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Adib
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eBook635 Seiten9 Stunden

Adib

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Über dieses E-Book

Der fünfzehnjährige Adib aus Kabul, Afghanistan, auf die Straße gesetzt von seiner eigenen Familie, auf der Flucht vor Taliban und Sicherheitskräften zugleich, schlägt sich durch bis nach Deutschland und kämpft verzweifelt darum, hier endgültig anzukommen. Seine deutschen Pflegeeltern setzen alles daran, ihm zu helfen, müssen aber bald erkennen, dass sich so eine Vergangenheit nicht einfach abstreifen lässt. Unversehens sind sie in ein gefährliches Abenteuer verstrickt, das ihnen alles abverlangt und dessen Ausgang höchst ungewiss ist.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum7. Okt. 2021
ISBN9783347397859
Adib
Autor

C.D. Gerion

Geb. 1955, hat der Autor erst nach einem äußerst lehr- und abwechslungsreichen Leben die Zeit und die Freiheit zum Schreiben gefunden. Lebensweg: Aufgewachsen in der norddeutschen Provinz, High School-Abschluss als Austauschschüler in den USA, Abitur in Deutschland, Studium der Ökonomie und der Sinologie in Hamburg, Tokio, Taipei und Hong Kong, Promotion zum Dr. rer.pol.; Attachéausbildung im Auswärtigen Amt. Langjährige Tätigkeit im Auswärtigen Dienst, zuletzt 9 Jahre als Leiter diverser Auslandsvertretungen. Einsatz vor allem in Ostasien (China insgesamt 6 Jahre, Japan 12 Jahre). Schreibmotivation: Spannende Unterhaltung zu bieten, dies aber durchaus mit Tiefgang sowie in kritisch-aufklärerischer Tradition und Intention. www.cdgerion.de

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    Buchvorschau

    Adib - C.D. Gerion

    Erstes Buch – Flucht

    Jetzt, wo die Geschichte doch noch ein so tragisches Ende gefunden hat, kommen wir nicht darum herum, alles noch einmal hervorzuholen. All das, was wir schon einmal zusammengestellt hatten, vor einen Dreivierteljahr, als wir sicher waren, es wäre geschafft. Jetzt nämlich müssen wir ein weiteres Kapitel hinzufügen zu den Aufzeichnungen, Protokollen und Tagebucheinträgen aus unseren ersten anderthalb Jahren mit Adib. Es gilt vorbereitet zu sein für den Fall, dass man uns doch noch einmal kritische Fragen stellt. Wir wollen aber auch Klarheit für uns selbst, damit diese Geschichte uns nicht auf Dauer in unseren Alpträumen heimsucht, so wie seine Geschichte unseren Adib. Und möglicherweise werden auch unsere Kinder eines Tages genau wissen wollen, wie es dazu kommen konnte, dass dieses Abenteuer ihrer Eltern so endete.

    An den Anfang gehören die Aufzeichnungen, die uns der Junge an einem Tag überreicht hat, an dem wir alle noch voller Optimismus gewesen sind – am Morgen seines achtzehnten Geburtstags:

    MEINE FLUCHTGESCHICHTE

    – Für Mama Martina und Papa Mitch –

    So steht es vorne auf dem weißen Aufkleber, eigenhändig geschrieben von ‚unserem Jungen‘, in sorgfältig ausgemalten Buchstaben. Die mehr als hundert Seiten in dem schwarzen Hefter sind eng bedruckt in Kursivschrift – so, als müssten sich die Buchstaben anlehnen und die Sätze Halt suchen aneinander. Ich weiß noch, wie Martina gestaunt hat. „Das ist ja ein richtiges Buch."

    Heute wissen wir, dass es vor allem sein schlechtes Gewissen war, das den Jungen dazu gebracht hat, die Geschichte seiner Flucht aufzuschreiben – extra für uns. Schlechtes Gewissen, weil er es nicht vermocht hat, uns die eigentliche Geschichte anzuvertrauen. Wir haben diese Seiten damals also zur Kenntnis genommen, ohne den Schlüssel zu ihrem vollen Verständnis zu haben. Sobald der Junge zur Haustür raus war, haben wir es uns in unserer Sitzecke bequem gemacht, um uns sein ‚Buch‘ abwechselnd vorzulesen.

    „Du zuerst." Ich habe Martina den schwarzen Hefter über den Tisch geschoben. Adib war ja zuallererst ihr Junge.

    Martina hat auf das schwarze Cover hinuntergesehen, als würde sie sich fürchten vor dem, was auf den Seiten dahinter zu lesen sein würde. „Nein, du zuerst. Schließlich ist er auch dein Junge."

    „Nein, du zuerst – er hat dich ja im Untertitel an erster Stelle genannt."

    „Okay, Martina hat einmal tief durchgeatmet. „Aber dann unterbrich mich nicht dauernd.

    . . .

    Kabul, Afghanistan

    Mir blutet das Herz. Immer wieder, wenn ich nur daran denke. „Du darfst unter keinen Umständen wiederkommen, hat Tante Khosala gesagt. „Niemals. Und nimm auch nie wieder Kontakt zu uns auf. Tante Khosala, Trost meiner Kindheit, letzte Zuflucht in tiefster Not, Tante Khosala hat mich über die Schwelle geschoben und fortgescheucht wie einen bösen Traum. Alle meine Sachen hat sie verbrannt. Meine struppigen Haare hat sie geschoren. Am Ende hat sie mir auch noch eine Baseball-Kappe tief ins Gesicht gedrückt, damit mich auch ja keiner erkennt. Damals habe ich nicht verstanden, wie sie so grausam sein konnte.

    Es wurde schon dunkel. Ich musste so schnell wie möglich einen Winkel finden, in dem ich mich für die Nacht verkriechen konnte. Erst am Morgen, um sieben Uhr spätestens, musste ich an der Asmayi Road stehen, am großen Kreisverkehr, an dem auch die Darul Aman in Richtung Nationalmuseum abgeht. Ich aber musste an der Ausfahrt Richtung Westen warten. Ein Lastwagen mit Nummernschild aus Herat würde mich aufnehmen, hatten sie gesagt.

    Es begann zu nieseln. Die neuen Schuhe drückten, die steifen Jeans scheuerten auf der Haut, die Gurte des schweren Rucksacks schnitten mir in die Schultern. Mir fiel nur ein einziger Ort in der Nähe ein, an dem ich – mit etwas Glück – niemandem auffallen würde. Zitternd drückte ich mich in die Lücke zwischen der Mauer um den Innenhof der Moschee und dem rissigen Stamm des alten Maulbeerbaums. Damals, im letzten Sommer meiner Kindheit, hatte das dichte Laub dieses Baums meinem Vetter Xatar perfekten Sichtschutz geboten. Jetzt aber – im März – war das frische Grün noch nicht dicht genug. So blieb mir nur der enge, feuchte Winkel auf dem Boden hinter dem Stamm, damit mich niemand bemerkte.

    In nicht einmal zwanzig Minuten hätte ich von diesem Versteck aus an den Stätten meiner Kindheit sein können. Hätte hinauflaufen können in den fünften Stock und mit klopfendem Herzen vor unserer Wohnungstür gestanden. Hätte laut „Hallo, ich bin wieder da …" rufen können. Aber Großvater wäre nicht da gewesen, um mir die Tür zu öffnen. Auch zum Block VI hätte ich hinüberlaufen können, um noch einmal hinaufzusehen zu den Fenstern im dritten Stock. Das aber hätte mir das Herz zerrissen. Auch an meiner alten Schule wäre ich schnell gewesen, aber man hätte mich dort nicht mehr eingelassen. Außerdem gab es ja auch noch den Militärposten direkt gegenüber dem Schultor. Ohnehin hätte mich in dieser Schule niemand mehr als den ‚Kleinen von unserer Zohra‘ begrüßt. Selbst an den Namen meiner Mutter hätten sich die wenigen dort, die sie noch kannten, inzwischen sicher kaum noch erinnert. Nein, meine Kindheit war endgültig tot und begraben. Es war sinnlos, sich an eine Welt zu klammern, die es gar nicht mehr gab. Alles was es gab, war ein Ziel, das ich nicht kannte. Aber ein Ziel immerhin. Wer ein Ziel hat, hat auch wieder Grund, etwas zu hoffen, selbst wenn es nur die Hoffnung auf eine Ankunft irgendwo ist.

    Ja, ich musste alles hinter mir lassen und nur noch nach vorne schauen. Das war ich schließlich auch meiner Tante Khosala schuldig. Trotz allem hatte ich es nur ihr zu verdanken, dass es noch einmal so etwas wie eine Hoffnung gab. Najib, mein Onkel, hatte mich schon an der Haustür davonjagen wollen.

    „Aber sieh dir den Jungen doch einmal an, hatte Tante Khosala gerufen. „Und jetzt, im Dunkeln, hat ihn bestimmt auch keiner gesehen. Damit hatte sie Onkel Najib beiseitegeschoben, mich ins Haus gezogen und schnell die Tür zugeworfen. Da war ich zusammengebrochen.

    Als ich wieder zu mir gekommen bin, habe ich auf dem Bauch gelegen, auf etwas so kühl und so glatt, wie ich es noch nie zuvor gefühlt hatte. Etwas hat an meinen Haaren gezupft, da war ein metallisches Klicken zu hören und irgendjemand atmete schwer. Endlich habe ich die Kraft aufgebracht, meine Augen zu öffnen. Erst habe ich nur schwarze Haarbüschel auf weißglänzenden Fliesen liegen gesehen, dann einen schwarz-rot gemusterten Stoff, über ein paar Knie gespannt. Dann erst habe ich erkannt, dass das Tante Khosala war, die vor meinem Gesicht gekniet hat. Sie war dabei, mir die struppigen Haare zu scheren wie einem Schaf. Ich war nackt! Sie hatten mir die schmutzigen Kleider vom Leib gezogen, bevor sie mich auf ihren sauberen, weißen Fliesen abgelegt hatten. Haben sie etwa gedacht, sie könnten mir so meine Vergangenheit abstreifen?

    Tante Khosala hat wohl gemerkt, wie ich mich verkrampft habe. „Keine Angst, Adib. Jetzt bist du erst einmal sicher, hat sie leise gesagt. Das Mitleid in ihrer Stimme brachte etwas tief in mir zum Schmelzen. „Lass die Tränen nur fließen. Die duschen wir dann auch gleich mit ab.

    Ich hatte das Haus von Onkel Najib und Tante Khosala im Stadtteil Karta-i-Seh erst gar nicht wiedererkannt. Damals, als sie geheiratet hatten, war es ein etwas heruntergekommenes Haus auf einem großen Grundstück gewesen. Inzwischen war daraus eine prächtige Villa geworden. Ich erinnerte mich, dass Onkel Najib noch in meiner Zeit in Kabul den Auftrag erhalten hatte, in seiner Druckerei die Schulbücher für das ganze Land zu drucken. Welch ein Wunder, dass man durch Bücher reich werden konnte!

    Die glatten Fliesen, diese herrliche Dusche, aus der heißes Wasser kam, alles glänzend und neu. Und dann erst das Bett. Als ich das erste Mal in diesem Hause gewesen war, am Abend von Tante Khosalas Hochzeit, sieben Jahre zuvor, hatten wir als die engsten Verwandten des Brautpaars uns um das riesige Bett im Hochzeitszimmer gedrängt und gestaunt. Ich, damals gerade neun Jahre alt, hatte an einer Ecke des Fußendes heimlich über die seidig glänzende Überdecke gestrichen und mir vorgestellt, wie es sich wohl anfühlen würde, in so einem Bett zu liegen.

    Inzwischen gab es anscheinend mehrere Schlafzimmer im Haus, in denen richtige Betten standen wie in einem amerikanischen Film. In eines dieser Zimmer im ersten Obergeschoß hat mich Tante Khosala geführt, nachdem sie mit mir fertig gewesen ist. Hemd und Hose von Onkel Najib sind mir lose um den Körper geschlottert. Ich habe mich in das Bett fallen lassen. Als die weiche Decke über mir zufiel, war es, als versänke ich in einem tiefen, warmen See. Ich müsse die ganze Zeit leise sein, hat Tante Khosala gesagt. Damit mich die Mädchen nicht hörten.

    Die drei Tage und Nächte, die ich in diesem Zimmer weggesperrt war, habe ich die meiste Zeit nur geschlafen oder gedöst. Nicht einmal Alpträume hatte ich. Kann man zu erschöpft sein, um Alpträume zu haben? Als ich das erste Mal wieder aufgewacht bin, hat eine ganze Schüssel Kabuli Pilau mit Lammfleisch und vielen Rosinen auf dem Stuhl neben meinem Bett gestanden. Später, wenn ich zwischendurch wach lag, habe ich kaum gewagt, mich zu rühren. Ich hatte Angst, durch eine unbedachte Bewegung herauszufallen aus diesem watteweichen Traum, diesem Zustand zwischen Tod und Paradies.

    Vom Kampf um mein Schicksal habe ich immer nur Bruchstücke mitbekommen: Wortfetzen einer etwas lauteren Diskussion unten, ein kurzes, heftiges Wort direkt vor meiner Tür, Austausch gemurmelter Argumente nebenan in der Nacht: „… muss sofort aus dem Land … kommt er nie durch … Flug von Peschawar nach Maschhad … Paschtunengebiete … wissen doch, wie er aussieht … geht nicht, in seinem Zustand … Landweg … Straßensperren … ohne Papiere …" Ja, sie hatten Angst. Aber sie wollten mir helfen.

    Einmal auch: „Nauroz …" Ein Wort aus einer anderen Zeit, ein Wort, wie ein Versprechen, ein Wort, das sie einem aus dem Kopf schlagen und aus dem Körper peitschen wollen, weil es all das verheißt, was ihnen ein Gräuel ist: Musik – Tanz – die Feier des Lebens. Gleich als Tante Khosala mir das nächste Mal Essen ins Zimmer gebracht hat, habe ich nachgefragt. Ja, in zwei Tagen war der einundzwanzigste März. An dem Abend kämen Gäste ins Haus. Eine Party zur Feier des Frühlingsfests. Wichtige Gäste. Bis dahin müsse ich aus dem Haus sein. Ich habe noch die Tränen in ihren Augen gesehen, als sie sich abgewandt hat, um aus dem Zimmer zu gehen. Nach Großvater zu fragen und ob sie etwas von ihm gehört hätten, habe ich gar nicht gewagt. Und ihnen ist es in der restlichen Zeit ja ohnehin nur noch darum gegangen, mir einzuschärfen, was ich für die Flucht wissen musste …

    Plötzlich schreckte ich hoch. Etwas Heißes breitete sich aus, unten am Bein. Ein großer, magerer Köter stand da – mit dem Hintern zu mir und einem Bein in der Luft. Der heiße Urin sickerte mir durch die Hose und bis in den Schuh. Einen Aufschrei konnte ich gerade noch unterdrücken. Später begann ein kalter Nieselregen aus der Finsternis über mir auf mich herniederzugehen. So tief es ging, verkroch ich mich in meine neue, gefütterte Jacke. Gegen Morgen fingen meine Zähne vor Kälte so laut zu klappern an, dass ich Angst bekam, jemand könnte mich hören. Da kroch ich aus meinem Versteck und machte mich auf den Weg.

    Ich hatte schon über eine Stunde an dem Kreisel gestanden, da endlich näherte sich ein Lastwagen mit Kennzeichen aus Herat. Auch die fünfstellige Zahl hinter dem HRT stimmte. Ich begann, wild zu winken. Ich hatte Angst, der Fahrer könnte mich übersehen. Er bremste erst in letzter Minute. Ich rannte, als ginge es um mein Leben. Die Tür des Fahrerhäuschens flog auf, ich wurde nach oben gerissen und im nächsten Moment schon presste mich die zuschlagende Tür an den kräftigen Jungen, der mich zu sich hinaufgezogen hatte.

    Der Fahrer fluchte und trat aufs Gas. Gleichzeitig langte er an seinem Beifahrer vorbei und riss mir die Baseball-Kappe vom Kopf. „Sowas hier vorne bei uns, und die winken uns an jedem Kontrollpunkt an die Seite. Und dann auch noch kahlgeschoren – wie ein entlaufener Soldat. Gib ihm deine Pakol." Sein junger Helfer grinste, zog seine schmutzig- braune Mütze ab – eine von der Art, wie sie bei uns Leute aus den Bergen tragen – und drückte sie mir auf den Kopf.

    „Außerdem stinkt er nach Hundepisse. Bei der nächsten Gelegenheit muss er nach hinten." Der Mann schien mich nicht zu mögen. Er war ein vierschrötiger Typ mit rundem Gesicht, breiter Nase und schmalen Augenschlitzen, der mich an ein Bild von Dschingis Khan aus einem meiner alten Kinderbücher erinnerte. Offenbar ein Hazara. Das Einzige, was mich beruhigte, war das Wissen, dass er erst dann voll bezahlt werden würde, wenn er mich unversehrt über die iranische Grenze gebracht haben würde. Das hatte mir Onkel Najib gesagt. Ansonsten wusste ich nur, dass die Reise bis Endstation Italien ‚gebucht‘ und entsprechend Geld hinterlegt war. Danach würde ich mich allein durchschlagen müssen. Am besten bis nach Deutschland, hatte mir Onkel Najib geraten. Angeblich bekam man dort als Flüchtling gleich eine Wohnung und sogar Geld vom Staat. Das hatte er mir aber wohl nur erzählt, um mir die Angst vor der langen und gefährlichen Reise zu nehmen. Ich aber wollte sowieso lieber nach Frankreich …

    Ein Stoß in meine Seite schreckte mich aus meinen Gedanken. „Hey, willst du nicht langsam mal deinen Rucksack abnehmen? Oder hast du da einen Goldschatz drin?" Der Gehilfe Dschingis Khans zwinkerte mir zu. Er schien kaum älter zu sein, als ich, war aber viel kräftiger. Wie sein Boss hatte auch er die typischen Gesichtszüge der Hazara. Er half mir, meinen Rucksack herunterzunehmen und zwischen meinen Füßen zu verstauen.

    Je weiter wir aus dem Stadtgebiet von Kabul herauskamen, desto mehr lichtete sich der Verkehr. Wir fuhren ein Stück weit an einem Flüsschen entlang. Das Wasser glitzerte in der aufgehenden Sonne. Beim Anblick der bereits rosa und weiß blühenden Obstbäume am Ufer und der dahinter in frischem Grün leuchtenden Felder entfuhr mir ein Seufzer. Der lange Winter war endlich zu Ende. Das Leben kehrte zurück.

    Die Autobahn machte eine scharfe Rechtskurve und unmittelbar danach trat der Fahrer erneut voll auf die Bremse. Auf einer Brücke über ein ausgetrocknetes Flussbett kamen wir zum Stehen. „Yallah! Los, raus. Raus!, bellte Dschingis Khan in meine Richtung. Sein Helfer stieß die Wagentür an meiner Seite auf und schubste mich aus dem Führerhaus. Ich wäre hingestürzt, hätte ich nicht sofort das Brückengeländer zu fassen bekommen. Da flog auch schon mein Rucksack auf mich zu. Der Junge sprang hinterher. Auch er brüllte jetzt „Yallah, Yallah und trieb mich durch den schmalen Zwischenraum zwischen Brückengeländer und LKW nach hinten, löste mit einigen geübten Griffen die Plane, ließ die Ladeklappe herunter und warf meinen Rucksack in den schmalen Zwischenraum zwischen zwei großen Holzkisten, die gleich vorn auf der Ladefläche standen. Dann half er mir hinauf.

    Ich quetschte mich zwischen die Kisten, die fast so hoch waren wie ich. Die Ladeklappe schloss sich mit einem Knall, die Plane fiel zu und wurde festgezurrt. „Mach dich unsichtbar", hörte ich noch, dann stand ich im Dunkeln. Ich hatte gerade noch sehen können, dass weiter hinten Kartons und Autoreifen gestapelt waren. Kaum hatte ich mich zwischen den Kisten hindurchgezwängt und mir einen Sitzplatz zwischen den Autoreifen ertastet, erzitterte der Laster und setzte sich ruckartig in Bewegung.

    Eigentlich hätte ich wütend sein sollen auf den jungen Kerl, der mich wie ein Stück Vieh vor sich hergetrieben und in dieses finstere, nach Motorenöl stinkende Loch eingesperrt hatte. Aber der hatte ja nur die Anweisungen seines Bosses befolgen müssen. Der befürchtete wohl, dass es vor Maydanschahr – den Namen der Stadt hatte ich kurz zuvor noch auf einem Hinweisschild gelesen – schon eine erste Kontrolle geben könnte. Bei dem Gedanken an eine mögliche Kontrolle und daran, dass meine Flucht ein Ende finden könnte, bevor sie richtig begonnen hatte, spürte ich ein Würgen im Hals. Außerdem hatte ich Durst.

    Ich tastete nach meinem Rucksack, der zwischen die Reifen gerutscht war. Innerhalb kürzester Zeit war meine Feldflasche leer. Onkel Najib hatte mir gesagt, dass die Schlepper auch dafür bezahlt wurden, mich unterwegs mit Essen und Trinken zu versorgen. Aber bei dem Motorenlärm und Gerüttel hatte ich keine Chance, mich bemerkbar zu machen. Trotzdem arbeitete ich mich langsam über die Stapel von Reifen, Holzkisten und Kartons Richtung Führerhaus vor. Schließlich musste ich rechtzeitig vor der ersten Kontrolle auch noch ein Plätzchen finden, um mich unsichtbar zu machen. Direkt vor dem Führerhaus stieß ich auf eine ganze Wand aus Kartons, die mir bis unters Kinn reichte. Beim Herumtasten stellte ich fest, dass es dahinter noch einen Hohlraum gab, wohl gerade groß genug, um im Fall einer Kontrolle darin verschwinden zu können.

    Es kam aber keine Kontrolle. Stattdessen ging der Laster kurz darauf plötzlich in eine so enge Rechtskurve, dass ich gegen eine der Kisten geschleudert wurde. Zum Glück hatte ich die dicke Jacke an, die den heftigen Stoß gegen meine Schulter abpolsterte. Sobald der Schmerz etwas nachließ, klemmte ich mich in eine Lücke zwischen einem Stapel Reifen und einem großen Karton, in der ich mich vor weiteren solchen Unfällen geschützt glaubte.

    Dann erst fiel mir auf, dass unser Fahrer jetzt häufiger hupte, bremste und schaltete und gelegentlich Hindernissen oder Schlaglöchern auszuweichen schien. Das konnte nur eins bedeuten: Wir waren von der Fernstraße abgebogen. Wir nahmen die Landstraße durch die Berge! Ich war davon ausgegangen, dass wir bis Herat auf der A 01 bleiben würden. Noch aus dem Erdkundeunterricht hatte ich den riesigen Bogen vor Augen, den diese Fernstraße durch den ganzen Süden Afghanistans macht, bevor sie wieder in Richtung Norden auf Herat zuführt und damit in die Nähe der iranischen Grenze kommt. Das war zweifellos die am besten ausgebaute und damit schnellste Strecke dorthin.

    Herat 1.070 km. Auch das hatte ich auf einem Hinweisschild gelesen, als ich noch vorne gesessen hatte. Ich hatte mir ausgerechnet, dass wir so in gut zwei Tagen in der Nähe der iranischen Grenze sein könnten. Aber jetzt durch die Berge? Das konnte eine Woche dauern. Sogar länger. Mir wurde schwindelig. Der Fahrer wollte wohl die Gebiete im Süden vermeiden, die von den Taliban kontrolliert wurden. Ich aber wusste nicht einmal, wovor ich mehr Angst haben sollte: Vor einem Hinterhalt der Bärtigen oder vor einer Kontrolle durch die Armee.

    Laute Stimmen weckten mich auf. Wir standen. Mir war kalt. Ich hatte Hunger. Schlimmer noch war der Durst. Außerdem musste ich pinkeln. Motoren wurden abgestellt oder angelassen. Es roch nach Benzin. Offenbar eine Tankstelle. Kaum war ich zu diesem Schluss gelangt, da spürte ich am Vibrieren des Bodens, dass auch unser Motor wieder angelassen wurde. Am liebsten hätte ich laut geschrien. Hatten die mich etwa vergessen?

    Ich hatte zuvor festgestellt, dass die Bretterwand, die die Ladefläche nach vorne hin abschloss, bis ganz nach oben reichte. Es war also nicht möglich, direkt ans Führerhaus zu klopfen. Vielleicht würden die mich dort drin aber hören, wenn ich mit meiner Feldflasche gegen die Bretter schlug. Ich arbeitete mich ganz nach vorn durch und kletterte dort auf die großen Kartons. In dem Moment wurde der Laster so abrupt abgebremst, dass ich fast in den Zwischenraum gerutscht wäre, den ich vorher entdeckt hatte. Ich konnte mich gerade noch rechtzeitig festklammern.

    Wir bogen ab auf einen offenbar unbefestigten Weg, es schaukelte heftig, wir fuhren bergauf. Mehrmals ging es um Kurven, abwechselnd nach links und nach rechts – Serpentinen.

    Endlich kam der Laster zum Stehen. Jemand rief etwas. Dann ein Quietschen und Einrasten, als würde hinter uns ein Metalltor geschlossen. Ich tastete mich hastig wieder zurück Richtung Ausstieg. Dort hörte ich schon jemanden hantieren. Ich steckte noch in dem Zwischenraum zwischen den beiden Holzkisten, als bereits die Ladeklappe herunterfiel.

    Auch draußen war es dunkel, aber ich erkannte die Umrisse des Jungen. „Komm raus, rief er mir mit gedämpfter Stimme entgegen. Mit den Füßen voran rutschte ich auf dem Bauch von der Ladefläche. Ich musste mich abstützen, so wackelig war ich im ersten Moment auf den Beinen. Der Junge lachte. Dann zeigte er auf den schwachen Lichtschein, der aus der angelehnten Tür des schlichten Lehmhauses fiel, vor dem wir standen. „Essen, sagte er und führte seine Fingerspitzen zum Mund, als hielte er bereits ein zur Kugel geformtes Reisbällchen dazwischen. Ich hätte ihn umarmen können. „Erst pinkeln", sagte ich. Er wies auf eine Mauer gegenüber und verschwand dann im Haus.

    Obwohl ich völlig erschöpft war, lag ich nach dem Essen noch länger wach. Der Besitzer dieser Herberge, der Fahrer, sein Helfer und ich lagen aufgereiht nebeneinander auf dem Boden in dem Raum, in dem wir gegessen hatten. Die beiden Frauen unseres Wirts, die uns bedient hatten, schliefen in dem kleinen Küchenanbau nebenan, in dem auch meine Sachen trockneten. Außer dem Schnarchen des Fahrers, dem gelegentlichen Grunzen unseres Wirts und hin und wieder Hundegebell in der Ferne war kein Laut zu hören. Es war, als hätte man mich in meine Zeit in den Bergen zurückversetzt. Seltsamerweise war der Gedanke daran in dieser Nacht mit so etwas wie einem Gefühl von Vertrautheit und Heimat verbunden.

    Beim Essen hatte mich der Junge gefragt, wo ich eigentlich hinwollte. Nach Maschhad – da hätte schon ein Bruder von mir Arbeit in einer Ziegelei, hatte ich behauptet. Diese Antwort hatte mir Tante Khosala eingeschärft. Es solle bloß keiner auf die Idee kommen, dass ich eine längere Reise vorhätte und dafür vielleicht eine größere Summe Geld dabeihaben könnte.

    Dschingis Khan hatte mich durchdringend angesehen. Dann hatte er mir mit seiner Pranke auf die Schulter geschlagen, mit der ich zuvor gegen eine Kiste geprallt war. Mit Mühe hatte ich einen Aufschrei unterdrückt. „Verdammt schwere Arbeit – da wünsche ich dir viel Glück, hatte er gerufen. „Jedenfalls schwerer als das, was mein Neffe Karim bei mir zu tun hat. Damit hatte er seinem jungen Helfer auch einen kräftigen Klaps versetzt. „Dafür muss der dir aber gleich noch zeigen, wo du dich waschen kannst. Sonst haben wir noch die ganze Nacht diesen Geruch in der Nase", hatte er mit einem vielsagenden Seitenblick auf mein eines Hosenbein hinzugefügt.

    Offenbar war er gutmütiger, als ich gedacht hatte. Ab da war ich zuversichtlich, dass er alles tun würde, um mich sicher in den Iran zu bringen. Mit diesem Gedanken bin ich am Ende des ersten Tages meiner Flucht schließlich eingeschlafen.

    Karim rüttelte mich wach. „Auf, Wasser holen", sagte er und stellte einen großen Plastikkanister neben mir ab. Sein Onkel und unser Wirt tranken da bereits in aller Ruhe ihren Morgentee. Ich lief dem Jungen hinterher nach draußen, wo es im Osten gerade erst zu dämmern begann. Wir liefen den steilen Pfad hinter dem Haus hinauf zu der Quelle des Bergbachs, in dem ich mich am Abend noch schnell gewaschen hatte, und füllten dort unsere zwei Kanister mit dem eiskalten Wasser.

    Bevor wir uns auf den Rückweg machten, zeigte Karim zu dem unterhalb unserer Herberge gelegenen Dorf hinunter und von da aus weiter das frühlingsgrüne Tal entlang Richtung Westen. In der Ferne ließen in diesem Moment die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne eine Reihe schneebedeckter Berggipfel rosa erglühen. „Koh-i Baba, sagte er, „da entlang geht es weiter.

    Als ich kurz darauf wieder in den düsteren Laderaum kletterte, reichte er mir noch einige zusammengerollte Brotfladen zu und stellte einen der beiden Wasserkanister zu mir auf die Ladefläche hinauf. Er schärfte mir ein, möglichst wenig zu trinken. Wahrscheinlich würden wir wieder den ganzen Tag und bis in die Nacht ohne Halt durchfahren. Und wenn sein Onkel eines hasste, wäre das ein vollgepinkelter Laderaum. Außerdem würde das bei einer Kontrolle auch sofort auffallen. Wie lange wir wohl brauchen würden bis Herat, fragte ich noch schnell. Sechs, sieben Tage – wenn wir Glück hätten, war die knappe Antwort. Dann fiel die Plane zu und es wurde dunkel im Laderaum.

    Die folgenden Tage kamen mir endlos vor. Wir fuhren meist den ganzen Tag durch und hielten erst nach Einbruch der Dunkelheit, manchmal an einer ähnlichen Herberge, wie in der ersten Nacht, manchmal aber auch nur irgendwo abseits der Straße, wo ich kurz austreten durfte. Aber zum Schlafen musste ich immer wieder in den Laderaum. Die meiste Zeit über hatte ich Durst. Ich versuchte, den ganzen Tag mit dem einen Liter Wasser auszukommen, den ich mir morgens aus dem großen Plastikkanister in die Feldflasche abfüllte. Auch die Kälte war schlimm, vor allem nachts in meinem nur durch die dünne Plane geschützten Versteck. Je höher wir in die Berge hinaufkamen, desto eisiger wurde es. Oft zog ich mir die schmutzige, nach Motoröl stinkende Decke, die Karim mir vor der ersten Nacht draußen im Laster zugeworfen hatte, sogar bis über das Gesicht. Noch schlimmer war, dass die Straße immer schlechter wurde. Über weite Strecken war es nur eine aus lauter Schlaglöchern bestehende Piste. Über Stunden wurde ich durchgeschüttelt und musste mich, wenn der Laster um irgendwelche Hindernisse herumkurvte, immer wieder längere Zeit irgendwo festklammern. Bald tat mir jeder Knochen und jeder Muskel weh.

    Während eines nächtlichen Halts, bei dem ich kurz austreten durfte, war es mir in einem unbeobachteten Moment gelungen, eine der Schnallen zu lockern, die an der Rückseite des Lasters ringsum die Plane verschlossen. Ab da konnte ich wenigstens hin und wieder einen Spalt öffnen und schräg nach hinten hinaussehen. So kam ich mir nicht mehr ganz so eingesperrt vor und der Tag verlor ein wenig von seiner Eintönigkeit.

    Über weite Strecken folgte die Straße den Flusstälern. Manchmal konnte ich direkt in tosende Bergbäche hinuntersehen. Dann wieder glitten auf meiner Seite schroffe Felswände so nah vor meinen Augen vorbei, dass ich sie beinahe hätte berühren können. Wenn ich dann starr geradeaus auf den vorbeihuschenden Fels blickte, schien es kein Halten mehr zu geben. Das schroffe Gestein wurde zu einem flatternden Band, und es gefiel mir, an die Helden meiner Kindheit zu denken, wie sie in wildem Ritt durch die Steppe ihren Feinden davongaloppierten …

    Ich musste geschlafen haben. Ich schreckte hoch, weil ich laute Stimmen hörte. Wir standen. Ein feiner Streifen Licht verriet mir, dass es draußen noch hell war. Anscheinend hatte ich meinen Sehschlitz nicht sorgfältig genug verschlossen. So viele Stimmen auf einmal hatte ich schon seit Tagen nicht mehr gehört. Jemand lachte laut. Ein Kontrollposten war das nicht. Autotüren wurden zugeschlagen. Dann auch die unseres Lasters, wie ich am kurzen Erzittern meines Gefängnisses merkte. Wir fuhren an, nur um nach wenigen Minuten rüttelnder Fahrt wieder stehen zu bleiben.

    Jemand stieg aus und dann hörte ich, wie mein Name gerufen wurde. Laut, denn im Hintergrund rauschte es. Dann machte sich jemand an der Plane zu schaffen. Ich erschrak. Jetzt haben sie meinen Sehschlitz entdeckt, dachte ich. Mit angehaltenem Atem wartete ich im Schutz der großen Holzkiste vor der Ladeklappe. Dann fiel Licht in den Laderaum und ich erkannte Karims Stimme. „Hier für dich, rief er. Ich wagte mich hinter meiner Kiste hervor, und dann sah ich, was er mir da unter der Plane entgegenstreckte: Ein ganzes Bündel Kebab-Spieße! Ich konnte es nicht glauben. „Nimm schon, wir müssen weiter, hörte ich ihn rufen. Ich zwängte mich zwischen den Kisten hindurch. Hinter Karims grinsendem Gesicht strömte ein schäumender Fluss unterhalb einer Felswand vorbei.

    „Eben, an der Brücke, gab es einen Verkaufsstand. Wohl die letzte solche Gelegenheit für längere Zeit"

    „Wie weit ist es denn noch?", fragte ich.

    „Noch ein paar Tage. Wir sind ja erst in Tschaghtscharan. Der schwierigste Teil der Strecke liegt noch vor uns." Damit ließ er die Plane herunter. Ich stand wieder im Dunkeln, eingehüllt in den köstlichen Duft der Fleischspießchen.

    Plötzlich saßen wir fest. Vor uns ein Laster, der wegen eines Steinschlags nicht weiterkam, wie ich kurz darauf von Karim erfuhr. Wir hatten das Flusstal schon vor längerer Zeit verlassen. Seitdem hatte sich die Piste in Serpentinen hinauf und hinunter durch schroffe, baumlose Berge gewunden, immer wieder an schwindelerregenden Abgründen entlang.

    Hinter uns stauten sich bald weitere Fahrzeuge. Als die Fahrer endlich die Strecke freigeräumt hatten, fuhren wir in Kolonne. Für mich bedeutete das: Ich durfte auch bei den seltenen kurzen Zwischenstopps mein finsteres Versteck nicht mehr verlassen. Karim kam dann und tat so, als müsse er nach der Ladung sehen oder die Trinkflaschen für sich und seinen Boss auffüllen, um mir unauffällig in Zeitungspapier eingewickelte Brotfladen oder getrocknete Feigen zu hinterlassen. Nicht einmal meinen Sehschlitz konnte ich mehr nutzen. Jede ungewöhnliche Bewegung der Plane hätte den Männern im Laster hinter mir auffallen können.

    Wir fuhren nun Tag und Nacht durch. Offensichtlich wechselten sich die Fahrer und ihre Beifahrer ab. Auch Karim übernahm zeitweise das Steuer, wie er mir mitteilte. Wahrscheinlich hatte ich ihn wegen seines weichen, runden Mogolengesichts jünger geschätzt als er war.

    Ich verlor endgültig jegliches Zeitgefühl und schließlich auch jedes Gefühl für meinen durchgerüttelten Körper. Manchmal schien jede Muskelfaser und jeder Knochen zu schmerzen, dann wieder musste ich in dem harten Nest aus Reifen, das ich mir gebaut hatte, meine Position immer wieder in kurzen Abständen ändern, um überhaupt noch etwas zu spüren. Manchmal glaubte ich hellwach zu sein, nur um im nächsten Moment aus einem wirren Traum zu erwachen.

    Es muss zwei oder drei Tage später gewesen sein, als wir einen besonders hohen Pass überquerten. Für mehrere Stunden wurde es eiskalt. Anschließend ging es eine längere Strecke steil bergab. Plötzlich begann unser Laster zu schlingern und blieb schließlich stehen. Es war wie eine Erlösung. Kein Gerüttel mehr, kein Motorenlärm, kein Warten auf den nächsten Stoß, bei dem man blitzschnell Halt suchen musste. Ich hörte die Männer draußen werkeln und fluchen. Offenbar eine Reifenpanne. Ich versuchte krampfhaft, nicht in den Schlaf zu fallen, aus Angst, dass ich schnarchen könnte und die mich draußen hören würden.

    Ich wurde erst wach, als wir bereits wieder fuhren. Es ging weiter rüttelnd und schüttelnd bergab. Ich lag nur noch teilnahmslos zwischen den Reifen. Selbst dass es allmählich wärmer wurde, war mir gleichgültig. Es kam mir vor, als wäre ich schon seit Wochen unterwegs, und immer noch war ich in Afghanistan. Dass ich in wenigen Wochen in Italien sein würde, hatte Onkel Najib offenbar nur gesagt, um mich möglichst schnell und problemlos loszuwerden. Ob oder wann mich dieser Laster über die Grenze in den Iran bringen würde, machte letztlich auch keinen Unterschied mehr. Dort würden die Probleme ja wohl erst richtig beginnen. Auf einmal erschien die Lage mir aussichtslos. Nur mit Mühe konnte ich mich noch dazu bringen, weiter den kleinen Blechkanister zu benutzen, den Karim mir nach hinten gebracht hatte, statt einfach in die Ecke zu pinkeln. Es war ja doch alles egal.

    „Aussteigen! Ich wusste erst gar nicht, wo ich war. Schwere Stiefel knallten auf Pflaster. „Los, los! Das kam von vorne. Eine Kontrolle!

    Die Türen des Führerhauses wurden mit so einem Schwung zugeworfen, dass der ganze Laster erzitterte. Vielleicht wollte Dschingis sicherstellen, dass auch ich wach war. Hektisch tastete ich nach meinem Rucksack. Der musste hier irgendwo dazwischengerutscht sein. Endlich bekam ich einen Riemen zu fassen.

    Die Stiefel kamen näher. Jemand schlug von außen an die Plane. „Aufmachen!" Ich turnte über Reifen und Kisten Richtung Führerhaus.

    „Beeilung! Wir haben nicht ewig Zeit."

    „Komm ja schon." Das war jetzt Dschingis Khans laute Stimme. Offenbar wollte er Zeit gewinnen. Trotzdem war ich gerade erst auf die vorderste Reihe von Kartons geklettert, als sich schon jemand an der Plane hinten zu schaffen machte. Vorsichtig ließ ich den Rucksack in den schmalen Zwischenraum vor der Wand zum Führerhaus hinunter und legte mich quer über die Kartons auf den Bauch, um dann mit den Füßen voran in mein Versteck hinterherzurutschen. Im gleichen Moment krachte die Ladeklappe nach unten. Helles Licht fiel in den Laderaum. Ich plumpste ins Dunkel. Ich musste in die Knie gehen, um ganz hinter den Kartons zu verschwinden. Es war viel enger, als ich gedacht hatte. Ich versuchte, mich möglichst geräuschlos zurechtzuruckeln. Ich merkte sofort, in dieser hockenden Position würde ich es nicht lange aushalten können.

    „Ladung?"

    „Ersatzteile, Reifen, Motoröl – für zwei Autowerkstätten in Herat", hörte ich Dschingis Khan antworten.

    „Und das hier?"

    „Generatoren. Zwei Stück. Für die Polizei in Herat."

    Beim Wort Polizei zuckte ich unwillkürlich zusammen. Dann aber verstand ich. Deshalb also versperrten diese zwei großen Holzkisten ganz vorne den Blick und den Weg in den Laderaum. Eine wichtige Lieferung für die Polizei, die möglichst vom Rest der Ladung ablenken sollte. Ein raffinierter Hund, unser Dschingis Khan.

    „Aufmachen! Und ich will die Papiere sehen!" So leicht ließen die sich also doch nicht an der Nase herumführen. Ich hörte, wie der Fahrer nach vorne spurtete. Jetzt hatte er es auf einmal besonders eilig. Ich verstand auch gleich, warum. Jemand wuchtete sich schon hinten auf die Ladefläche hoch. Ich hörte die schweren Stiefel auf dem Boden kratzen.

    Einen Moment blieb es still. Dann krampfte sich alles in mir zusammen. Ein Lichtkegel wanderte langsam über die Bretterwand über mir. Der Soldat suchte offenbar mit einer Taschenlampe systematisch den Laderaum ab. Was, wenn ihm mein ‚Schlafnest‘ ins Auge fiel. Wie ein zufällig verrutschter Stapel Autoreifen sah das wohl nicht aus. Ich hielt den Atem an.

    Wieder ein lautes Kratzen. Schob der Soldat etwa die beiden Holzkisten auseinander?

    Ich hörte, wie die Tür des Führerhauses zugeschlagen wurde und Dschingis Khan zurückgespurtet kam. „Hier die Papiere."

    Es knarrte und quietschte. Holz splitterte. Ein Stemmeisen? Jemand knurrte und murmelte etwas. Papier raschelte.

    „In Ordnung."

    Ich hoffte inständig, dass es nun endlich wieder dunkel werden würde im Laderaum. Ich kauerte so verdreht in meinem engen Versteck, dass ich nicht richtig durchatmen konnte. Der Schmerz in den Knien wurde schier unerträglich. Dschingis aber fing nun auch noch eine Unterhaltung an. Ob es etwa wieder einen Zwischenfall gegeben habe.

    Zu meiner Überraschung gab der Soldat bereitwillig Auskunft. Ein Anschlag der Taliban auf einen Militärkonvoi – am Tag zuvor – direkt an der Abzweigung nach Tschesht-i Sharif.

    Wie denn die Lage auf der weiteren Strecke Richtung Herat sei, fragte Dschingis weiter. Am liebsten hätte ich laut gerufen, ob sie sich nicht anderswo unterhalten könnten.

    Die nächsten hundert Kilometer seien problematisch. Die sollten wir auf jeden Fall in einem Stück durchfahren und dabei immer auf der Fahrbahn bleiben. Auch keine kurzen Ausweichmanöver auf die Seitenstreifen. Die verfluchten Sprengfallen … Ich hörte, wie Dschingis Khan sich bedankte.

    „Aussteigen, Laderaum öffnen!" Das galt jetzt offenbar schon dem nächsten Laster. Mit lautem Krachen wurde unsere Ladeklappe zugeworfen. Das Geräusch der einrastenden Verschlusshaken klang wie Musik in meinen Ohren. Dann fiel die Plane zu. Ich wartete nicht einmal ab, bis sie ganz zugezurrt war. Trotzdem hatte ich mich erst aus meinem Versteck herausgearbeitet, als unser Laster schon anruckte.

    Unter uns breitete sich, sonnenüberglänzt, ein weites, grünes Tal aus. In der Talmitte durchströmte ein Fluss in zahlreichen Windungen, Nebenarmen und feinen Verästelungen ein breites, versandetes Bett. Ich musste ziemlich lange geschlafen haben. Ab dem Kontrollpunkt war die Straße wieder geteert gewesen und das Gerüttel hatte aufgehört. Unten lagen verstreut neben einzelnen Höfen auch größere Dörfer. Das Tal schien sehr fruchtbar zu sein. Meine Zuversicht wuchs, dass ich am Abend ausreichend zu essen bekommen würde. Ich machte mich über mein letztes Stück Fladenbrot und die verbliebenen Datteln her, die ich mir vorsorglich aufgespart hatte. Ob es an der Mittagssonne lag oder daran, dass wir tiefere Lagen erreicht hatten, jedenfalls wurde es bald so warm bei mir in dem finsteren Laderaum, dass ich meine gefütterte Jacke ausziehen und mir mein Nest zwischen den Reifen etwas bequemer auspolstern konnte.

    Ein lautes Rauschen. Wir standen. Ein Luftzug streichelte mein Gesicht. Fahles Licht fiel auf die Kisten und Reifenstapel ringsum. Die Plane vor dem Einstieg stand halb offen!

    Hastig rappelte ich mich hoch. Draußen wurde es schon dunkel. Als ich mich gerade zwischen den Kisten ganz nach vorne durchzwängen wollte, erschien ein Kopf über der Laderampe.

    „Nur keine Angst. Hier sind wir sicher", hörte ich Karim sagen.

    „Wo sind wir?", fragte ich.

    „Dies ist das Dorf meiner Familie. Hier übernachten wir. Und bis Herat sind es morgen nur noch drei bis vier Stunden."

    Kurz vor dem Ziel und endlich mal wieder in einem Haus schlafen. Auf einer ebenen Unterlage, nach einem warmen Essen und ohne Sorge vor einer plötzlichen Kontrolle – oder gar Sprengfallen! Meine aufwallende Freude wurde aber sofort wieder erstickt.

    „Der Laster steht hier am Dorfrand, hinter dem Haus meines Onkels. Danach kommen nur noch Reisfelder und der Fluss. Aber du musst trotzdem hier drinbleiben. Wenn dich die falschen Leute sehen würden, könnte es immer noch gefährlich werden, für dich – und für meinen Onkel. Ich bring‘ dir nachher was zu essen."

    Schon war Karim wieder verschwunden. Die Plane hatte er offengelassen. Wenigstens hinaussehen durfte ich also. Ein weiter Blick über Reisfelder, geflutet und mit den ersten Setzlingen bepflanzt. Dahinter das Flussbett. Das kam mir sogar noch breiter vor als das des Kabul-Flusses. Von dort kam das Rauschen. Obwohl es nun doch keine ruhige Nacht in einem richtigen Haus geben würde, keimte zum ersten Mal seit Tagen so etwas wie Hoffnung in mir auf. Schon am nächsten Tag würden wir in Herat sein. Von dort aus war es nur noch ein Tag bis zur iranischen Grenze. Und dann, wenn alles glattginge, wäre ich wenigstens niemand mehr, nach dem man gezielt fahndete, sondern nur noch ein ganz gewöhnlicher Flüchtling …

    In Herat war alles ganz anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Ich hatte gedacht, ich würde zum Abschied von meiner Heimat vielleicht – im Vorbeifahren, von fern – die große Zitadelle Alexanders des Großen zu sehen bekommen, von der mir mein Großvater erzählt hatte. Oder würde vielleicht noch einmal über einen Basar schlendern können, einfach nur so, wie damals, als ich noch Kind war. Von Karim wusste ich, dass sein Onkel nach Ablieferung seiner Fracht neue Ware einkaufen würde, die er jenseits der Grenze in Taybad verkaufen wollte.

    Bei einem letzten kurzen Stopp an einer Tankstelle vor der Stadt schärfte mir Karim ein – während er so tat, als müsse er die Plane am rückwärtigen Ende des Laderaums noch mal überprüfen – mich ab sofort immer in der Nähe meines Verstecks an der Wand zum Führerhaus aufzuhalten. Von hier ab bis in die Stadt gebe es häufig Kontrollen.

    So traute ich mich ab da kein einziges Mal mehr nach hinten zum Ausstieg, wo ich einen Blick durch meinen Sehschlitz hätte werfen können. Selbst dann nicht, als wir längst mitten in der Stadt sein mussten, wie mir der Lärm des Verkehrs, das ständige Bremsen und Anfahren, die Trillerpfeifen von Verkehrspolizisten und laute Rufe von Straßenverkäufern verrieten. Die Fahrt durch diese für mich inzwischen ungewohnte Geräuschkulisse schien kein Ende zu nehmen. Schließlich parkten wir rückwärts irgendwo ein, wie ich an dem Hin- und Hermanövrieren merkte. Als der Motor abgestellt war, fiel mir als Erstes auf, dass der Straßenlärm auf einmal seltsam gedämpft klang. Dann drang der Geruch von Öl und Abgasen zu mir in den Laderaum.

    Ich kletterte Richtung Ausstieg. Da machte sich auch schon jemand von außen an der Plane zu schaffen. Diese wurde mit ungewohntem Schwung zur Seite geworfen. Da stand auf einmal ein Mann, den ich noch nie gesehen hatte, und streckte seine grobe, ölverschmierte Hand nach mir aus.

    „Karim?", stammelte ich.

    „Komm schon, grollte eine tiefe Bassstimme, „beeil dich!

    Der Mann machte sich nicht mal die Mühe, die Ladeklappe zu öffnen. Nachdem es mir gelungen war, auf der Kante sitzend die Beine nach außen zu bringen, zerrte er mich hinunter. Wir befanden uns in einer großen, zur Straße hin offenen Autowerkstatt. Die Türen des Führerhauses unseres Lasters standen offen, aber Dschingis und Karim waren nirgends zu sehen. Mir blieb auch keine Zeit, mich nach ihnen umzusehen. Der Mann – noch größer und breiter als Dschingis Khan und in einem fleckigen Overall – zerrte mich grob auf eine nur wenige Meter entfernte Metalltür zu. Dahinter durchquerten wir einen Innenhof, zwischen aufgestapelten Reifen und Haufen von Autoteilen hindurch. Durch ein düsteres, nur durch eine nackte Glühbirne schwach erleuchtetes Treppenhaus gelangten wir in den ersten Stock eines Hinterhauses. Vor einer weiteren Metalltür blieben wir stehen. Der Mann schob zwei schwere Riegel zur Seite, öffnete die Tür und schob mich hindurch. Knarzend wurden die Riegel hinter mir zugeschoben und die Schritte des Mannes entfernten sich. Ich fand mich in einem kleinen, halbdunklen Raum wieder. Nur durch ein schmales, weit oben gelegenes Fenster drang ein schwacher Lichtschein herein – der Wiederschein der nächtlichen Stadt.

    „Salaam", tönte es leise aus einer Ecke des Raums. Erst jetzt sah ich, dass dort jemand hockte.

    „Salaam, sagte ich. „Wer bist du? Wo sind wir?

    „Bist du mit dem Laster gekommen, der uns über die Grenze bringen soll?", kam es statt einer Antwort zurück.

    „Ja, sagte ich, als ich mich von meiner Verblüffung erholt hatte. Dass auf dem letzten und entscheidenden Teil der Strecke noch ein weiterer Flüchtling dazukommen würde, hatte mir niemand gesagt. „Ich heiße übrigens Adib.

    „Abdul – aus Helmand", sagte der Junge und erhob sich. Er war kleiner als ich, aber nicht ganz so abgemagert. Auch schien er noch etwas jünger zu sein. Wir umarmten uns.

    „Ich hatte schon Angst, ihr kommt gar nicht mehr", sagte mein neuer Freund. Er forderte mich auf, mich zu ihm auf die Matratze zu setzen, die in seiner Ecke auf dem Boden lag.

    Wer denn der Grobian wäre, der mich hergebracht hatte und warum man uns hier überhaupt einsperrte, fragte ich.

    Die hätten wohl Angst, dass wir weglaufen könnten und ihnen so ein einträgliches Geschäft entginge, meinte mein neuer Freund. Die bekämen ja viel Geld dafür, dass sie uns in den Iran brächten – aber erst dann, wenn Kadér die Bestätigung erhalten hätte, dass wir auch angekommen seien.

    Kadér! Den Namen hatte mir auch Onkel Najib genannt. Den müsse ich mir unbedingt merken. Das sei der Mann, der meine Reise bis Italien organisieren würde. Dieser Mann musste unglaublich mächtig sein, wenn er von Kabul aus solche ‚Reisen‘ sogar für Flüchtlinge aus der weit entfernten Provinz Helmand arrangieren konnte …

    Ja, vor dem Grobian aus der Werkstatt habe er anfangs auch Angst gehabt, gestand Abdul. Hier drin aber versorge uns dessen Frau mit Essen. Wenn man klopfe, führe sie einen auch zu einem Abort im Hinterhof. Dort stehe übrigens immer ein Eimer mit Wasser, mit dem man sich waschen könne.

    Später hat Abdul mir in kurzen Sätzen seine Geschichte erzählt: Er stammte aus einem Bergdorf im Norden der Provinz Helmand. Seine Familie war arm. Ein paar Ziegen waren ihr wertvollster Besitz. Sein Vater war zweimal hintereinander nicht zum Freitagsgebet erschienen. Beim ersten Mal hatte er Kräuter in den Bergen gesammelt. Beim zweiten Mal hatte er nicht rechtzeitig von der Suche nach zwei verirrten Ziegen ins Dorf zurückkehren können. Als ihn der Mullah des Dorfes zur Rede gestellt hatte, hatte er im Zorn gesagt, vom Koran allein werde seine Familie nicht satt. Kurz darauf waren die Taliban ins Dorf gekommen und hatten seinen Vater auf den Dorfplatz geschleppt. Dort hatten sie ihn wegen Beleidigung des Koran vor den Augen aller Bewohner des Dorfes mit Knüppeln erschlagen. Auch Abdul selbst, seine Mutter und seine vier Schwestern hatten bei der Hinrichtung zusehen müssen. Noch in der Nacht war die Familie zu Verwandten nach Girishk geflüchtet. Abduls Mutter hatte befürchtet, dass man auch noch ihren Sohn entführen und ihn zwingen würde, für die Taliban in den Kampf zu ziehen. Irgendwie war es ihr gelungen, Geld für seine Flucht in den Iran aufzutreiben. Dort werde er nun arbeiten müssen, um dieses Geld zurückzuzahlen und das Überleben seiner Mutter und seiner Geschwister zu Hause zu sichern, beschloss Abdul seinen Bericht.

    Der Junge tat mir leid. Ich sagte ihm, dass es mir ähnlich ergangen sei, seit mein Vater bei einem Anschlag der Taliban in Kabul ums Leben gekommen sei. Ich war froh, dass er nicht weiter nachfragte. „Dann sind wir Brüder", sagte er nur.

    Abduls Flucht bis Herat war allerdings wesentlich komfortabler gewesen als meine. Nur zwei Tage zwischen Säcken mit Rohbaumwolle auf der A 01, und auf der ganzen Strecke hatte es nicht eine einzige Kontrolle gegeben …

    Ich dachte zuerst, das wäre ein anderer LKW, so verändert sah es im Laderaum aus. Vorne türmten sich Säcke und als wir hinaufkletterten, entdeckten wir dahinter Stapel von großen Kartons und kleineren Schachteln. Und dann der Duft: Wie auf dem Basar vor den Läden mit Gewürzen und Trockenfrüchten.

    Wenige Minuten zuvor erst waren die Riegel an der Stahltür vor unserem Gefängnis mit dem inzwischen vertrauten metallischen Knarzen beiseitegeschoben worden. Anstelle der Frau des Werkstattbesitzers hatte Karim vor uns gestanden. Ich hatte schon befürchtet, noch einen dritten Tag in diesem Loch verbringen zu müssen. Und Abdul, der dort schon eine volle Woche eingesperrt gewesen war, hatte es erst recht kaum noch ausgehalten. Plötzlich aber war auf einmal alles ganz eilig. Der Motor lief schon, als Karim uns auf die Ladefläche hinaufscheuchte. Wir sollten bloß die Finger von den Kartons lassen, schärfte er uns noch ein, während er die Ladeklappe verriegelte. Und es werde nur noch einen ganz kurzen Zwischenstopp geben, bevor es über die Grenze ginge. Damit verschloss er die Plane.

    Es war schon später Nachmittag, als unser Laster von der Straße abbog und wir ein Stück über unbefestigte Wege rumpelten. Dann ein kurzer Halt bei laufendem Motor und das vertraute Geräusch eines Metalltors, das vor uns aufgeschoben und hinter uns quietschend wieder geschlossen wurde.

    Dass es ernst wurde, merkte ich daran, dass sich Dschingis Khan und Karim zu zweit zu uns auf die Ladefläche heraufschwangen. Durch die Öffnung in der Plane konnte man im blendenden Licht draußen das blaue Metalltor sehen, durch das wir gekommen waren. Dahinter, jenseits der Mauer, die den Innenhof umschloss, eine ausgedörrte, wüstenartige Landschaft. Kurz freute ich mich über den frischen Luftzug, der von draußen hereinkam, denn im Laufe der Fahrt war es unter der Plane immer heißer und stickiger geworden.

    „Jetzt müsst ihr ins Versteck." Schon die Art, in der Dschingis Khan das sagte, ließ nichts Gutes ahnen. Da war Karim hinter uns aber auch schon dabei, Kartons beiseite zu räumen. Darunter, direkt an der Bretterwand, die den Laderaum zum Führerhaus hin abschloss, kam eine schmale Holzkiste zum Vorschein, die wie eine Sitzbank die gesamte Breite des Fahrzeugs einnahm. Jetzt verstand ich, wie es zu der Lücke gekommen war, in die ich mich zuvor bei der Kontrolle in den Bergen hineingequetscht hatte: Die Kartons, die damals dort auf der einen Seite gestanden hatten, waren zu groß gewesen, um sie auf diese schmale Bank hochzustellen.

    Karim klappte den Deckel hoch und zeigte in die geöffnete Kiste. Wie ein Sarg, schoss es mir durch den Kopf.

    „Da rein?", fragte Abdul ungläubig. Er war ja nicht ganz so schmächtig wie ich. Aber selbst ich konnte mir kaum vorstellen, wie ich dort hineinpassen und es da drin womöglich längere Zeit aushalten sollte.

    Dschingis bemerkte offenbar meine aufkommende Panik. Er packte mich, stellte mich in die Mitte der Kiste und legte mich im gleichen Moment um, so dass ich mit dem Kopf zum einen Ende dieses ‚Sargs‘ hin auf der Seite zu liegen kam. Das ging so schnell, dass ich gar nicht dazu kam, mich zur Wehr zu setzen. Während Karim mich niederhielt, führte Dschingis das gleiche Manöver mit dem zappelnden und schreienden Abdul durch. Ich zog meine Beine an, soweit das überhaupt ging, aber bei jedem Stoß von Abdul Füßen gegen die meinen wurden mir die Knie schmerzhaft gegen die Wand der Kiste gedrückt.

    „Je mehr ihr hier rumzappelt, desto unangenehmer wird es für euch. Besser, ihr spart eure Energie. Ihr seid nicht die Ersten da drin. Und merkt euch: Nicht hektisch atmen!" Damit drückte Dschingis den Deckel der Kiste auf uns herunter. Es fühlte sich an, als wollte er uns auch noch die Luft aus den Lungen pressen.

    In Panik drückte ich meinen Unterarm, den ich zuvor gerade noch rechtzeitig angewinkelt hatte, gegen den Deckel. Der bewegte sich keinen Millimeter. Die hatten ihn offenbar sofort mit irgendetwas beschwert. „Nicht hektisch atmen, nicht hektisch atmen", wiederholte ich in Gedanken unablässig, was Dschingis gesagt hatte. Dann sah ich, dass durch einen schmalen Schlitz unter dem überstehenden Deckel der Kiste etwas Licht und also auch Luft hereinkam. Am Kopfende der Kiste fühlte ich ebenfalls Löcher. Solange ich ruhig blieb, konnte die Luft reichen.

    Nach und nach bekam ich die akute Panik unter Kontrolle. Abduls

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