Der Anome
Von Jack Vance
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Über dieses E-Book
Im Alter von neun Jahren hörte Mur einen Mann in der Ruhekate seiner Mutter scherzhaft einen Fluch im Namen des Mannes ohne Gesicht rufen. Später, nachdem der Mann seiner Wege gegangen war, stellte Mur der Mutter eine Frage. »Gibt es den Mann ohne Gesicht wirklich?«
»Es gibt ihn wirklich, ja«, erwiderte Eathre.
Mur dachte eine Weile über die Angelegenheit nach. Dann erkundigte er sich: »Wie isst, riecht oder redet er?«
Eathre entgegnete in ihrem ruhigen Ton: »Ich schätze, auf die ein oder andere Weise schafft er es.«
»Es wäre interessant dabei zuzusehen«, sagte Mur.
»Zweifellos.«
»Hast du ihn je gesehen?«
Eathre schüttelte den Kopf. »Der Mann ohne Gesicht kümmert sich nicht um die Chiliten, also musst du dir um den Mann ohne Gesicht keine Sorgen machen.« Als grüblerischen Nachgedanken setzte sie hinzu: »Ob zum Guten oder Schlechten, so ist es eben.«
Mur ist ein aufgeweckter Bursche, der seiner Mutter helfen will. Er ahnt nicht, was er im Laufe seines Lebens auf sich nehmen muss, um seine Ziele zu erreichen. Doch was wäre, wenn er jemanden träfe, der in der Lage ist, ihm zu helfen?
Jack Vance
"An American writer of mystery, fantasy, and science fiction, he is famous for his Dying Earth series, as well as for award-winning works such as The Dragon Masters and The Last Castle. In 1984, he won the World Fantasy Award for Life Achievement. Before Fame He worked as a rigger at the Kaiser Shipyard in Richmond, California. He published his first science fiction novella, Son of the Tree, in 1951. Born August 28, 1916, Died May 26, 2013 (age 96)"
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Rezensionen für Der Anome
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Buchvorschau
Der Anome - Jack Vance
Jack Vance
Der Anome
Edition
Andreas Irle
Hunschlade 27
51702 Bergneustadt
2018
Originaltitel: The Anome
Copyright © 1971, 2005 by Jack Vance
Originalausgabe: The Faceless Man – Magazine of Fantasy & Science Fiction, 1971
Deutsche Erstausgabe: Der Mann ohne Gesicht– Heyne: München, 1975
Copyright © dieser Ausgabe 2018 by Spatterlight Press
Titelbild: Konstantin Korobov
Karte: Christopher Wood
Satz: Andreas Irle
Übersetzung: Andreas Irle
Lektorat: Thorsten Grube, Gunther Barnewald
ISBN 978-1-61947-344-7
V01 2018-02-19
E-Book Distribution: XinXii
www.xinxii.com
spatterlight.de
Management: John Vance, Koen Vyverman
Das Buch
Im Alter von neun Jahren hörte Mur einen Mann in der Ruhekate seiner Mutter scherzhaft einen Fluch im Namen des Mannes ohne Gesicht rufen. Später, nachdem der Mann seiner Wege gegangen war, stellte Mur der Mutter eine Frage. »Gibt es den Mann ohne Gesicht wirklich?«
»Es gibt ihn wirklich, ja«, erwiderte Eathre.
Mur dachte eine Weile über die Angelegenheit nach. Dann erkundigte er sich: »Wie isst, riecht oder redet er?«
Eathre entgegnete in ihrem ruhigen Ton: »Ich schätze, auf die ein oder andere Weise schafft er es.«
»Es wäre interessant dabei zuzusehen«, sagte Mur.
»Zweifellos.«
»Hast du ihn je gesehen?«
Eathre schüttelte den Kopf. »Der Mann ohne Gesicht kümmert sich nicht um die Chiliten, also musst du dir um den Mann ohne Gesicht keine Sorgen machen.« Als grüblerischen Nachgedanken setzte sie hinzu: »Ob zum Guten oder Schlechten, so ist es eben.«
Mur ist ein aufgeweckter Bursche, der seiner Mutter helfen will. Er ahnt nicht, was er im Laufe seines Lebens auf sich nehmen muss, um seine Ziele zu erreichen. Doch was wäre, wenn er jemanden träfe, der in der Lage ist, ihm zu helfen?
Der Autor
Jack Vance (richtiger Name: John Holbrook Vance) wurde am 28. August 1916 in San Francisco geboren. Er war eines der fünf Kinder von Charles Albert und Edith (Hoefler) Vance. Vance wuchs in Kalifornien auf und besuchte dort die University of California in Berkeley, wo er Bergbau, Physik und Journalismus studierte. Während des 2. Weltkriegs befuhr er die See als Matrose der US-Handelsmarine. 1946 heiratete er Norma Ingold; 1961 wurde ihr Sohn John geboren.
Er arbeitete in vielen Berufen und Aushilfsjobs, bevor er Ende der 1960er Jahre hauptberuflich Schriftsteller wurde. Seine erste Kurzgeschichte, »The World-Thinker« (»Der Welten-Denker«) erschien 1945. Sein erstes Buch, »The Dying Earth« (»Die sterbende Erde«), wurde 1950 veröffentlicht.
Zu Vances Hobbys gehörten Reisen, Musik und Töpferei – Themen, die sich mehr oder weniger ausgeprägt in seinen Geschichten finden. Seine Autobiografie, »This Is Me, Jack Vance! (»Gestatten, Jack Vance!«), von 2009 war das letzte von ihm geschriebene Buch. Jack Vance starb am 26. Mai 2013 in Oakland.
Informationen über ihn und sein Werk finden Sie hier:
www.editionandreasirle.de
Kapitel I
Im Alter von neun Jahren hörte Mur einen Mann in der Ruhekate seiner Mutter scherzhaft einen Fluch im Namen des Mannes ohne Gesicht rufen. Später, nachdem der Mann seiner Wege gegangen war, stellte Mur der Mutter eine Frage. »Gibt es den Mann ohne Gesicht wirklich?«
»Es gibt ihn wirklich, ja«, erwiderte Eathre.
Mur dachte eine Weile über die Angelegenheit nach. Dann erkundigte er sich: »Wie isst, riecht oder redet er?«
Eathre entgegnete in ihrem ruhigen Ton: »Ich schätze, auf die ein oder andere Weise schafft er es.«
»Es wäre interessant dabei zuzusehen«, sagte Mur.
»Zweifellos.«
»Hast du ihn je gesehen?«
Eathre schüttelte den Kopf. »Der Mann ohne Gesicht kümmert sich nicht um die Chiliten, also musst du dir um den Mann ohne Gesicht keine Sorgen machen.« Als grüblerischen Nachgedanken setzte sie hinzu: »Ob zum Guten oder Schlechten, so ist es eben.«
Mur, ein mageres und düsteres Kind, zog die schwarzen Brauen zusammen, die ein Erbe seines unbekannten Blutvaters waren. »Weshalb sollte eine solche Sache gut sein? Oder schlecht?«
»Was für ein lästiges Kind du nur bist!«, verkündete Eathre ohne Nachdruck. Ihre Lippen zuckten: Vielleicht ein Anflug von Chsein*. Doch sie meinte: »Bricht jemand das Chilitische Gesetz, bestrafen ihn die Ekklesiasten. Läuft jemand fort, nimmt der Mann ohne Gesicht ihm den Kopf.« Eathres Hand wanderte zu ihrem Halsreif, eine Angewohnheit, die dem gesamten Volk von Shant zu eigen war. »Befolgt man das Chilitische Gesetz, muss man den Verlust des Kopfes nicht fürchten. Das ist das ›Gute‹. In einem solchen Fall ist man allerdings ein Chilite, und das ist das ›Schlechte‹.«
* Chsein: (1) Anerzogenes Zurückschrecken vor einem verbotenen Gedanken. (2) Blindheit oder Vergesslichkeit gegenüber den Gegebenheiten unvertrauter, verbotener oder unorthodoxer Umstände.
Mur sagte nichts mehr. Die Bemerkungen waren beunruhigend. Kämen sie seinem Seelenvater zu Ohren, würde sich Eathre zumindest einen Tadel zuziehen. Sie könnte gar in die Gerberei versetzt werden, was Murs Welt zerschmettern würde. Die Zeit, die ihm noch »bei der Muttermilch« blieb, (um die chilitische Redewendung zu verwenden), war ohnehin kurz genug: drei oder vier Jahre noch … Ein Wanderer betrat die Kate. Eathre legte sich einen Kranz um die Stirn und schenkte ihm ein Kelchglas Wein ein.
Mur ging los und setzte sich auf die andere Seite des Weges, unter die großen Rhododendren. Einer solchen Begegnung verdankte er seine Existenz, so viel war ihm bewusst. Es war eine Urschuld, die er würde abbüßen müssen, wenn er ein chilitischer Reiner Junge wurde. Der ganze Vorgang strapazierte seinen Verstand. Eathre hatte vier Kinder zur Welt gebracht. Delamber, ein Mädchen von sechzehn, unterhielt bereits eine eigene Kate auf der Westseite des Weges. Das zweite Kind, Blink, drei Jahre älter als Mur, hatte schon das weiße Gewand eines Reinen Jungen angelegt und den Namen Chalres Gargamet angenommen. Dieser vereinigte die Tugenden von Chalres, dem chilitischen Asketen, welcher sechs Kilometer weiter oben im Mirktal in den Ästen der Heiligen Eiche gelebt hatte und ebendort gestorben war, mit denen von Bastin Gargamet, dem Meistergerber, der (während des Räucherns von Ahulphhäuten) die heiligen Eigenschaften von Galga* entdeckt hatte. Das vierte Kind, zwei Jahre nach Mur geboren, war als mangelhaft befunden und im Gerbereisumpf ertränkt worden. Die Verantwortung dafür hatte man Eathre gegeben, weil sexuelle Exzentrizität als Ursache für fetale Schädigungen angenommen wurde.
* Galga: getrocknete, pulverisierte und mit Äsilharz gebundene Blätter des Äsilbusches – eine wichtige Beigabe für die spasmische, chilitische Anbetung von Galexis.
Mur saß unter den Rhododendren, kratzte Muster in den weißen Staub und taxierte jene, die vorüberkamen: einen Merkantilisten, der einen Schreiter-Wagen fuhr, den er an der Ballon-Station im Kanton Seamus gemietet hatte, und drei junge Vagabunden – Landarbeiter, den grünbraunen vertikalen Streifen der Erkennungszeichen auf den Halsringen zufolge.
Mur rührte sich. Seine Parzelle Faserbäume mussten gepflegt werden. Lockerten sich die Spulen, würde der Faden ungleichmäßig und rau werden … Ein dampfbetriebener Karren kam vorbei, beladen mit schönen langen Schwarzholzbalken. Mur, der die Faserbäume vergaß, jagte hinterher und ließ sich, am Endbalken baumelnd, den ganzen Weg bis zur Mirkbrücke mitnehmen, wo er sich auf die Straße fallen ließ und dem Karren dabei zusah, wie er über die ferne, holprige Straße nach Osten rumpelte. Eine Weile ließ er Kiesel in den Mirk fallen, der durch das Mirktal floss und oberhalb der Brücke ein Wasserrad antrieb, womit Gallen, Alaun, Färbstein sowie alle möglichen Sorten von Kräutern, Wurzeln und Chemikalien für die Gerberei gemahlen wurden.
Mur schlenderte müßig über den Rhododendronweg zurück und stellte fest, dass der Reisende weitergewandert war. Eathre gab ihm Brot und Suppe als Mittagessen. Während er aß, stellte Mur die Frage, welche ihm den gesamten Morgen über im Hinterkopf gesessen und keine Ruhe gelassen hatte. »Chalres sieht seinem Seelenvater ähnlich, ich aber nicht. Ist das nicht seltsam?«
Eathre hielt inne, um ihrer Erinnerung Zeit zu geben, sich wieder einzustellen: ein wunderbar elementarer Vorgang, wie die Baumblüte oder das Austreten von Saft aus einer gequetschten Frucht. »Du und Chalres besitzt weder Blutbande mit Großmann Osso noch mit irgendeinem anderen Chiliten. Sie kennen keine echten Frauen. Chalres’ Vater kenne ich nicht. Dein Blutvater war ein Wanderer, ein Musiker, einer von jenen, die allein reisen. Ich war traurig, als er seines Weges gegangen ist.«
»Er ist niemals zurückgekommen?«
»Nie.«
»Wohin ist er gegangen?«
Eathre schüttelte den Kopf. »Solche wie Dystar durchwandern sämtliche Kantone von Shant.«
»Und du konntest nicht mit ihm mitgehen?«
»Nicht, solange Osso mich unter Vertrag hat.«
Mur aß die Suppe in gedankenvoller Stille.
In die Kate trat Delamber, einen Mantel über dem grün-blau gestreiften Kleid. Wie Mur war sie schlank und von ernstem Gemüt; wie ihre Mutter hochgewachsen und so angenehm ausgeglichen wie ein dahinströmender Fluss. Sie ließ sich auf einen Stuhl sinken. »Schon bin ich müde. Ich hatte drei Musiker aus dem Lager. Der letzte war der schwierigste und auch der redseligste. Er hat beschlossen, mir von gewissen Barbaren zu erzählen, den Roguskhoi: große Trunkenbolde und große Lüstlinge. Hast du von ihnen gehört?«
»Ja«, sagte Eathre. »Der Mann, der gerade gegangen ist, betrachtet sie mit großem Respekt. Er schilderte, dass ihre Lust jenseits des Normalen und keine Frau vor ihnen sicher sei. Außerdem würden sie nicht zahlen.«
»Weshalb jagt der Mann ohne Gesicht sie nicht davon?«, wollte Mur wissen.
»Wildvolk trägt keine Halsringe. Der Mann ohne Gesicht kann ihnen nicht beikommen. Jedenfalls sind sie zurückgeschlagen worden und werden nicht mehr als Bedrohung angesehen.«
Eathre servierte Tee. Mur nahm sich zwei Stücke Nusskuchen und ging hinaus in den Garten hinter der Kate, wo er die Stimme von Chalres, seinem Seelenbruder, vernahm.
Mur sah sich ohne Begeisterung um. Chalres schlenderte den Hang hinab und blieb am Gartenrand stehen, weil er ihn aus Furcht vor Besudelung nicht zu betreten wagte. Chalres besaß keine Ähnlichkeit mit Mur. Er war dürr und hochgewachsen und hatte schmale, scharfe Gesichtszüge, die ständig in Bewegung waren. Seine Augen blinzelten, traten vor, verdrehten sich, rollten nach rechts und links. Seine Nase zuckte. Er grinste, schnitt Grimassen, schnaubte, zeigte die Zähne, fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und lachte laut, wo ein Glucksen gereicht hätte. Er kratzte sich die Nase, rieb sich über die Ohren und vollführte weite, unvorteilhafte Gebärden. Mur fragte sich schon lange, weshalb er sich in so vielen Eigenschaften von Chalres unterschied: Hatten sie nicht die gleiche Mutter, den gleichen Seelenvater? Bis zu einem gewissen Grad ähnelte Chalres ihrem gemeinsamen Seelenvater Großmann Osso, der selbst großgewachsen, bleich und dünn war wie ein Glöckner.
»Komm mit«, meinte Chalres, »du sollst Beeren sammeln.«
»Ich soll Beeren sammeln? Wer sagt das?«
»Ich sage das. Und um die Reinheit vor Frauenbefleckung zu gewährleisten, habe ich dir heilige Handschuhe mitgebracht. Achte darauf, zur Seite zu atmen und alles wird gut werden. Was isst du da?«
»Nusskuchen.«
»Hmpf … ich hatte heute Morgen nichts außer Zwieback und Wasser … Nein. Ich wage es nicht. Osso würde es erfahren. Er hat eine Nase wie ein Ahulph*. Hier, nimm das!« Er warf Mur einen Korb zu, in dem weiße Handschuhe lagen: Chalres’ eigene, mutmaßte Mur, die er sogar als Reiner Junge tragen musste, während er mit Nahrungsmitteln umging. Chalres, so schien es, schätzte seine Bequemlichkeit mehr als er die Besudelung des Essens fürchtete, das ohnehin nur für die Tafel der Chiliten bestimmt war.
* Ahulph: ein halbintelligenter, zweibeiniger Ureinwohner Durdanes. In den Hinterlanden und Wildnissen weit verbreitet und gelegentlich gezähmt, gezüchtet und für eine Vielzahl von Aufgaben gekreuzt – von ungelernter Arbeit und Trägerdiensten bis zum Haustier. Bei Krankheit verströmt der Ahulph einen üblen Geruch, der ihm selbst widerwärtig ist.
Mur war Chalres zwar nicht übermäßig zugeneigt, verspürte jedoch ein gewisses Mitleid mit dessen Entbehrungen. In nicht allzu langer Zeit würde Mur selbst sie erleiden. Er nahm den Korb, ohne zu murren: Sollte der Schwindel entdeckt werden, würde es Chalres sein, der dafür bezahlen musste. Widerwillig fragte er: »Willst du nun etwas von dem Nusskuchen oder nicht?«
Chalres suchte den Hang ab und sah zu der weißen Masse des Tempels von Bashon und der Reihe dunkler Öffnungen unter den Mauern hinüber, wo sich die Reinen Jungen ihre Höhlen einrichteten. »Komm hier herüber zum Aparbaum.«
Hinter dem Aparbaum legte sich Chalres feierlich die weißen Handschuhe an, nahm den Nusskuchen und verschlang ihn mit einem Bissen. Anschließend leckte er sich die Krümel von den Wangen, wobei er eine Reihe beklommener Grimassen schnitt, hüstelte, mit der Nase zuckte und den Abhang hinaufblickte. Schließlich beruhigt, vollführte er eine ausladende Gebärde, so als wolle er die gesamte Angelegenheit aus dem Gedächtnis tilgen.
Die beiden machten sich auf in Richtung der Beerenfelder am Westrand des Rhododendronweges. Chalres hielt betont einen Abstand zwischen sich und seinem unreinen Seelenbruder.
»Heute Abend treten die Ekklesiasten zu einem Lehrkonklave zusammen«, informierte Chalres Mur mit dem Ausdruck von jemandem, der wichtige Neuigkeiten mitteilt. »Es soll einen Nachtisch aus Beeren geben und dafür wird ein großer Korb voll benötigt. Ist es zu glauben? Ich bin allein ausgeschickt worden, um eine solch große Menge zu pflücken. Trotz der Delikatheit ihrer Ideale und der Rigorosität ihrer Entschlossenheit – sie konsumieren jeden Bissen, der ihnen vorgesetzt wird.«
»Hah!«, sagte Mur mit finsterer Missbilligung. »Wie lange dauert es noch bis zu deiner Übernahme?«
»Ein Jahr. Ich bekomme schon Körperbehaarung.«
»Bist du dir bewusst, dass, wenn sie erst einmal den Reif um deinen Hals gelegt haben, du nie wieder umherstreifen und -wandern darfst?«
Chalres schniefte. »Das ist so, als würde man sagen: Ist der Baum erst gewachsen, kann er nicht mehr wieder zum Samen werden.«
»Dann hast du keine Lust zum Wandern?«
Chalres gab eine mürrische, undurchsichtige Antwort: »Wanderer tragen auch Ringe. Zeig mir einen Wanderer ohne Ring und ich zeige dir einen Ausländer.«
Darauf wusste Mur aus dem Stegreif nichts zu entgegnen. Nicht lange danach erkundigte er sich: »Die Roguskhoi: Sind sie Ausländer?«
»Die was? Ich habe noch nie von ihnen gehört.«
Mur, der nur wenig mehr wusste als Chalres, sagte mit Bedacht nichts mehr. Sie passierten die Baumseidenplantage, wo sich Murs Parzelle mit zweihundert Spulen befand, und stiegen zu den Feldern mit den Beeren hinab. Chalres blieb stehen und blickte zurück hinauf zum Tempel. »Hör zu: Du gehst dort hinüber, auf die andere Seite und unterhalb des gegenüberliegenden Beets. Ich ernte darüber, wo sie es vom Tempel aus sehen und für gut befinden können, sollten sie die Neigung dazu verspüren. Denk daran, zieh die Handschuhe an! Das ist das Minimum an Vorkehrungen, das ich noch billigen kann.«
»Was ist mit Ossos Minimum?«
»Darüber können wir nur Vermutungen anstellen. An die Arbeit. Ich brauche wenigstens zwei Körbe voll, also arbeite schnell. Vergiss die Handschuhe nicht! Die Chiliten nehmen Frauenbefleckung aus größerer Entfernung wahr als ein gewöhnlicher Mensch Rauch.«
Mur stieg zum unteren Rand des Beerenfeldes hinab, wo er noch einen weiteren Umweg machte, um das Lager der Musiker zu inspizieren. Es handelte sich um eine ungewöhnlich große Truppe, welche mit sieben Wagen unterwegs war, die jeweils mit Mustern aus bedeutungsvollen Farben bemalt waren: hellblau für Frohsinn, rosafarben für Unschuld, ockerfarben für Sunuschein*, graubraun, um technische Kompetenz anzuzeigen.
* Sunuschein: unbekümmerte, unbesonnene Fröhlichkeit mit einem Anflug von Fatalismus und tragischer Verzweiflung.
Die Truppe war mit Lagerroutinen beschäftigt: der Pflege der Zugtiere, dem Schneiden von Gemüse in Kessel, dem Ausklopfen von Tüchern und Decken. Als Gruppe waren sie erheblich überschwänglicher und sprunghafter als die Chiliten. Ihre Gesten waren abrupt und häufig extravagant. Wenn sie lachten, warfen sie die Köpfe zurück. Selbst die chronisch säuerlichen bekundeten ihren üblen Charakter mit unverwechselbaren Posen. Ein alter Mann saß auf den Stufen eines Wagens und fügte einer kleinen Khitan neue Stimmwirbel ein. In der Nähe übte ein Junge in Murs Alter auf einer Gastaing, schlug Tonfolgen und Arpeggios an, wobei der alte Mann ihm schroff Ratschläge erteilte.
Mur seufzte, wandte sich ab und stieg den Hang zum Beerenfeld hinauf. Vor ihm bewegte sich und zuckte ein hellbrauner Fleck. Da war das Geräusch raschelnder Blätter. Mur blieb wie angewurzelt stehen, dann rückte er langsam vor. Als er durch das Laubwerk lugte, entdeckte er ein Mädchen, das ein oder zwei Jahre älter war als er und mit großem Geschick Beeren pflückte, die sie in einen Korb gab, den sie über dem Arm trug.
Aufgebracht ob des unbefugten Betretens des Mädchens trat Mur vor, nur um über einen abgestorbenen Ast zu stolpern und lang ausgestreckt in einen Hexbusch zu fallen. Das Mädchen drehte sich halb herum, warf einen erschreckten Blick über die Schulter, ließ den Korb fallen und rannte Hals über Kopf durch das Beet, indem sie den Rock über die Unterschenkel hochgezogen hielt. Mur hievte sich tölpelhaft auf die Beine. Er blickte dem Mädchen hinterher. Er hatte nicht vorgehabt, sie zu ängstigen, doch nun war es eben geschehen, sei’s drum! Zerkratzte Beine hin oder her, sie hatte in den Beeren der Chiliten nichts zu schaffen. Er hob den Korb auf, den sie fallengelassen hatte, und schüttete die Beeren mit bedächtiger Häme in den eigenen Korb. Jetzt waren es Beeren für das Konklave!
Er steckte die Handschuhe in die Tasche und pflückte eine Zeit lang, wobei er sich hangaufwärts arbeitete. Bald darauf rief Chalres nach ihm. »Junge! Wo sind die Beeren? Hast du gearbeitet oder getrödelt?«
»Sieh selbst«, sagte Mur.
Chalres spähte in den Korb, wobei er ostentativ den Umstand übersah, dass Mur keine Handschuhe trug. »Hmm! Das hast du ganz anständig gemacht. Überraschend. Nun denn, schütte sie hier hinein. Ich werde sagen, es seien alle, die da gewesen wären … Ausgezeichnet. Ah, ja, die Handschuhe! Du bist überaus ordentlich.« Chalres zerquetschte eine Beere zwischen den