Lage im Schifa-Krankenhaus Tote Babys, Tunnelsysteme – wie Hamas und Israel die Welt für ihre Sichtweisen gewinnen wollen

Schifa-Krankenhaus : Humanitäre Lage in Gaza spitzt sich zu – Israel stellt 300 Liter Benzin vor Klinik ab
Sehen Sie im Video: Lage in Al-Schifa-Klinik spitzt sich zu – Israel zeigt Video von Treibstofflieferung.
 
 
 
 
Neugeborene wurden am Sonntag im Al-Shifa-Krankenhaus im Gazastreifen aus den Brutkästen genommen, nachdem der Strom fast vollständig ausgefallen war. Die zuständigen Ärzte suchen nach anderen Möglichkeiten die Babys zu betreuen. Sie befürchten allerdings, dass einige von ihnen nicht überleben werden. Die beiden größten Krankenhäuser in dem von der radikal-islamischen Hamas kontrollierten Küstengebiet mussten nach palästinensischen Angaben den Betrieb herunterfahren. Nach UN-Angaben sind inzwischen die Hälfte der Krankenhäuser in Gaza geschlossen. Die Lage sei verheerend und gefährlich. Der ständige Beschuss und die Bombardierungen in der Region hätten die ohnehin schon kritischen Umstände noch verschlimmert. Die Zahl der Todesfälle unter den Patienten sei erheblich gestiegen. Israel wirft der Hamas vor, Kommandozentralen unter und in der Nähe von Krankenhäusern eingerichtet zu haben. Die Hamas bestreitet dies. Auch wies sie Vorwürfe Israels zurück, sie habe 300 Liter Treibstoff abgelehnt, die für das Al-Schifa-Krankenhaus bestimmt gewesen sein sollen. Gleichzeitig kritisieren die Islamisten, dass die Menge nicht einmal ausreiche, die Generatoren des Krankenhauses länger als dreißig Minuten zu betreiben. Das israelische Militär hatte erklärt, es habe Samstagnacht 300 Liter Treibstoff vor dem Eingang des Krankenhauses deponiert und angeboten, neugeborene Babys zu evakuieren. Als Beleg dafür veröffentlichte es am Sonntag ein Video, auf dem Soldaten zu sehen sind, die sich mit Kanistern auf ein Gebäude zubewegen. Die angebotenen Hilfen seien aber von der Hamas zurückgewiesen worden, hieß es. Diese Angaben konnten nicht unabhängig überprüft werden.
Die Lage in der Schifa-Klinik, dem größten Krankenhaus des Gazastreifens, spitzt sich zu. Strom gibt es offenbar seit Tagen nicht mehr, Berichte von verwesenden Leichen und toten Frühgeborenen machen die Runde. Hamas und Israels Armee beschuldigen sich gegenseitig – und nutzen die Situation für ihre Interessen. Was wir wissen – und was nicht.

Die Schifa-Klinik, das größte Krankenhaus im Gazastreifen, wird zum Symbol für das Leid der Zivilbevölkerung im Krieg zwischen Israel und der radikalislamischen Hamas – und auf beiden Seiten zum Instrument im Kampf um die Deutungshoheit. Tausende Menschen sollen in dem Gebäudekomplex im nördlichen Teil des belagerten Landstreifens ausharren, darunter Hunderte Vertriebene. Sicher ist hier offenbar niemand mehr.

Die UN berichtete unter Bezugnahme auf das palästinensische Gesundheitsministerium von Dialysepatienten in Lebensgefahr, auf der Straße verwesenden Leichen und toten Frühgeborenen. Unabhängig überprüfen lassen sich die Berichte nicht, beide Kriegsparteien geben sich gegenseitig die Schuld an der prekären Lage. 

Was wir über die Situation wissen – und was nicht.

Wo liegt das Schifa-Krankenhaus und wie groß ist es?

Die Schifa-Klinik ist mit rund 700 verfügbaren Betten das größte Krankenhaus der Region und liegt in Hafennähe im Zentrum von Gaza-Stadt. Ursprünglich eine britische Kaserne, wurde das Gebäude 1946 zur medizinischen Einrichtung umgebaut, zehn Jahre später während der Suezkrise unter ägyptischer Kontrolle erweitert und in den 80ern schließlich nach Plänen israelischer Architekten renoviert. 

Infografik: Die Lage im Gazastreifen und in Gaza-Stadt (Stand: 11. November 2023)
Infografik: Die Lage im Gazastreifen und in Gaza-Stadt (Stand: 11. November 2023)
© DPA Infrografik / rös / Quellen: ISW, UN, israelische Streitkräfte, OSM-Mitw., dpa, Washington Post

Wie die Weltgesundheitsorganisation (WHO) am Montag unter Berufung auf das palästinensische Gesundheitsministerium berichtete, sollen sich derzeit mehr als 2000 Menschen in dem Krankenhaus aufhalten, darunter circa 1500 Vertriebene, die Zuflucht vor Luftangriffen suchen. Wie viele Menschen auf dem mehrere Hektar großen Gelände arbeiten, ist laut "Jerusalem Post" unklar. Berichte schwankten zwischen 1400 und 4000 Mitarbeitern, von denen noch 200 bis 500 vor Ort sein sollen. 

Satellitenbild zeigt das Gelände des Schifa-Krankenhauses
Dieses von Maxar Technologies via AP zur Verfügung gestellte Satellitenbild zeigt das Gelände des Schifa-Krankenhauses (rot markiert) und seine Umgebung
© Satellite image '2023 Maxar Technologies / AP / DPA

Der Norden des extrem dicht besiedelten Küstengebiets ist Hauptschauplatz der Kämpfe zwischen Hamas und Israel. Nach israelischen Angaben hat die Hamas inzwischen die Kontrolle über diesen Teil des Gazastreifens verloren. Seit Freitag haben sich die Gefechte weiter verschärft, auch in unmittelbarer Nähe der Schifa-Klinik sollen inzwischen Gefechte stattfinden. "Die ständigen Schießereien und Bombenanschläge in der Gegend haben die ohnehin schon kritische Lage noch verschlimmert", schrieb WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus am Sonntag auf X, vormals Twitter. Zwischenzeitlich habe die WHO den Kontakt zu Krankenhausmitarbeitern verloren, später aber wieder aufnehmen können.

Warum sollte Israels Armee das Krankenhaus ins Visier nehmen?

Die israelische Armeeführung vermutet, dass sich in Tunneln unterhalb des Klinikkomplexes das militärische Hauptquartier der Hamas befindet und wirft der Terrorgruppe vor, die Patienten als menschliche Schutzschilde zu missbrauchen (mehr zum Tunnelsystem der Hamas lesen Sie hier). Mohammad Abu Salamia, der Direktor des Krankenhauses, bezeichnete die Vorwürfe als "Lüge und Diffamierung". Diese Darstellung wird unter anderem von den zwei norwegischen Ärzten Mads Gilbert und Erik Fosse unterstützt, die während der Kämpfe in dem Krankenhaus arbeiteten. So bestanden beide darauf, es hielten sich in dem Krankenhaus keine Hamas-Terroristen auf. Zumindest Gilberts Äußerung ist mit Vorsicht zu betrachten: So fiel der Norweger, der sich selbst als "politischer Arzt" bezeichnet, in der Vergangenheit mit anti-israelischen Äußerungen auf.

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Israel behauptet seit Jahren, das Krankenhaus sei der wichtigste militärische Hamas-Kommandoposten im Gazastreifen. Nach dem Rückzug israelischer Truppen 2005 hätten die Terroristen damit begonnen, den ursprünglichen Kellerbereich des Gebäudes auszubauen, tiefer gelegene Stockwerke hinzuzufügen und diese mit dem großangelegten Tunnelsystem zu verbinden, hieß es. Als vermeintlichen Beweis veröffentlichten die israelischen Streitkräfte (IDF) am 27. Oktober eine 3D-Animation, die das verzweigte und mehrstöckige unterirdische Hamas-Hauptquartier zeigen soll:

Tags darauf ging zudem ein Verhörvideo online, in dem ein angeblicher Hamas-Terrorist die Behauptungen zur militärischen Nutzung bestätigte. Da völlig unklar ist, unter welchen Umständen der Hamas-Kämpfers verhört wurde und wie freiwillig seine Äußerungen sind, hat das Verhör nur bedingt Aussagekraft. Ebenso lässt sich die Echtheit der 3D-Animation nicht unabhängig prüfen.

Die Hamas-Führung wirft Israel ihrerseits vor, gezielt zivile Einrichtungen unter Beschuss zu nehmen. Israels Armeesprecher Daniel Hagari wies dies wiederum entschieden zurück. "Es gibt keine Belagerung, ich wiederhole: keine Belagerung des Shifa-Krankenhauses."

"Die Ostseite des Krankenhauses ist offen für den sicheren Durchgang von Menschen aus dem Gazastreifen, die es verlassen wollen", behauptete Hagari. Kritiker geben jedoch zu bedenken, dass viele Patienten aufgrund ihres kritischen Zustandes nicht transportiert werden können. Zwar hat die israelische Militärführung die Palästinenser in den vergangenen Wochen mehrfach aufgefordert, den nördlichen Teil des Gazastreifens zu verlassen – die Hamas hatte die Menschen jedoch daran gehindert.  

Israels Geheimdienste vermuten zudem auch unter anderen Krankenhäusern feindliche Kommandozentralen. Laut WHO wurden seit Kriegsbeginn 36 medizinische Einrichtungen beschädigt, darunter 22 Krankenhäuser.

Wie ist die aktuelle Lage im Krankenhaus?

Seit Beginn der israelischen Offensive hat sich die Versorgungslage im Norden des Gazastreifens, insbesondere in Gaza-Stadt, täglich verschlechtert. "Alle Krankenhäuser" im Norden des Palästinensergebietes seien inzwischen "außer Betrieb", zitiert die Nachrichtenagentur AFP Jussef Abu Risch, den stellvertretenden Gesundheitsminister der Hamas-Regierung.

Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen beschrieb die Lage im Schifa-Krankenhaus als "katastrophal". In der Klinik sei der letzte Generator, der noch Strom lieferte, am Samstag mangels Treibstoff ausgefallen, hieß es in einem Bericht des UN-Nothilfebüros OCHA, das sich seinerseits auf Angaben des Gesundheitsministeriums der Palästinenserbehörde stützt. Nur wenige lebenswichtige Geräte sollen noch mit Solarenergie laufen.

Laut dem israelischen Außenministerium sollen am Samstagabend IDF-Soldaten mehrere Behälter Treibstoff unter Lebensgefahr direkt an das Krankenhaus geliefert haben. Ein von den Verteidigungsstreitkräften am Sonntagmorgen auf X veröffentlichtes Video soll die Aktion zeigen. Auf der 24 Sekunden langen Aufnahme, die größtenteils mit Nachtsichtgerät gefilmt worden ist, sind Soldaten zu sehen, die mehrere Behälter aus einem gepanzerten Fahrzeug heraus zu einem Gebäude tragen und dort gesammelt abstellen. Aufgrund der Dunkelheit ließ sich zunächst nicht zweifelsfrei belegen, dass es sich um das Schifa-Krankenhaus handelt. Inzwischen konnte der Ablageort lokalisiert werden. Demnach platzierten die Soldaten die Kanister an einer etwa 300 Meter vom Krankenhaus entfernten Kreuzung.*

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Die Reaktion von Klinikchef Abu Salamia spricht für die Authentizität der Aufnahme. So wies Abu Salamia entsprechende Berichte zur Lieferung nicht zurück. Die Hamas habe die Nutzung des Treibstoffs allerdings nicht verboten, wie von israelischer Seite behauptet wurde. Stattdessen kritisierte Salamia, die gelieferte Menge würde "keine Viertelstunde" für den Betrieb der Krankenhausgeneratoren reichen. Für den Normalbetriebe benötige das Krankenhaus täglich 10.000 Liter Treibstoff, erklärte ein Shifa-Chirurg der BBC. Die von den israelischen Soldaten gelieferten Behälter sollen 300 Liter enthalten. Außerdem befürchte das Team, beschossen zu werden, wenn es die Klinik verlasse, um an die Behälter zu gelangen, sagte Direktor Salamia weiter. Wenn Israel wirklich Treibstoff hätte liefern wollte, hätten die Verantwortlichen beim Transport mit dem Roten Kreuz oder einer anderen internationalen Organisation zusammenarbeiten sollen, führte der Klinikchef aus.

Das israelische Narrativ, die Hamas sei für die prekäre Situation im Krankenhaus verantwortlich, befeuerte auch ein am Samstag zahlreich geteiltes Video einer angeblichen Krankenschwester der Einrichtung. "Die Hamas übernimmt das Al-Shifa-Krankenhaus, die Hamas stiehlt Treibstoff und Medikamente", berichtet die Frau in der Aufnahme. Reichweitenstarke Accounts, darunter israelische Prominente, verbreiteten das Posting. Kurz darauf begannen jedoch auch Palästinenser, das Video zu verbreiten und sich darüber lustig zu machen, wie schlecht es gefakt sei. Tatsächlich handelt sich aller Wahrscheinlichkeit nach um rechte israelische Propaganda, wie das israelische Faktencheck-Portal "Fake Reporter" herausfand. Demnach wurde die angebliche Krankenschwester unter anderem von keinem medizinischen Mitarbeiter des Krankenhauses erkannt.

Wie reagieren die USA als Israels wichtigster Verbündeter?

Die USA haben die israelische Führung unter Ministerpräsident Benjamin Netanjahu davor gewarnt, medizinische Einrichtungen zu attackieren. "Die Vereinigten Staaten wollen keine Feuergefechte in Krankenhäusern sehen, bei denen unschuldige Menschen, Patienten, die medizinisch versorgt werden, ins Kreuzfeuer geraten", sagte Jake Sullivan, der Nationale Sicherheitsberater der Biden-Regierung, am Sonntag in einem Interview mit dem US-Nachrichtensender CBS. Sullivan teilte allerdings die Ansicht, wonach die Hamas Patienten als menschliche Schutzschilde nutze.

Was ist dran an den Berichten über tote Frühgeborene?

Nach Angaben des von der Hamas kontrollierten Gesundheitsministeriums vom Montagmittag sind im Schifa-Krankenhaus sieben Neugeborene nach dem Abschalten von Sauerstoffgeräten gestorben. Die Angaben lassen sich ebenfalls nicht unabhängig überprüfen.

Zuvor hatte die palästinensische Gesundheitsministerin Mai Al Kaifa, es seien 39 Säuglinge gestorben, weil sie "weder Sauerstoff noch Medikamente bekamen und der Strom ausfiel". Dies wurde inzwischen von der Behörde korrigiert. Vielmehr seien die Babys vom Tode bedroht. Die ursprüngliche Desinformation verbreitete sich allerdings weiter rasant im Internet.

Laut einem UN-Bericht sollen seit dem angeblichen Stromausfall zwei Frühchen sowie zehn andere Patienten verstorben sein. Da sich das UN-Nothilfebüro OCHA auf Angaben des Gesundheitsministeriums der Palästinenserbehörde in Ramallah im Westjordanland bezieht, ist eine unabhängige Bestätigung der Zahlen nicht möglich. Dies gilt auch für die Angabe, wonach weitere 36 Frühchen sowie mehrere Dialysepatienten aufgrund der prekären Lage in akuter Lebensgefahr schwebten.

Auch mangelnde Hygiene stellt Berichten zufolge zusehends ein Problem dar. In den Straßen vor der Klinik liegen Dutzende, lediglich in weißes Tuch eingewickelte verwesende Leichen, wie auf Fotos zu sehen ist. Ein Schifa-Chirurg sagte der BBC, im Krankenhaushof lägen 100 unbestattete Leichen. Wegen der heftigen Kämpfe sei jeder Versuch, die Toten zu begraben, bislang gescheitert, so der Arzt weiter. Die Kühleinrichtungen im Krankenhaus kämen wegen des Treibstoffmangels nicht in Frage. 

Quellen: "New York Times", "Tagesschau", "Jerusalem Post", BBC, DPA, AFP

*Hinweis der Redaktion: In einer ersten Version des Textes hieß es, dass im die Treibstoff-Lieferung zeigenden Video Randsteine zu erkennen seien, die es auch auf dem Gelände des Shifa-Krankenhauses an mehreren Stellen gibt. Inzwischen konnte der Ablageort der Kanister exakt bestimmt werden. Wir haben die Passage mit dieser Information aktualisiert.