10.1515 - Infodaf 2018 0067
10.1515 - Infodaf 2018 0067
10.1515 - Infodaf 2018 0067
Allgemeiner Beitrag
Nicole Marx*
Förderung, aber welchen Inhalts?
Didaktische Perspektiven auf
Bildungssprache im DaF-Unterricht
Constructs of “Academic Language” in
Teaching German as a Foreign Language
https://doi.org/10.1515/infodaf-2018-0067
1 Einleitung
„Bildungssprache“, konstatiert Feilke (2012a: 4) in einem inzwischen weit rezi-
pierten Beitrag, „ist zu einer Art Leitvokabel im aktuellen bildungspolitischen
und pädagogischen Diskurs geworden.“ Er leitet seine Anmerkung mit einer
Zusammenfassung der Kontexte ein, in denen das Konstrukt Beachtung findet:
„Akademien veranstalten Tagungen zum Thema, Zeitschriften geben Sondernum-
mern heraus, die Feuilletons und politischen Seiten berichten darüber“. Mitunter
wird sie für Disparitäten in den Leistungen unterschiedlicher Lernergruppen ver-
antwortlich gemacht (Heppt/Henschel/Haag 2016, Kieffer/Lesaux 2012, Scheele et
al. 2012, Townsend et al. 2012). Und auch im Kontext Deutsch als Fremdsprache
macht der Begriff seit einiger Zeit Karriere (vgl. u. a. Tschirner/Bärenfänger/Möh-
ring 2016).
Etwas holprig wird der Diskurs allerdings, wenn es um Bildungssprache als
nützliches Konstrukt für Bildungskontexte geht, wie Pohl (2016: 73) problemati-
siert:
„Derzeit sind wir – gedrängt durch gesellschaftliche Problemlagen und von uns geforderte
Reparaturvorschläge – immer schon dabei, den Erwerbsprozess verbessern zu wollen. Damit
tun wir eigentlich den zweiten vor dem notwendigen ersten Schritt: Wir greifen mit ent-
sprechenden Fördermaßnahmen in einen Spracherwerbsprozess ein, den wir zuvor weder
exakt beobachtet und präzise beschrieben noch hinsichtlich seiner internen Wirkfaktoren
analysiert und verstanden haben.“
Diese Aspekte und ihre Bedeutung für das Fach Deutsch als Fremdsprache sollen
Gegenstand des vorliegenden Beitrags sein. Als Ausgangspunkt dient dabei das
Konstrukt Bildungssprache zunächst im Rahmen seiner übergreifenden Funktion
der sprachlichen Erarbeitung und Vermittlung von Wissen sowie der Erkenntnis
über seine Diskursivität. Die leitenden Annäherungsversuche werden kritisch
aufgegriffen und im wissenschaftlichen und empirischen Kontext besprochen,
um somit den potenziellen Wert für DaF zu diskutieren. Dabei soll Bildungs-
sprache als institutionsunabhängig, also als in der schulischen sowie außerschu-
lischen Praxis geltendes Konstrukt verstanden werden.
Förderung, aber welchen Inhalts? 403
zurückzuführen sind. Im deutschsprachigen Raum ist der Anstoß für den Begriff
in einem Vortrag Jürgen Habermas’ bei der Max-Planck-Gesellschaft 1977 zu
verorten. Hier wurden Gebrauchskontexte von Sprache ins Zentrum gerückt und
differenziert (Habermas 1977: 38):
– Umgangssprache: „die Sprache, die der Angehörige einer Sprachgemein-
schaft „im Alltag“, eben im täglichen Umgang mit seinen Sprachgenossen
benutzt“,
– Fachsprache: die Sprache, die durch Aneignen spezieller Kenntnisse, z. B.
on“, ein Begriff mit klaren Konturen in der Soziologie. Durch den Bezug dieses
Begriffs auf einen lebensrelevanten Erfahrungsbereich wird einerseits das naive
Verständnis von Erziehung und natürlicher Reifung verändert; gleichzeitig entfal-
len oder verschieben sich bestimmte Bedeutungskonnotationen des Fachbegriffs.
In dreifacher Hinsicht stellt diese Konzeption der Bildungssprache die Grund-
lage für den Diskurs um Sprache im Kontext von Bildungsinstitutionen, obgleich
404 Nicole Marx
er hier die didaktische Perspektive vollständig ausschließt. Erstens wird damit die
Basis für viele weitere Ausführungen im Diskurs zu Bildungssprache gelegt.
Hierzu gehören Vorschläge zu möglichen strukturellen Merkmalen von Wissen-
schaftssprache sowie die Annahme, dass Bildungssprache in sehr verschiedenen
Tiefenschärfen ausgebildet werden kann. Zweitens werden damit die aus Haber-
mas’ Sicht unerlässlichen Wechselbeziehungen von Alltagssprache, Wissen-
schaftssprache, Bildungssprache und Fachsprache betont – eine Perspektivie-
rung, die in späteren Ausführungen zu Bildungssprache oft übergangen wird.
Und schließlich werden dabei nicht Formen fokussiert, sondern die Entstehungs-
kontexte und die daraus resultierenden Funktionen.
Allerdings bleibt Habermas mit Ausnahme weniger, auf die Lexik bezogener
Beispiele auf einer theoretischen Ebene. Das Konstrukt bleibt ohne Operationali-
sierung und ist somit insbesondere für Vermittlungskontexte wenig anschluss-
fähig.
schiedlichen Disziplinen darauf Bezug. An dieser Stelle ist deswegen ein Exkurs
zur Funktion (und somit zur Berechtigung) des Begriffs geboten. Denn befragt
man z. B. Kollegen aus der Psycholinguistik dazu, werden viele nicht einmal
darüber Kenntnis haben, dass der Begriff mitunter von den eigenen (didaktisch
orientierten) Kollegen derzeit heftig debattiert wird. Zentrale Frage ist somit,
welchem Zweck der Begriff Bildungssprache in unterschiedlichen Diskursen
dient.
Eine gewichtige Rolle in diesem Diskurs nahmen bislang Konzepte wie
elaborierter vs. restringenter Code (Bernstein 1964, später vertical and horizontal
discourse, Bernstein 1999) oder Register (Halliday 1978) ein. Diese primär soziolo-
gischen und soziolinguistischen Ansätze betrachten Bildungssprache als diskur-
sives Register (worauf sich Schleppegrell 2001 später bezieht), das einerseits stark
schichtspezifisch geprägt ist und andererseits selbst Schichtdiskurse konstruiert.
Diese Konzeptionen von Bildungssprache beziehen somit durch sie ausgelöste,
anhaltende oder entgegenwirkende Machtbeziehungen im Bildungskontext ein,
was ihnen hohen inhärenten Wert für den bildungswissenschaftlichen so-
Förderung, aber welchen Inhalts? 405
wie bildungspolitischen Diskurs verleiht (vgl. Gogolin/Lange 2010: 107 f.). In
gewisse sprachliche Anforderungen stellt, diese jedoch nicht explizit lehrt und
somit nur bestimmten Schülergruppen verfügbar macht. Diese Darstellung ist
unterdessen eine der medial wirksamsten, seitdem die Diskussion zum Konstrukt
aufgenommen wurde.
Dieser Diskurs muss sich jedoch nicht zwingend mit einer linguistisch orien-
tierten Operationalisierung des Begriffs Bildungssprache auseinandersetzen: Die
Aufmerksamkeit ist vorrangig soziologisch bzw. pädagogisch anstatt linguistisch.
In neuester Zeit wird der Begriff nun auch verstärkt von den Sprachdidakti-
ken aufgegriffen. Hier wird Bildungssprache auch als institutionelles Phänomen
verstanden, das zwar meist nur implizit in das schulische Curriculum Eingang
findet, trotzdem als stillschweigende Basis zur Bewertung fachlicher Leistungen
herangezogen wird (vgl. Feilke 2012), und das es zu operationalisieren gilt, um
didaktische Konsequenzen für dessen Erwerb bei Lernenden unterschiedlicher
Erstsprachen (vgl. Heppt 2016) herleiten zu können. In diesem sprachdidakti-
schen Rahmen – zu dem auch das Fach Deutsch als Fremdsprache gehört –
bedarf es einer konkreten Beschreibung, Kategorisierung und Untersuchung bil-
dungssprachlicher Merkmale, die über nichtempirische Überlegungen wie die
Habermas’ hinausgreift.
ansätze und Forschungsergebnisse stark geprägt. Dies liegt u. a. an der Genese des
406 Nicole Marx
samkeit aufgenommen worden; ob sie sich jedoch für schulische Kontexte eig-
nen, ist nach wie vor nicht ganz geklärt. Denn, wie Snow/Uccelli (2009: 121) beim
Auftakt ihrer didaktischen Empfehlungen anmahnen: „dozens of traits have been
identified that contrast with primary or colloquial language and that might
function as markers of academic language, but it is unclear that any of them
actually defines the phenomenon. Any of these traits might be present in casual
spoken language“ – eine Position, die klar an Habermas (1977: 47) mit Bezug auf
fach- und wissenschaftssprachliche Elemente erinnert: „Meist sind die Übergänge
zwischen Wissenschafts- und Bildungssprache fließend.“
Solche zunächst sinnvoll erscheinende, korpusanalytische Zugriffsmöglich-
keiten stoßen jedoch im Bildungskontext und insbesondere bei Didaktisierungs-
versuchen schnell an ihre Grenzen. Das soll an einem weiteren Versuch im Rah-
men des TraBi-Projektes (Steinhoff et al., o. J.) beispielhaft dargelegt werden.
einzubeziehenden Quellen, ergaben sich für die konkrete Verwendung als Refe-
renzkorpus in didaktischen Kontexten drei weitere Kernprobleme, die im Verlauf
dieses sehr aufwändigen Verfahrens deutlich wurden. Erstens war fraglich, inwie-
fern diese häufigsten Wörter des DeReKo für Schüler der 8. Klasse als „alltags-
sprachlich“ gelten können oder sollen, v. a. im Hinblick auf Unterschiede zwischen
dem medial schriftlichen und dem medial mündlichen Gebrauch. Es stellte sich
somit die Frage, ob sie überhaupt aus der Lehrwerkkorpusanalyse ausgeschlossen
werden durften. Zweitens musste a priori entschieden werden, ab wann ein Lexem
nicht mehr als „alltagssprachlich“ gilt, d. h. ab welchem Rangplatz der Frequenz-
„Mit dem Begriff Aufklärung wird eine Zeitspanne der frühen Neuzeit im 17. und 18. Jahr-
hundert bezeichnet. Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass namhafte Denker ganz neue, zum
Teil revolutionäre Ideen entwickelten.“
häufigsten Lexemen des Deutschen gehören. Dieses Lexem könnte als bildungs-
sprachlich auf Grund seiner fächerübergreifenden Verwendung etwa in den
Geisteswissenschaften oder in den bildenden Künsten betrachtet werden; im
griff auf ihre einzelnen lexikalischen Bestandteile kaum plakativ als bildungs-
sprachlich zu bestimmen (vgl. Teddybär), und auch das in der englischen
Sprache sehr produktive Merkmal der Verbsuffigierung (man denke z. B. an das
Suffix -ate bei replicate, associate, enunciate) ist nicht problemlos zu übertragen,
bedenkt man, dass im Deutschen die nichtflexive Suffigierung von Verben keine
bedeutende Rolle bei der Wortbildung spielt (für eine lesenswerte Auseinander-
setzung mit ebendieser Problematik siehe Stahns 2016). Ähnlich problematisch
verhält es sich in einem weiteren Versuch im Rahmen des BiSpra-Projekts zur
Untersuchung lexikalisch-semantischer Merkmale in der Grundschule (Heppt et
al. 2015; Köhne et al. 2015). Hier wurde eine kondensierte Version des für den
englischsprachigen Raum entwickelten Katalogs von Bailey (2007) herangezo-
gen. Der Bezug auf das Englische führt z. T. zu fraglichen Kategorien für das
3 Im Übrigen zählen revolutionär, namhaft und Zeitspanne nicht zu den ca. 4000 häufigsten
Lexemen des Deutschen nach Jones/Tschirner 2015.
Förderung, aber welchen Inhalts? 409
Gesamtkorpus und nicht in der konkreten Bedeutung vorkommen, und ein wei-
teres Kriterium aus einer Liste mit als bildungssprachlich determinierten Charak-
teristika erfüllen (Köhne et al. 2015: 76 f.). Dieses sehr umfangreiche und arbeits-
intensive Verfahren ergab einen Pool von nur 118 Bildungslexemen für die
Grundschule – und eröffnet damit die Frage, ob ein solcher Zugang für die
Erstellung „bildungssprachlicher“ Wortschatzlisten in schulischen Kontexten er-
folgversprechend ist.
So problematisch die Bestimmung bildungssprachlichen Wortschatzes sein
mag, noch schwieriger wird es bei der Festlegung syntaktischer Merkmale. So
werden z. B. in mehreren Abhandlungen für das Deutsche Funktionsverbgefüge
gen und dabei außer Acht lassen, dass Sprache stets in einen Kontext eingebettet
auftritt und bestimmte Funktionen erfüllen muss (vgl. auch Heller/Morek 2016).
Obgleich in der Regel nicht im Rahmen der Bildungssprachediskussion auf-
geführt, bestehen bereits vielversprechende Anstöße in der deutschsprachigen
Diskussion, von denen einer im Folgenden von Interesse sein soll: Feilkes Begriff
der Textprozeduren. So verweist Feilke (2012a) im institutionellen Bildungskon-
text auf bildungssprachliche Gattungen (z. B. Erörterung), Handlungen (z. B. Argu-
tik. Ein vielzitiertes Beispiel hierfür stellt die Konstruktion zwar ... aber des kon-
zedierenden (abwägenden) Argumentierens dar. Zwar ... aber ist eine typische
sprachliche Einheit, die der Realisierung eines bestimmten Handlungsschemas
dient.
Ein solcher Annäherungsversuch kann allerdings kaum mit rein frequenzba-
sierten korpusanalytischen Verfahren erschlossen werden, denn Schemata kön-
nen auf unterschiedliche Weise an der Oberfläche realisiert werden (vgl. neben
zwar ... aber auch auch wenn ... so ist); und so zentral bzw. textsortenprototypisch
eine Prozedur sein mag, wirkte sie bei zu liberalem Einsatz in einem Text äußerst
befremdlich. Der Zugriff müsste aus einer Kombination von Konkordanzanalysen,
a priori bestimmten Prozedurenausdrücken und/oder Expertenratings erfolgen.
Eine interessante Zugriffsmöglichkeit stellen Meißner/Wallner in diesem Band dar.
Dennoch: Die Vorteile eines solchen funktionalen Zugangs für didaktische
Kontexte liegen auf der Hand (siehe auch Steinhoff 2017). Insbesondere repräsen-
tieren Prozeduren durch das Fehlen einer „An-/Abwesenheitsbestimmung“ keine
Extrempole im Erwerbsprozess. Sie erlauben damit erstens eine Entwicklungs-
perspektive, wenn Lernende im Erwerbsverlauf zunehmend explizite und domä-
nentypische Prozeduren verwenden, die wechselwirkend eben diesen Erwerb
unterstützen dürften (vgl. Lehnen 2016; Rezat 2011).
Zur Veranschaulichung dieses Vorteils soll eine weitere, für das argumentati-
ve Schreiben typische Textprozedur herangezogen werden, das Positionieren.
Zwei Beispiele aus schriftlichen Arbeiten verdeutlichen die Erwerbsperspektive:
„Meiner Ansicht nach finde ich ihren Vorschlag sehr gut“. (Schülerin mit Deutsch als einziger
Erstsprache, 10. Klasse, Quelle: Gätje et al. 2012).
„Meiner Meinung sollen die Eltern mehr bezahlen“. (DaF-Lernerin im Studienvorbereitungs-
kurs, B1; eigene Daten).
Die Schreibenden positionieren sich in den Aussagen und kennen bereits unter-
schiedliche Ausdrucksformen. Weiter ist zu vermuten, dass das ebenfalls bekann-
te, jedoch alltagssprachliche ich finde ihnen im Kontext nicht funktional an-
gemessen erscheint. Sie sind jedoch noch im Zuge, ihre Lernerformen an eine
ihnen offenbar bereits bekannte, jedoch noch nicht internalisierte Standard-
form anzugleichen. Das Ergebnis fällt zunächst als Fehler auf, ist aber vielmehr
Nachweis einer Entwicklung in Bezug auf die funktionale Angemessenheit einer
bildungssprachlichen Handlung.
Ein zweiter Vorteil besteht in der Lehrbarkeit der Prozeduren, wie experimen-
tell angelegte, empirische Arbeiten inzwischen nachweisen (vgl. Anskeit/Stein-
hoff 2014; Rüßmann et al. 2016). Handlungsschemata können mit den unter-
schiedlichen semantischen Nuancen der Ausdrucksalternativen für Lernende
412 Nicole Marx
erfolgreich dargelegt werden. Somit wird der Weg für eine Epistemisierung sprach-
lichen Gebrauchs im Bildungskontext eröffnet, wie es Pohl (2016) fordert.
Bei der Positionierungsprozedur kann z. B. eine Fokussierung auf die
Formulierungen although ..., whilst ... oder im spanischen aunque ... zu erkennen,
auch wenn die Ausdrucksseite deutlich abweicht. Prozedurenschemata scheinen
sogar interlingual transferfähig zu sein. So konnte im Interventionsprojekt SimO
(Wenk/Marx/Steinhoff/Rüßmann 2016) nachgewiesen werden, dass Prozeduren,
die ausschließlich im Deutschunterricht der 6. Klasse gefördert wurden, in der
Folge auch häufiger und zielgerichteter in türkischsprachigen Texten der gleichen
Schülerinnen und Schüler eingesetzt wurden – ohne, dass sie im Türkischunter-
richt behandelt wurden.
Förderung, aber welchen Inhalts? 413
6 Zwischenfazit
1 Bildungssprache wird für schulische Leistungsdifferenzen zwischen unter-
schiedlichen Schülergruppen verantwortlich gemacht.
2 Wie Bildungssprache operationalisiert wird, hängt von den Funktionen ab,
die mit dem Begriff in Verbindung gesetzt werden. Hierbei spielt die fachliche
Verortung der Autoren bzw. Forschenden eine zentrale Rolle.
3 Bildungssprache ist schwer operationalisierbar. Korpusbasierte Analysen le-
xikalischer Einheiten greifen zu kurz, um deren Merkmale zu fassen, und a
priori gesetzte Kriterien geraten unter heftige Kritik.
4 Eine Möglichkeit zur Operationalisierung, die insbesondere in didaktischen
Kontexten erfolgversprechend ist, liegt in einer funktionalen Herangehens-
weise, d. h. dem Zugriff über Funktionen, die bestimmte Sprachhandlungen
Frage ist dringend zu stellen, spielt doch der Begriff Bildungssprache nach wie
vor eine untergeordnete Rolle in Forschung und Praxis des DaF-Unterrichts.
Dies wird beispielhaft am Band „Deutsch als fremde Bildungssprache“ (Tschir-
ner et al. 2016) deutlich. Es sind zwölf Beiträge enthalten, wovon nur vier auf
die Situation des Deutschen als Fremdsprache, zwei weitere auf Deutsch als
Zweitsprache eingehen. Zwei mögliche Erklärungen können hierfür postuliert
werden:
(1) Bildungssprache hat für DaF weder didaktischen noch empirischen Wert,
oder
(2) Bildungssprache und ihre Didaktik sind längst integraler Bestandteil des
DaF-Unterrichts und benötigen deswegen im heutigen Diskurs keine ge-
sonderte Erwähnung.
Auf beide Hypothesen soll anhand des Begriffs Bildungssprache im Sinne des
Prozedurenkonzepts nach Feilke eingegangen werden.
414 Nicole Marx
Zur Prüfung der ersten Hypothese ist geboten, die Funktion des Begriffs wieder
aufzugreifen. Die Entwicklung und Förderung von Bildungssprache dürfte zu-
nächst für solche Kontexte von Interesse sein, in denen Sprechende bislang v. a.
und Schüler mit Deutsch als Erst- oder Zweitsprache. Hier sind Unterschiede
zwischen Alltags- und Bildungssprache herauszuarbeiten und für den Unterrichts-
kontext vor dem Hintergrund einer noch festzulegenden curricularen Progression
zu didaktisieren. Anders stellt sich die Situation des fremdsprachlichen (Deutsch-)
Unterrichts dar. Bei dessen Beginn sind die notwendigen Prozedurenschemata oft
zumindest in Ansätzen in der Erstsprache bzw. der in der Schule verwendeten
Sprache vorhanden. Die Schemata, die für die funktional angemessene Verwen-
dung von Prozeduren notwendig sind, könnten dann in vielen Fällen in eine
Fremdsprache übertragen werden. Für diese Hypothese sprechen mehrere Jahr-
zehnte fremdsprachendidaktischer Forschung zur Interdependenz von Sprachen,
insbesondere auf konzeptueller Ebene, sowie die oben genannten Erkenntnisse
der Interventionsstudie SimO. Sollten bildungssprachliche Prozeduren gelehrt
werden, müssten hiernach höchstens die entsprechenden Ausdrucksmittel zur
Verfügung gestellt und mit den entsprechenden Schemata verknüpft bzw. diese
weiter ausgebaut werden. Eine Didaktisierung bildungssprachlicher Elemente
wäre überflüssig.
Die zweite Hypothese nimmt die konträre Position ein, dass das Fach Deutsch
als Fremdsprache durch seinen sehr gezielten, durchgehenden Fokus auf sprach-
liche Strukturen und ihre Funktionen Bildungssprache in den Auf- und Ausbau
fremdsprachlicher Kompetenzen aufnimmt. Demnach müsste diesem Konstrukt
keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Hierfür spricht die traditio-
nell starke Konzentration auf den schriftsprachlichen Gebrauch bis hin zu einer
wissenschaftssprachlichen Propädeutik anstelle einer Wissenschaftspropädeutik.
Positionierungsprozeduren müssten demnach nicht gesondert als bildungs-
sprachliches Merkmal im Unterricht behandelt werden, da sie schon Einzug in
das reguläre DaF-Curriculum finden.
Beide Hypothesen sollen nun exemplarisch anhand von zufällig ausgewähl-
ten DaF-Unterrichtsmaterialien für Jugendliche und Erwachsene erläutert wer-
den, und zwar an den bereits angesprochenen Beispielen der Textprozeduren
Positionieren und Konzedieren; die Materialien werden aus Formatierungsgrün-
den zum Teil abgetippt bzw. leicht geändert abgebildet (Abb. 1).
Förderung, aber welchen Inhalts? 415
Das Lehrwerk Aussichten geht mit dem Zielniveau A2 primär auf eine inhaltliche
Frage ein („Welche Vorteile bringt Sport?“) und bietet für die Diskussion einen
syntaktisch einfachen und alltagsnahen Prozedurenausdruck an („Das finde ich
nicht. Ich denke ...“). Bei Tangram aktuell 3 (B1: 2) wird die inhaltliche Orientie-
rung weiter differenziert, indem zwei – etwas komplexere – Ausdrücke zur Ver-
fügung gestellt werden, wobei der erste noch die Funktion hat, den Sprechenden
von der Thematik zu distanzieren (Es ist wichtig, dass ...) und somit den Argumen-
tationsgegenstand in den Vordergrund zu stellen. Noch umfangreichere Aus-
drucksmittel zur Positionierung werden vom Lehrwerk Ziel für das Niveau B2: 1
416 Nicole Marx
aufgeführt (Also, ich finde...; Ich habe das Gefühl, dass ...; Ich bin der Meinung,
dass ..., etc.), die sich aber alle stark auf den Sprechenden als Meinungsgebenden
beziehen; einzig ein Ausdruck (Meiner Meinung nach ...) versucht eine distanzier-
te Haltung einzunehmen und die Sache in das Zentrum der Argumentation zu
rücken. Schließlich finden sich bei em Hauptkurs mit dem Zielniveau B2.2 beim
Positionieren v. a. sprecherbezogene Ausdrücke, beim Konzedieren jedoch kom-
entsteht kein interlingualer Vorteil. Gegen die erste Hypothese spricht aber eben-
falls, dass DaF-Lehr- und -Lernmaterialien geradezu von bildungssprachlichen
Prozeduren wimmeln, wie in den obigen Beispielen auch ersichtlich ist. Dies ist
ein kaum überraschender Befund, ist es doch ein Kernstück der Fremdsprachen-
didaktik, Lernenden sprachliche Mittel zur Erfüllung kommunikativer Ziele – die
in den höheren Lernniveaus nicht selten auf eine Studierfähigkeit vorbereiten
sollen – zur Verfügung zu stellen. Und schließlich wird die didaktische Relevanz
von Bildungssprache bei zum Teil unterschiedlicher Bedeutung von Handlungs-
schemata in unterschiedlichen Kulturkreisen offensichtlich, wie gerade in wis-
senschaftspropädeutischen Texten nachzuvollziehen ist. So ist die Auffassung
von Wissenschaft als diskursiv, d. h. diskutierbar, zwar im deutschen Sprachraum
deutlich ausgeprägt, was mitunter zur Herausstellung der Bedeutung des kon-
zessiven Argumentierens in diesen Texten führt. Auf Grund anderer Auffassungen
kann das Konzedieren in anderen Wissenschaftskulturen aber eine deutlich weni-
ger prominente Rolle einnehmen (vgl. hierzu die Diskussion von „interkultureller
Kommunikation im engeren Sinne“ in Redder/Rehbein 1987); dies zeigt auch die
Grenzen des Prozedurenkonzeptes im interlingualen Bezug.
Aber ist die Epistemisierung der untersuchten Prozeduren in den Deutsch-
lehrwerken als ausreichend zu bewerten, wie in der zweiten Hypothese vermutet?
Unter den vier oben aufgeführten Lehrwerkbeispielen geht nur eines auf mögli-
che, mit den Ausdrücken verbundene Schemata ein – also darauf, welche Funk-
tion mit dem Ausdruck verknüpft wird (z. B. eine These / Behauptung aufstellen).
Förderung, aber welchen Inhalts? 417
Allein der em Hauptkurs führt (wenn auch zum Teil recht diffus) textsortenkon-
stituierende Prozeduren ein. Die in den anderen Beispielen erforderliche selbst-
ständige, funktionale Verbindung von einem isolierten Ausdruck mit einem ent-
sprechenden, jedoch nur implizit aufgeführten Schema dürfte für viele Lernende
eine zu hohe kognitive Anforderung bedeuten und birgt zudem die Gefahr, dass
Ausdrücke wie Also, ich finde und Meiner Meinung nach (siehe drittes Beispiel) für
synonym gehalten werden.
schule in die Sekundarstufe I), sondern auch fachliche. Sie gilt für alle Sprach-
lernende, die in den funktionalen Gebrauch bildungssprachlicher Register einge-
führt werden müssen – wie z. B. Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufen an
PASCH-Schulen oder Studierende mit dem Fach Deutsch außerhalb der DACHL-
Länder. In diesem Sinne muss die DaF-Unterrichtssituation den akademischen
Sprachgebrauch fördern, ähnlich wie Steinig (2016: 93) es für den binnendeut-
schen Raum einfordert:
„Lehrer sollten bei ihrem Bemühen, ein schulisch angemessenes Register zu erreichen, ihre
Ansprüche nicht absenken und ihren sprachlichen Input nicht unnötig vereinfachen, um es
sprachlich schwächeren Schülern vermeintlich leichter zu machen. Eine unterfordernde
sprachliche Appeasement-Strategie verstärkt die sozial bedingten Unterschiede.“
Ein interessanter Ansatz für DaF, der diesen Anforderungen nachkommt, ist das
Programm K-16 Articulation der ACTFL-Guidelines. In diversen Projekten wie dem
Green German Project (https://cla.umn.edu/green-german) wird sowohl horizon-
tal (d. h. fächerübergreifend) als auch vertikal (d. h. vom Kindergarten bis zum
fänger (2016) hervorhebt. Dies ist zweifelsohne ein Desiderat zukünftiger Auf-
lagen, auch im Rahmen der GER.
Aus den obigen Überlegungen sind drei Schlussfolgerungen zu ziehen. Ers-
tens kann das Fach DaF gewinnbringend zur Diskussion von Bildungssprache
und deren Didaktisierung beitragen. Zweitens kann das Fach DaF ebenfalls von
der Diskussion zu Bildungssprache in Bildungskontexten profitieren, v. a. in
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422 Nicole Marx
Biographische Angaben
Prof. Dr. Nicole Marx
ist Professorin für Deutsch als Zweitsprache / Deutsch als Fremdsprache an der Universität
Bremen.