Ländler. Jedem dieser drei Tänze ist der charakteristische Schleifschritt eigen, das sicherste Merkmal der germanischen Tanzform.

Ebenso bestimmt hat die Allemande auch schon sehr frühzeitig die Aufmerksamkeit anderer Völker erregt und Eingang bei ihnen gefunden. In seinem Roman „Dorothea“ erwähnt Lope de Vega ganz ausdrücklich einen Tanz, der bei seinen spanischen Landsleuten Allemanda hieß und ehemals dort sehr beliebt war. Auch in Italien, der Heimat der wilden, heißblütigen Tänze, war die Allemanda bekannt und beliebt. Das behagliche Sichwiegen und Dahinschweben, der anmutige Schleifschritt des germanischen Tanzes: all das gefiel in so hohem Maße, daß Gagliarda und Tarantella, diese alten Volkstänze der Italiener, eine Zeit lang völlig zurückgedrängt wurden. Sogar eine bildliche Darstellung, die, abgesehen von ihrem ehrwürdigen Alter, von hohem künstlerischen Wert ist, hat sich gerade in Italien erhalten. Denn das Deckengemälde in der Incoronata zu Neapel, das Giotto, der große Meister aus Florenz, einst malte, stellt nach der Ueberzeugung choreographischer Sachverständiger im Grunde nichts weiter dar als einen „Schreit- oder Schleiftanz“, die aus Deutschland eingeführte Allemanda.

Wenn auch räumlich getrennt, wurde dieser deutsche Tanzschritt sowohl an der Donau wie auch am Rheine ohne wesentlichen Unterschied bei den Belustigungen des Volkes ausgeführt. Genau so wie der Aelpler in den Thälern der grünen Steiermark seinen Ländler tanzte, drehte beim Kirchweihfest und in den Tagen der Weinlese der elsässische Bursche die Maid unter der Linde im Dorfe oder auf der Rasenfläche des Angers. Unscheinbar, kaum gekannt, lebten beide Tänze ihr Dornröschendasein dahin. Zuerst ward der elsässische Brudertanz diesem entrissen. Als Ludwig XIV das Elsaß unter seine Botmäßigkeit gebracht hatte, erhielt er Kunde von einem gar manierlichen und graziösen Tanze, der dort seit uralter Zeit zu Hause sei. Sowohl von den französischen Tänzen mit ihrem gekünstelten Schrittmaß, wie auch von den italienischen mit ihrer unbändigen Wildheit unterscheide er sich ganz augenfällig. Er nehme sich gemächlich aus, ohne schläfrig, fröhlich, ohne übermütig zu sein. Dabei verleihe er dem tanzenden Paare eine Anmut, die nicht leicht wieder bei einem anderen Tanze angetroffen werde. Dadurch war das Interesse Ludwigs in hohem Maße wachgerufen. Selber ein vorzüglicher Tänzer und zugleich so eitel, daß er es nicht verschmähte, in Balletten mitzuwirken, um nur ja in seiner Fußfertigkeit bewundert zu werden, ließ er ein elsässisches Tänzerpaar nach Versailles kommen, eigens zu dem Zwecke, daß es den Tanz der Heimat vor ihm aufführe. Bei jedem Schritt, bei jeder Drehung stieg seine Bewunderung. Er war entzückt; er konnte sich nicht satt sehen. Die Schilderung, die man ihm entworfen, blieb noch weit hinter der Wirklichkeit zurück. Bald war die Allemande der Favorittanz bei den glänzenden Festlichkeiten, die am Hofe des „Sonnenkönigs“ in Versailles stattfanden. Von hier aus trat sie dann ihren Siegeszug über die gesamte Welt an. Anfänglich im Zweivierteltakt gehalten, wurde sie späterhin meistens nur im Dreivierteltakt getanzt. Freilich, die Frische und Natürlichkeit der Heimat büßte sie ein von dem Augenblicke an, da sie von französischen Tanzmeistern ihr neues höfisches Gewand erhielt. Allein selbst in diesem prunkhaften Aufputz blieb sie anmutig und schön. Dabei war sie sehr schwer zu tanzen, schon wegen des Schleifschritts, der bald vorwärts, bald zurück ausgeführt wurde. Die Touren selber waren einfach, aber die Haltung, die der Körper einzunehmen hatte, sowie die Wendungen und Verschlingungen der tanzenden Paare erheischten neben einer großen angeborenen Grazie noch die fleißigsten Uebungen. Die Tanzenden standen paarweise oder im Kreise hintereinander oder schließlich derart, daß sich immer zwei Herren, jeder zwischen zwei Damen, einander gegenüber befanden.

Allemande. (Mitte des XVIII. Jahrhunderts.)
Allemande.
(Mitte des XVIII. Jahrhunderts.)

Eine Meisterin in der Allemande war die Kaiserin Josephine. Sie liebte diesen Tanz so leidenschaftlich, daß er, so oft sie das Theater besuchte, ihr zu Gefallen in jedem Zwischenakt auf der Bühne dargestellt wurde. Von dem Augenblicke an, da Bonaparte sich von ihr scheiden ließ, war es jedoch auch mit der Herrschaft der Allemande zu Ende. Sie geriet immer mehr in Vergessenheit; man kannte sie nachgerade nur noch dem Namen nach. Am längsten hielt sie sich in Deutschland, wo sie, als Tourentanz mit Gesang, in bürgerlichen Kreisen kleinerer Städte bei Familienfestlichkeiten von Zeit zu Zeit aus der choreographischen Rumpelkammer hervorgesucht und dann von älteren Leuten, in Erinnerung an die Tage der glücklichen Jugend, vor den staunenden Blicken der Kinder und Kindeskinder zur kurzlebigen Auferstehung gebracht [94] wurde. Der Schritt selber aber ist uns im Walzer erhalten, dem König aller modernen Tänze. Wenn also Johann Strauß, der berühmte Komponist der Walzermelodien, den ihm zugeschriebenen Vorsatz, diesen Tanz auszubauen und durch Touren zu erweitern, in Ausführung bringen sollte, so würde das, was auf diese Weise entsteht, im Grunde nichts weiter sein als unsere alte, längst vergessene Allemande.

Gavotte zu Anfang des XIX. Jahrhunderts.

Als diese an den Hof von Versailles gelangte, mußte sie, um die spätere Beliebtheit zu erringen, vorerst einen sehr harten Kampf bestehen. Denn es handelte sich darum, ein Feld zu erobern, das von zwei mächtigen Nebenbuhlerinnen, Gavotte und Menuett, geradezu souverän beherrscht wurde. Der ältere dieser beiden Tänze, die Gavotte, durfte gleichfalls auf eine ehrwürdige Vergangenheit zurückblicken. Er hatte sich aus der alten Schrittweise entwickelt, nach welcher sich die Bewohner der Dauphiné bei ihren ländlichen Festen belustigten. Jehan Tabouret, Domherr zu Langres, ein großer Kenner und Verehrer der fröhlichen Kunst der Terpsichore, sah zufällig diesen Tanz und war davon so begeistert, daß er sofort das Lob desselben in allen Tonarten sang. In einem Werke, das er im Jahre 1588 veröffentlichte, schildert er die Gavotte aufs ausführlichste und weist ihr einen hervorragenden Platz unter sämtlichen Tänzen jener Epoche an. Das Werk ist betitelt: „Orchesographie oder Abhandlung in Form von Gesprächen, durch welche alle Personen die ehrbare Ausübung des Tanzes leicht erlernen können“; es hat nicht wenig dazu beigetragen, der Gavotte die Pfade zu dem Weltruf zu ebnen, den sie gleich nachher errungen. Binnen kurzem ist sie schon der Lieblingstanz des französischen Hofes, und Katharina von Medici, selber eine leidenschaftliche Tänzerin und von großem Verständnis für das bunte, bewegte Spiel auf dem glatten Boden des Ballsaals, räumt diesem bisherigen Bauerntanz sofort einen Platz ein neben Gigue und Passamezzo, Branle und Pavane, den damals so berühmten höfischen Tänzen.

Fast zu derselben Zeit dürfte auch das Menuett bekannt geworden sein, gleichfalls bisher die choreographische Belustigung der Bevölkerung einer französischen Provinz. Sein Ursprung läßt sich in Bezug auf die Zeit nicht genau ermitteln, doch steht fest, daß es aus dem Poitou stammt und dort nach den eintönigen Klängen der Sackpfeife aufgeführt wurde. War die Gavotte lebhaft, frisch, mit entschiedener Prägung der Figuren und scharfer Charakterisierung des Schrittes, so gewährte dafür das Menuett in seiner Vollendung wohl die höchste Anmut, die jemals beim Tanze zu erreichen ist. Seinen Namen hat es wahrscheinlich von dem altfranzösischen Worte „menu“, das aus dem lateinischen „minutus“ abgeleitet ist und klein, niedlich, zierlich bedeutet. Getanzt wurde es schon am Hofe Katharinas von Medici, allein seine eigentliche Blütezeit gehört einer späteren Epoche an. Nach dem Ausspruche großer Choreographen war es so schwer, „daß man das ganze Leben hindurch studieren müsse, um es zu erlernen“.

Der berühmte Marcel gewann einen Weltruf durch die Art und Weise, wie er das Menuett lehrte. Lord Chesterfield schickte seinen Sohn eigens nach Paris, damit er diesen Unterricht genieße; er sagt in seinen Briefen, daß ihm ein gutes Menuett mit dem Anstand und den Manieren, die sich der Körper bei diesem entzückenden Tanze anzueignen vermöge, einen größeren Nutzen bringe als Aristoteles und alle Staatskanzleien Europas zusammengenommen. Für die Verneigungen allein, mit denen Marcel das Menuett ausstattete, ließ er sich dreihundert Franken bezahlen. Bisweilen starrte er, versunken in die Schönheiten des Tanzes, vor sich hin, bis er plötzlich zu erwachen schien und dann mit Begeisterung ausrief: „Was liegt nicht in einem Menuett!“ Er gab ihm auch die Form, nach der es von Ludwig XIV und seinen Damen getanzt wurde, während von Lully, dem großen Schöpfer der französischen Oper, aus dem Jahre 1663 die erste Komposition herrührt, die musikalischen Wert beanspruchen darf.

Wir lassen sie hier folgen:




Beide Tänze, Gavotte und Menuett, erhalten sich nun in der Gunst der tanzenden Welt. Zuerst Nebenbuhlerinnen, wurden sie später in der Gesellschaft fast immer gleichzeitig aufgeführt, indem man auf die scharf ausgeprägte Würde, die in der Gavotte liegt, das Menuett mit seiner entzückenden Anmut folgen ließ. Beide Tänze erlebten im Laufe der Jahrhunderte eine überaus große Menge von Variationen; allein keine Gavotte war so beliebt wie diejenige, die der große Tänzer Vestris am Hofe Ludwigs XV lehrte, kein Menuett so schön, kunstvoll und schwierig wie jenes, das der nicht minder berühmte Tanzlehrer Gardel zur Feier der Vermählung des späteren Ludwig XVI mit Marie Antoinette variiert hatte und welches dieser zu Ehren „Menuet de la reine[95] genannt wurde. Beide Tänze wurden durch die Stürme der Revolution hinweggefegt. Sie erinnerten durch ihre Herkunft wie ihre Geschichte zu lebhaft an das verhaßte Königtum.

Napoleon I suchte wenigstens die Gavotte wieder einzuführen. Jedoch die verhältnismäßig kurze Zeit, da man sie nicht getanzt, hatte schon genügt, sie in Vergessenheit zu bringen. Die Gesellschaft am Hofe des ersten Kaiserreiches besaß nicht die große Uebung, die nötig war, um einem so schwierigen Tanz auch nur annähernd gerecht zu werden. Das Menuett feierte bekanntlich erst jüngst seine Auferstehung in Berlin auf den Hofbällen. Die Gavotte aber harrt noch immer, daß ein gleich günstiges Geschick ihr gleichfalls die Stellung zurückgiebt, welche ihr mit nicht minderem Rechte gebührt.


Menuett.
(XVIII. Jahrhundert.)

Einer kaum geringeren Beliebtheit erfreute sich die Sarabande, ein Tanz, dessen Heimat Spanien ist und der sowohl in Rhythmus wie auch in Schrittweise durchaus an einen südlichen Ursprung gemahnt. Czerwinski verlegt die Zeit seiner Entstehung in das Jahr 1588. Ein wilder, unbändiger Charakter haftete der Sarabande in der That an; später wurde derselbe außerdem noch unsittlich und zügellos. Das verhinderte jedoch keineswegs ihre Verbreitung, und einige Jahrzehnte, nachdem sie in die Geschichte getreten, wird sie bereits über die Grenzen Spaniens hinaus überall getanzt. Die Sittenrichter jener Zeit fällen ein überaus hartes Urteil über die Sarabande; man warf ihr vor, daß sie noch mehr Unheil angerichtet habe als der schwarze Tod mit allen seinen Schrecken. So gelangte sie auch nach Frankreich, wo sie trotz dieser wenig geziemenden Eigenschaften sofort den Tänzen des Hofes angereiht wurde. Sie wurde der Lieblingstanz Frankreichs und drang von dort aus nach Wien, an die deutschen Fürstenhöfe und vor allem in die Niederlande. Die nahe Beziehung zu Gavotte und Menuett, diesen beiden wichtigsten Schöpfungen der gleichzeitigen Tanzkunst, konnte denn auch nicht ohne bessernden Einfluß auf die Sarabande bleiben. So streifte sie denn allmählich das anstößige Wesen ab, behielt aber den frischen, temperamentvollen Charakter. Nachgerade wurde dieser sogar edel und ernst, voll Würde und Majestät, und es hat Choreographen gegeben, welche ihr nach dieser Umgestaltung sogar den Vorrang vor Gavotte und Menuett einräumten. Als vorzüglichste Sarabandetänzerin galt Rinon de l’Enclos. Ganz Paris schwärmte für diese ebenso schöne wie geistvolle Courtisane, als sie sich im Jahre 1603 dazu verstand, öffentlich die Sarabande aufzuführen. Mit Ernst und Hoheit zeichnete sie die Figuren auf den Fußboden, die Castagnetten in den schönen Händen, während sich der Körper elastisch im langsamen Dreivierteltakt hob und senkte, vorwärts neigte oder eine Drehung vollführte. Wie die Choreographen jener Zeit überhaupt bestrebt waren, jedem Tanz einen bestimmten Charakter beizumessen, so wollten sie in dieser Sarabande in ihrer veredelten Form die mimisch dargestellte Ehrsucht erblicken. Auch auf der Bühne, in den Balletten, die zur Belustigung des französischen Hofes und seiner Gesellschaft aufgeführt wurden, durfte die Sarabande niemals fehlen.


Sarabande in holländischer Form
(Anfang des XVIII. Jahrhunderts.)

Zumal Pécour, gleichfalls einer der großen Tanzkünstler dieser Epoche, wurde wegen der Meisterschaft bewundert, mit welcher er die Sarabande zu interpretieren verstand. Er trug dabei eine mächtige Allongeperücke, deren Mehlstaub auf ihn bei jedem lebhafteren Pas wie feiner Regen herniederrieselte und ihn für den Augenblick mit einer Wolke umhüllte. In dem Bestreben der französischen Tanzgelehrten, der von ihnen geradezu verhätschelten Sarabande stets mehr Grandezza und Pomp aufzupfropfen, fing diese allmählich an, zu verknöchern. Sie wurde manieriert und langweilig.

Viel gefälliger nahm sich die Form aus, in welcher dieser Tanz sich bei andern Völkern erhielt. In Deutschland ließ man ihm vorwiegend die Würde und den Ernst, die ihm auf dem Wege über Frankreich eingeimpft worden waren. Heiterer nahm sich der Tanz in den Niederlanden aus, wo er gleichfalls zum festen Bestandteil in den Belustigungen sämtlicher Volksschichten wurde. Man tanzte die Sarabande überall, zu jeder Zeit, mit einer Gewandtheit und einem Eifer, die kaum noch der Steigerung fähig waren. Unser Bild zeigt eine Darstellung der Sarabande in der Form, wie sie sich im XVIII. Jahrhundert in den Niederlanden herausgebildet hatte.

Während man sich noch bei Hofe, die Damen im Reifrock, die Herren unter einem Ungeheuer von Perücke, in der Schrittweise der Sarabande abmühte, belustigte sich das Volk bereits an einem neuen Tanze. Er war aus England gekommen, wo er als „Countrydance“, also ländlicher Tanz, gleichfalls hauptsächlich die Belustigung weiterer Volksschichten bildete. Das Tempo war schnell, der Schritt hüpfend, im vollkommenen Gegensatz zu den Tänzen, die damals die Gunst der Mode genossen. Allein vielleicht gerade deshalb fand man ein solches Gefallen an dem englischen Fremdling. Man war eben der Grazie und Grandezza, die so oft in Manieriertheit und Langweile ausarteten, müde geworden; man sehnte sich nach frischem pulsierenden Leben, nach Bewegungen, die der Natur abgelauscht waren. Der erste Kontertanz soll im Jahre 1710 zu Paris aufgeführt worden sein. [96] Der Name ist wahrscheinlich aus einer Verballhornung von Countrydance entstanden, allein er paßte vollkommen für die Gestalt, die der neue Tanz in Frankreich erhielt, weil hier das „Gegenüber“ eine Hauptrolle spielt. In seiner ursprünglichen Gestalt ein Kolonnentanz, erhielt er jetzt nämlich sehr schnell die Form der Quadrille. So dringt er siegreich in immer weitere Kreise der Gesellschaft, bis er schließlich sogar hoffähig wird. Im Jahre 1745 flicht ihn Rameau nämlich als „divertissement“ in sein Ballett „Les fêtes de Polymnie“ ein und erzielt damit einen Beifall, der entscheidend ward für die Weiterentwicklung dieses Tanzes. Die gesamte Regierungszeit Ludwigs XV wird nunmehr von ihm beherrscht.


Aelterer Kontertanz.
(Anfang des XVIII. Jahrhunderts.)


Auf dem Boden, unter welchem bereits die Revolution ihren vulkanischen Herd hat, belustigt man sich in den Figuren des Kontertanzes. Er sieht die Bastille in Trümmer sinken, man spielt ihn unter dem Gejohle der Menge, während Ludwig XVI und Marie Antoinette auf dem Schafott enden. Er ist recht und schlecht der Tanz der Revolution; er überdauert sie auch und weiß sich selbst während des ersten Kaiserreichs, wo man so gern mit den Allüren des Königtums kokettierte und diese wieder einzuführen sich bemühte, in Ansehen zu erhalten. Allerdings büßt er auch seinen ursprünglichen Charakter allmählich ein. Das Tempo ist langsamer geworden, der Hüpfschritt einem zierlicheren Pas gewichen. Vor allem aber hat er durch die Quadrillenform die Umgestaltung erfahren, deren es bedurfte, um ihm die Gunst der tanzenden Menge zu bewahren. Denn dadurch wurde es möglich, ihn in Touren zu zerlegen und somit jene Mannigfaltigkeit der Figuren herbeizuführen, die noch heute dem Kontertanz einen so hohen gesellschaftlichen Wert sichern. Kontertanz und Quadrille sind nunmehr choreographisch kaum noch auseinanderzuhalten. Sie gehen ineinander über, sie ergänzen sich; sie tauschen ihre Figuren aus, ja werden hier und dort in der Benennung miteinander verwechselt. Das sollte jedoch vermieden werden: Kontertanz und Quadrille verhalten sich zu einander wie Inhalt und Form, wie Kern und Hülle. In einigen Gegenden nennt man den Kontertanz sogar schlechtweg Quadrille francaise, im Gegensatz zu den vielen anderen Quadrillen, die gleichfalls im Laufe der Zeit entstanden sind. Die bekannteste derselben ist jedenfalls die Quadrille à la cour oder, wie sie ursprünglich und eigentlich heißt: die Quadrille des Lanciers. Sie wurde zuerst 1856 in Paris von Laborde gelehrt, als Nachahmung eines altenglischen Tanzes. Kaiserin Eugenie, damals auf dem Gipfel ihrer Macht und eine große Bewundrerin der Tanzkunst überhaupt, war entzückt. Einen ganzen Winter hindurch bildete diese Quadrille des Lanciers die fast ausschließliche Belustigung des Hofes und der Aristokratie. Im Hotel Castellane wurde sie sogar einmal von sechzehn wirklichen Ulanenoffizieren getanzt, die man, da ein solches Regiment nicht in Paris in Garnison lag, zu diesem Zwecke eigens aus Fontainebleau hatte kommen lassen. In Berlin wurde sie in etwas veränderter Gestalt als Quadrille à la cour aufgeführt, zuerst auf einem Balle, den die Mitglieder des Corps de Ballet veranstalteten, um dann von hier aus weiter den Weg in die Gesellschaft zu nehmen.


Quadrille des Lanciers
(Erstes Drittel des XIX. Jahrhunderts.)


Auch der Kontertanz in der jetzt allgemein üblichen Gestalt stammt aus Berlin. Im Jahre 1821 fand im Hohenzollernschlosse ein Hofball statt, wo man ihn in Touren tanzte, die sowohl durch die Schrittweise als auch durch das Arrangement der Figuren den allergrößten Beifall fanden. Lauchery, der Ballettmeister der Hofoper, veröffentlichte dann bald darauf diesen Kontertanz in Beckers damals vielgelesenem „Taschenbuch zum geselligen Vergnügen“; so fand er denn schnell seinen Weg in die Oeffentlichkeit und konnte sich über ganz Deutschland verbreiten. In Frankreich selber besaß der Kontertanz damals noch bei weitem nicht diese edle, vornehme Form. Man tanzte ihn, zumal auf den öffentlichen Bällen, lebhafter, ungenierter, mit deutlicher Rückerinnerung an den englischen Hüpfschritt, aus dem er entstanden war. Heute ist das Tempo wohl überall ruhiger, gemessener, aber dafür auch der Tanz seinem ganzen Charakter nach einförmiger und leider oftmals auch langweiliger geworden. Man vernachlässigt den Pas, ist mit den Figuren nicht vertraut und meint allen Anforderungen gerecht zu werden, wenn man salopp nach dem Takt der Musik wie spazierend dahinschreitet. Das soll vornehmer Ton sein, während es doch nur Schlendrian ist. Der Verfall, der die ganze moderne Tanzkunst begleitet, offenbart sich eben auch im Kontertanz.

Dieser Niedergang beginnt, wie Riehl, der große Kulturhistoriker, treffend bemerkt, mit der französischen Revolution und ist noch heute nicht völlig überwunden, während dagegen „im Zeitalter Ludwigs XIV das Ohr für die Feinheiten der Tanzrhythmik am allgemeinsten und höchsten ausgebildet erscheint. Um damals im Tanzsaal zu unterscheiden, ob eine Courante aufgespielt wurde oder ein Menuett, ob eine Gavotte oder eine Bourrée, dazu gehörte eine Schärfung des rhythmischen Instinkts, von der wahrlich wenig mehr übrig geblieben ist bei unseren tanzenden jungen Leuten, die oft sich noch besinnen, ob das ein Walzer oder Galopp ist, was ihnen die Musik eben mit dem rhythmischen Dreschflegel in die Ohren paukt.“


[97] 0


Blätter und Blüten


Adolph v. Menzel an seinem Schreibtisch. (Zu dem untenstehenden Bilde.) Die ungewöhnliche Auszeichnung, welche beim Beginn dieses Jahres dem Großmeister der deutschen Malerei Adolph Menzel durch Verleihung des Schwarzen Adlerordens zu teil ward, und die Feier, welche die Berliner Künstlerschaft aus diesem Anlaß zu Menzels Ehren beging, haben die bescheidene Persönlichkeit des Künstlers wieder einmal zum Gegenstand des öffentlichen Interesses gemacht. Als am 5. Dezember vor drei Jahren Menzels achtzigster Geburtstag gefeiert ward, ist den Lesern der „Gartenlaube“ des näheren berichtet worden, wie einfach das private Leben des noch immer rastlos schaffenden Künstlers verläuft, dessen „Erdenwallen“ in Not und Armut begann und den nun im Alter das Glück mit Ehren und Ruhm überschüttet. In dem Aufsatz „Wie Meister Menzel lebt“ hat damals A. Schöbel (Jahrgang 1895, S. 787) die friedliche Abgeschiedenheit seiner Wohnung im dritten Stock eines Hauses der Sigismundstraße geschildert, in der dem greisen Junggesellen die Schwester in altvaterischer Ordnung den Haushalt führt, und über welcher im nächsten Stock die Räume seines Ateliers sich befinden. In dieses Heiligtum, dessen Stille selten ein Besucher stören darf, läßt uns unser Bild einen Blick werfen. Wir sehen den Künstler an seinem altertümlichen Schreibsekretär, wie er im Begriff ist, Korrespondenzen zu erledigen. An der Wand hängen Studienblätter zu Bildern, die er einst geschaffen, sowie Gipsabgüsse von Werken der Plastik, die ihm besonders lieb sind. In der schön geformten Rechten stockt gerade für einen Augenblick die Feder, während der geistvolle energische Kopf, von Erinnerungen gebannt, still vor sich hinsinnt.

Adolph v. Menzel an seinem Schreibtisch.
Nach einer photographischen Aufnahme von Hugo Rudolphy in Berlin

Das Schellenschlagen in Tirol. (Zu dem Bilde Seite 77.) Einer der interessantesten Faschingsbräuche in Nordtirol ist das Schellenschlagen, das noch da und dort im tirolischen Innthale, in dem von Innsbruck gegen den Brennerpaß hinaufziehenden nördlichen Wippthale und deren Seitengründen sich mehr oder minder vollständig erhalten hat. Wenn in einem Dorfe oder Marktflecken das Schellenschlagen stattfindet, so dürfen die Veranstalter von vornherein schon auf ein großes Zuschauerpublikum aus dem Orte selbst und aus den Nachbargemeinden rechnen. Kommt nun der Zug heran, so strömt alt und jung, Männer und Weiber, und natürlich allen voran die löbliche Schuljugend, in der Hauptgasse zusammen, in der man schon von ferne die Schellen klingen hört. Endlich erscheinen zunächst die Bajazzi, zwei bis drei clown- oder harlekinartig ausstaffierte Masken, welche, mit langen Peitschen versehen, unter lustigen Sprüngen und fortwährendem Geknalle dem Schellenschlägerzuge den Weg freihalten. Während noch die Bajazzi allenthalben ihre Späße machen und besonders den überall mit hellem Jubel im Wege herumlaufenden Dorfbüblein, sowie auch den neugierig auslugenden größeren Diandlen manchen Schabernack spielen, ist auch schon die eigentliche Faschingsgruppe zur Stelle. Voran der „Hauptmann“ mit seinem buntbebänderten Stocke, dann kommen die Schellenschläger selbst in ihrem charakteristischen Kostüm. Dieses besteht aus dem zur betreffenden Thaltracht gehörenden Hute (auf unserem Bilde ist es der Spitzhut der Stubaier oder Zillerthaler), dann aus einem weißen Hemde, häufig mit über der Brust gekreuzten Seidenbändern, den üblichen kurzen Lederhosen, weißen oder blauen Strümpfen und niedrigen Bund- oder Schnallenschuhen. Die Hüte werden den Burschen von ihren Diandlen mit Sträußchen von Kunstblumen und wohl auch mit kurzen buntfarbigen Bändern geschmückt, und um die Hüfte trägt jeder der Teilnehmer einen Ledergurt, an welchem rückwärts eine große Schelle befestigt ist. Der „Hauptmann“ giebt mit seinem Stocke den Takt, und nach diesem ziehen dann die Schellenschläger, die eine Hand in die Seite gestemmt und in der anderen gleich dem Anführer ein Stäbchen tragend, würdig und ernst in langsam hopsendem Tempo des Weges dahin. Dabei wiegen alle gleichmäßig den Körper nach links und nach rechts. Die Schellen tönen bei jedem Schritte lautklingend zusammen, und so bewegt sich der Zug in einer fast feierlich zu nennenden Weise durch die Gassen des Ortes. Kommt man an einem Wirtshause vorbei, so wird natürlich auf kurze Zeit eingekehrt, dann geht es wieder weiter unter beifälliger Anteilnahme von alt und jung, bis schließlich im Hauptgasthofe mit einem fröhlichen Schmause, allenfalls auch bei einem lustigen Tänzchen, das Schellenschlagen sein Ende erreicht. J. C. Platter.     

Blumenparade. (Zu dem Bilde S. 85.) Das ist freilich eine anziehendere Art von Parade als etwa die „Lumpen“– oder „Stiefelparade“; sie dürfte selbst einer wirklichen großen Parade vorzuziehen sein, bei der sich die daran teilnehmenden Truppen gewöhnlich erst müde stehen müssen, bevor endlich der Präsentiermarsch erklingt und das militärische Schauspiel von statten gebt. Die „Blumenparade“, die uns H. Huisken auf seinem hübschen Bilde vorführt, wird offenbar durch örtliche Verhältnisse zu Wege gebracht. Unmittelbar an dem Blumenmarkte liegt die Kürassierkaserne, und diejenigen Panzerreiter, welche Kasernenwache haben und nicht gerade auf Posten stehen, sowie ihre sonst Muße dazu findenden Kameraden benutzen mit Vorliebe die Stunden des belebtesten Marktverkehrs, um durch ihr klirrendes Erscheinen die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Ihr Salutieren wird von den schmucken Dienstmädchen eifrig durch Kokettieren erwidert, und das belustigt beide Teile ungemein. Da zieht sich der Blumeneinkauf sehr in die Länge, zum billigen Aerger der Hausfrauen, die daheim vergebens auf die Rückkehr der dienstbaren Geister warten. Sie können der Blumenparade keinen Geschmack abgewinnen, und wo sie mit den Ratsherren der Stadt zusammentreffen, petitionieren sie eindringlich um – eine baldige Verlegung des Blumenmarktes.

[98] Riesenflöße auf dem Ocean. (Mit Abbildung.) Während bisher alles nach überseeischen Holzarmen Ländern bestimmte Holz, nachdem es die Ströme hinab bis zur Meeresküste geflößt worden war, dort auf Schiffe verladen werden mußte, wodurch sein Preis naturgemäß erheblich stieg, ist es jetzt den Amerikanern schon zum zweitenmal gelungen, ein großes Floß zu bauen und dasselbe durch einen Schleppdampfer über das Meer an Ort und Stelle transportieren zu lassen. Frühere Versuche in dieser Richtung, die mehrfach angestellt wurden, endeten stets mit einem Mißerfolg. Die Konstruktion der Flöße war der Gewalt der Meereswellen nicht gewachsen, und die wertvolle Ladung ging verloren. Aber der Gewinn, der mit diesem direkten Floßtransport zu erzielen war, trieb, trotz des großen Risikos, immer wieder Unternehmer zu Versuchen an, und ihre Anstrengungen haben, wie bemerkt, jetzt Erfolg gehabt.

Amerikanisches Riesenfloß im Schlepptau eines Dampfers.
Nach einer Originalzeichnung von Willi Stöwer.

Es ist interessant, zu erfahren, welch ungeheure Holzmassen in solchem Floß stecken; man kann sich dann einen Begriff machen von dem Wert und auch von dem Gewinn, der bei einem günstigen Ausgang dem Unternehmer winkt. So hatte das Floß, das vor kurzem nach einer Seereise von700 Meilen im Hafen von San Francisco wohlbehalten ankam, eine Länge von 200 m, eine Breite von 16 m und eine Tiefe von 14 in und enthielt mehr als 10 000 ganze Stämme von durchschnittlich 1/2 m Durchmesser. Zu ihrem Transport wären etwa 20 Dampfer von gewöhnlicher Größe notwendig gewesen. Bei der Konstruktion des Flosses sind nicht weniger als 1200 Centner eiserne Ketten, in Längen von 18 bis 50 m und einer Dicke von 11/2 Zoll, verwandt worden. – t.     

Ein Motorschlitten. (Mit Abbildung.) Langsam aber stetig sichern sich die Motorwagen einen Platz unter den Verkehrsmitteln der Neuzeit. Immer häufiger begegnen wir ihnen auf den Straßen der Großstädte und auf gut gebahnten Wegen auf dem Lande. Unsere Abbildung zeigt uns eine Verwendung des Motors zum Schlittenbetrieb. Das Fahrzeug ist von Dr. E. Casgrain zu Quebec in Kanada aus einem Motordreirad gebaut worden. Die beiden Vorderräder sind durch Schlittenkufen ersetzt, das Hintere Triebrad erhielt an Stelle des Pneumatikreifens einen zackigen Radkranz aus Holz. Die Triebkraft wird durch einen Gasolinemotor nach dem Bolleeschen System erzeugt. Derselbe liefert zwei Pferdestärken, und das Gasolinereservoir ist so groß, daß der Vorrat zum Durchlaufen einer Strecke von etwa 80 Km genügt. Der Motorschlitten hat zwei Sitze, von denen der hintere für den Lenker bestimmt ist.

Ein Motorschlitten.
Nach einer Originalzeichnung von R. Mahn.

Ein Morgen vor der Breslauer Hütte in den Oetzthaler Alpen. (Zu dem Bilde S. 89.) Herrlich sind die Thäler, die von dem mächtig schwellenden Inn sich südwärts in die Tiroler Alpen hinaufziehen. Das größte unter ihnen ist das Oetzthal, das die nach ihm benannte Oetzthaler Ache durchrauscht. In einer Länge von 86 km klimmt es von Stufe zu Stufe, bald als breites grünendes Gelände, bald als eine Kette wilder Schluchten und Klausen hoch in das Gebirge hinan, bis es sich mit seinen äußersten Ausläufern in der starren Wildnis des ewigen Schnees und Eises verliert. Gegen siebzig über 3000 m hohe gletscherumpanzerte Spitzen bilden die Zinnen des gewaltigen Gebirges, in das es eingezwängt ist, und bis zu der stolzen Höhe von 3776 m steigt die Wildspitze, die Königin der Oetzthaler Alpen, empor. Seit lange wandern die Touristen in dieses Gebiet, in dem die Ferner oder Gletscher sich in ihrer funkelnden Pracht und in mannigfaltigsten Gestalten dem staunenden Auge des Beschauers darbieten. Die Rundsichten von der Wildspitze und der nur um 30 m niedrigeren Weißkugel zählen zu den großartigsten in den Alpen. Der Weg zu diesen Gipfeln führt durch einen der südlichen Ausläufer des Oetzthales, durch das Vent- oder Fendthal. Das Dörfchen Vent, am Fuße der Thalleitspitze in 1893 m Höhe gelegen, bildet überhaupt einen wichtigen Ausgangspunkt für die Hochgebirgstouristen, denn von ihm führen fünfundzwanzig Hochpässe in die benachbarten Thäler. Von ihm aus kann auch die Wildspitze bestiegen werden; auf dem Wege hat die Sektion des Deutschen und Oesterreichischen Alpenvereines Breslau bereits im Jahre 1882 eine Schutzhütte errichtet. Das durch mächtige Felsen geschützte Haus liegt in der Höhe von 2848 m am Fuße des Oetzthaler Urkunds inmitten der prächtigsten Hochgebirgsscenerie. Im Jahre 1896 wurde die Hütte durch einen Anbau vergrößert; während des Sommers ist sie ständig bewirtschaftet. Unser Bild zeigt uns einen Morgen vor der Hütte. Bei Sonnenaufgang wallten die Nebel in den Thälern, verdächtiges Gewölk ballte sich um die schneeigen Häupter der Bergriesen und die Alpenkrähen wichen nicht von dem Dache des Hauses. Nun aber sind die Anzeichen des schlechten Wetters geschwunden; die Sonne siegt und unter klarer werdendem Himmel blitzen bereits die Gletscher wie Silberpanzer; in weite Ferne entfliegen die Alpenvögel und nun brechen auch die Touristen auf, um von den hohen und höchsten Zinnen Berge und Thäler aus der Vogelschau zu bewundern. *     

Zu Wilhelm Jordans achtzigstem Geburtstag. Als vorm Jahre die fünfzigjährige Gedenkfeier der Eröffnung des ersten deutschen Parlaments in Frankfurt a. M. stattfand, war es nur wenigen der „Veteranen der Paulskirche“ vergönnt, in gleicher Rüstigkeit wie Wilhelm Jordan den Jubiläumstag zu begehen. In zündender markiger Rede brachte er damals das vor fünfzig Jahren Erstrebte in Zusammenhang mit dem politischen Bewußtsein der Gegenwart, und die „Marine-Erinnerungen“, die er um die gleiche Zeit für die „Gartenlaube“ niederschrieb, spiegelten ungeschwächt die Begeisterung wider, mit der er 1848 seine kräftige Mannesjugend für die Schaffung einer deutschen Flotte eingesetzt [99]

Das Bismarck-Mausoleum im Sachsenwalde.
Nach einer Photographie von H. Breuer in Hamburg.

hatte. Am 8. Februar dieses Jahres darf nun der Nestor der deutschen Schriftstellerwelt in dieser staunenswerten Frische des Geistes und Körpers ein ganz persönliches Jubiläumsfest feiern, und sein achtzigster Geburtstag wird nicht nur in Frankfurt a. M., das ihm seit 1848 zur zweiten Heimat ward, sondern auch in weiteren Kreisen der Nation von vielen festlich begangen werden. Auch die „Gartenlaube“ bringt ihm zu seinem Ehrentage aufs herzlichste ihre Glückwünsche dar.

In mehr als 40 Bänden hat Wilhelm Jordan, der 1819 als Sprosse eines alteingesessenen ostpreußischen Pastorengeschlechts in Insterburg zur Welt kam, die Resultate seines hochgerichteten Wirkens als Dichter und Forscher niedergelegt, das ihm die Anwartschaft auf dauernden Ruhm und dauernde Dankbarkeit sichert. Werke der verschiedensten Art finden sich in der langen Reihe dieser Bände: Epen, Dramen, Romane, lyrische und lehrhafte Gedichte, sprach- und sagengeschichtliche Studien, religionsphilosophische Offenbarungen, Uebersetzungen von Homer und der Edda. In ihrer Mehrzahl aber stehen sie in organischem Zusammenhang mit dem einen großen Hauptwerk seines Lebens, dem Doppelepos seiner „Nibelunge“, dessen erster Teil, die „Sigfridsage“, 1868, dessen zweiter Teil, „Hildebrants Heimkehr,“ 1874 in Buchform erschien, das er aber nach Form und Inhalt mit der Absicht gestaltete, es nach dem Muster der Rhapsoden und Barden der Vorzeit persönlich zum Vortrag zu bringen, ihm „Leben zu geben im Laut.“ Seit 1862 ist er dann hinausgezogen aus seiner stillen Frankfurter Dichterklause auf immer weiter sich dehnende Rhapsodenfahrten, die sich schließlich auch durch alle größeren Städte Amerikas mit deutscher Einwohnerschaft erstreckten. Tausende und aber Tausende haben die Hauptgesänge von Jordans Neugestaltung der Siegfried- und Hildebrantsage durch ihn selbst kennengelernt und dem Wohllaut seiner Stabreimstrophen gelauscht, die er mit seinem ehernen tiefen Organ wie kein zweiter zu meistern weiß. Mächtig hat der patriotische Geist, der diese Bilder von altgermanischem Heldentum durchdringt, in den Jahren gewirkt, welche der heldenhaften Entfaltung der deutschen Volkskraft im Sieg über Frankreich und der Gründung des Deutschen Reiches vorausgingen und dieser direkt folgten. In neuerer Zeit ist eine andere Eigenschaft seines Epos zu immer größerer Geltung gelangt. Der dem Dichter von Jugend auf innewohnende Trieb, die Ergebnisse der modernen Forschung zum Stoff poetischer Gestaltung zu machen, hat auch seinen „Nibelunge“ den Charakter eines modernen Lehrgedichts verliehen. Die großen Entwicklungsgesetze, welche die Naturwissenschaft in unserm Jahrhundert für die organische Welt feststellte, spiegelte der Dichter in dem Schicksal der Heldengeschlechter, von denen uns die „Edda“ und das alte deutsche Volksepos berichtet. In seinen Romanen „Die Sebalds“ und „Zwei Wiegen“, in den „Andachten“ und der „Erfüllung des Christentums“ hat er dann unmittelbarer die Grundgedanken seiner beglückenden hoffnungsfrohen Weltanschauung dargelegt, welche aus dem Entwicklungsgesetz für unsre Nation und die Menschheit die Gewähr des Fortschritts zu immer größerer Vollkommenheit entnimmt. Auch das graziöse geistvolle Lustspiel „Durchs Ohr“, das jetzt an Jordans Ehrentag auf vielen deutschen Bühnen zur Aufführung gelangt, hat einer naturwissenschaftlichen Beobachtung die Grundidee zu verdanken.

In diesem Drang, der wissenschaftlichen Erkenntnis neuen Stoff für die Poesie abzugewinnen, hat Wilhelm Jordan neue Bahnen beschritten, die verheißungsvoll aus dem zur Rüste gehenden „naturwissenschaftlichen“ Jahrhundert in das neue hinüberweisen.

Das Bismarck-Mausoleum im Sachsenwalde. (Mit Abbildung.) Gegenüber dem Schlosse Friedrichsruh, auf einer Anhöhe im Schatten der Bäume des Sachsenwaldes erhebt sich das Mausoleum, in dem Fürst Bismarck beigesetzt werden wird. Es ist ein ernster und würdiger Kapellenbau im romanischen Stil, der sich harmonisch der Landschaft anpaßt. Felssteine, die aus dem Sachsenwalde stammen, bilden das kraftvolle Fundament des mit einer stattlichen Kuppel gekrönten Oberbaues. Der Eingang liegt an der dem Walde zugekehrten Seite. Auf Treppen gelangt man einerseits zu den Beisetzungsräumen der Familiengruft, andrerseits zu der Grabkapelle und dem eigentlichen Mausoleum, das in dem mächtigen Kuppelbau liegt. Hier wird der „treue deutsche Diener Kaiser Wilhelms I“ neben seiner vorausgegangenen Gemahlin ruhen. Unsere Abbildung zeigt den kürzlich nach den Plänen des Architekten Schorbach fertiggestellten Außenbau. Die Vollendung des inneren Schmuckes dürfte noch mehrere Monate in Anspruch nehmen.

Große Lokomotiven. Da gleichzeitig mit dem Bestreben, die Schnelligkeit sowohl der Personen- als der Güterzüge zu beschleunigen, auch die Größe der beförderten Lasten beständig zunimmt, sehen sich die Konstrukteure der Lokomotiven genötigt, den Zugmitteln immer größere Dimensionen und erhöhte Kraft zu verleihen. Besonders sind in dieser Hinsicht die Amerikaner Meister des Lokomotivbaues, und sowohl ihre Schnellzugs- und Gebirgslokomotiven wie auch ihre Güterzugsmaschinen werden neuerdings zuweilen in einer Größe und Stärke gebaut, denen weder in Deutschland noch in Frankreich oder England etwas Aehnliches an die Seite gesetzt werden kann. Allerdings entsprechen diesen Antriebsmitteln auch die Personen- und Güterwagen. Erstere, wenn auch nur in beschränkter Zahl zu einem Zuge zusammengereiht, sind nicht selten so groß und gewichtig, daß ein unbesetzter Wagen dieser Art drei gewöhnliche deutsche Personenwagen reichlich aufwiegt, und vollends mit dem Fassungsraum der Güterwagen ist man auf einigen amerikanischen Bahnen bereits dahin gekommen, Wagen bis zu einer Ladefähigkeit von 40, ja 50 Tonnen zu bauen, die im gefüllten Zustande das Gewicht einer normalen europäischen Lokomotive besitzen, und solche Wagen werden zu erstaunlich langen Zügen aneinandergereiht. So erklärt sich ungezwungen die in Amerika weit schneller als bei uns fortschreitende [100] ( gemeinfrei ab 2025) W. Berdrow.     

Fastnachtsbräuche Im Sauerlande. In jener äußersten Ecke des westfälischen Sauerlandes, welche gleich einem Vorgebirge in das waldeckische Gebiet hineinragt, zu Obermarsberg, haben sich noch einige uralte Fastnachtsgebräuche erhalten, die durch ihre Originalität merkwürdig sind. Dort gehen am sogenannten Rosenmontag die Schönen der Stadt, mit einem Wisch von Stroh oder Zeug bewaffnet, in der Nachbarschaft umher und reiben den Einwohnern mit diesem Wisch die Füße, indem sie einen Scherzreim singen. Als Dank dafür werden die Mädchen mit Kaffee bewirtet; je mehr ein Mädchen zum Trinken genötigt wird, desto willkommener ist sie als – zukünftige Schwiegertochter.

Am andern Morgen kommen die Bursche ebenfalls zum „Schienenreiben“, wie man jene Sitte nennt; nur darf man diesen keinen Kaffee anbieten, die Bursche erhalten Wurst, die an eine mitgebrachte bändergeschmückte Heugabel befestigt wird. Auch hier spielt die Liebe eine Rolle: je größer die Wurst, desto lieber der Bursch, der sie empfängt. Zum Schluß wird der gesammelte Wurstvorrat in brüderlicher Gemeinschaft verzehrt, wobei es dann ohne tüchtiges Trinken nicht abgeht.

Aehnliche Gebräuche haben sich auch noch an anderen Orten des Sauerlandes erhalten. Meist beschränken sie sich auf einfach maskierte Umzüge der männlichen Jugend mit ebenso ursprünglicher Musikbegleitung. Ein Bursch mit einer Kiepe macht die Besuche in den Bauernhäusern und empfängt die Geschenke, (Würste und dergl.), welche dann ebenfalls gemeinschaftlich verzehrt werden. R. Brand.     


Nach einer Originalzeichnung von Hans Stubenrauch.

Zu unseren Karnevalsbildern. Das bunte Karnevalstreiben, die Zeit der Bälle, Kostüm- und Maskenfeste bietet den Malern eine unerschöpfliche Fülle von Anregungen zu anmutigen und drolligen Bildern. Dieser Art sind auch drei der Illustrationen, die unser heutiges Heft schmücken. Beliebt sind noch immer die leichten Masken der Pierrots und Pierretten mit den spitzen quastenverzierten Kopfbedeckungen, der weiten Halskrause und dem flotten seidenen Gewande. Sie kleiden trefflich die beiden „Faschingskinder“ auf unserem Bilde S. 69, die zweifellos zum ersten Male an einem Maskenball mitwirken und mit jugendlichem Uebermut an den Scherzen teilnehmen. Eine jüngere Frau, die schon viele derartige Feste mitgemacht hat, wählt das gesetztere Kostüm aus der Jugendzeit der Großmutter. (Vergl. die Kunstbeilage.) Sie studiert eifrig Bilder aus der guten alten Zeit, und es wird ihr sicher gelingen, Gang, Gebärde und Sprache der Tracht aus verschollener Zeit anzupassen. Eine Straßenscene, in moderner Manier mit wenigen charakteristischen Strichen dargestellt, führt uns die obenstehende Skizze „Hofball“ vor. Hier bewundert und kritisiert das vor der Einfahrt versammelte Zaunpublikum die Toiletten der Damen und die Uniformen der Würdenträger. – Bunte Masken, reiche Kleider erhöhen den Glanz der Feste, aber die wahre Fröhlichkeit ist an sie nicht gebunden. Die kommt vom Innern und entfaltet sich dort am schönsten, wo sich Menschen nach redlich gethanem Tagewerk und treu erfüllter Pflicht in heiterem Kreise erholen. Einen in diesem Sinne fröhlichen Karneval wünschen wir jung und alt in den weitesten Kreisen unserer Leser. *     



Kleiner Briefkasten.

(Anfragen ohne vollständige Angabe von Namen und Wohnung werden nicht berücksichtigt.)

R. A. in Berlin. Die Photographie des auf Seite 857 des vorigen Jahrgangs im Holzschnitt wiedergegebenen Bildes „Ich bin vom Berg der Hirtenknab!“ von Ludwig Knaus ist im Verlage der Photographischen Union in München erschienen.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner in Stuttgart. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger G. m. b. H. in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.
[100 a]

Für den Karneval.

Kopfputze zu Maskenkostümen. Bei Maskenfesten bedienen viele unserer Damen sich am liebsten eines schon vorhandenen Ballkleides, welches durch eine Phantasiekopfbedeckung und passenden Ausputz in der Gattung des Charakterkostüms aufgerückt ist. Ein paar Beispiele seien hier angeführt: 1. „Kätzchen“. An der Vorderseite einer Mütze von weißem Katzenfell prangt

Kätzchen.

das naturgroße Katzenköpfchen, welches man entweder beim Kürschner oder im Spielwarenladen kauft und an die Mütze näht. Das weiße Ballkleid ist reich mit Katzenpelz besetzt; die Taille kann auch ganz aus Pelz sein. Auf Schuhe und Handschuhe näht man die vier Katzenpfötchen; ein rotes Bündchen am Halse trägt den gestickten Namen „Mizi“. – 2. „Rabe“. Der Kopf eines

Rabe.

Raben, zweimal so groß wie in Natur, welchen man sich bei einer Putzmacherin oder im Federngeschäft fertigen läßt, bildet das Vorderteil eines kleinen Federbaretts, von welchem an beiden Seiten die Rabenflügel sich ausbreiten, eventuell auch rückwärts die Schweiffedern. Das ganz schwarze Ballkleid ist reich mit Rabenfedern besetzt;

Jelängerjelieber.

Schuhe und Handschuhe müssen gleichfalls schwarz sein. – 3. „Jelängerjelieber.“ Man fertigt dazu aus ganz dünnem Stoffe, dessen Ränder durch eingenähten Blumendraht biegsam gemacht werden, einen runden, seitlich aufgeschlagenen grünen Hut gleich dem Jelängerjelieber-Blatt;

Kornblume.

aus der Mitte desselben erhebt sich die gelblich-rosa Blütendolde, deren einzelne Teile ungefähr die Form eines Trinkhorns haben. Die Länge jedes Doldenteils beträgt 19 cm, der Durchmesser des Blattes 35 cm. Man trägt ein blaßgrünes oder gelblich-rosa Ballkleid dazu, nach Belieben mit naturgroßen Ranken von Jelängerjelieber verziert. – 4. „Kornblume.“ Sie besteht aus sechs fächerartig geformten, oben ausgezackten Blütenblättern, welche in einen runden, geschuppten grünen Kelch münden, der als Käppchen über das Haar der Trägerin gezogen wird. Durchmesser der Blume 20 cm. Sie wird zu dunkelblauem oder hellgrünem Ballkleid getragen.

Narrenschiff für die Fastnachtstafel. Einen ganz allerliebsten Schmuck für die Fastnachtstafel bildet das folgende Narrenschiff. Man läßt sich aus Pappe eine mehr oder minder große Bootform vom Buchbinder schneiden, mit rosa oder lichtblau Krepppapier außen und innen überziehen und zusammenkleben. Die Arbeit selbst zu übernehmen rate ich nicht, da sie nur ganz geschickten Händen gelingt. Diese fertige Bootform stattet man nun recht bunt aus. Aus Karton schneidet man einen Bug, überklebt ihn mit Goldpapier und befestigt ihn vorn vor der Bootform, worauf man den ganzen Rumpf dicht mit bunten, verschieden geformten Knallbonbons benäht. Gebrannte Mandeln hüllt man in Silber- und Goldpapier, näht sie schnurförmig zusammen und befestigt sie rings um den oberen Rand des Schiffes. Auch ein Steuer wird aus Karton geschnitten, mit Goldpapier überklebt und im Boot hinten festgemacht. Einen dünnen Stab umwindet man dicht mit bunter Kantille und schneidet ein großes Segel aus bunter Gaze, benäht es mit bunten Flittern, giebt ihm am Rande durch eingenähte Stäbchen Halt und befestigt es an dem Stabe, den man dann in der Mitte des Schiffes aufrichtet. Oben auf den Mast steckt man einen bunten Wimpel mit der Inschrift „Hoch, Prinz Karneval!“ und auch am Bug des Schiffes wird eine Fahne, die eine Karnevalszeichnung trägt, befestigt. Das Steuer lenkt ein Schweinchen, am Mast klettern Chenilleaffen empor und die eine Seite des Schiffsinnern ist mit Knallrosen, Knallsträußchen und Blumenbällen gefüllt, so daß ein buntes Blütenmeer aus ihm hervorzuquillen scheint. Die zweite Hälfte des Schiffes birgt Goldflitter- und Konfettibomben und -Mitrailleusen, allerhand Musikinstrumente, Neckwedel, Japanballons, kurz Scherze in Hülle und Fülle. Obenauf thront eine bunte Figur im Narrenanzug. Wer helfen kann, dieses Narrenschifs zu zerstören, wird in die heiterste Stimmung kommen. He.     

Zum Kindermaskenball. „Einfach in der Bewirtung, lustig in der Veranstaltung“ – das sollte die Devise jedes Fastnachtsbällchens sein. Wir geben als Beitrag dazu eine Sträußchen- und Ordentour, die zum Schluß des Festes eine große Wirkung erzielen wird und sich sowohl durch Eigenart als Billigkeit auszeichnet. Die Materialien sind Gold-, Glanz- und Seidenpapier, Blumendraht, ½ Pfund englische Drops, ein Dutzend Tafelfeigen und Datteln, eine Handvoll Malagatrauben, ein Körbchen Grün (Buchs, Moos oder Epheu).

Zuerst die Sträußchen. Man schneidet fingerlange Drahtenden, glüht sie am Licht an und spießt schnell je eines der Drops daran. Nun kommt in die Mitte des Sträußchens eine Papierrose dann ringsum Grün, in welches nun die rot, gelb, weiß, grün schimmernden Drops wie Knospen eingefügt werden. Ein wenig übriges Christbaumsilber dazwischen gemengt, erhöht den Effekt sehr.

Für die Ordenssterne schneidet man eine Grundform von Pappe und beklebt sie so schön als möglich mit sternförmigen Scheiben von Gold- und farbigem Glanzpapier. In die Mitte heftet man mit dünnem Faden eine große Feige oder Dattel, in die Strahlen werden Beeren von Malagatrauben eingefügt. Oben ein rotes Bändchen mit Stecknadel, gerade wie bei den wirklichen Kotillonorden.

Den Rest von Grün, Papierrosen und Christbaumsilber verwendet man zur Auszierung eines flachen Korbes, auf dem das Ganze aufgebaut wird. Eine große Schwester oder auch die Mama tritt verschleiert als Prinzessin Karneval ein, sagt vielleicht noch ein paar luftige Verse mit Anspielungen auf die hoffnungsvolle Schuljugend, ermahnt zum Schluß die „Herren“, die Bouquets auch richtig den „Damen“ abzuliefern und sie nicht etwa selbst zu essen, und giebt dann den Schatz preis. Das Entzücken der kleinen Gesellschaft, nun auch einen Kotillon zu haben, ist groß, aber beinahe ebensosehr die vorhergehende Freude der Hauskinder, die natürlich bei Herstellung dieser sehr hübsch aussehenden und gut schmeckenden Orden mitgeholfen haben!




Hauswirtschaftliches.

Praktische Verwertung eines frischen Schweineschinkens. Eine frische Schweinskeule, die man an vielen Orten recht billig kaufen kann, giebt bei praktischer Einteilung eine ganze Anzahl trefflicher Mittagsgerichte, so daß ihr Kauf während der kühlen Jahreszeit, wo man das Fleisch unbesorgt einige Zeit, ohne Furcht, das es verderben könnte, aufbewahren kann, sparsamen Hausfrauen mit Recht empfohlen werden kann. Am besten ist es, den Schinken am Freitag zu kaufen, damit man am Sonntag einen gerade richtig abgelegenen Braten hat. Am Einkaufstage löst man Schwarten und Beinknochen bis zur richtigen Keule ab, kocht sie weich, schneidet sie in grobe Würfel und klärt die Brühe, der man darauf Essig, etwas Fleischextrakt und Gewürz zusetzt, um sie mit den Fleischwürfeln zu vermischen und in eine Form zu füllen. Die so erhaltene Sülze giebt ein treffliches Abendgericht, sie wird einfach mit Oel und Mostrich oder mit Remouladensauce gereicht. – Die sogenannte „Kugel“ der Keule wird ausgelöst und vom Fett befreit, sie giebt mit einem Kohl- oder Rübengemüse gekocht und mit kleinen Salzkartoffeln, die in Butter und Petersilie geschwenkt werden, ein gutes Sonnabendmittagsgericht. – Alles überflüssige Fett wird mit Aepfeln und einer Zwiebel zu trefflichem Schmalz ausgebraten, dessen Verwendung jeder Hausfrau zur Genüge bekannt ist. – Von dem nun übrig gebliebenen Keulenstück wird ein genügend großer Braten abgeschnitten, am besten eignet sich hierzu die obere Hälfte des frischen Schinkens, während die untere Hälfte treffliche Schnitzel oder Koteletten giebt. Das letztere Stück legt man auf Eis oder bestreicht es mit Karnolin und hängt es an einen luftigen aber kühlen Ort. Am Sonntag wird der Braten in passender Pfanne mit kleinen rohen Kartoffeln, geschälten Zwiebeln und Apfelvierteln in halb Schmalz, halb Butter im Ofen gebraten, mit den verschiedenen Zuthaten umkränzt angerichtet und fein mit aufgelöstem Liebigschem Fleischextrakt, etwas Maismehl und Rotwein verkochter Bratensatz daneben gereicht. – Am Montag nimmt man der Abwechslung halber ein Rindfleisch- oder Kalbfleischgericht, am Dienstag wird die Hälfte des zurückgebliebenen frischen Fleisches zu Koteletten oder Schnitzeln verwandt, zu denen man Kartoffelsalat reicht, während man am Mittwoch die andere Hälfte zu Klops mit Mostrichsauce verbraucht, deren Reste für ein Abendbrot zerschnitten, im Wasserbade erwärmt und mit Bratkartoffeln serviert werden. – Die Reste des Sonntagsbratens endlich geben, mit Zwiebelfarce bestrichen, zwischen zwei Speckscheiben gelegt und aufgebraten eine gute Beilage zu Rotkraut am Donnerstag, die ausgekochten Knochen endlich mit Mehlschwitze und Fleischextrakt zu sämiger Suppe verkocht, mit Reis und Wurzelgemüse als Einlage eine Suppe am Freitag, nach der man eine beliebige Mehlspeise reicht. Man hat auf diese Weise trotz der einen Fleischsorte doch genügend Abwechslung. L. H.     

Madeirastickereien zu waschen. Die wunderhübschen gestickten Madeiradeckchen sehen nach der Wäsche nichts weniger als hübsch aus, sondern präsentieren sich als formlos und verzogen. Solche Decken bedürfen eines ganz besonderen Waschverfahrens, wenn sie aus der Wäsche in alter Schönheit hervorgehen sollen. Man nimmt je nach Form und Größe der Decken ein passendes weißes Leinentuch, heftet die Decke kreuzweis fest und näht jede Spitze am äußeren Rand nieder, so daß die Form der Decken völlig gewahrt bleibt. Das Tuch wird zusammengeklappt und geheftet, so daß die Decken völlig umhüllt sind. Dann bestreicht man es mit neutraler Seife, legt es in einen Kessel mit heißem Wasser und kocht es 15 Minuten langsam. Man entfernt die Heftfäden, welche das Tuch zusammenhalten, damit die Decken nun frei liegen, und spült sie mehreremal, bläut sie sehr stark und stärkt sie. Auf einem Plättbrett wird nun jedes Deckchen mit dem Tuch glatt hingelegt und jede Spitze mit verzinnter Stecknadel festgesteckt, worauf die Decken trocknen müssen. Geplättet werden sie nicht, sie werden, wenn sie trocken sind, abgetrennt und erscheinen nun wie neu.

[100 b]
Allerlei Kurzweil.


Schachaufgabe.
Von B. Hülsen in Beelitz.
SCHWARZ

WEISS
Weiß zieht an und setzt mit dem dritten Zuge matt.


Scherzrätseldistichon.

Fester soll nichts stehn als der Gegenstand den ich bezeichne;
Schwindet er aber nun – flüchtig ist das, was noch bleibt.


Buchstabenrätsel.

Bei mir gewann im Altertum
Ein Held der Griechen hohen Ruhm,
Nimm mir den Fuß, so werd’ ich meist
Von Italienern gern verspeist.  Oscar Leede.


Magisches Kreuz.

Die Buchstaben dieser Figur lassen sich so ordnen, daß in den einander entsprechenden senkrechten und wagerechten Reihen gleichlautende Wörter von folgender Bedeutung entstehen: 1. eine Stadt in Bayern, 2. ein von den alten Römern unterworfener Volksstamm in Italien, 3. ein Gcbirgsstock in Deutschland, 4. ein sehr bekanntes Gebirge. A. St.     


Homonym. <poem>Bewegung, Gewehrteil und Bein, Die heißen gleich; was wird das sein?   E. S.


Die Auflösung der Skataufgabe erscheint auf dem Umschlag des nächsten Halbhefts.


Auflösung des Rätsels auf dem Umschlag von Halbheft 2. 0 Friedrichsruh.


Auflösung des Fächerrätsels auf dem Umschlag von Halbheft 2.

= Geibel.


Auflösung des Wechselrätsels auf dem Umschlag von Halbheft 2. 0 Kurie, Kurve, Kurde.




[Werbung - vor allem des Verlags Ernst Keil’s Nachfolger und von Firmen des amerikanischen Marktes - hier nicht abgebildet.]



Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

  1. riechen